9. Kapitel
Die alte Dorfkirche, welche einst von den legendären Templern erbaut wurde, liegt mitten im Berliner Stadtteil Tempelhof.
Einst auf einer Insel nahe der Ortschaften Cölln und Berlin errichtet, ist es inzwischen das einzige noch existierende Gebäude aus dieser Zeit. Einige Historiker sehen in diesem Gebäude sogar das älteste Bauwerk der Stadt.
Leider wurde es jedoch im Zweiten Weltkrieg fast vollständig zerstört und erst in der Zeit zwischen 1954 und 1956 neu aufgebaut.
All das wusste Stefan bereits aus den Aufzeichnungen, die Heinz ihm für seine Suche zur Verfügung gestellt hatte. Trotzdem überkam ihn beim Betreten des Kirchengrundstücks ein besonderes Gefühl.
Auf vielen seiner Urlaubsreisen hatte er bereits auf historisch bedeutsamem Boden gestanden.
Egal ob in Österreich, Ägypten oder Griechenland. Die unterschiedlichsten Orte, an denen Götter verehrt wurden und wo sie alten Überlieferungen zufolge leibhaftig gelebt haben sollen, hatte er bereits besucht.
Doch keiner dieser Orte hatte diese besondere Wirkung auf ihn gehabt.
Bereits beim Durchschreiten des für heutige Zeiten niedrigen Tores, spürte Stefan, wie sein Herz anfing heftiger zu schlagen. Er spürte seinen eigenen Pulsschlag in jeder Faser des Körpers. Weil seine Hände zitterten, verbarg er sie vor Goran in seiner Jackentasche.
Jetzt stand er also an dem Ort, der von Menschen errichtet wurde, deren Legenden noch heute die Fantasien von unzähligen Schriftstellern und Filmemachern beflügeln. Auch Stefan wurde plötzlich von diesem Geist gefangen genommen. Er schloss die Augen, um die Situation einen Moment auf sich wirken zu lassen.
In seinen Vorstellungen liefen Menschen in altertümlichen Gewändern mit dem berühmten Tatzenkreuz auf der Brust durch die kleine Grünanlage, welche die Kirche heute noch umrahmt. Seine Fantasie ließ ihn die nahe liegende Komturei und ihre Beschützer sehen, die hier das Leben der Menschen vor vielen Jahren bestimmten.
Aufmerksam liefen Stefan und Goran über gefrorenen Schnee auf einem ungepflasterten schmalen Weg um das Gebäude herum. Dann kamen sie zum Eingang der Kirche. Neben der Tür warb ein Schaukasten für ein Posaunenkonzert, das am darauf folgenden Sonntag stattfinden sollte.
Vor dem Eintreten blieb Stefan noch einmal kurz stehen, um die kalte Luft des Winters einzuatmen und sich auf das vorzubereiten, was ihn drinnen erwartete.
Dann traten sie ein.
Stefan sah in das Kirchenschiff, auf den Altar, und seine Blicke registrierten augenblicklich jede Einzelheit und jedes kleine Detail in der Hoffnung auf das Besondere, das er zu erkennen erwartete.
Aber nichts passierte. Keine plötzliche Erkenntnis über den Weg, den Schwarzenbeck eingeschlagen hatte, war zu spüren.
Es war einfach nur eine kleine alte Kirche.
Mehrfach restauriert und neu aufgebaut. Die Architekten hatten sich zwar die größte Mühe gegeben, alles originalgetreu wiederherzustellen, aber irgendetwas fehlte. Sie standen zwar am selben Ort, wo einst die Templer standen, aber es waren anscheinend nicht dieselben Steine, nicht dasselbe Holz, welche als stumme Zeitzeugen überlebt und ihm etwas zu sagen hatten.
Zumindest gab der Raum nichts her, das man als verwertbaren Hinweis interpretieren konnte. Keine verborgenen Geheimgänge, die es durch einen Mechanismus zu öffnen galt.
Es war nur eine alte kleine Dorfkirche. Nicht mehr und nicht weniger.
Was also hatte Schwarzenbeck an diesem Ort gesucht?
Und was hatte er gefunden?
Oder waren sie auf einer gänzlich falschen Spur?
Hatte auch Heinz all die Jahre an etwas geglaubt, was dieser Ort nicht zu geben vermochte? Nein, so einfach durfte ihre Suche nicht zu Ende gehen. Es musste etwas da sein. Etwas, das auf den ersten Blick nicht zu erkennen war.
Sehr schnell wurde ihnen klar, dass sie es nicht im Inneren der Kirche finden würden.
Wo aber dann?
Die Geschichte, die Heinz erzählt hatte, schoss in vielen Einzelbildern durch Stefans Kopf. Fieberhaft durchsuchte er seine Erinnerungen nach allem, was in Verbindung mit der Kirche stand. Doch es gab nichts außer den Informationen, die Heinz zusammengetragen hatte. Er hatte die Kirche nie selbst besucht. Trotzdem wollte Stefan alles genau untersuchen. Jede Kleinigkeit registrieren und protokollieren, um sie später auszuwerten.
Er bat Goran, zum Auto zu laufen und die Digitalkamera aus dem Handschuhfach zu holen, die er vor ein paar Jahren in einem Duty-free-Shop erstanden hatte.
Was sich ihm auf dem ersten Blick eventuell nicht erschloss, das erhoffte er später auf Fotos zu erkennen.
Während sich Stefan in der Grünanlage eine Zigarette anzündete, machte sich Goran auf den Weg zum Auto.
Stefan las die Informationen in dem kleinen Glaskasten neben der Eingangstür noch einmal, ohne ihnen jedoch etwas Bedeutsames zu entnehmen.
Die Kirche hatte eine lange und bewegte Vergangenheit. Mehrfach zerstört und wieder neu aufgebaut. Wenn es also etwas gab, das Schwarzenbeck entdecken konnte, dann müsste es all die Jahre überdauert haben.
Stefan fotografierte die komplette Kirche mehrfach von außen, und, weil sich niemand zurzeit im Inneren befand, auch von innen.
Das runde Fenster hinter dem Altar hatte auf ihn am ehesten die Wirkung ausgeübt, als könne es den Schlüssel zu einem der ältesten Geheimnisse der Menschheit darstellen. Diesem Verdacht würde er zuerst nachgehen. Auch dieses Fenster fotografierte Stefan von beiden Seiten.
Insgesamt umfasste das, so gesammelte Bildmaterial, 62 Ablichtungen.
Mit diesem zusätzlichen Material gingen sie zurück zum Auto. Wortlos fuhren sie zu Ralfs Wohnung. Am Vorabend hatte er ihnen gestattet einen seiner Computer zu benutzen, wann immer sie ihn bräuchten. Da er mit Stefan lange Zeit online gespielt hatte, brachte er ihm das nötige Vertrauen entgegen.
Stefan schloss die Wohnungstür auf, ging in die Küche zur Kaffeemaschine, füllte sie mit Wasser und Kaffee und schaltete sie ein. Goran suchte nach einer Tasse und brachte sie ebenso wie eine Packung Vollmilch mit in den Computerraum.
Auf Kaffeesahne musste Stefan, wie bereits am Morgen, verzichten, weil Ralf seinen Kaffee grundsätzlich schwarz trank und auf Besuch nicht vorbereitet war.
Der Aschenbecher vom Vorabend fand sich im Geschirrspüler.
Jetzt begann die mühevolle Kleinarbeit.
Die Kamera war mittels Datenkabel schnell mit dem Computer verbunden und eine passende Software zum Herunterladen der Bilder fand sich erwartungsgemäß im Internet. Ein professionelles Bildbearbeitungsprogramm befand sich bereits auf dem Rechner, sodass sie ohne größere Verzögerung anfangen konnten.
Während die Bilder ihren Weg in den Computer fanden, machte sich Stefan durchs World Wide Web auf die Suche, um jede mögliche Information über die Kirche zu ergattern, die er bekommen konnte.
Dass sie im Jahre 1220 erstmals auf einer Insel zwischen Teichen erbaut wurde, wusste er bereits. Was sich allerdings seitdem alles verändert hatte, das erfuhr er an diesem Tag.
In den Jahren 1618-1648, also im Dreißigjährigen Krieg, wurde die Kirche erstmals geplündert.
Im Jahre 1751, gerade fertig renoviert, fiel sie bereits neun Jahre später, während des Siebenjährigen Krieges wieder Plünderungen durch russische Truppen zum Opfer.
Ausgerechnet das runde Fenster, in das er seine Hoffnungen setzte, stellte sich als symbolischer Christus heraus, der seiner Gemeinde von oben herab den Auftrag gab, die Bevölkerung zu lehren und zu taufen. Allerdings wurde es erst während der Restauration 1751 ins Mauerwerk eingelassen.
Der Taufstein wurde dem ursprünglichen Taufstein zwar nachempfunden, war aber das Werk eines bedeutenden Künstlers aus dem 19. Jahrhundert. Das Original befand sich seit 1870 im märkischen Museum/Berlin.
Also keinerlei Hinweise, die in die gewünschte Richtung führten. Allerdings gab es ausreichend Wege davon weg.
Gemäß dem Ausschlussverfahren, mit dessen Hilfe sich die Kandidaten vieler Quizsendungen einem ersehnten Reichtum nähern, grenzte Stefan die noch verbleibenden Möglichkeiten immer enger ein, indem er die nicht infrage kommenden ausschloss.
Ein kleines Symbol am unteren Bildrand, den Computerbenutzer Taskleiste nennen, verriet ihm, dass sich inzwischen alle Bilder im Computer befanden.
Goran und Stefan betrachteten jedes einzelne gewissenhaft. Sie vergrößerten Teilausschnitte, verkleinerten die Bilder, um einen anderen Gesamteindruck zu bekommen und so weiter. Irgendwann nach circa. vier Stunden brannten Stefans Augen und er hatte die größten Schwierigkeiten sich weiterhin zu konzentrieren.
Goran, der jede seiner Bewegungen mit der Computermaus verfolgte, bot an, alleine weiterzumachen. Also überließ ihm Stefan die Steuerung und setzte sich mit etwas Abstand zum Bildschirm neben ihn.
Sehr fingerfertig klickte Goran in der Bildbearbeitungsleiste auf die einzelnen Befehle. Er ging sogar weiter als Stefan und experimentierte mit dem Programm.
Mal drehte er die Bilder in alle Richtungen. Ein anderes Mal benutzte er die Inversfunktion, mit der man das Bild im Negativ betrachten konnte. Einmal machte er sogar beides gleichzeitig. Stefan sah eine Seitenansicht der Kirche auf dem Kopf stehend als Negativ.
Gerade als Goran weiterklicken wollte, bat ihn Stefan das Bild einen Moment so stehen zu lassen. Irgendetwas stimmte nicht.
Im ersten Moment glaubte er an eine optische Täuschung, hervorgerufen durch seine tränenden Augen. Aber genau durch diesen Umstand erkannte er etwas, das ihm im Normalfall nicht aufgefallen wäre.
Automatisch begann er seine Überlegungen laut zu formulieren.
„Die Kirche wurde mehrfach neu aufgebaut oder restauriert. Wie geht man bei einem solchen Unternehmen vor?“
Irgendwann während eines Urlaubs in Griechenland hatte Stefan wie viele andere Touristen auch die Akropolis besucht, die damals immer noch in der Restauration steckte.
Auf dem Boden hatten unzählige Steine gelegen, die anscheinend zu einem Puzzle zusammengesetzt werden sollten. Bereits fertige Segmente lagen ordentlich als Einheit auf dem Boden und wurden dort durchnummeriert. Später würden sie in schwindelnder Höhe gemäß den angebrachten Markierungen wieder zusammengesetzt, bis das ganze Bauwerk wieder hergestellt wäre.
Anscheinend war man beim Wiederaufbau der alten Dorfkirche genauso vorgegangen. Bereits beim Besuch am Vormittag waren Stefan die Markierungen an der jeweils linken unteren Ecke einiger Steine aufgefallen. Frierend in der kalten Winterluft stehend hatte er sie vor Ort für eine Art Steinmetzzeichen gehalten, mit deren Hilfe die Bauarbeiter von einst ihre Leistung abrechneten.
Doch entweder hatten die Restaurateure seinerzeit unordentlich gearbeitet oder es musste eine andere Erklärung dafür geben, dass die Markierungen von aneinandergrenzenden Steinen nicht zusammenpassten.
Bei einer normalen Ansicht waren es nur irgendwelche Zeichen. Aber so wie Stefan sie in diesem Moment sah, ergab alles einen Sinn.
Es waren anscheinend Schriftzeichen, bei denen jeweils die Markierungen mehrerer Steine einen Buchstaben ergaben. Zum Beispiel besteht der Buchstabe „A“ aus insgesamt drei Strichen:
(/) (-) (\)
Schnell stellten Stefan und Goran fest, dass man ausschließlich große Buchstaben bilden konnte. Stefan erinnerte sich, dass früher ausschließlich Großbuchstaben existierten. Die uns bekannten Kleinbuchstaben wurden erst später dem Alphabet hinzugefügt.
Also mussten diese Buchstaben aus der Erbauerzeit stammen. Als die Restaurateure später ihre einzelnen Steinschichten auf dem Boden zusammensetzten, fügten sie vermutlich nur einzelne Rechtecke zusammen. An der Ober- und Unterseite ergab jedes so entstandene Segment einen fast perfekten großen Baustein. Lediglich die Seitenränder mussten mit ihren Ecksteinen zur jeweils angrenzenden Wand passen.
Die Arbeiter hatten beim Wiederaufbau also keinerlei Hinweise darauf, welches die Ober- und welches die Unterseite war. Bei genauer Betrachtung füllten die markierten Steine eine einzige Steinreihe. Es handelte sich offenbar um eine Art von Zierfries, welcher die Kirche einst schmückte und nun auseinandergerissen war.
Das ganze Gebäude stand also buchstäblich kopf. Stefan war plötzlich wieder hellwach und seine schmerzenden Augen waren vergessen.
Er bat Goran, jedes Zeichen und jeden Strich per Bildbearbeitung in ein kleines Quadrat zu kopieren. Die Bereiche mit den einzelnen Zeichen vergrößerten sie so, dass man sie später mühelos übereinanderlegen konnte.
Den einzigen Hinweis darauf, wie lange sie an diesem Tag vor dem Computer saßen, erhielt Stefan durch seinen knurrenden Magen und Ralfs Heimkehr.
Eiligst erklärte er ihm, woran sie gerade arbeiteten, und sofort erbot sich Ralf ihnen dabei zu helfen. Schnell kopierte er die komplette Sammlung von Puzzleteilen auf zwei weitere Computer, sodass jeder der drei einen eigenen Arbeitsplatz zur Verfügung hatte.
Sie schoben die einzelnen Teile immer wieder übereinander und bildeten so verschiedene Buchstaben.
Ralf ging davon aus, dass nebeneinanderliegende Steine durch Witterungseinflüsse gleichmäßig verfärbt und verändert würden. Diese Überlegung erschien nur logisch, und das hieß, dass Teile mit ähnlicher oder gleicher Farbintensität zusammengehören müssten.
Irgendwann lange nach Mitternacht verglichen sie dann ihre Ergebnisse.
Das einzige Wort, welches alle drei entdeckten, war das Wort „EHRE“ bzw. „EHREN“, eventuell noch das Wort „ZU“ doch in diesem Punkt waren sie sich nicht einig.
Die restlichen Buchstaben waren folgende: „U U N E und dreimal das I, welche den dreien Kopfzerbrechen bereitete.
Eigentlich eine echte Herausforderung für Stefan und Ralf. Als alte Scrabble-Spieler sollten sie in der Lage sein, diesen Code zu knacken. Doch diesmal standen sie vor einer schier unlösbaren Aufgabe. Und mit einem neuen Punkterekord im Scrabble würde sich diesmal keiner der beiden rühmen können.
Sie konnten nur hoffen, dass es Worte aus ihrer deutschen Muttersprache waren. Wenn es sich um eine lateinische Inschrift handelte, dann hätten sie wohl kaum eine Chance gehabt.
Da das Problem in dieser Nacht unmöglich zu lösen war, vertagten sie es auf den nächsten Morgen, an dem Stefan zusammen mit Goran noch einmal zur Kirche fahren wollte, um eventuell weitere Teile zu finden.
