4. Kapitel
Der tägliche Bericht von Giovanni war vor einer Stunde in der Firmenzentrale eingetroffen, und Paolo las ihn, wie immer, aufmerksam durch.
In jede andere Angelegenheit hätte er sich bereits eingemischt, aber dies hätte bedeutet, private Gespräche abzuhören.
Giovanni hatte ihn mehrmals um die entsprechenden Genehmigungen dafür gebeten, doch Paolo konnte und wollte ihm diese nicht erteilen. Es hatte etwas mit dem Versprechen zu tun, das sein Vater damals einem Freund der Familie gegeben hatte.
Sie konnten sich nur als stille Beobachter im Hintergrund halten, um im Falle einer Eskalation bereitzustehen.
Zu gerne hätte er bestimmten Gesprächen beigewohnt, aber da gab es schließlich noch den Ehrenkodex, gegen den noch nie ein Familienmitglied verstoßen hatte. Irgendwann müsste auch er die ganze Sache an seinen Sohn übergeben. Roberto war inzwischen 29 Jahre alt und mit einer bildschönen Frau verheiratet. Vor zwei Jahren hatten ihm die beiden einen Enkel geschenkt, der inzwischen der Stolz der ganzen Familie war. Paolos Frau hätte ihre Freude an dem kleinen Stammhalter gehabt. Leider verstarb sie ein halbes Jahr vor der Geburt ihres Enkelkindes an einem unbekannten Fieber. Selbst die Stiftung, die Paolos Vater vor Jahren ins Leben gerufen hatte, und die sich im Bereich der medizinischen Forschung betätigte, hatte ihren Tod nicht verhindern können.
Paolo selbst war nie über den Tod seiner geliebten Frau hinweg gekommen.
Jetzt, nachdem er die alten Briefe sowie die vielen Berichte aus Berlin gelesen hatte, entschied er, Roberto in die Angelegenheit einzuweihen. Und so setzte er sich noch am selben Tag mit ihm zusammen.
Er erzählte seinem Sohn alles, was er selbst wusste. Wie die Familie an die Briefe kam. Welche moralische Verpflichtung man damals einging, und auch wie wichtig es war, die Privatsphäre des Mannes, der die Briefe damals fand, zu schützen.
Jeder wusste, dass es noch Dinge gab, die von der Familie ferngehalten wurden, aber das war völlig in Ordnung.
Damals, als Paolos Vater das Versprechen gab, nie danach zu fragen, wurde dies zu einem ungeschriebenen Gesetz.
An den ersten Tagen nach dem letzten Gespräch mit Steinberg versuchte Stefan, diese Begegnung mit der Vergangenheit und das, was er über Willi erfahren hatte, einfach zu verdrängen. Er ging seiner Arbeit nach, so als hätte die letzte Unterhaltung in der Seniorenresidenz nie stattgefunden.
Und obwohl er es vermied, seine E-Mails abzurufen, erwischte er sich immer wieder selbst dabei, dass er im Kopf die Geschichte einfach nicht abschalten konnte. Es gelang ihm einfach nicht, die Sache zu vergessen.
Freunde, die ihn fragten, wie der Verkauf seines Buches liefe, würdigte er mit einem strafenden Blick oder teilte ihnen mit, dass sie sich gefälligst um ihre eigenen Dinge kümmern sollten.
Er wollte weder an sein Buch noch an die Begegnung mit Heinz denken. Allerdings wird jeder, der jemals versucht hat, eine Sache bewusst zu verdrängen, wissen, dass dies schier unmöglich ist.
Es ist wie die Sache mit den rosa Elefanten.
Ein Spiel, das auch Stefan einst auf einem Seminar kennengelernt hatte. Der Seminarleiter wollte damals beweisen, dass Menschen dazu neigen, das kleine Wort ´nicht´ wo immer es auftaucht zu ignorieren. Also forderte er die Teilnehmer damals auf, ihre Augen zu schließen und eine Minute lang nicht an rosa Elefanten zu denken.
Stefan fühlte sich zu dieser Zeit genau wie damals im Seminar. Je intensiver er versuchte, sein Buch, Willi und auch Heinz zu verdrängen, desto öfter musste er an all das denken. Es war wie eine Sucht, von der man nicht loskommt.