Den vier Teenagern fielen die beiden Besucher sofort auf. Sie hatten noch eine halbe Stunde Zeit, bevor ihr Konfirmandenunterricht beginnen sollte. Nur selten kamen Besucher zu dieser Zeit hierher.
Die vier Jungs waren eher unfreiwillig/freiwillig hier. Schließlich sollten sie bald konfirmiert werden und das bedeutete eine große Feier, bei der es jede Menge Geschenke geben sollte. Einer der Jungen wickelte vier Zigaretten aus, die er im Laufe der letzten Woche aus der Schachtel seines Vaters stibitzt hatte und verteilte sie. Jeder der vier musste sich dieser Mutprobe abwechselnd stellen.
Als sie sahen, dass sich der ältere der beiden Männer ebenfalls eine Zigarette anzündete, verloren sie die anfänglichen Hemmungen und kamen etwas näher. Sie wollten wissen, warum sich die Fremden so für die alte Dorfkirche interessierten.
Immer wieder betrachteten die beiden irgendwelche Bilder und verglichen sie mit dem Gebäude.
„Bestimmt Architekten, die die alte Hütte renovieren wollen“, mutmaßte Jens.
„Kannst du verstehen, was sie sagen?“, fragte Oliver.
„Der Alte murmelt immer etwas vor sich hin.“
Stefan versuchte es mit jeder Wortkombination, die ihm möglich erschien.
„Lassen Sie das nicht den Pfarrer hören“, teilte Oliver ihm mahnend mit.
Stefan sah ihn an, weil er sich nicht bewusst war, was er denn Böses gesagt hätte.
„Was meinst du? Was darf der Pfarrer nicht hören?“ Erst jetzt nahm Stefan wahr, dass sie die ganze Zeit über belauscht wurden.
Die drei pubertierenden Raucher lachten hinter vorgehaltener Hand los.
„Na, das mit dem ›Eunuchen‹“.
Hatte er wirklich das Wort ›Eunuch‹ benutzt?
Jetzt klärte ihn der kleinste der Jungen auf.
„Jens hat das mal mitten im Konfirmandenunterricht gesagt und der Pfarrer wurde so sauer, dass er ihm gleich drei Extra-Gottesdienste aufbrummte, über die er dann ein Referat schreiben musste.“
„Was hat Jens genau gesagt?“, wollte Stefan wissen.
„Na, er sagte auch etwas über die drei Eunuchen.“
Wieder hakte Stefan nach.
„Welche drei Eunuchen?“
Der Junge schlug sich mit der flachen Hand vor seine Stirn.
„Hey, das war doch nur ein Joke! Er meinte doch das Buch.“
Nun wollte Stefan es genau wissen.
„Welches Buch?“
Der Junge setzte gerade zur Antwort an, als ihm der größte der drei ins Wort fiel.
„›Zu Ehren von Eugenius III.‹ Das war ein Papst. Das hatten wir damals gerade im Konfirmandenunterricht durchgenommen. Aber das Buch werden Sie hier nicht mehr finden. Es befindet sich schon lange nicht mehr in der Kirche. Wir haben es auch nur einmal bei einem Ausflug gesehen.
Der Pfarrer erzählte uns, dass es vor einigen Jahren aus der Kirche verschwunden und erst ein paar Monate später wieder aufgetaucht ist. Seitdem liegt es im Heimatkundemuseum im alten Schulhaus unter einer Glaskuppel.“
Das war es also, wonach Stefan und Goran zu suchen hatten. Es war sicherlich nicht ‚Libri Cogitati‘, aber anscheinend interessant genug, dass Schwarzenbeck es sich vor ein paar Jahren ausgeliehen hatte.
Ein Buch, das für jemanden so wichtig war, dass er es genauso nannte wie die Inschrift draußen am Gemäuer.
Schnell ließ sich Stefan noch den Weg zum alten Schulhaus erklären, bedankte sich bei den Jungs und brach dann mit Goran im Schlepptau auf.
Ohne Mühe fanden sie das Museum, welches sich im Obergeschoss eines alten Schulgebäudes befand.
Stefan erinnerte sich an seine eigene Schulzeit. Damals hatte seine Schulklasse das Heimatkundemuseum in seinem Wohnbezirk besucht.
Goran und er waren an diesem Nachmittag anscheinend die einzigen Besucher, die sich für die Vergangenheit des Berliner Stadtteils Tempelhof interessierten.
Wahrscheinlich hatten an diesem Tag die Schulklassen ihre Besuche bereits absolviert, sodass er sich mit Goran ungestört umsehen konnte.
Am Eingang lagen verschiedene Broschüren aus, mit der das Museum um Sponsoren warb, weil man beabsichtigte die Jugend stärker in die Museumsarbeit zu integrieren.
Den größten Teil der Ausstellung nahmen Relikte und Bilder aus dem 19. und 20. Jahrhundert ein.
Insbesondere wurde alles zusammengetragen, was mit dem Flughafen Berlin-Tempelhof zu tun hatte, der während der Mauerblockade eine zentrale Rolle für das Leben der Menschen in dieser Stadt spielte.
Bereits als Kind erfuhr Stefan von der Luftbrücke, mit deren Hilfe man seine Eltern und Großeltern während dieser Zeit mit Nahrung versorgte. Als er Jahre später das Pendant zum Berliner Luftbrückendenkmal in Frankfurt am Flughafen wiederfand, fragte er sich zwangsläufig, ob diese beiden Denkmäler wohl geografisch zueinander ausgerichtet wären und einen symbolischen Bogen von einer Stadt zur anderen spannten.
In einem anderen Raum des Museums war das alltägliche Leben im Dorf, welches Tempelhof einst war, dargestellt.
Selbst ein gedeckter Tisch mit primitiven Holztellern durfte auf dieser gedanklichen Zeitreise nicht fehlen. Es wurden die verschiedensten Handwerkzeuge von Bauern sowie eine frühe Destillationsanlage präsentiert.
In einer Ecke stand einsam ein kleiner Tisch, auf dem sich ein Buch befand. Es lag, so wie der Junge ihnen bereits erzählt hatte, unter einer Glaskuppel.
Anscheinend diente diese jedoch nur als Schutz vor äußeren Einflüssen und nicht als Diebstahlsicherung. Schnell stellte Stefan fest, dass es weder durch einen Schließmechanismus noch durch andere Maßnahmen gesichert war.
Anders als bei den großen Museen fehlte auch eine Videoüberwachungsanlage. Es ragten zwar die dafür vorgesehenen Anschlüsse aus der Wand, aber da die Räume durch den Zusammenschluss zweier Stadtbezirke erst neu gestaltet wurden, waren noch keine Kameras installiert.
Jetzt gab es anscheinend eine der letzten Möglichkeiten des Buches habhaft zu werden.
Stefan schickte Goran zurück zur Treppe, damit er ihn vor unliebsamen Besuchern warnen konnte. Dann hob er vorsichtig die Glaskuppel an. Wie erwartet gab es keinen Widerstand zu überwinden.
In seiner Brust brannten zwei Seelen.
Seine Moral sagte ihm, dass er im Begriff war, das erste Mal in seinem Leben einen Diebstahl zu begehen, während seine zugedachte Aufgabe dies rechtfertigte und als unausweichliche Notwendigkeit erscheinen ließ.
Er hatte auch nicht vor das Buch ernsthaft zu stehlen. Er wollte es sich genau wie Schwarzenbeck nur ausleihen und später, nachdem er es gelesen hätte, wieder zurückbringen.
Er atmete noch zweimal tief durch und dann griff er entschlossen zu. Schnell versteckte er es unter seiner Jacke und machte sich eiligst auf den Weg zu Goran.
„Hast du es?“, fragte Goran, der die Treppe die ganze Zeit über nicht aus den Augen gelassen hatte, leise. Stefan nickte kurz.
Ohne unnötige Hast liefen sie die Treppe herunter und erreichten alsbald die Straße.
Vor der Tür ging eine weißhaarige Frau gerade mit ihrem Hund spazieren. Stefan hätte schwören können, dass sie ihn beobachtete. Aber es war wohl doch nur sein schlechtes Gewissen, welches ihm das Gefühl gab, es stünde ihm auf der Stirn geschrieben, was er soeben getan hatte.
Schnellen Fußes erreichten sie das Auto. Immer noch das Buch unter einem Arm versteckend, setzte sich Stefan hinter das Lenkrad.
Goran sah ihn schweigend an.
Die ganze Fahrt über spürte Stefan den Druck des Buchs unter seinem Arm und die Last des Unrechts in sich.
In Ralfs Wohnung angekommen begab er sich sofort an einen Schreibtisch. Da lag es nun. Das Buch, welches offensichtlich bereits Schwarzenbeck vor einigen Jahren gelesen hatte.
Hatte auch er damals Angst es zu öffnen?
Oder war er auch in diesem Punkt kaltblütiger als Stefan?
Goran sah ihm seine Ängste an.
„Willst du es nicht lesen?“, fragte er.
Zum ersten Mal, seit er diese Aufgabe übernommen hatte, kamen ihm Zweifel. Er schloss kurz die Augen und berührte vorsichtig den Buchdeckel.
Es war, wie viele Bücher aus vergangener Zeit, von Hand geschrieben und wies einen gewissen Artur Kronenberg als Verfasser aus.
Über sich selbst erzählte dieser Mann nichts. Weder woher er kam, noch warum er dieses Buch geschrieben hatte.
Es hatte ein Format, welches unserem heutigen DIN A5 sehr nahe kam und war in auffallend großer Schrift verfasst. Insgesamt bestand es nur aus 86 Seiten.
Das Papier war deutlich dicker als das, was wir heute verwenden, aber auch wesentlich ungleichmäßiger in seiner Oberfläche. Man hatte das Gefühl, als könne man an einigen Stellen durch das vergilbte Material hindurchsehen, während andere Stellen so dick waren, dass man glaubte, beim Umblättern zwei Seiten gegriffen zu haben.
Der Inhalt stellte sich als sehr spärlich heraus, und viel mehr als die Tatsache, wer Papst Eugenius III. war, förderte es nicht zutage.
Er war einer der Päpste zur Zeit der Tempelritter und er zeichnete sich im Wesentlichen nur dadurch aus, dass er die Kleidung der Ritter mit dem roten Tatzenkreuz auf weißem Untergrund absegnete.
Irgendwie war Stefan enttäuscht.
Es gab keinerlei Hinweise auf Libri Cogitati. Anscheinend hatte dieser Artur Kronenberg dieses Buch nur geschrieben, um der Langeweile in seinem Leben etwas entgegenzusetzen.
Stefan suchte nach versteckten Texten, die vielleicht dadurch zu erkennen gewesen wären, dass einige Buchstaben fetter als andere geschrieben waren.
Fehlanzeige.
Auch fanden sich keine Buchstaben, die die anderen überragten und so versteckte Hinweise zuließen. Aber wahrscheinlich gibt es diese Hinweise nur in Geschichten, die später zu Bestsellern werden und mit denen ausländische Schriftsteller dann Millionen verdienen.
Nach all der Mühe – all den moralischen Bedenken im Museum hatten sie nichts in den Händen. Nichts außer den Gewissensbissen, die sie seit dem Nachmittag plagten.
Stefan klappte das Buch wieder zu und starrte in die Luft. Und wahrscheinlich würde er so auch noch heute dort sitzen, hätte sich nicht Ralf zu ihm gesellt.
Der Freund hatte seit geraumer Zeit bereits neben ihm gestanden und alles mitbekommen.
„Du denkst daran aufzugeben. Habe ich recht?“
Stefan nickte, während er seiner Enttäuschung freien Lauf ließ.
„Hast du schon mal etwas vom Archimedes Palimpsest gehört?“ Ralf sah Stefan erwartungsvoll an.
„Was soll das sein?“, fragte Stefan lustlos.
„Nun“, sagte er, „dann muss ich dich wohl aufklären.
Es ging vor ein paar Jahren durch die Medien. Ein Mönch im 12. Jahrhundert hatte mit Zitronensäure und Bimsstein vorhandene Schriften von altem Pergament abgetragen, weil er Schreibmaterial für eine Bibel brauchte. Übrigens ist dies eine Methode, die früher sehr oft angewandt wurde, weil Pergament damals sehr wertvoll und Papier noch nicht erfunden war.
Inzwischen wurden die Texte und Zeichnungen von Archimedes mithilfe moderner Technik wieder sichtbar gemacht und gelten heute als äußerst wertvoll.
Als mir Goran vorhin von der schlechten und ungleichmäßigen Papierqualität erzählte, hätte ich bereits drauf kommen müssen.
Das, was du suchst, liegt wahrscheinlich nicht im Text verborgen, sondern darunter. Wir sollten zumindest nichts unversucht lassen.“
Das machte auch Stefan wieder neuen Mut.
Eine neue Hoffnung, vielleicht doch noch ans Ziel seiner Irrfahrt zu gelangen. Und vor allem an ein Ziel, das Heinz nie alleine würde erreichen können.
Jetzt begann eine mühevolle Kleinarbeit.
Den Wissenschaftlern und Forschern stehen heutzutage modernste Technologien zur Verfügung. Sie setzen Teilchenbeschleuniger und Röntgenstrahlen ein, um alte Schriften wieder zum Vorschein zu bringen.
Doch all diese Mittel hatten Stefan und seine beiden Freunde nicht zur Verfügung. Also recherchierten sie nach möglichen Wegen, um vorhandene alte Worte, wenn es sie denn gäbe, wieder sichtbar zu machen.
Sie fanden heraus, dass bereits im Jahre 1907 ein dänischer Philologe namens Johann Heilberg eine ähnliche Entdeckung gemacht hatte. Er drehte die Seite um 90 Grad und konnte erkennen, dass tatsächlich noch andere Buchstaben den Bogen entlangliefen.
Also experimentierten sie mit den verschiedensten Lichtquellen, die sie aus den unterschiedlichsten Winkeln auf die Textrückseiten warfen. Tatsächlich kamen dabei andere Buchstaben als auf der Vorderseite zum Vorschein.
Während der zweite Text nur mit sehr wenig Druck aufs Papier gebracht worden war, schien es, als ob der erste geradezu eingepresst worden war. Alles erweckte den Anschein, als ob jemand gewollt hätte, dass dieser Text eines Tages gefunden würde.
Den besten Erfolg erzielten sie, andere würden vielleicht lachen, als sie mit dem Buch ins Sonnenstudio gingen.
Drei Männer zusammen auf dem Weg zu einer Sonnenbank. Stefan hoffte nur, dass die Frau am Empfang keine falschen Rückschlüsse aus dieser ungewöhnlichen Situation ziehen würde. Um ganz sicherzugehen, erzählte ihr Ralf, dass sie ein EPROM aus seinem Computer löschen wollten.
Also einen wiederbeschreibbaren Speicherchip, der nur unter UV-Licht gelöscht werden kann, weshalb die dafür zuständigen kleinen Fenster immer mit einer Aluminiumfolie abgeklebt werden.
Unter dem ultravioletten Licht der Sonnenbank wurde der verborgene Text relativ gut sichtbar. Es war jedoch alles gespiegelt und, da von Hand geschrieben, unmöglich zu lesen. Es war nichts zu erkennen, was sie ablichten und dann später im Computer bearbeiten konnten.
Anscheinend hatten Schwarzenbeck und seine Experten ein besseres Equipment zur Verfügung als Stefan und seine zwei Begleiter. Im Keller unter dem Potsdamer Platz versammelte Schwarzenbeck in einer anderen Realität damals Fachleute aus den verschiedensten Bereichen der Industrie. Insbesondere die besten Programmierer, die man für Geld bekommen konnte.
Auf dem Weg vom Sonnenstudio zurück zu Ralfs Wohnung kam Goran dann auf eine brillante Idee.
Sie fuhren zur nächsten Nacht-Apotheke und besorgten sich Talkumpulver. In der Flurgarderobe von Ralf hängte Goran den Spiegel ab und legte ihn auf den Schreibtisch.
Ralf und Stefan sahen ihm nur verwundert zu.