Er fragte sich unentwegt, ob er noch mehr erfahren wollte. Und wenn ja, wie er in Zukunft damit umgehen würde.
Heinz hatte die Weichen gestellt, und Stefan war sich nicht sicher, ob er auf diesen Zug aufspringen wollte.
Wo würde ihn die Geschichte, an deren Anfang er sich offensichtlich erst befand, eines Tages hinführen? Vielleicht wäre er in ferner Zukunft in der Lage gewesen, das Erlebte, sowie die Begegnung mit Heinz einfach zu verdrängen. Aber er wusste nur zu gut, dass er in diesem Fall nie erfahren würde, was das Leben noch alles für ihn parat hielte.
Er wäre einfach vor seiner eigenen Geschichte, oder wie viele es formulieren würden, vor seinem Schicksal davongelaufen. Dann jedoch hätte er sich als Feigling gefühlt, der seinem eigenen Spiegelbild nie wieder in die Augen blicken könnte.
Und sich blind rasieren, dazu hatte er einfach keine Lust. Dem wollte und konnte er sich nicht aussetzen.
Weder sich selbst noch Heinz, der ihm anscheinend noch einiges zu sagen hatte, wollte er in diese Ungewissheit schicken. So kam es, dass er nach acht langen Tagen wieder vor Heinz saß.
Heider hatte ihn telefonisch über Heinz’ Gesundheitszustand informiert, und so wusste Stefan, dass es dem alten Mann immer noch, den Umständen entsprechend, gut ging.
Am Abend, an dem Stefan die Residenz panikartig verlassen hatte, fragte Heider den alten Steinberg, was zwischen den beiden vorgefallen wäre. Doch Heinz hüllte sich in Schweigen.
Der einzige Kommentar, den Heider ihm entlocken konnte, war ‚Er braucht jetzt Zeit. Aber er wird wiederkommen.?
Heider erhoffte sich nun von Stefan mehr zu erfahren, doch auch der war nicht in der Lage seinen Wissensdurst zu stillen. Dazu musste er selbst erst einmal mehr wissen.
Was wollte der alte Mann ihm sagen?
Auf was musste Heinz so lange warten?
Wie stand es tatsächlich um seine Gesundheit?
Und wer war der Mann, von dem sich Stefan ständig beobachtet fühlte?
Ratlos blickte Stefan in dem kleinen Büro, in dem er sich befand, auf Heinz, der gerade in ein Buch versunken war und sein Eintreffen anscheinend nicht einmal registriert hatte. Der Besucherstuhl, auf dem er schon einmal gesessen hatte, stand immer noch vor dem Schreibtisch. Leise setzte sich Stefan hin und starrte sein Gegenüber an.
Heinz trug eine kleine Lesebrille, sein dünnes Haar war exakt nach hinten gekämmt und wurde anscheinend mit Pomade dort gehalten.
Nach etwa fünf Minuten legte er ein Lesezeichen in sein Buch, klappte es zu, sah Stefan an und fragte scheinheilig:
„Nun? Hast du alles verdaut?“
„Kann man so etwas überhaupt verdauen?“, gab Stefan vorsichtig zurück.
Erst jetzt legte Steinberg sein Buch endgültig aus der Hand und sprach weiter.
„Ja, man kann. Die Tatsache, dass du wieder hier bist, zeigt mir, dass du es kannst und nun bereit bist, die ganze Geschichte zu hören.“
Er wusste ganz genau, dass er damit ins Schwarze traf. Stefan war sich dessen zwar noch nicht so sicher, also harrte er der Dinge, die da kommen sollten.
In den folgenden drei Stunden blieb ihm nichts anderes übrig, als einfach nur zuzuhören.
Heinz hatte wie immer eine Tasse mit heißem Kaffee vor sich stehen, an der er kurz nippte.
Er sah zu Stefan auf, und von dem Moment an wurde dieser mit einer Geschichte vertraut gemacht, die das Leben geschrieben hatte. Es waren Erlebnisse, die er sich in seinen wildesten Fantasien nicht hätte vorstellen können.