Dann ging er ins Badezimmer, holte einen Schwamm sowie etwas Wasser und benetzte einen Teil des Spiegels.
Jetzt wurde auch den anderen beiden klar, was er vorhatte.
Ralf bedruckte ein paar DIN-A4-Blätter im tiefsten Schwarz, während Stefan das feine Talkumpulver auf der noch trockenen glatten Oberfläche des Spiegels gleichmäßig verteilte.
Das, was dann kam, tat Stefan zwar im Innersten weh, aber es musste sein.
Er trennte die einzelnen Seiten aus dem Buch heraus.
Jetzt hatten sie alles, was sie brauchten.
Die herausgetrennten Seiten fixierten sie mit Klebestreifen vorsichtig auf der Oberseite eines Computermauspads. Es war sehr flexibel und unterfütterte das alte Papier in idealer Weise. Aus den einzelnen Seiten des Buchs wurden auf diese Weise große elastische Stempel.
Diesen befeuchteten sie auf der nassen Seite des Spiegels und anschließend legten sie jede einzelne Seite behutsam auf das Talkumpulver. Nicht haftendes Material ließ sich durch einfaches Darüberblasen mühelos entfernen.
Die mit dem nassen Talkum benetzte Struktur drückten sie vorsichtig auf das schwarz bedruckte Papier, das Ralf nur kurz vorher mit einer Art Speziallack einsprühte, mit dem man normalerweise Tintenausdrucke versiegelt.
Nach ein paar Fehlversuchen hatten sie den Bogen raus.
Der Lack musste noch leicht klebrig sein, damit das weiße Pulver aufgenommen werden konnte, ohne gleich wieder zu verwischen.
Die so entstandenen Seiten scannte Ralf dann sofort in den Computer ein, bevor das Pulver trocknete. Zwar hatte der Lack das meiste des weißen Pulvers in sich gebunden, aber einiges war doch verloren gegangen.
Ralf ließ die so entstandenen Bilder noch durch einige Spezialfilter im Computer laufen, mit deren Hilfe er fehlende Punkte ergänzte und andere, die anscheinend nicht dazugehörten, entfernte.
Langsam wurde Kronenbergs Handschrift erkennbar. Dass es seine Handschrift war, das konnten sie durch Vergleiche mit dem später auf das Papier geschriebenen Text leicht feststellen.
Als sie endlich fertig waren, hörten sie aus Ralfs Schlafzimmer den Wecker klingeln.
„Entschuldigt mich Jungs, aber die Arbeit ruft.“
Goran, der bereits mehrfach eingenickt war, ging zu Bett.
Nur Stefan konnte in diesem Moment an nichts anderes denken, als an das, was er nun im Ganzen erfahren sollte.
Einige Satzteile hatte er bereits während der Arbeit gelesen, doch jetzt lag fast der ganze Text in einem Stück vor ihm.
Endlich war es so weit.
Inzwischen stand fest, dass Artur Kronenberg alles andere als nur ein gelangweilter Mann war. Er hatte, wie sich aus dem Text ergab, alles dafür getan, um das wohl mächtigste Buch der Welt vor Missbrauch zu schützen.
Erst jetzt sollte Stefan jene Geheimnisse erfahren, für die Menschen seit sehr langer Zeit hatten sterben müssen.
Der Text, der nun vor ihm auf dem Tisch lag, zeigte deutlich, dass sein Verfasser aus einer anderen Zeit, vielleicht sogar aus einer anderen Welt stammte.
„DER DER ES SCHRIEB – DER WUSSTE
DER DER ES HÜTETE – DER FÜRCHTETE
DER DER ES EINST LESEN WIRD – DER WIRD VERSTEHEN
DENN NUR ER IST DER IN DESSEN HAND ES LIEGT
MÖGE ER REIN SEIN IM HERZEN
MÖGEN HOCHMUT UND HASS NIE MACHT UEBER IHN ERLANGEN
DENN DURCH SEINE HAENDE WIRD FLIESSEN DIE MACHT
DIE MACHT ES NEU ZU ERSCHAFFEN
DIE MACHT ZU GEHEN AUF EINEN WEG DEM ALLE FOLGEN WERDEN
ER WIRD ES FINDEN
ER WIRD ES SUCHEN IN DER WIEGE DERER DIE EINST AUSZOGEN ZU SCHUETZEN WAS GEGEBEN WURDE UM ZU VERKUENDEN DIE INNERE KRAFT“
Artur Kronenberg schrieb diese Zeilen als Mahnung für den, der seine versteckten Hinweise eines Tages finden sollte.
Er hatte bewusst seine Spuren hinterlassen. Spuren, die beim Wiederaufbau der alten Dorfkirche beinahe zerstört worden wären.
Beim Lesen seiner Geschichte wurde Stefan klar, dass dieser Artur Kronenberg hoffte, eines Tages dieses Geheimnis an die Menschheit weitergeben zu können, sobald diese reif dafür wäre. Denn er selbst hatte es bereits gelöst.
Er wusste, wo Libri Cogitati aufbewahrt wurde.
Auch wenn Kronenberg es nicht wörtlich schrieb, so wusste Stefan, was er meinte.
Stefan holte die Unterlagen, die Heinz zusammengetragen hatte, aus seinem Koffer.
Bisher hatte er sich nur auf alles konzentriert, was mit Schwarzenbeck in Verbindung stand. Von vielen anderen Dokumenten las er damals oft nur die Überschriften. Das Material war zu umfangreich, als dass er es in der Kürze der Zeit komplett hätte lesen können.
Und da war noch etwas.
Es gab einen Umschlag mit der Aufschrift
›Erst öffnen, wenn die Aufgabe erledigt ist und keine unmittelbare Gefahr von Schwarzenbeck mehr ausgehen kann.‹
Stefan hielt ihn wieder einmal in den Händen und fragte sich, was er wohl enthielte. Doch das zu erfahren, war es noch nicht an der Zeit. Er hatte mit Ralfs und Gorans Hilfe gerade mal die ersten Teile des Puzzles zusammengefügt und konzentrierte sich nun darauf.
Auf jeden Fall kannte er nun schon einmal das Land, aber noch nicht den Ort, an dem er zu suchen hatte.
Der entsprechende Hinweis befand sich im letzten Satz des rätselhaften Einleitungstextes den Kronenberg hinterließ.
„... ... IN DER WIEGE DERER DIE EINST AUSZOGEN ZU SCHUETZEN WAS GEGEBEN WURDE UM ZU VERKUENDEN DIE INNERE KRAFT“
Hugo de Payns war mit seinen acht Gefolgsleuten ins Gelobte Land gezogen, um zumindest offiziell die Wege der Pilger zu sichern.
Sie alle stammten aus Frankreich.
Stefan nahm also die Unterlagen zur Hand, die von einem kleinen Ort in Frankreich erzählten, und las sie.
Einige Dinge waren so unglaublich, dass er sie selbst erst aus anderen Quellen nachlesen musste, um sie zu glauben. Doch Heinz war in seinen Recherchen ausgesprochen sorgfältig gewesen. Alles, was er herausgefunden hatte, wurde später durch unzählige Dokumente erhärtet.
Noch am selben Morgen verglich Stefan die Unterlagen von Heinz mit verschiedenen Artikeln, die er aus dem Internet abrufen konnte.
Dabei tauchte er in Geschichten ein, die jenseits seiner Vorstellungskraft lagen und sich seit 2000 Jahren um einen Ort rankten, der die wohl unheimlichsten Seelen unserer weltlichen und religiösen Geschichtsbücher seit jeher geradezu mystisch anzog.
Es war der Ort „Rennes-le-Château.“
Rennes-le-Château ist ein kleiner Ort im Languedoc im Süden Frankreichs. Auf einem ca. 500 Meter hohen Berg liegt die kleine Gemeinde inmitten einer Gebirgslandschaft über den Dörfern Couiza und Montazels. Vom Tal her ist der Ort kaum auszumachen und wer nicht weiß, dass er sich dort oben befindet, fährt wahrscheinlich daran vorbei.
Und doch birgt dieser unscheinbare Ort Geheimnisse aus nunmehr 2000 Jahren in sich.
Angefangen hatte das Mysterium um diesen geschichtsträchtigen Platz bereits zu Zeiten von Jesus Christus, der gerüchteweise nach Frankreich gekommen, dort Maria Magdalena geheiratet und auch in Frankreich verstorben sein soll.
Doch unabhängig von diesen und ähnlich haarsträubenden Theorien lockte Rennes-le-Château auch die Tempelritter und ihre Sympathisanten an.
Heinz’ Augenmerk richtete sich vor allem auf das Adelsgeschlecht der Familie Blanchefort.
Nur wenige Kilometer von Rennes-le-Château entfernt in östlicher Richtung existierte, auf einem Felssporn gelegen, der Familiensitz der Blancheforts, das „Château Blanchefort“, von dem aus man einen ungehinderten Blick auf den benachbarten Ort hatte.
Ursprünglich sollen einst die Westgoten den Felsgipfel erstmalig befestigt und eine Burg erbaut haben. Die Familie Blanchefort baute diese Anlage später aus.
Als 1119 die Burganlage auf Anweisung von Papst Calixte II. in den Besitz der Abtei von Alet-les-Bains übergehen sollte, scheiterte diese Aktion an dem bewaffneten Widerstand von Bernard Blanchefort. Nur wenige Jahre später übertrug dieser Bernard Blanchefort ein Dorf mit dem Namen „Rena“ sowie die Bergwerke in Chardou und Blanchefort den Templern.
Diese sollen dann deutsche Bergarbeiter und den Rest der Bevölkerung in diesem Dorf isoliert haben, damit sie Teile des Westgotenschatzes einschmolzen und vergruben.
Als die Burg im 18. Jahrhundert zerstört und die gesamte Anlage beschlagnahmt wurde, war von diesem Schatz und den dort vermuteten sagenumwobenen Dokumenten nichts mehr aufzufinden.
Der 17. Januar:
Der 17. Januar gilt als einer der ›unglücklichen Tage‹, an dem nichts von Bedeutung unternommen werden soll. Er gehört zu einer Liste von Tagen, die laut einer Überlieferung aus Stendal in der Altmark Unglück bringen.
Betrachtete man bestimmte Ereignisse, die bis in unsere Neuzeit reichen und die in Rennes-le-Château stattfanden, stieß man unweigerlich immer wieder auf dieses Datum.
Doch zurück zu Bernard Blanchefort.
Als am 17. Januar 1156 André de Montbard, der fünfte Großmeister und gleichzeitig Gründungsmitglied der Tempelritter starb, war es Bernard Blanchefort, der als Nachfolger eingesetzt wurde.
Noch im selben Jahr ließ Blanchefort auf dem Gebiet seines Châteaus eine Art unterirdisches Bauwerk anlegen. Bis heute wird gerätselt, welchem Zweck es dienen sollte.
War es als Versteck für den Templerschatz vorgesehen oder hielt man dort etwas völlig anderes verborgen, das vielleicht zu einer Gefahr hätte werden können, wenn es in falsche Hände geriet?
Im Jahre 1774 kam der Pfarrer Antoine Bigou nach Rennes-le-Château. Er war damals der Beichtvater der Madame Hautpoul, der letzten Marquise de Hautpoul de Blanchefort.
Am 16. Januar 1781, dem Vorabend ihres Todes, soll sie ihn damals ans Sterbebett gerufen und ihm ein sehr großes Familiengeheimnis anvertraut haben. Ebenfalls überließ sie ihm an diesem Abend merkwürdige Dokumente und bat ihn ausdrücklich, dieses Geheimnis wie auch die Dokumente nur an eine würdige Person weiterzugeben.
Mit ihrem Tod verschwand am nächsten Tag der letzte Nachkomme aus dem Hause Blanchefort.
Madame Hautpoul starb am 17. Januar 1781.
Pfarrer Bigou, ein gläubiger Mensch, entsprach dem Letzten Willen der Marquise und versteckte die Dokumente im Pfeiler des Altars, wo sie über 100 Jahre im Verborgenen liegen sollten.
1791 ließ er eine Grabplatte anfertigen und auf das Grab der Marquise legen. Es enthielt eine merkwürdige Inschrift.
„ET IN ARCADIA EGO“
was bedeutet
„Ich bin in Arkadien“
Bildet man aus den Buchstaben ein Anagramm, so ergibt sich der Wortlaut:
„I TEGO ARCANA DEI“
was sinngemäß bedeutet:
„Verschwinde hier, ich halte die Geheimnisse Gottes verborgen.“
Fast 100 Jahre später, 1885, übernahm der junge, ehrgeizige Priester Berénger Saunière das Pfarramt in Rennes-le-Château. Er war damals 33 Jahre alt und der Sohn des Bürgermeisters von Montazels, einem Ort zu Füßen des sagenumwobenen Châteaus.
Sauniere wurde 1879 zum Priester geweiht und nach seiner Professur in Narbonne in das kleine Nest strafversetzt.
Er lebte zusammen mit seiner Haushälterin Marie Dénarnaud im Pfarrhaus, von wo aus er einen ehrgeizigen Plan verfolgte.
Er war genau wie seine damalige Gemeinde völlig verarmt. Trotzdem machte er es sich zur Aufgabe die Kirche zu renovieren. Nachdem er anfangs geradezu um Spenden betteln musste, konnte er 1891 mit den Renovierungsarbeiten der kleinen Dorfkirche mit dem Namen St. Maria Magdalena, die im Jahre 1059 einst eingeweiht wurde, beginnen.
Plötzlich spielte Geld keine Rolle mehr und Sauniere gab es mit vollen Händen aus.
In der acht Jahre währenden Bauzeit ließ er unter anderem eine Villa errichten, in deren Turm, mit dem Namen Magdalena, er eine riesige Bibliothek unterbrachte.
Freunde bedachte er mit großzügigen Geschenken, die nicht selten aus alten Münzen und Wertgegenständen bestanden.
Er erstand mehrere Grundstücke und trat nach aufkommenden Schwierigkeiten mit der Kirche im Jahre 1909 von seinem Pfarramt zurück. Zwei Jahre später wurden ihm endgültig sämtliche Priesterfunktionen aberkannt, und am Ende wurde er 1915 sogar wegen ‚Handels mit Messen‘ offiziell verurteilt.
Die Dorfgemeinde jedoch, die ihrem Gönner so viel zu verdanken hatte, zog es vor, statt der abgehaltenen offiziellen Gottesdienste die privaten Messen von Sauniere zu besuchen.
Insgesamt hatte Sauniere bis zu diesem Zeitpunkt mehrere Millionen (umgerechnet circa 3,5 Millionen Euro) ausgegeben, wohnte und lebte aber scheinbar völlig verarmt.
Am 17. Januar 1917 erlitt er einen plötzlichen Herzanfall.
Der herbeigerufene Pfarrer sollte ihm die Beichte abnehmen und erfahren, wie Sauniere seinen Reichtum erlangt hatte. Leichenblass verließ er Stunden später das Sterbezimmer und weigerte sich entsetzt Sauniere die Letzte Ölung zu geben.
Wahrscheinlich hatte er bei diesem Anlass auch erfahren, warum die Haushälterin Marie Dénarnaud bereits am 12. Januar, also fünf Tage vor dem Herzanfall, den Sarg für ihren Vertrauten und Gönner bei einem Bestatter in Auftrag gab.
Später stellte man fest, dass Saunière all seine irdischen Besitztümer auf seine Haushälterin übertragen hatte.
All das findet seine Erklärung in einer der vielen Theorien, die im Laufe der Geschichte entwickelt wurden.
Danach hatte Sauniere sein eigenes Tor durch die Zeit gefunden. Auch Nostradamus wurde diese Macht immer wieder zugesprochen. Dass Nostradamus sich zwischenzeitlich auch im Languedoc aufhielt, gilt inzwischen als erwiesen.
Unbestritten ist ebenfalls, dass einzelne Bürger von Rennes-le-Château dem Pfarrer mitunter heimlich folgten, um herauszufinden, wohin seine langen Spaziergänge führten.
Bei Rennes-les-Bains verloren sich jeweils seine Spuren. Sauniere war plötzlich wie vom Erdboden verschwunden.