Heinz schloss seine Augen, als würde er alles noch einmal durchleben. Seine Stimme bebte leise.
„Es war der 17. Oktober 1943. Deutschland befand sich, wie du weißt, im Krieg, und auch ich musste damals daran teilnehmen. Auch wenn ich selbst nie eine Waffe in den Händen hielt, so habe ich in diesem Krieg doch mehr Schrecken und mehr Leid gesehen, als ein einzelner Mensch normalerweise verkraften kann. Ich gehörte aufgrund meiner Vorkenntnisse damals zu den Sanitätern.
Die Alliierten, oder um genau zu sein, die Amerikaner und Briten waren über Sizilien auf das europäische Festland vorgedrungen, um dem Grauen in Europa ein Ende zu bereiten. Die Nazis hatten ihrerseits sofort Truppen in die Region entsandt und versuchten Schulter an Schulter mit Italien Widerstand zu leisten.
Gegen Ende des Krieges gab es kaum noch Soldaten, und die Machthaber scheuten nicht davor zurück, noch halbe Kinder an die Front zu schicken. An eine Front, die nie wirklich eine war. Es war nur noch ein sinnloses Gemetzel mit Kämpfern, die bis dahin nicht einmal ein Rasiermesser in ihren Händen gehalten hatten.
Auch meine Sanitätseinheit wurde dorthin geschickt, und es verging kein Tag, an dem keine neuen Verwundeten eintrafen. Und es waren furchtbar viele. Zu viele, als dass wir je eine reelle Chance gehabt hätten, sie alle zu retten.
Wir gaben alle unser Bestes. Doch das war einfach nicht gut genug.
Zu viele Verletzte. Zu viel Blut. Zu viel Grausamkeit.
Ich sah selbst die schmerzverzerrten Augen dieser jungen Männer, die eigentlich noch Kinder waren. Herausgerissen aus ihren Familien, nur, weil sie gerade alt genug waren, um eine Waffe zu halten. Ihnen die Benutzung beizubringen oder ihnen zu zeigen, wie man sich vor dem Feind schützt, dazu fehlte in diesem grausamen Krieg einfach die Zeit.
Man steckte sie in viel zu große Uniformen, drillte sie mit dummen Vaterlandsparolen und schickte sie so an die Front. Sie glaubten an ein besseres Deutschland. An Wohlstand für sich und ihre Familien.
Doch was sie bekamen, das waren Granatsplitter und Wunden, die oftmals wesentlich tiefer gingen, als das bloße Auge sehen konnte. Wunden, die so tief in ihre Seelen eindrangen, dass kein Arzt der Welt sie jemals wieder kurieren konnte.
Wie in jedem Krieg ging es den Initiatoren nur um Macht. Es geht immer um Macht. Sie waren Verbrecher, die im Namen einer ganzen Nation ungehindert ihre Gräueltaten begingen, bis sie in Russland und auch damals in Italien Opfer ihres eigenen Machthungers wurden.
Die meisten Sanitäter, so auch wir, waren vor Ort in Zelten untergebracht, die man schnell auf- und abbauen konnte, damit wir immer so nah wie möglich am Kriegsgeschehen sein konnten. Viele der Verwundeten wurden von uns nur notdürftig zusammengeflickt und mit dem nächsten Transporter sofort wieder an die Front geschickt.
Oft konnten wir uns nicht einmal die Zeit zum Aufbauen der Zelte nehmen. Jedes Gebäude, welches noch ein Dach hatte, wurde konfisziert und zum Lazarett umfunktioniert. Wir schafften es oft nicht einmal unsere Ausrüstung sowie alle Medikamente auszupacken, bevor schon die ersten Verwundeten eintrafen. Medikamente hatten wir schon seit Wochen kaum noch zur Verfügung.
Ein Stück Holz zwischen den Zähnen anstelle von Betäubungsmitteln. Ich weiß nicht einmal, wer den armen Kerlen mehr Schmerz zufügte. Der Feind oder der Arzt, der unter diesen Umständen seiner Arbeit nachgehen musste.
Schmerzverzerrte Gesichter, Tränen und Blut sind die Bilder, die mich auch heute nach all den Jahren durch meine Träume verfolgen.