Welche Dokumente Sauniere bei der Renovierung damals aus dem Fuß des Altars nahm, darüber gab es inzwischen keinen Zweifel mehr. Es waren Dokumente, die es ihm erlaubten, etwas zu tun, wozu Menschen niemals in der Lage sein sollten. Jene Dokumente, von denen er glaubte, dass er mit ihrer Hilfe sogar den eigenen Tod austricksen könnte.
Schriften, die das Wissen um unsere Zeit enthielten.
Geschrieben in einer weit zurückliegenden Vergangenheit, mit der Macht den größten Wunsch der Menschheit zu befriedigen.
Die Zeit zurückzudrehen.
Jahrhunderte lang vermutet bei den Juden führten diese Schriften immer wieder zur Verfolgung der Kinder Israels.
Doch auch Sauniere war es letztendlich nicht vergönnt, die Macht jener Schriften zu beherrschen.
Sein Herzanfall sowie der Todestag aller Personen, die jemals versuchten den Ablauf der Dinge zu bezwingen, war der 17. Januar.
Auch Sauniere sollte nicht Herr werden über die Lehren und die geheimen Mächte von Libri Cogitati.
Die Haushälterin freundete sich später mit dem Industriellen Noel Corbu an, dem sie ihre Villa verkaufte und der ihr dafür ein lebenslanges Wohnrecht einräumte.
Gerade als sie ihm die Geheimnisse um Sauniere anvertrauen wollte, erlitt sie jedoch einen Schlaganfall, der es ihr nicht mehr ermöglichte zu sprechen und verstarb kurz darauf.
Corbu, von der Geschichte, soweit er sie kannte, fasziniert, forschte bis 1968 auf eigene Faust weiter und trug jede Information zusammen, die er finden konnte.
Nur ein paar Tage, nachdem er öffentlich verkündete, das Geheimnis gelüftet zu haben und bald ein reicher Mann zu sein, verstarb er unverschuldet bei einem Verkehrsunfall. Der Unfallverursacher wurde jedoch nie gefasst.
Wer außer Artur Kronenberg wusste also noch um die Macht, die von Libri Cogitati ausging, und wollte das Geheimnis um jeden Preis schützen?
Wessen langer Arm reichte über Generationen hinweg bis zur heutigen Zeit?
Stefan wusste, dass Goran und er den Spuren des Buchs folgen mussten, um auch Schwarzenbeck zu finden. Also las er weiter in den Hinweisen, die Artur Kronenberg so sorgfältig versteckt hatte.
Stefan erfuhr auch, dass Kronenberg irgendwann auf etwas gestoßen war, was ihm eine Heidenangst beschert hatte.
Er berichtete von einer Warnung, die er entdeckt hatte und die auf einem ihm unbekannten Papier niedergeschrieben worden war, auf einem Papier, welches wesentlich glatter war als alles, was er bis dahin gesehen hatte. Es handelte sich um einen kleinen Zettel, der mit merkwürdigen Buchstaben beschriftet wurde.
Ein „Reisender“, wie Kronenberg ihn nannte, war mit der ›Macht des Wissens‹ an einen Ort gelangt, von dem aus es kein Zurück mehr gab. Kronenberg schrieb von der Verzweiflung des Mannes, der erst zu spät erkannt hatte, dass der Weg immer nur in eine Richtung führte.
Es gab anscheinend so etwas wie einen Schutzmechanismus, der existierte, um den Lauf der Dinge nicht aufzuhalten.
Etwas, das dafür sorgte, dass Fehler, die man in die Vergangenheit mitnahm, nicht mehr korrigiert werden konnten, indem man einfach wieder in die Gegenwart zurückkehrte.
So wurde jede Reise in die Vergangenheit zum Teil der Geschichte, so wie wir sie kennen. Die Ankunft des Reisenden bettet sich in die Geschichte ein und wird ein Teil von ihr. Nicht mehr veränderbar und auch nicht mehr nachträglich korrigierbar.
Dieser Reisende hatte sein mitgebrachtes Wissen weitergegeben, ohne zu überlegen, ob die Menschen, auf die er traf, schon reif dafür wären.
In seinem Schlusssatz wies Kronenberg noch einmal ausdrücklich darauf hin, dies alles zu bedenken, bevor man in die Versuchung käme, Gott zu spielen.
Stefan brauchte einen Moment, um wieder zu sich zu kommen. Anders als Ralf und Goran, die irgendwann zu Bett gegangen waren, schlief Stefan gegen Morgen vor dem Computer ein, auf dessen Monitor immer noch die inzwischen lesbar gemachten Seiten von Artur Kronenberg zu sehen waren.
Das Tageslicht, das durch das Fenster strahlte, brannte in seinen müden Augen. Es war inzwischen 15.30 Uhr und Stefan steckte immer noch in seiner Kleidung vom Vortag.
Auf Ralfs Anraten hin hatte Goran ihn bis zum Nachmittag schlafen lassen.
Stefan hatte den Eindruck übel zu riechen. Aber es waren nicht allein seine Körpergerüche, von denen er sich anschließend unter der Dusche befreien wollte. Vielmehr glaubte er den aufgewühlten Schmutz von 2000 Jahren abwaschen zu müssen.
Inzwischen war ihm klar, dass er die Verantwortung für Goran übernommen hatte, und dieser Gedanke bedrückte ihn. Welcher Gefahr würde er diesen Jungen und sich selbst wohl aussetzen müssen, um Schwarzenbeck das Handwerk zu legen?
Es stand endgültig fest, dass Schwarzenbeck alles daran setzen würde, auch den Rest des Gedankennetzes, aus dem unsere Welt besteht, zu entschlüsseln.
Sicherlich wäre es kein großes Problem mithilfe von Libri Cogitati die Zeit für einzelne Menschen zu beeinflussen, so wie er es damals bei Stefan und anderen beinah geschafft hatte. Aber die Berührungspunkte, welche uns alle geistig miteinander verbanden, zu kontrollieren, das würde ihm zu uneingeschränkter Macht verhelfen.
Sicherlich hatte er inzwischen wieder eine Garde von Spitzenprogrammierern um sich versammelt, die eine virtuelle Welt als Studienobjekt erschaffen sollten.
Es gab noch unzählige Fragen, auf die die Antworten fehlten.
Wo waren Henry und Maria?
Schwarzenbeck hatte Henrys paranormale Fähigkeiten damals schon einmal missbraucht, um die Gedanken anderer Menschen zu manipulieren.
Um sein Ziel diesmal zu erreichen, benötigte er ein weiteres Team von Experten sowie die technischen und finanziellen Mittel, die ein Projekt dieser Größenordnung erforderten. Und er musste alles nach außen hin geheim halten.
Den Spuren von Libri Cogitati folgend musste sich Stefan auf eine Reise nach Südfrankreich vorbereiten.
Wann und wie oft Schwarzenbeck in Frankreich gewesen war, darüber konnte er jedoch nur spekulieren.
Noel Corbu war bei einem Verkehrsunfall 1968 gestorben. Nur drei Jahre später tauchte Schwarzenbeck bei Heinz auf und erzählte ihm von seiner Suche nach dem Buch. Diesem Mann, so stand fest, war inzwischen alles zuzutrauen.
Gab es eine Verbindung zwischen Schwarzenbeck und dem Tod von Corbu?
Hatte er vielleicht gehofft an die Unterlagen zu kommen, mit denen Corbu damals prahlte?
Oder handelte der Unfallfahrer, der für den Tod von Corbu verantwortlich war, für eine ganz andere Organisation?
Bis heute mutmaßen sogenannte Experten, dass die Templer immer noch existieren.
Wem hatte Schwarzenbeck das geheime Buch inzwischen abgejagt?
Stefan und Goran waren sicherlich nicht die Einzigen, die nach ihm suchten. Er musste also im Untergrund operieren. Heinz wusste genau, warum er Stefan riet, Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Nur Goran oder Maria wären in der Lage, die paranormalen Kräfte, derer sich Schwarzenbeck bedienen würde, aufzuspüren. Maria hatte ihre Fähigkeit schon einmal unter Beweis gestellt, als sie damals Goran in Kroatien fand.
Es war also Stefans primäre Aufgabe Goran durch seine Recherchen in die Nähe von Schwarzenbeck und Maria zu bringen.
Was dann zu tun wäre, das wusste er noch nicht, aber sich darüber Gedanken zu machen, dazu hatte er auch später noch genügend Zeit.
„So, genug gefaulenzt“, sagte Stefan zu Goran, als er aus dem Badezimmer kam.
„Ich werde mich jetzt anziehen und dann gehen wir beide erstmal etwas essen. Heute Abend werden wir dann in aller Ruhe überlegen, was wir als Nächstes tun.“
Stefan zog sich schnell an, föhnte seine Haare in eine akzeptable Form, steckte sich ein paar der für ihn unentbehrlichen Camel Filter ein, und schon machte er sich mit Goran zusammen auf den Weg zum nächstgelegenen Imbissstand.
Eine original Berliner Currywurst war es, mit deren Hilfe Stefan Goran die Kultur seiner Heimatstadt Berlin etwas näherbringen wollte. Darum bestellte er sich bei der rundlichen Frau mit dem fettigen Haar gleich zwei davon, während Goran auf der Speisekarte den Cheeseburger erspähte.
‚Nun, einmal Fast Food - immer Fast Food’, dachte Stefan, als er sah, wie Goran wenig später das Leibgericht unserer heutigen Jugend in sich hineinstopfte.
Etwas abseits von den beiden standen vier Bauarbeiter, die anscheinend den Weg ins traute Heim noch nicht gefunden hatten. Sie standen mit ihren Bierdosen in der Hand zusammen und eine Bestellung, die aus sogenannten „geistigen Getränken im Kleinformat“ bestand, zeigte, dass es sich um Stammkunden dieser gastronomischen Einrichtung handelte.
Goran und Stefan verzehrten ihr ausgiebiges Mahl, welches Stefan mit einer Tasse Kaffee und Goran mit einer Dose Coke stilgerecht abrundete.
Die vier inzwischen stark angetrunkenen Bauarbeiter unterhielten sich gerade über einen Spielfilm, der anscheinend am Vorabend die deutschen Fernsehzuschauer kulturell bereichert hatte. Es ging dabei um einen wohl gut gelungenen Coup, den sich ein paar Verbrecher ausgedacht hatten, um eine Versicherung finanziell zu erleichtern.
Schon nach ein paar Sätzen der Bauarbeiter stellte Stefan fest, dass er den besprochenen Film bereits kannte und überlegte, ob er sich an diesem Gespräch beteiligen sollte.
Die Hauptfigur, ein echter Gentleman-Ganove, spielte allen Beteiligten etwas vor, um sich letztendlich allein mit der Beute nach Südamerika abzusetzen. Dabei legte er so viele falsche Fährten, dass der Zuschauer Schwierigkeiten hatte, sie alle zu erkennen. Eigentlich war fast jeder Satz und jede Handlung von ihm ein einziger großer Bluff. Weder die Polizei noch seine Komplizen würden jemals herausfinden, wie sie hinters Licht geführt wurden.
Auch die vier Trinker, denen Stefan lauschte, hatten anscheinend Schwierigkeiten der kompletten Handlung des Films zu folgen. Zumindest waren sie aufgrund ihrer, zu diesem Zeitpunkt, eingeschränkten geistigen Fähigkeiten nicht mehr in der Lage, die Zusammenhänge zu ordnen.
Dabei war doch alles so einfach.
Bereits nach dem ersten Drittel des Films erkannte Stefan damals die wahren Absichten der Hauptfigur. In diesen Dingen hatte er im Laufe seiner öffentlich/rechtlichen Zuschauerkarriere ein gutes Gespür entwickelt. Alles war ein großer Bluff. Jede Spur, der man unweigerlich folgte, entwickelte sich zu einer Sackgasse.
Plötzlich wurde ihm einiges klar.
Schnell bezahlte er die Rechnung von 8,95 € und forderte Goran auf, sich zu beeilen. Dann wischte er sich noch rasch die Ketchup-Reste aus seinem Mundwinkel und schon war er auf dem Weg zu Ralfs Wohnung.
Hinter sich hörte er Gorans Schritte, die schnell näher kamen. Was er jedoch sagte, war nicht zu verstehen, weil Goran sich anscheinend gerade das letzte große Stück Cheeseburger in den Mund stopfte.
Ralf war in der Zwischenzeit zu Hause angekommen, was sie an seinem Schlüsselbund, der auf der Flurgarderobe lag, sowie dem Geruch von gebratenen Hähnchen leicht erkennen konnten.
„Da seid ihr ja. Ich habe uns von unterwegs drei halbe Brathähnchen mitgebracht. Setzt euch und langt zu. Es ist genug da.“
Goran folgte der Aufforderung wortlos, während sich Stefan an den Schreibtisch setzte, um die Unterlagen noch einmal eingehend zu studieren.
Alle Hinweise, die es in Bezug auf Rennes-le-Château gab, führten in die unterschiedlichsten Richtungen. Jeder, der sich jemals mit den Geheimnissen des Ortes befasst hatte, folgte einer anderen Theorie.
Die einen suchten den Schatz der Merowinger, während andere an den Heiligen Gral oder außerirdische Technologie glaubten. Es gab noch jede Menge anderer Theorien. Immerhin existierte bei genauer Betrachtung für jede einzelne eine plausible Erklärung.
Es waren anscheinend bewusst falsche Fährten gelegt worden, die alle Schatzsucher der Welt nur verunsichern sollten.
Fast immer ging es um einen kostbaren Schatz, fast immer um unermesslichen Reichtum. Jahrelang gruben Schatzsucher aus aller Welt den Ort nahezu komplett um, bis es ihnen von den örtlichen Behörden endgültig untersagt wurde.
Stefan kam zu der Erkenntnis, dass jemand, der etwas besonders gut verstecken wollte, sich einer genialeren Methode bedienen würde. Wer in der Lage war so viele Irrwege zu konstruieren, der wusste genau, was er tat.
Das, was Stefan und vor ihm viele Schatzgräber suchten, würde sich sicher nicht in irgendwelchen Geheimbotschaften befinden. Diesen waren bereits andere Menschen vorher schon gefolgt. Es musste etwas sein, das so auffällig platziert war, dass jeder es sehen, aber niemand es wahrnehmen würde.
So, wie man einen Diamanten nicht auf Anhieb erkennen würde, wenn dieser neben Glastropfen am Kronleuchter hinge.
In Rennes-le-Château gab es die verschiedensten Rätsel, die anscheinend fast alle nur der Unterhaltung späterer Generationen von Schatzsuchern dienen sollten. Stefan konzentrierte sich auf zwei Dinge, die eigentlich zu banal waren, um ihnen Bedeutung zu schenken.
Als Sauniere von einer Audienz bei seinen Vorgesetzten in Paris zurückkehrte, brachte er die Kopie eines Bildes mit, welches er auf seiner Reise erstanden hatte. Es handelte sich um das Bild „Et in Arcadia“, in dem der Sage nach ein Geheimnis versteckt sein soll.
Dieses Bild existierte in zwei vollkommen unterschiedlichen Versionen von ein und demselben Maler. Das Ungewöhnliche, was ihm auffiel, war die Tatsache, dass der Maler den Namen des Bildes in Buchstaben ins Bild eingearbeitet hatte.
Nie zuvor hatte Stefan den Namen eines Bildes im Bild selbst entdeckt. Er steht normalerweise auf einem kleinen Schild außerhalb des Gemäldes.
Bei Arcadia, auch Arcadien genannt, handelt es sich um ein kleines Bergdorf in Griechenland, welches als glücklicher Ort bekannt wurde, in dem damals Hirten ihrer Arbeit nachgingen.
Auch die Grabplatte, die Bigou 1791 auf das Grab der Madame Hautpoul legen ließ, trug die Inschrift ›ET IN ARCADIA EGO‹, also ›Ich bin in Arcadia‹.
Zieht man jedoch in Betracht, dass in der alten lateinischen Literatur, Arcadien von Griechenland nach Sizilien verlegt wurde, dann ergibt sich daraus der Satz:
Ich bin in Sizilien.
Ein Hinweis, dem er nachgehen wollte.
Und er fand noch einen zweiten in der Art.
Sauniere ließ in seiner Kirche fünf verschiedene Heiligenstatuen aufstellen. Eine davon war St. Antoine de Padou.