Aber wir hatten einfach keine Möglichkeiten etwas besser zu machen. Immer musste es schnell gehen, weil wir nie wussten, wie viel Verwundete die nächste Stunde uns bringen würde.
Meist mussten wir improvisieren.
So auch an diesem 17. Oktober 1943.
Ein kleiner Trupp, der uns Sanitätern immer vorauseilte, hatte ein altes, verlassenes Kloster gefunden, in dem unsere Einheit am frühen Abend eintraf. Ein paar Außenwände sowie Teile des Dachs waren noch vorhanden, und unser Kompaniechef entschied wieder einmal, auf die Zelte zu verzichten. Wir packten alles, was wir noch an Medikamenten und Instrumenten besaßen, aus und machten uns an die Arbeit. Der nächste Verwundetentransport war bereits auf dem Weg zu uns, und meine Kameraden sollten sie in Empfang nehmen und versorgen. Meine Gruppe hatte seit 38 Stunden fast ununterbrochen Verwundete behandelt, weshalb wir an diesem Tag davon verschont bleiben sollten.
Ich gehörte dadurch zu denen, die nach trockenen Räumen suchten, in denen wir unser Nachtquartier aufschlagen konnten. Unsere Truppe bestand aus fünf Mann, die sich eiligst aufteilten und in verschiedene Richtungen auf die Suche begaben. Die meisten Räume, die ich fand, waren mannshoch mit Geröll gefüllt, das sich anscheinend im Laufe vieler Jahre dort angesammelt hatte.
Dann machte ich eine Entdeckung, die mein Leben für immer verändern sollte.
Nachdem ich ein paar lose Bretter, die mir den Weg versperrten, beiseite nahm, sah ich es. Es befand sich in einer kleinen Kammer im Südflügel, der ansonsten völlig zerstört war. Nur noch zwei Wände und ungefähr ein Drittel des Daches existierten noch. Die Granate musste glatt durch das Gebäude hindurchgegangen sein.
Ich konnte durch zwei Etagen hindurch, die über mir lagen, bis zum Himmel sehen.
Unter einem völlig verwitterten Holzbett hatte sich eine Steinplatte hochkant verkeilt und gab einen Hohlraum frei, in dem sich so etwas wie Bücher befanden. Allem Anschein nach von Hand gebunden. Uralt zwar, aber durch den ungewöhnlichen Aufbewahrungsort in einem erstaunlich guten Zustand.
Ich zog eins der vier Bücher heraus und las auf einer primitiven dünnen Holzplatte, die als Buchdeckel diente, den von Hand geschriebenen Titel.
Domenico – Diarium
Aus meinem Medizinstudium, welches ich aufgrund des Krieges nur drei Monate vor meinem Abschluss abbrechen musste, kannte ich mich ziemlich gut in der lateinischen Sprache aus. Ich übersetzte den Titel als „Das Tagebuch des Domenico“.
Dieses Tagebuch bestand, wie gesagt, aus insgesamt vier Bänden, die in chronologischer Abfolge geschrieben waren.
Beim eingehenden Studium meines Fundes erwies sich dieser jedoch als eine Art wissenschaftliches Fachbuch, dem etwa 100 noch nicht gebundene Einzelseiten beilagen. Ich weiß heute nicht mehr warum, aber irgendwie beschlich mich die Überzeugung, etwas von unschätzbarem Wert in den Händen zu halten, weshalb ich niemanden etwas davon erzählte.
Ich versteckte es an genau dem Ort, an dem ich es fand, legte die Steinplatte provisorisch darüber und machte mich wieder auf den Weg zu den anderen, denen ich erzählte, dass der Südflügel völlig zerstört und dadurch für uns ungeeignet sei.
Wir richteten uns in diesem Kloster für längere Zeit ein. Das vorhandene Benzin wurde ohnehin für die Verwundetentransporte benötigt, sodass, selbst wenn wir es gewollt hätten, wir diesen Ort nicht so schnell hätten wieder verlassen können.
In den folgenden Wochen schlich ich, wann immer ich mich unbeobachtet fühlte, heimlich aus dem provisorischen Lazarett im Westflügel davon, um in dem Tagebuch eines Menschen zu lesen, der hier einst gelebt hatte.