Dieser St. Antoine de Padou gilt als Schutzheiliger und „Wiederentdecker verloren gegangener Gegenstände“.
Die Umschreibung ‚verloren gegangener Gegenstände’ weckte sofort Stefans Neugierde.
1220 trat dieser Heilige dem Franziskanerorden bei und zog noch im selben Jahr nach Marokko. Durch eine Krankheit konnte er dort nicht so lange verweilen wie beabsichtigt, weshalb er vorzeitig die Heimreise antreten musste.
Weil ein heftiger Sturm sein Schiff jedoch abtrieb, landete auch er auf Sizilien.
Der Weg führte ihn später von Italien nach Südfrankreich, wo er von 1224 bis 1227 einen vehementen Kampf gegen die Katharer führte.
Merkwürdigerweise wird jedoch nicht Maria Magdalena. die Schutzheilige der Kirche. von vier Engeln getragen, sondern die Statue von Antoine de Padou.
Dies konnte ein weiterer Beweis dafür sein, dass Saunier dieser Statue eine besondere Bedeutung beimaß.
Beide Hinweise hatten eins gemeinsam: „Sizilien!!“.
Da war aber noch etwas, was Stefan fast übersehen hätte.
Als er damals sein Buch schrieb, diente ihm Dr. Winfried Teichmann als Vorlage für die Figur des Dr. Birnbaum.
Birnbaum, also Teichmann, war der einzige Vertraute von Schwarzenbeck. Stefan hatte ihn schon fast vergessen, weil er lange Zeit glaubte, die Geschichte damals frei erfunden zu haben.
Inzwischen wusste er aber, dass sich damals alles so zugetragen hatte, wie er es aufschrieb. Also kannten sich der reale Winfried Teichmann und Schwarzenbeck tatsächlich. Sie standen sich, wenn Stefan seinen eigenen Zeilen Glauben schenken durfte, so nahe, dass sie sich per ‚Du‘ und mit dem Vornamen ansprachen.
Teichmann wurde inzwischen nach Italien versetzt, wo er die Leitung einer Zweigniederlassung des Konzerns übernehmen sollte, für den Klaus und Stefan als Handelsvertreter tätig waren. In Italien unterhielt der Konzern drei Niederlassungen, von denen sich eine tatsächlich auf Sizilien befand.
Drei Hinweise, in die er seine ganzen Hoffnungen setzen wollte.
Heinz hatte so ziemlich jeden Platz in Europa notiert, an dem die Tempelritter aktiv gewesen waren. Leider war keine genaue Adresse auf Sizilien angegeben.
Der einzige Ort, in dem die Templer in dieser Region nachweislich gewirkt hatten, liegt etwas südlicher als Sizilien.
La Valetta, ein Ort auf Malta, den man auch die Stadt der Templer nannte.
Obwohl Experten behaupteten, dass der Malteserorden dies nie zugelassen hätte, sollen Gerüchten zur Folge die Templer auchdort ansässig gewesen sein. Vielleicht war es aber auch nur die letzte Zufluchtstätte für den einst so mächtigen Orden.
Sie war genug entfernt, um etwas vor den französischen Verfolgern der Templer zu verstecken, aber gleichzeitig über den Seeweg mühelos erreichbar, da in Europa gelegen.
Der Ausgangspunkt für weitere Recherchen müsste also die Konzernniederlassung sein, die inzwischen von Teichmann als Niederlassungsleiter kontrolliert wurde.
Nachdem Stefan erfahren hatte, dass sich die ganze Geschichte, die er damals schrieb, tatsächlich ereignet hatte, kamen zwar einige Erinnerungen wieder, aber es lag alles noch in einem für ihn unheimlichen Nebel verborgen.
Die einzige Person, deren Gesicht ihm vertraut genug war, um es wiederzuerkennen, war Dr. Teichmann.
Er war die einzige Person, deren Namen er damals veränderte, um „die berühmten“ Ähnlichkeiten mit lebenden Personen zu vermeiden.
Egal ob Frau Kerner oder Schwarzenbeck, von keinem hatte er ein klares Bild im Kopf. Selbst das Aussehen von Maria, mit der er seinerzeit viel Zeit verbracht hatte, war ihm erst durch das Foto einer mexikanischen Zeitung wieder in Erinnerung gekommen.
Sicherlich wäre er auf offener Straße an all diesen Menschen vorbeigelaufen, ohne sie zu erkennen. Menschen, mit denen er einst viel Zeit verbracht hatte. Mit denen er 24 Stunden am Tag in ein und demselben Gebäude gelebt hatte.
Die Suche nach Teichmann war zunächst der wichtigste Punkt, auf den er sich konzentrieren musste. Ob Maria Stefan wohl wiedererkennen würde?
Goran zumindest hatte es gekonnt.
Wenn Stefan ihn nur in die Nähe von Maria brächte, so hoffte er jedenfalls, dann müsste Goran in der Lage sein, Maria wahrzunehmen.
Kurzerhand entschied Stefan, bereits am nächsten Tag nach Sizilien aufzubrechen.
Goran war dafür überaus dankbar, weil die Reise wenigstens andeutungsweise in die Richtung seiner Heimat führen sollte und Ralf, der immer noch nicht genau wusste, welches Ziel Stefan eigentlich verfolgte, wünschte ihnen viel Erfolg.
Doch zuerst war es für Stefan an der Zeit, sich bei seinem alten Freund für all das zu revanchieren, was der für ihn getan hatte.
Stefan begrüßte es als eine willkommene Abwechslung, als Ralf ihn noch am selben Abend zu einer Partie ihres damaligen Lieblingscomputerspiels herausforderte. Ihm stand also eine längere Nacht bevor, in der er sich dem besten Computerspieler gegenübersah, dem er jemals begegnet war.
Zeit also, sich noch schnell an der nächsten Tankstelle mit Zigaretten und ein paar Getränken einzudecken.
Goran fragte Stefan, ob er ihn begleiten solle, aber der entschied sich dafür, allein zu gehen.
Ralf hatte bereits am Morgen einen großen Teil der Kleidung seiner Gäste in die Waschmaschine gesteckt, sodass sie inzwischen fertig gewaschen und auch schon wieder getrocknet war. Stefans Abwesenheit wäre für Goran also eine günstige Gelegenheit, um die Koffer wieder reisefertig zu machen. Schließlich hatten sie einen langen Weg mit dem Auto vor sich und sie wussten immer noch nicht, wie viel Zeit sie noch hatten.
Ralf rief Stefan noch hinterher, dass er das Knabberzeug nicht vergessen solle. Dann zog Stefan die Wohnungstür hinter sich zu und stand bereits einige Minuten später, mit ein paar überteuerten Produkten bewaffnet, an der Kasse einer Tankstelle. Der junge Mann dahinter legte zusätzlich noch vier Schachteln Camel auf den Verkaufstresen und nannte den Preis für den Einkauf.
Als Mann von Welt zückte Stefan seine Kreditkarte und reichte sie ihm.
›Zahlung nicht möglich‹ stand einen Moment später auf dem Monitor, den der Kassierer dezent zu Stefan drehte, sodass es kein weiterer Kunde lesen konnte.
„Kein Problem. Dann nehmen Sie bitte diese.“
Der Kassierer steckte die zweite Kreditkarte in den Schlitz des Lesegeräts und sah Stefan mitleidig an.
Was dieser Blick zu bedeuten hatte, war sofort klar. Stefan wusste genau, dass auf beiden Bankkonten ausreichend Geld vorhanden war, um sich einen Kleinwagen davon kaufen zu können. Trotzdem verweigerte das Gerät die Zahlung.
Bevor Stefan mit gesenktem Haupt, jedoch ohne seinen Einkauf, die Tankstelle wieder verließ, musste er noch mit ansehen, dass auch seine EC-Karte die gleiche Fehlermeldung hervorrief wie die beiden ersten Plastikkarten.
„Bargeld lacht“, rief ihm ein verärgerter Kunde nach, der eben in der Warteschlange hinter ihm gestanden hatte.
Da stimmte etwas nicht!
Schnell ging Stefan dorthin zurück, wo er herkam, zu Ralf und Goran.
Was war während seiner Abwesenheit in Berlin alles passiert?
War seine Firma vielleicht in Konkurs geraten, ohne dass er etwas davon wusste? Wurden seine Bankkonten gepfändet und alle Mitarbeiter in die Arbeitslosigkeit getrieben?
Da Stefan sein Handy seit Tagen nicht mehr einschaltete, hätten weder Frau Janke noch Klaus ihn über solch eine Entwicklung informieren können.
Sein Herz raste vor Sorge um seine Zukunft wie auch die seiner Angestellten. Er hatte sie allein mit seinen Geschäften zurückgelassen und auf Klaus’ Unterstützung gehofft.
Eilig rannte er die Treppe zu Ralfs Wohnung hinauf, wo er hastig klingelte.
„Darf ich kurz dein Telefon benutzen?“, fragte Stefan.
Ralf, der schon zwei Computer für den gemeinsamen Spielabend vorbereitet hatte nickte zustimmend.
„Was ist passiert?“, fragte er, während Stefan langsam begann, die Telefonnummer von Klaus zu wählen.
Anscheinend sah ihm Ralf seine Besorgnis deutlich an und ging zu ihm rüber.
Während Stefan die einzelnen Tasten drückte, erzählte er in Kurzfassung seinem Freund, was er soeben erlebt hatte. Wortlos nahm er Stefan das Telefon aus der Hand und schaltete es aus. „Ich denke mal, du solltest das Wählen diesmal mir überlassen.“
„Vorher muss ich jedoch noch etwas erledigen, was im Moment höchste Priorität hat.“
„Also!“, begann er seine Ausführungen.
„Die Tankstelle, bei der du gerade warst, ist Kunde bei der Wachschutzfirma meines Bruders. Ich habe die beiden seinerzeit miteinander bekannt gemacht. Ich habe damals die komplette Alarmeinrichtung und die Videoanlage installiert, die ich übrigens selbst konstruiert und auch gebaut habe. Irgendwo muss ich noch die Unterlagen haben.“
Fieberhaft durchsuchte Ralf einen Aktenschrank, während er erklärte, auf was er hinaus wollte.
„Ich gehe davon aus, dass die Leute, vor denen du dich versteckst, für die Misere mit deinen Kreditkarten verantwortlich sind. Vor ein paar Jahren wurden alle Kreditkartenkäufe über den sogenannten FEP (Front-end-Prozessor) in Hamburg geleitet.
Dieser Zentralcomputer war für das Online-Genehmigungs-Verfahren vieler Kreditkartenkäufe in Deutschland zuständig. Inzwischen wurde dieser Zentralrechner jedoch ersetzt und sein großer europäischer Nachfolger steht meines Wissens in Frankreich. Dort laufen so ziemlich alle Genehmigungsanfragen zusammen.
Wenn also jemand herausfinden möchte, wo du dich zu einer bestimmten Zeit befindest, dann folgt er sicher der Spur, die du mit deinen Kreditkarten hinterlässt. Dazu braucht er nur alle deine Karten auf eine Blacklist im System zu setzen und dann alle abgewiesenen Zahlungsversuche, die von deinen Karten stammen, zum Kartenlesegerät zurückzuverfolgen.“
„Ich hab es!!!“, rief Ralf erleichtert, als er einen Aktenordner öffnete.
„Das sind die Zugangsdaten, die zur Videoanlage der Tankstelle gehören.“ Er schubste Stefan zur Seite und setzte sich an den Computer hinter ihn.
Schnell tippte er eine IP-Nummer in eine geöffnete Internetseite und schon sahen sie online in die Videobilder der Tankstelle.
Es waren insgesamt neun Kamerabilder zu sehen. Vier zeigten das Tankfeld, eins die Eingangstür zum Verkaufsraum und vier weitere den Verkaufsraum inklusive Kassenbereich.
Ralf konnte via Internet die Videoanlage sogar von Weitem steuern, was er auch sofort tat. Er konnte vorspulen, zurückspulen, so wie man es von der Fernbedienung zu Hause kannte.
Nach einem Moment sah Stefan eine Aufzeichnung davon, wie er wenige Minuten zuvor in der äußerst peinlichen Situation vor der Tankstellenkasse stand.
Ohne zu zögern, löschte Ralf die Aufnahme und ersetzte sie durch eine andere vom Vortag. Die Übergänge der Szenen wählte er sorgfältig aus. Dabei achtete er darauf, dass sich zu Beginn und Ende der Szene nur jeweils der Kassierer, der zum Glück am Vortag die gleiche Arbeitskleidung trug, allein im Shop befand.
Oben rechts am Bildrand war eine Uhrzeit angezeigt, zum Glück jedoch nicht das Datum.
Ralf erklärte, dass er damals, als er die Anlage konstruierte, bewusst darauf verzichtet hatte, um möglichst viele Details darstellen zu können. Und da jeder Tag einzeln gespeichert wurde, erübrigte sich die erneute Anzeige des Datums im eigentlichen Bildausschnitt.
Nachdem er also eine Szene zeitgenau eingefügt hatte, klickte er auf den Wiedergabebutton.
Ein etwa 20-jähriger junger Mann stand nun laut Aufzeichnung an der Kasse und der Kassierer gab ihm gerade die Karte zurück. Auch er hielt eine Kreditkarte in der Hand.
Stefan verstand die ganze Aktion und deren Notwendigkeit zwar nicht, aber Ralf kannte sich durch die Zusammenarbeit mit seinem Bruder in diesen Dingen wesentlich besser aus als er.
„So! Das wäre erledigt“, sagte Ralf kurz und schaltete zurück zu den Livebildern.
Inzwischen stand ein Mann vor dem Eingang und blockierte diesen für die Kundschaft. Er sah aus wie einer der Türsteher, die vor den Diskotheken die Leute abwiesen, deren Gesicht ihnen nicht passte.
Was Ralf und Stefan jedoch im Inneren des Verkaufsraumes zu sehen bekamen, trieb ihnen im wahrsten Sinne des Wortes den Angstschweiß auf die Stirn.
Zwei weitere Männer waren offensichtlich zum Kassierer vorgedrungen und sprachen mit ihm. Als dieser jedoch gerade zum Telefonhörer greifen wollte, packte ihn einer der beiden an den Haaren und schlug ihn mit dem Kopf auf den Kassentresen, wo sich rasch ein Blutfleck bildete.
Der andere Mann sprang über eine Art Saloontür, die den Kassenbereich vom Kundenbereich trennte und verschwand aus dem Sichtfeld der Kamera.
„Wir müssen sofort die Polizei rufen“, flehte Stefan Ralf an.
In dem Moment wurden sämtliche Livebilder eingefroren und sie sahen nur noch ein Standbild.
„Was ist jetzt passiert?“, fragte Stefan verblüfft.
„Nun, die Typen haben sich wohl gerade meine schöne Videoanlage unter den Nagel gerissen, um die Aufnahmen später auszuwerten. Darum habe ich die Bilder manipuliert.
Sie wissen jetzt zwar, wo sich deine Kreditkarten vorhin befunden haben, allerdings nicht, wo du dich zurzeit aufhältst.
Die Karten ordnen sie hoffentlich dem Jüngling zu, der sie dir auch geklaut haben könnte.
Jetzt können wir uns deinem Telefonat mit Klaus zuwenden.
Ich habe diesmal zwar kaum Zeit gehabt, dir eine aufwendige Verbindung zu basteln, aber über ein paar Stationen werde ich das Gespräch wohl leiten können.“
Ralf erklärte Stefan jeden dafür erforderlichen Schritt, während er ihn ausführte. Als Erstes verband er seine Telefonanlage mit einem Laptop, in dem sich eine zum Tonfrequenzgenerator modifizierte Soundkarte befand.
„So! Mit diesem kleinen Wunderwerk der Technik schicke ich eine bestimmte Abfolge von Hochfrequenztönen im Millisekundenbereich durch das Telefonnetz. Sobald die Verbindung steht, messe ich die Zeit, bis die Töne wieder zu uns zurückkommen.
Solange alles stabil läuft, werde ich eine saubere Serie meiner eingespeisten Töne mit konstanter Zeitverzögerung erhalten. Zumindest sollte das deine Freunde eine Zeit lang beschäftigen. Sobald die mitbekommen, dass ich ein Messsignal aufmoduliert habe, werden sie mit Gewissheit versuchen es zu simulieren, um sich unerkannt ins Gespräch einschalten zu können.
In Wahrheit nutze ich jedoch den Gebührenimpuls, den die Telefongesellschaften zur Abrechnung benötigen. Wenn sich also jemand ins Gespräch einklinkt, dann erzeugt er zwangsläufig Signalstörungen in genau diesem Frequenzbereich.
Ich brauche dann nur noch die Verzögerungszeit zu berechnen und schon weiß ich, an welcher Stelle unserer kleinen Umleitung sich der Eindringling gerade elektronisch befindet.“
Bereits zehn Minuten später hatte er eine Telefonverbindung über sechs europäische Städte aufgebaut. Ralf zeigte Stefan den Weg des Gesprächs auf einer Landkarte auf dem Computermonitor.
„Ich kann von hier aus alles verfolgen und das Gespräch jederzeit trennen. Solange die Teilabschnitte rot aufleuchten, ist alles in Ordnung. Wenn sie sich jedoch gelb verfärben, dann haben wir Gesellschaft.
Also los! Ich starte jetzt den Wählvorgang.“
Die Wartezeit bis Stefan endlich das Rufzeichen hörte, erschien ihm wie eine Ewigkeit.
„Hallo?“
„Klaus ich bin es. Ich wollte … …“
„Wo treibst du dich herum? Und erzähl mir diesmal keine Geschichte über dein Buch und irgendwelche Filme. Ich versuche seit Tagen dich zu erreichen. Aber anscheinend hast du es nicht einmal mehr nötig dein Handy einzuschalten.“
„Ich ähh … … …“
„In deiner Firma ist die Hölle los. Am Mittwoch tauchten drei Leute von der Steuerfahndung auf und stellten alles auf den Kopf.
Frau Janke wusste sich keinen Rat und rief mich sofort an. Anscheinend hatte sie denen erzählt, dass wir die besten Freunde wären und ich einen Satz Schlüssel zu deiner Wohnung habe.
Ich hatte nicht einmal die Zeit, meine Arbeit zu erledigen. Die drei Typen standen eine halbe Stunde später in meinem Büro und verlangten von mir, sofort mit ihnen in deine Wohnung zu fahren.
Die haben deinen Computer und mehrere Kartons Papiere mitgenommen. Was ist also los?“
„Sie sind bei Nummer drei“, hörte Stefan Ralf hinter sich. „Sage, was du zu sagen hast und dann nichts wie raus.“
Nach einem kurzen verwirrten Blick zu ihm wandte Stefan sich sofort wieder dem Telefon zu.
„Klaus? Ich kann dir jetzt nicht erklären, was los ist. Am besten du … … …“
„Vier“, hörte er Ralf hinter sich.
„Schicke bitte meine Leute in Urlaub und schließe alles … ...“
„Fünf“
„Klaus? Klaus?“
„Ich musste trennen“, hörte Stefan die Stimme von Ralf sagen.
„Die wären direkt hier bei uns im Wohnzimmer gelandet.“
Stefan sah ihn verstört an, und auch Ralf machte zum ersten Mal seit Stefan ihn kannte, einen fassungslosen Eindruck. Er schüttelte verständnislos den Kopf.
„Was sind das für Typen? Ich habe schon einige Experten gesehen, aber so schnell wie die war noch niemand.
Normalerweise braucht man mindestens 20 Minuten, um die ersten drei Stationen zu knacken. Die haben nicht einmal vier Minuten für fünf Stationen benötigt.
Spielen die zufällig auch Computerspiele? Dann hätte ich endlich mal ernst zu nehmende Gegner.“
Stefan saß, das Gesicht in seine beiden Hände gelegt, regungslos da. Nach einem kurzen Moment hob er den Kopf und sah Ralf aus geröteten Augen an.
„Ich wollte, es wäre nur ein Spiel mein Freund. Ich wollte, es wäre eins.“
Noch in derselben Nacht brachen Stefan und Goran in Richtung Italien auf. Ralf verschaffte ihnen einen neuen Zugang zu Stefans Firmenkonto, indem er einen neuen Kreditkartencode auf die vorhandene Karte programmierte, sodass er unterwegs wenigstens liquide war.
Er hatte die Telefonverbindung unter anderem über eine kleine Stadt in Slowenien geleitet, wo er sie dann letztendlich auch kappte. Die Chancen, dass Schwarzenbecks Leute Stefan dort unten vermuteten, standen also gut, aber für Ralf immer noch nicht gut genug.
„Wenn ich mich richtig erinnere, dann habt ihr Handelsvertreter doch auch reine Tankkarten.“
Er hatte recht.
Genau wie jeder von Stefans Berufskollegen hatte auch er damals vom Konzern eine Tankkarte bekommen, die ihm bei einer bestimmten Mineralölgesellschaft Rabatte auf Kraftstoffe, Motoröl und Autowäschen gewährte.
Ralf bat Stefan vor seiner Abreise um diese Karte.
Als Stefan fragte, was er damit vorhabe, antwortete Ralf nur, dass die Slowenen auch Tankstellen mit Videoanlagen und Kreditkartenterminals hätten. Mehr müsse Stefan nicht wissen.
Der Weg durch Süddeutschland und Österreich nach Italien sollte, wenn alles wie erhofft funktionierte, zumindest bald sicher sein.
Stefans alter Freund hatte ihm vor seiner Abreise noch ein mobiles Navigationssystem in die Hand gedrückt und bereits die sizilianische Adresse des Konzerns darin einprogrammiert.
Sie brauchten also nur den Anweisungen der kleinen Frau mit der angenehmen Stimme zu folgen, die in vielen dieser technischen Wunderwerke sitzt, um unqualifizierte Beifahrer zu ersetzen.
Die Fahrt zog sich scheinbar endlos hin, sodass sie mehrere Pausen einlegen mussten. Teilweise hielten sie nur kurz auf einem Parkplatz an, damit Stefan eine Zigarette rauchen konnte. Dreimal jedoch besuchten sie eine Raststätte, um etwas zu trinken und die Toilette aufzusuchen.
An den Grenzübergängen wurden sie jeweils zügig durchgewunken, sodass sie recht gut vorankamen.
Kurz hinter der italienischen Grenze entdeckte Stefan sofort eine Niederlassung der Autovermietung Europcar, von der er bereits ein Fahrzeug benutzte. Zeit, sich ein anderes Auto zu besorgen, entschied er. Unter dem Vorwand, dass etwas mit dem Fahrzeug nicht in Ordnung wäre, tauschten sie dieses um.
Goran, der ziemlich gut italienisch sprach, half beim Dolmetschen. Sie hatten die Wahl zwischen mehreren Audi A3 und einem VW-Golf. Ein kurzer Blick aus dem Fenster verriet ihnen, dass nur der Golf ein italienisches Kennzeichen besaß, weshalb sie sich spontan für ihn entschieden.
Wenn ihnen jemand auf der Spur wäre, dann würden sie in einem einheimischen Auto wohl am wenigsten auffallen. Zumindest hofften sie es. Auch Goran war mittlerweile sehr misstrauisch geworden.
Von jeder Person, die ihnen begegnete, fühlte sich Stefan beobachtet. Besonders zwei Männer, die bei einem ihrer Rastplatzbesuche unmittelbar nach ihnen aus einem Auto stiegen und sich auch in der Gaststube in ihrer Nähe aufhielten, bereiteten Stefan ein unangenehmes Gefühl.
Er versuchte dem Gespräch der beiden Männer zu folgen, was ihm jedoch nicht gelang, weil sie sich dafür zu leise unterhielten.
Sie waren wie Geschäftsleute gekleidet und einer der beiden hatte einen Aktenkoffer bei sich, den er auf den leeren Stuhl neben sich legte. Stefan ließ die beiden Männer nicht eine Minute aus den Augen.
Goran, der Stefan seine innere Unruhe ansah, bat ihn den Rasthof zu verlassen, um weiterzufahren.
Stefan bezahlte die Rechnung und sofort machten sie sich auf den Weg zum Auto.
Jedoch fuhren sie nicht sofort in Richtung Autobahn, sondern erst einmal um das Gebäude herum zu einem Platz, von dem aus sie das Fahrzeug der vermeintlichen Verfolger beobachten konnten.
Wenn die es auf sie abgesehen hätten, dann, so vermutete Stefan, würden sie ihnen sofort hinterhereilen. Nach ca. 15 Minuten kamen die beiden jedoch gemütlich schlendernd zu ihrem Auto, stiegen ein und verschwanden im nächtlichen Verkehr.
Laut Goran ging von den beiden zu keiner Zeit eine Gefahr aus, aber diese Vermutung reichte Stefan einfach nicht aus. Er wollte ganz sichergehen.
Vielleicht hatte er aber auch immer noch Schwierigkeiten Gorans Kräften uneingeschränkt zu vertrauen. Menschen wie er gehörten einfach nicht zu seinem Weltbild.
Auf Fähigkeiten, wie Goran sie besaß, trifft man nun mal nicht jeden Tag. Wie soll man also damit umgehen können, wenn sie einem doch begegnen?
Da gab es zum Beispiel eine Fähigkeit, von der Goran in dieser Nacht berichtete. Sie hatten gerade den Rasthof verlassen, als er darauf zu sprechen kam.
Seit der Abreise aus Berlin waren inzwischen schon über 24 Stunden vergangen und sie hatten ihre Fahrt nur immer für kurze Zeit unterbrochen, um etwas zu essen oder ein paar Minuten zu entspannen.
„Wie konntest du so sicher sein, dass die beiden nicht hinter uns her waren?“, fragte Stefan seinen jungen Begleiter.
„Nun ich kann mich auf mein Gespür ziemlich gut verlassen. Ich merke sehr schnell, ob sich jemand für mich interessiert.“
Im Laufe dieser Etappe erfuhr Stefan von einer Gabe, die Goran selbst erst vor ein paar Monaten entwickelt hatte und die er ›das Feedback‹ nannte.
Es war damals, nachdem er dem armen Kerl während einer Führung durch Birds Paradise mit seinen Kräften so schrecklich zugesetzt hatte.
Goran hatte sich danach schwere Vorwürfe gemacht, weil dieser Mann seitdem nicht mehr sprechen konnte und keine Chance auf Heilung existierte.
Er wusste, dass etwas Derartiges nie mehr geschehen durfte. Nie mehr wollte er einem Menschen wehtun.
Also entwickelte er ›das Feedback‹. Man könnte es als eine abgewandelte Form des Ausspruchs ‚Wie du mir, so ich dir‘ bezeichnen.
Goran spürte sehr schnell, wenn er es mit jemandem zu tun hatte, der einem etwas Böses wollte. Dazu reichte es aus, dass dieser Mensch an etwas dachte und hoffte, dass einer anderen Person gleich etwas zustoßen würde.
Er erklärte es anhand eines kleinen Beispiels:
„Nehmen wir an, dass zwei Personen zusammen spazieren gehen und eine dieser Person weiß, dass der andere jeden Moment gegen ein Hindernis laufen oder über etwas stolpern wird. Er könnte den anderen warnen, aber er tut es nicht.
Schadenfreude ist der Begriff, an den wir alle in so einem Moment denken. Wir alle würden mit größter Wahrscheinlichkeit in dieses Missgeschick tappen und uns anschließend der Schadenfreude des anderen aussetzen.
Teilweise treibt es uns Menschen sogar dazu, die Situation bewusst herbeizuführen, um unser momentanes Bedürfnis an Schadenfreude zu befriedigen.“
Goran passierte dies im Normalfall nicht. Er war in der Lage die Absicht des anderen zu erkennen und darauf zu reagieren.
In dem Moment erzeugte er eine Art Rückkopplung, die das erwartete Ereignis auf denjenigen selbst projizierte, sodass dieser zuletzt das Opfer seiner eigenen Gedanken würde.
Anders als damals, wo er einem Menschen aus blinder Wut Leid zufügte, bekommt die Person nur das Ausmaß ihrer eigenen negativen Gedanken zu spüren.
Wie gesagt, Goran war ein ganz besonderer Mensch, an dessen Kräfte sich auch Stefan erst gewöhnen musste. Aber dazu hatte er, bis sie Schwarzenbeck gegenüberstehen würden, noch ausreichend Zeit.
Die Alpen hatten sie bereits hinter sich gelassen und durchfuhren gerade eine Autobahnbaustelle nach der anderen. Wer glaubt, dass es diese nur bei uns Deutschland gibt, der irrt sich gewaltig.
Spätestens nach Beendigung der Reisezeit im Sommer gibt es unzählige Straßenschäden, die es vor der nächsten Reisewelle zu beheben gilt. Im Allgemeinen haben speziell die Österreicher und Italiener aufgrund ihrer beliebten Wintersportgebiete dafür meist nur zwei bis drei Monate zur Verfügung.
So passierten sie also eine Baustelle nach der anderen. Es dämmerte bereits, als sie Villa San Giovanni erreichten. Von dort aus war die Fährverbindung nach Sizilien ausgeschildert und man hatte augenblicklich das Gefühl, das Meer riechen zu können.
Dank der Einführung des Euros brauchten sie sich nicht mit Umrechnungskursen zu befassen, sondern konnten die ganze Fahrt über in der eigenen Währung bezahlen. Besonders in Italien wussten sie dies zu schätzen. Die Luft war um einige Grad wärmer als in Deutschland, sodass Stefan den Reißverschluss seiner Jacke nicht schließen musste. Wie gerne hätte er diese Gegend einfach nur genossen und sich selbst in Urlaubsstimmung versetzt!
Nun, an diesem kühlen Morgen sollte ihm dieses Vergnügen nicht vergönnt sein. Die Überfahrt dauerte, nachdem sie über zwei Stunden im Hafen warten mussten, nur 15 Minuten, und nach einer weiteren Stunde konnten sie den Wagen besteigen und die Fahrt wieder aufnehmen.
Goran war inzwischen todmüde, aber ein Hotelzimmer wollten sie vorsichtshalber nicht mieten. Es reichte aus, dass bereits jemand Stefans Kreditkarten gesperrt hatte.
Ohne die neue Karte, die Ralf vorsichtshalber mit einem anderen Namen Stefans Firmenkonto zugeordnet hatte, wären sie nicht einmal aus Berlin herausgekommen.
In einem Hotel hätten sie zum Einchecken ein amtliches Dokument vorlegen müssen. Dies erschien ihnen einfach zu gefährlich. Nachdem sie so weit gekommen waren, wollten sie so kurz vorm Ziel kein unnötiges Risiko mehr eingehen.
Das Navigationsgerät von Ralf hatte vor dem Übersetzen mit der Fähre eine Restfahrzeit von 3 Stunden und 40 Minuten prophezeit. Also war noch ausreichend Zeit, bis Teichmann, wenn er denn überhaupt in der sizilianischen Niederlassung wäre, Feierabend machen würde.
In Deutschland war er meist bis 17.00 Uhr in seinem Büro erreichbar, also blieben ihnen noch mehr als sechs Stunden für ein kleines Frühstück und die Fahrt zum Firmengelände.
‚Erst mal so nah wie möglich ans Ziel’, dachte Stefan und drehte den Zündschlüssel.
Doch wohin?
Das Navigationsgerät teilte ihm just in diesem Augenblick mit, dass es zurzeit kein GPS-Signal empfangen könne. Ein Blick zum Himmel brachte die Erklärung. Es zogen dunkle Regenwolken auf, die den Empfang verhinderten.
Also fuhren sie ohne jegliche Orientierung einfach los. Der einzige Wegweiser, dem sie folgen konnten, war das Meer, welches links von ihnen lag. Außer der Tatsache, dass sich der Firmensitz im Süden Siziliens befand, wussten sie nichts, woran sie sich sonst hätten orientieren können.
Sie kannten nicht einmal den Namen des Ortes. Alles war in diese Kiste einprogrammiert und nur die weibliche Stimme, die sie bis nach Italien gebracht hatte, kannte den kürzesten Weg dorthin.
Zeitweise fuhren sie in Schrittgeschwindigkeit die Küstenstraße entlang. Der Scheibenwischer lief ununterbrochen, teils unfähig, der Wassermassen, die auf die Windschutzscheibe peitschten, Herr zu werden.
Nach ungefähr viereinhalb Stunden verkündete die Stimme im Navigationsgerät endlich, die weitere Route neu zu berechnen.
‚Drei Stunden und einundzwanzig Minuten bis zum Ziel.’
Sie hatten zwar keine Chance es noch rechtzeitig zu schaffen, aber wenigstens gab es wieder ein Ziel, eine Route, der sie folgen konnten.
Ihre Mägen knurrten inzwischen lautstark, aber nach der Irrfahrt, die hinter ihnen lag, wollten sie nur noch so schnell wie möglich am Ziel ankommen.
Gegen 18.45 Uhr war es endlich so weit.
Stefan kannte zwar die gehobene Qualität, in der sich der Berliner Firmensitz präsentierte, doch das, was man in Sizilien mitten in eine Einöde abseits jeder Zivilisation errichtet hatte, übertraf all seine Erwartungen.
Inmitten eines Grundstücks, das von fünf Meter hohen Zäunen umgeben war, stand ein riesiger Glaspalast. Alle Scheiben waren verspiegelt. Er schien tatsächlich nur aus Stahl und Glas zu bestehen. Nicht einmal ein gemauertes Fundament war auszumachen.
Stefan nahm seine Digitalkamera zur Hand, um sie als Fernglas zu benutzen. Einige Büros schienen noch erleuchtet zu sein, während andere völlig im Dunkeln lagen. Anscheinend war der Feierabend noch nicht endgültig eingeläutet.
Etwas seitlich vom Haupteingang auf der rechten Seite entdeckten sie einen fast leeren Parkplatz. Dennoch zählte Stefan 18 Mittelklassewagen sowie vier BMW und zwei Mercedes.
Teichmann war der typische Mercedesfahrer. Also konzentrierten sie sich auf die sechs großen Fahrzeuge. Dabei löste sich Stefan regelmäßig mit Goran ab.
Bis etwa 19.30 Uhr hatten bereits fast alle Autos das Gelände verlassen. Nur noch die beiden Mercedes, zwei BMW und sechs Lieferwagen, mit dem Firmenlogo auf beiden Seiten, sowie drei Mittelklassewagen zierten den Parkplatz.
Die Kamera signalisierte durch eine rote LED, dass der Akku dringend aufgeladen werden wollte, und sie mussten sie bereits zweimal neu einschalten. Ein Opel Vectra verließ gerade das Gelände, als die Kamera endgültig ihren Dienst quittierte.
Hastig warf Stefan seine Zigarette auf den Boden und trat sie aus. Zu seinen Füßen lagen inzwischen einige davon.
„Wir müssen näher heran. Von hier aus haben wir keine Chance etwas zu erkennen.“
Goran deutete auf die Überwachungskameras, die im Abstand von ungefähr 10 Metern auf den Pfosten des Zaunes platziert waren. Sie schwenkten unermüdlich einen circa fünf Meter breiten Streifen außerhalb der Anlage ab.
Irgendwie mussten sie es schaffen, sich unbemerkt anzunähern.
Stefan begann leise zu zählen, um festzustellen, in welchen Intervallen die Kameras einen bestimmten Punkt erfassten. Nach fünf Durchläufen war er sicher. Sie hätten genau zwölf Sekunden, um sich einen sicheren Platz am Zaun zu suchen.
Oberhalb der Kameras befanden sich jeweils zwei Scheinwerfer, die je einen Lichtstrahl erzeugten, der sich mit dem des benachbarten Scheinwerfers überlappte. Der einzig sichere Ort schien also direkt am Pfosten unterhalb der Kamera zu sein.
Noch einmal zählten sie gemeinsam bis zwölf, um sich zu synchronisieren. Dann liefen sie los. Goran war wesentlich schneller als Stefan, sodass der die letzten drei Meter mit einem Sprung nehmen musste, während Goran schon da stand.
„Hast du dir wehgetan?“
„Nein, es scheint noch alles dran zu sein“, sagte Stefan und versuchte seine Prellung an der linken Hüfte vor Goran zu verbergen.
In dem Moment öffnete sich die Tür und ein Mann trat heraus. Stefan sah ihn stumm an.
„Was ist?“, fragte Goran.
„Das ist er. Das ist Teichmann.“
Über ihren Köpfen hörten sie, wie die Kamera gegen einen ihrer zwei Endanschläge fuhr. Automatisch begannen sie beide wieder mitzuzählen. 10, 11, 12. Dann rannten sie erneut los.
Wahrscheinlich immer noch unbemerkt vom Wachpersonal erreichten sie das Auto, wo Stefan in seiner Aufregung den Schlüssel fallen ließ.
„Er ist schon am Tor“, rief Goran ihm zu.
Stefan suchte den Boden ab. Irgendwo musste der Schlüssel liegen. Dann. fast unter dem linken Hinterreifen fand er ihn endlich. Teichmann hatte das Grundstück bereits verlassen, als Stefan mit zittriger Hand den Motor startete.
„Welche Richtung?“, schrie er Goran an. „Welche Richtung?“
„Er ist dort hinten nach rechts abgebogen.“
Fünf Minuten lang folgten sie der Straße, bis Goran endlich ein paar Rücklichter ausmachte. Vorsichtig näherten sie sich dem Fahrzeug.
Es war ein Mercedes. Auch die Farbe stimmte.
Sie ließen sich wieder etwas zurückfallen und folgten Teichmann im sicheren Abstand. Nach ein paar Minuten verließ er unvermittelt die Straße und bog in eine kleinere ab.
Sie war kaum zu erkennen und völlig von Sträuchern zugewachsen. Auch handelte es sich eher um einen unbefestigten Feldweg. Sie hörten, wie das dichte Gestrüpp außen gegen den Golf schlug.
Die Rücklichter des vor ihnen Fahrenden waren kaum noch auszumachen, bis sie endgültig in der Dunkelheit verschwanden. Stefan schaltete die Scheinwerfer des Autos ab, weil er nicht wusste, was sie erwarten würde.
Kurze Zeit später erreichten sie eine alte Lagerhalle. Die Straße oder was immer sie hierher führte, endete genau an dieser Halle. Von dem Mercedes war jedoch nichts mehr zu entdecken. Er schien vom Erdboden verschwunden zu sein.
Etwas abseits der alten Lagerhalle standen die Überreste mehrerer kleiner Gebäude, bei denen jedoch einige Wände sowie oftmals auch die Dächer fehlten. Anscheinend ein ehemaliges Industriegelände, das wohl schon jahrelang verlassen war. Alles schien menschenleer zu sein. *bei „anscheinend“ sieht es nur so aus als ob, dann kann es nicht im selben Satz auch offensichtlich sein!)
Stefan lenkte den Golf in ein Gebüsch und stellte den Motor ab.
„Was meinst du? Wollen wir aussteigen?“
Goran nickte stumm.
Leise stiegen sie aus. Selbst beim Schließen der Türen versuchten sie möglichst keine Geräusche zu verursachen. Das Auto deckten sie mit ein paar herumliegenden Ästen ab, damit es nicht sofort entdeckt werden konnte.
Dann machten sie sich auf den Weg zur Halle.
Auch sie schien verlassen zu sein. Sie liefen um das Gebäude herum, konnten aber nichts entdecken. Eine verrostete Tür war der einzige erkennbare Zugang.
Vorsichtig berührte Stefan die Türklinke. Sie ließ sich bewegen. Langsam drückte er sie herunter. Die Tür war nicht verschlossen. Mit leisem Knarren gaben die Scharniere nach. Stefan öffnete sie die Tür behutsam und dann gingen sie hinein.
Was sie vorher nicht erkennen konnten, war die Tatsache, dass größere Teile des Dachs fehlten. Zwischen den eingestürzten Dachziegeln und Balken entdeckten sie ein paar umgefallene Regale. Deshalb hatte sich also niemand die Mühe gemacht das Gebäude zu verschließen.
Da es immer noch stark bewölkt war, hatten sie Schwierigkeiten, im Raum etwas zu erkennen. Vorsichtig tasteten sie sich durch die Dunkelheit.
Goran, der ein paar Schritte hinter Stefan war, trat auf etwas, das ihn fast zu Fall brachte. Es war, wie er sagte, weich und schmierig. Stefan holte sein Feuerzeug aus der Tasche, um im schwachen Licht der Flamme festzustellen, dass Goran auf eine tote Ratte getreten war.
Ein leises Rascheln am anderen Ende des Raumes deutete darauf hin, dass sie hier nicht die einzige ihrer Art war. Sie war anscheinend von ihren Artgenossen zur Hälfte aufgefressen worden. Am restlichen Kadaver machten sich ein paar Insekten zu schaffen.
Der Fußboden war komplett von einer dicken Staubschicht bedeckt, was darauf hindeutete, dass sich hier seit Jahren kein Mensch mehr aufgehalten hatte. Dafür waren unzählige kleine dunkle Striche auszumachen, die offensichtlich von den Ratten stammten.
Diesmal waren sie wirklich in eine Sackgasse geraten.
Doch wo war Teichmann?
Welche Abfahrt hatten sie übersehen?
Enttäuscht gingen sie wieder zur Tür und wollten so schnell wie möglich weg von diesem Ort. Plötzlich blieb Goran stehen. Stefan, der sich nur etwas hinter ihm befand, lief auf ihn auf und fragte, was denn los wäre.
Goran blickte nur stumm nach vorne.
Unmöglich zu schätzen, wie viele dieser kleinen leuchtenden Augen es waren, in die sie sahen. Sie waren in eine Brutstätte von Ratten geraten, denen sie anscheinend als Abwechslung ihres Speiseplans dienen sollten.
„Nicht schnell bewegen“, bat Stefan. „Lass uns langsam zurück zur Tür gehen.“
„Diese Tür?“, fragte Goran und deutete auf den Ausgang.
„Ich hatte sie beim Hereinkommen offen gelassen. Hast du sie verschlossen?“
Goran schüttelte den Kopf.
„Die Regale!“, flüsterte Stefan. „Wenn wir die erreichen, dann haben wir eine Chance.“
Anscheinend wusste Goran noch nicht, auf was er hinaus wollte.
„Aus was besteht deine Jacke?“, wollte Stefan von ihm wissen.
„Ich weiß nicht“, erwiderte er.
„Nun, so billig, wie sie aussieht, würde ich auf Kunstfaser tippen. Zieh sie aus. Ich habe da eine Idee.“
Vorsichtig bückte sich Stefan nach einem Regalteil, das auf dem Boden lag. Es handelte sich um den noch nicht verrosteten Teil eines Eckpfostens, in den man Querverstrebungen und später Regalböden einstecken konnte.
Eine Ratte nahm die Bewegung sofort wahr und sprang um das ihm zugewandte Ende herum. Stefan bewegte seine Hand im Zeitlupentempo darauf zu, wobei er die ganze Zeit über das Tier nicht aus den Augen ließ. Es gehörte zwar nicht zu den Größten seiner Art, aber das machte es mit Gewissheit nicht ungefährlicher.
Für die letzten paar Zentimeter schloss er seine Augen. Dann fasste er entschlossen zu. Im selben Moment sprang das Tier auf Stefans Arm und biss in seine Hand. Augenblicklich verkrampften sich seine Finger um das kalte Metall.
Die messerscharfen Zähne bohrten sich durch das Fleisch. Es war nur ein einziger fester Biss, aber den würde dieses kleine Monster freiwillig niemals lockern. Merkwürdigerweise war noch kein Blut zu entdecken, was darauf zurückzuführen war, dass dieses Biest seinen Biss nicht einmal löste.
Irgendwie musste er dieses Vieh loswerden.
Mit seiner zweiten, noch freien Hand schlug er so kräftig er es vermochte auf seinen Arm, um den sich die Beine der Ratte festkrallten. Seine Schläge waren so hart, dass er nicht mehr unterscheiden konnte, welchen Schmerz ihm die Ratte und welchen er sich selbst zugefügt hatte.
Als sie endlich nachgab und von ihm abließ, schleuderte Stefan sie im hohen Bogen durch den Raum. Ihre Artgenossen sahen die beiden immer noch in Lauerstellung wartend an.
Wenigstens hatte Stefan jetzt das Regalteil. Es war fast zwei Meter lang und dementsprechend schwer.
„Schnell! Binde deine hässliche Jacke um das Ende.“
Goran zögerte keinen Augenblick und knotete die Ärmel am Ende des Regalteils fest, das Stefan ihm entgegenstreckte.
„Jetzt nimm langsam das Feuerzeug aus meiner Tasche und zünde die Jacke an. Nur keine hastigen Bewegungen!“, mahnte Stefan ihn.
Nur zögernd und ganz langsam bewegte er sich. Die ganze Zeit über beobachteten sie die kleinen leuchtenden Augen. Es schienen immer mehr zu werden. Sofort fing die Jacke Feuer und spendete Licht. Im selben Augenblick erwachte die Meute um sie herum zum Leben. Sie griffen zwar nicht an, aber das Geschrei, welches sie anstimmten, ging ihnen durch Mark und Bein. Stefan wedelte mit der Fackel vor seinen Füßen, um sie sich von Leibe zu halten.
„Goran. Wie fest ist das Regal?“
Goran wusste sofort, welches Regal Stefan meinte und ruckte kurz daran.
„Es scheint stabil zu sein.“
Es war ein Regal, welches an der Wand stand und bis fast unter das Dach reichte.
„Du zuerst“, befahl Stefan.
Vorsichtig begann Goran mit dem Aufstieg, während Stefan die Fackel weiter vor sich her schwenkte und ihm im Rückwärtsgang blind folgte. Ein paar Mal musste ihn Goran am Arm packen und ihn einen Teil heraufziehen. Die Ratten kamen zwar näher, aber folgten nicht nach oben. Anscheinend waren inzwischen alle aus ihren Löchern gekrochen und hofften nun auf den Absturz der beiden.
Es waren noch ungefähr zwei Meter bis nach ganz oben, als das letzte Stück der Jacke verbrannt war. Stefan warf es in die Menge, wobei er einige der Viecher erwischte, über die ihr eigenes Volk sofort herfiel, um sie zu verspeisen. Wenigstens für den Augenblick waren sie beschäftigt, sodass Stefan und Goran Zeit hatten, den obersten Regalboden zu erreichen. Es war das einzige Regal, das noch stand. Jedoch verdankten sie diesen Umstand nur der Tatsache, dass das Dach darüber noch intakt war. Zumindest konnten sie die Dachziegel erreichen.
Hinter diesen Ziegeln lag die ersehnte Freiheit. Sie schlugen mit bloßen Fäusten darauf ein, wobei sie sich ihre Hände aufschnitten. Irgendwann hatten sie eine Luke freigelegt, die so groß war, dass sie durchschlüpfen und aufs Dach klettern konnten.
Die Halle war circa fünf Meter hoch. Im Inneren sollten sie als Abendbrot dienen, und in die ersehnte Freiheit springen war aus dieser Höhe unmöglich.
„Goran hilf mir jetzt. Wenn wir die Regenrinne weit genug lösen, dann könnten wir sie absenken und an ihr runterklettern. Sie darf nur ich brechen.“
Immer wieder drehten sie sich zu der Lücke im Dach um. Aber die Ratten folgten ihnen nicht. Sie schauten zwar zu ihnen herüber, kamen aber nicht auf das Dach.
Inzwischen hatten Stefan und Goran einen großen Teil der Regenrinne gelöst, und machten sich daran diese abzusenken. Stefan zählte bis drei. Dann ließen sie die Rinne los und sahen in die Tiefe. Stefan hielt Goran fest an sich gepresst. „Bitte, bitte nicht brechen“, murmelte er vor sich hin.
Sie hatten sich jedoch in der Länge verschätzt. Anscheinend war das Gebäude doch höher, als sie von oben erkennen konnten. Als die Rinne aufhörte zu pendeln, sahen sie es.
Es fehlten mehr als zwei Meter bis zum Boden.
Nacheinander machten sie sich an den Abstieg. Wissend, dass sie das letzte Stück springen mussten. Hoffend, dass der obere Teil nicht abbrach. Weil sie besonders vorsichtig sein mussten, erschien ihnen die dafür benötigte Zeit wie eine Ewigkeit, aber irgendwie schafften sie es. Nach einiger Zeit hatten sie wieder festen Boden unter den Füßen.
„So, jetzt schnell zurück zum Auto und dann nichts wie weg.“
Doch auch das war leichter gesagt, als getan. Sie hatten das Auto bei ihrer Ankunft nicht verschlossen, um Geräusche zu vermeiden. Allerdings hatte Stefan auch den Schlüssel stecken lassen, um auf eine eventuelle schnelle Flucht vorbereitet zu sein. Sie hörten gerade noch, wie sich das Geräusch des Motors von ihnen entfernte, bevor sie enttäuscht zu Fuß losgingen.
Die Wolkendecke brach auf und im fahlen Mondlicht, das immer wieder hindurchschien, suchten sie den Weg zurück zur Hauptstraße, wo sie mit etwas Glück ein Auto stoppen und per Anhalter weiterkommen würden.
Sie könnten zur nächsten Polizeidienststelle gelangen und den Autodiebstahl anzeigen. Zumindest war dies der Plan, als sich Stefan im Schutz einer der vielen Ruinen eine seiner letzten Zigaretten anzündete.
„Kannst du das noch mal machen?“
Verwundert sah er Goran an.
„Was soll ich noch mal machen? Stehen bleiben, rauchen oder frieren?“
Stefan hatte ihm seine Jacke geliehen und deshalb war seine letzte Bemerkung als kleine, nicht böse gemeinte Anspielung gedacht.
„Mach bitte noch einmal das Feuerzeug an.“
Nun, wenn er bald keine Zigaretten mehr hätte, dann konnte er auch genauso gut sein letztes Feuerzeuggas verbrauchen.
„So, nun ist es an. Was haben wir jetzt davon?“
„Zumindest können wir jetzt die Reifenspuren sehen, die mit Gewissheit nicht von uns stammen.“
Er hatte recht.
Die Ruine vor ihnen bestand zwar nur aus zwei gegenüberliegenden Wänden, aber auf ihrem Fundament waren deutlich zwei Reifenspuren auszumachen. Anscheinend endeten sie genau dort. Sie suchten nach Spuren, die auf der anderen Seite davon wegführten, doch vergeblich.
Irgendetwas stimmte nicht.
Also untersuchten sie die Umgebung etwas genauer. Dann erkannten sie, dass der Boden der Ruine mit Ausnahme einiger noch grüner Fichtennadeln völlig sauber war. Während der restliche Boden der anderen Bauwerke unter Schmutz und Geröll lag, schien diese Betonfläche frisch gereinigt zu sein.
„Psst!“
Goran verstummte sofort.
Wortlos suchten sie die Ränder des Fundaments ab. Sie waren alle vier völlig gradlinig und nicht mit den Wänden vergossen. Als Stefan mit der Flamme des Feuerzeugs näher an den Spalt zwischen Wand und Boden kam, löschte ein kleiner Luftzug diese.
„Bingo“, sagte er leise. “Wir sind am Ziel angekommen.“
Stefan legte einen Finger auf seine Lippen und deutete Goran ihm zu folgen. Kurz darauf versteckten sie sich hinter einem der anderen kleinen Gebäude, um sich leise zu unterhalten.
„Das da hinten scheint eine Art Fahrstuhl für Autos zu sein“, stellte Stefan sachlich fest. „Kein Wunder also, dass Teichmann so plötzlich fast vor unseren Augen verschwinden konnte. Lass uns nur hoffen, dass wir noch einen weiteren Eingang entdecken. Von nun an sollten wir uns nicht mehr trennen. Wenn wir Glück haben, dann gibt es noch einen Zugang.“
Mehrere Stunden suchten sie die Umgebung ab, bis sie irgendwann endgültig erschöpft waren. Keine der Ruinen hatte etwas mit der ersten zu tun. Keine sauberen Fußböden. Keine Fußspuren. Am Ende ihrer Kräfte angelangt setzten sie sich in das einzige Gemäuer, das wenigstens noch ein Dach besaß.
Trotz des milden Klimas an Siziliens Küste froren sie schrecklich. Anscheinend forderten Hunger und die vorherrschende Erschöpfung ihren Tribut. Sie konnten damals nicht wissen, dass es sich um eine der kältesten Nächte in der Region seit über vierzig Jahren handelte.
Irgendwann schlief Stefan ein. Goran hatte seine Jacke, und Stefan rauchte, nachdem er seine Augen wieder öffnete, seine letzte Zigarette. Er hielt seine Hand über die Flamme des Feuerzeugs, nur um sicherzugehen, dass sie noch nicht erfroren war. Goran lag zusammengerollt auf dem Boden neben ihm. Mehrmals prüfte Stefan dessen Puls, um sicherzugehen, dass er noch lebte.
Er hatte einen wildfremden Menschen aus seinem Zuhause gerissen und in ein fremdes Land gebracht, damit er ihm helfen solle. Und nun war er nicht einmal in der Lage diesen jungen Menschen vor dem Erfrierungstod zu schützen. Wie viel Zeit würde wohl vergehen, bis man ihre erfrorenen Leichen finden würde?
Stefan war zwar hundemüde, traute sich aber nicht, noch einmal einzuschlafen. Seine Gedanken würden ihm wieder Streiche spielen, sobald er die Augen schloss. Irgendwann konnte er es nicht mehr verhindern.
Er dachte an sein Zuhause, an ferne warme Länder und an das weite Meer. Ja, er glaubte es sogar riechen zu können. Es hören zu können. Wenn er seine Augen wieder öffnen würde, dann wäre selbst diese Illusion zu Ende und er würde wieder in die kalte Nacht blicken. Trotzdem tat er es. Nicht wissend, wie viele Nächte er nach dieser noch erleben würde.
Doch der Geruch blieb und auch das Geräusch verstummte nicht.
Moment! Das war keine Illusion. Er war wach. Sogar hellwach.
Stefan rüttelte Goran aus seinem Schlaf.
„Aufstehen du Faulpelz. Ich weiß jetzt, wo wir den Eingang finden.“
Nur langsam erwachte Goran und sah Stefan ungläubig an.
„Welcher Eingang? Wir haben doch alles abgesucht.“
„Wir müssen nur dem Rauschen des Meeres folgen.“
Als sie ankamen, regnete es noch und ein kalter Wind blies durch die Blätter der Bäume. Doch als diese Geräusche verstummten, konnte man deutlich das Meer hören.
„Kein Mensch kann ohne passende Transportwege eine Anlage, so wie ich sie da unten vermute, errichten. Die müssen also einen Zugang zum Meer haben. Einen Eingang, der mit Gewissheit wesentlich größer ist als der ominöse Autofahrstuhl, den wir vorhin fanden.
Wenn ich recht habe, dann haben Schwarzenbeck und seine Leute einen Weg gefunden, der schon seit ewiger Zeit existiert und den andere Menschen bereits lange vor ihnen entdeckten. Den Weg, auf den die Templer mit Libri Cogitati von Malta unbemerkt nach Sizilien gelangten.“
Beide waren plötzlich wieder hellwach. Goran und Stefan tauschten den Pullover gegen die dicke Jacke, damit auch Stefan endlich wieder einen Hauch von Wärme verspürte. Nach ein paar Gymnastikbewegungen, um die Muskulatur aufzuwärmen, zogen sie los.
Zehn Minuten später hatten sie das Meer erreicht und auch bald einen kleinen Abstieg gefunden, hinunterführte. Anscheinend waren sie nicht die Ersten, die diesen Weg benutzten. Was auf Anhieb wie eine Laune der Natur aussah, stellte sich als geschickt getarnte Treppe heraus. Mal waren es einzelne Steine, mal gab es Wurzelgeäst, das als unauffällig eingelassene Stufen dienten.
Plötzlich. nach ungefähr der Hälfte der Strecke umströmte sie Wärme sowie der widerliche Geruch von Küchenabfällen. Sie hatten anscheinend den Lieferanteneingang bzw. den Ausgang der Müllabfuhr gefunden.
Unten angekommen sahen sie sich erst einmal genau um. Um sie herum standen mehrere Bäume und Sträucher, die anscheinend den Eingang einer Höhle vor neugierigen Blicken aus Richtung des Meeres schützen sollten. Vom Höhleneingang führte eine Betonfläche direkt zu einer Anlegestelle, an der zwei Motorboote vertäut lagen. Wahrscheinlich gab es nur diese beiden Zugänge. Der Beton war noch fast weiß, was darauf schließen ließ, dass er erst vor kurzer Zeit gegossen worden war.
Sie wussten, dass sie im Begriff waren in das Zentrum von Schwarzenbecks Macht vorzudringen. Da Stefan ihm schon einmal begegnet war, wusste er, mit welcher Perfektion dieser Mann seine Ziele verfolgte. Schwarzenbeck überließ nichts dem Zufall. Genauso wie er jeden Mitarbeiter bereits damals auf Herz und Nieren überprüft hatte, würden sie auch hier auf ein Projekt stoßen, in dem jede Kleinigkeit sorgfältig vorbereitet und dann generalstabsmäßig umgesetzt wurde.
Umso überraschender war es, dass es keinerlei Wachpersonal gab und anscheinend auch keine Überwachungskameras.
Alles war ruhig. Zu ruhig für Stefans Geschmack.
Aber vielleicht bildete er sich das auch nur ein. So gut, wie die Anlage versteckt war, rechnete Schwarzenbeck sicherlich nicht mit nächtlichen Eindringlingen. Selbst wenn ein Tourist zufällig den Eingang entdecken sollte, so würde dies mit Gewissheit nicht in einer Winternacht geschehen. Wahrscheinlich hatten sie einfach nur eine Menge Glück.
Von der wohltuenden Wärme magisch angezogen tasteten sie sich vorsichtig in die Höhle. Sie war sehr groß, und es war deutlich zu erkennen, dass sie ursprünglich nicht von Menschenhand gemacht worden war. Die Wände waren nicht maschinell bearbeitet, sondern machten vielmehr den Eindruck, als ob sie von Mutter Natur selbst vor einer Zeit erschaffen wurden, in der es von uns Menschen noch keine Spur gab.
Ein paar kleinere Orientierungslichter zeigten den Weg ins Innere. Sie waren neben dem Fußboden das einzige Merkmal dafür, dass die Höhle von Menschen erschlossen war. Der Gang mit wechselnder Deckenhöhe war circa vier Meter breit und nur der Fußboden war betoniert. Ein paar Reifenspuren waren zu erkennen, stammten aber der Spurbreite nach zu urteilen, nicht von einem Auto.
Stefan tippte auf Spezialfahrzeuge, die man als Transportmittel für die Versorgung der Mitarbeiter brauchte. Aufgrund des langen Weges bis ins Innere der Höhle kämen sicherlich nur Elektrofahrzeuge in Betracht, die keinerlei Abgase verursachten. Da solche Fahrzeuge über einen besonders leisen Antrieb verfügen, nahm Stefan sich vor, extrem aufmerksam zu sein.
Er teilte Goran diese Vermutung mit, damit dieser auch Augen und Ohren offen hielt.
Inzwischen froren sie nicht mehr und ihre Kräfte kamen langsam wieder zurück. Nachdem sie einen Querstollen passiert hatten, ließ auch der modrige Geruch allmählich nach.
Die zuvor erlittene Kälte hatte auch die Blutungen an Stefan Hand gestoppt.
Nach circa 50 Metern erreichten sie eine Tür, die zum Glück nicht verschlossen war, und hinter der sich eine Wendeltreppe befand. Anders als der Eingang war dieser Treppenaufgang jedoch gut beleuchtet und den betonierten Wänden nach zu urteilen künstlich entstanden.
Soweit man von unten erkennen konnte, gab es insgesamt vier Etagen. Dies konnte nur bedeuten, dass sie sich unterhalb des Meeresspiegels befanden. Auch wenn es ihnen vorher nicht aufgefallen war, führte der lange Gang des Höhleneingangs anscheinend abwärts.
Nach ungefähr der Hälfte der Treppenstufen gelangten sie an eine Tür, die jedoch verschlossen war. Also stiegen sie weiter auf. Irgendwann müssten sie auf Menschen treffen.
Stefan fragte Goran, ob er die Anwesenheit von Maria wahrnehmen könne, was dieser jedoch verneinte.
„Menschen, viele Menschen, aber nicht Maria.“
Auch in der dritten Etage verwehrte ihnen eine verschlossene Tür den Zutritt. Sie mussten also ganz nach oben. Dort angekommen entdeckten sie endlich eine Tür, die sich öffnen ließ und durch die sie auf einen kleinen Gang gelangten, von dem aus sie die ersten Geräusche vernehmen konnten.
Ein paar Meter weiter links war die Wand unterbrochen und an ihre Stelle trat eine Glasscheibe von circa zwei mal drei Metern, hinter der Licht brannte. Unter der Glasscheibe befand sich eine polierte Edelstahlplatte. Langsam schlichen sie heran und riskierten einen ersten heimlichen Blick.
Das musste die Haupthalle sein. Sie führte mehrere Meter hinunter. Wände und Decke waren aus massivem Felsstein und eindeutig natürlichen Ursprungs. Als Lichtquelle dienten fünf große Scheinwerfer unter der Decke, die durch eine raffinierte Spiegeltechnik die gesamte Höhle bis in den letzten Winkel ausleuchteten. Unten waren Menschen eifrig dabei, an Computern zu arbeiten.
Die ganze Szene, die sich ihnen darbot, erweckte die Geschichte, die sich damals in einem Keller unter dem Potsdamer Platz abspielte und die Stefan später in seinem Buch beschrieben hatte, zu neuem Leben. Selbst ohne konkrete Erinnerungen konnten sie jetzt endgültig sicher sein.
Sie waren eindeutig am Ende ihrer Suche angelangt.
Schnell durchsuchten Stefans Augen die Halle. Er hoffte, irgendjemanden zu sehen, der ihm bekannt vorkam, jemanden zu entdecken, dem er schon einmal begegnet war. Auch wenn seine Erinnerungen an den Keller unter dem Potsdamer Platz nur noch sehr schwach vorhanden waren und er sich zum größten Teil auf das verlassen musste, was er selbst geschrieben hatte, hoffte er etwas davon wiederzuerkennen.
Doch Fehlanzeige. Nicht ein einziges ihm bekanntes Gesicht war auszumachen.
Langsam schlichen sie an dem Fenster vorbei. Gleichzeitig versuchten sie den vor ihnen liegenden Gang im Auge zu behalten.
Niemand aus der Höhle sah zu ihnen hoch. Niemand kam ihnen entgegen.
Plötzlich hörten sie vom anderen Ende des Ganges, dort wo er um eine Ecke führte, Schritte, die anscheinend näher kamen. Dem Geräusch nach zu urteilen handelte es sich um mindestens zwei Personen.
Eiligst suchten sie nach einem Fluchtweg, einem Versteck. Im Rückwärtsgang, sodass sie die Verursacher der Geräusche sehen würden, sobald sie ums Eck kämen, schlichen sie durch den Flur vorbei an der großen Glasscheibe und vorbei an der Tür zum Treppenhaus. Ein kurzer Ruck am Türknauf verriet, dass diese inzwischen verschlossen war. Neben ihnen tauchte eine weitere, diesmal massive, zweigeteilte Holztür auf. Sie unterschied sich deutlich von der restlichen Architektur.
Leise drückte Stefan die Türklinke herunter und öffnete sie. Der Raum dahinter lag völlig im Dunkel, weshalb sie eintraten und die Tür hinter sich sofort wieder schlossen. Stefan legte sein Ohr ans Türblatt. Das Geräusch der Schritte kam näher.
Bald würden sie das Versteck hinter der Tür passieren. Stefan und Goran trauten sich nicht einmal mehr zu atmen, bis die Schritte wieder verstummten. Gerade als Stefan die Tür wieder öffnen und den Weg durch den Gang fortsetzen wollte, wurde er lautstark daran gehindert. Es zuckte eiskalt durch seine Glieder.
„Guten Abend“, es war eine Stimme, die hinter ihm aus dem Raum kam und das erste war, das ihm bekannt vorkam. Langsam drehte er sich um.