Die Bücher waren tatsächlich komplett von Hand auf Pergament geschrieben, was mir einen ersten Hinweis auf ihr Entstehungsdatum lieferte. Eine genaue Jahreszahl wurde nicht angegeben, aber sie schienen aus dem Mittelalter zu stammen.
Ihr Verfasser Domenico hatte anfangs anscheinend große Probleme mit den einzelnen Worten und deren korrekter Darstellung. Es erinnerte mich an meine ersten eigenen Schreibversuche. Die Buchstaben waren unsicher auf das vergilbte Pergament gemalt worden, und von Grammatik konnte beim besten Willen keine Rede sein.
Trotzdem konnte ich erkennen, dass er von seiner Familie berichtete, die er einst verlassen hatte, um seine eigenen Lebenserfahrungen zu machen. Er entstammte einer Bauernfamilie, in der niemand jemals Schreiben oder Lesen konnte. Im Alter von 14 Jahren verließ er den elterlichen Hof im Schutze der Nacht und lebte lange Jahre auf der Straße.
Im Laufe der ersten ca. 50 Seiten wurden Form und Stil deutlich besser. Die Schrift wurde schwunghafter, die Buchstaben runder. Was er selbst damit erklärte, dass er täglich von einem Mönch im Kloster unterrichtet wurde.
Seiner durch Hungersnot geprägten eigenen Geschichte sowie vielen Briefen, die an seine Familie gerichtet waren, folgten Berichte über das Leben im Kloster.
Er verfasste unter anderem auch Briefe an seine Familie, die jedoch ihren Bestimmungsort nicht erreichen würden, weshalb er sie kurzerhand in sein Tagebuch mit einband. Anscheinend hatte er noch Hoffnung, dass seine Familie sie eines Tages doch noch lesen würde.
Er selbst diente den Mönchen als eine Art Dienstbote, den sie mehr und mehr in ihre eigenen Reihen aufnahmen. Von ihnen erlernte er das Lesen, Schreiben und vor allem auch das Beten.
Normalerweise wäre sein Tagebuch etwas, das man in Museen aufbewahren und der Öffentlichkeit zugänglich machen müsste.
Doch nach dem ersten Drittel des ersten Bandes wurde seine Schrift wieder unsicher, seine Formulierungen chaotischer. Ich konnte vor meinem geistigen Auge erkennen, wie er mit zittriger Hand schrieb, als er von den Ereignissen berichtete, deren Zeuge er wurde. Ereignisse, die ihm Angst bereiteten.
Da er inzwischen nicht mehr als völlig ungebildet galt, hatte man wohl beschlossen ihn in Geheimnisse einzuweihen, welche die Klostermauern nie verlassen durften.
Die Mönche im Kloster sahen sich inzwischen nicht mehr als Lehrer der Heiligen Schrift, sondern vielmehr als Wissenschaftler. Also fingen sie an zu experimentieren, womit wir bei unserem Thema wären.
Während sich die Geistlichen anderer Klöster als Alchimisten versuchten oder sich medizinischen Studien hingaben, stellten die Lehrer von Domenico unsere komplette Entstehung infrage. Sie wandten sich immer mehr von der ursprünglichen Glaubensgeschichte ab und entwickelten ihre eigenen Theorien.
Aus der Heiligen Schrift hatten sie gelernt, dass es im Leben nur um eines ging. Um Macht! Egal ob Moses das Rote Meer teilte, Jesus seine Wunder vollbrachte oder Lots Frau zur Salzsäule erstarrte, weil sie sich unerlaubterweise nach Sodom und Gomorra umsah. Alles war eine Demonstration der Macht. Eine Macht, die man selbst kontrollieren wollte. Damals genauso wie auch heute.
Der Abt, der alle Experimente leitete, wurde von Domenico nur als „Ater“ bezeichnet. Domenico hatte Angst, seinen wahren Namen auszuschreiben.
Ater soll ein Mann gewesen sein, dessen Machthunger durch nichts zu stillen war. Niemand im Kloster wusste, woher er eigentlich kam. Er stand laut ein paar älteren Mönchen eines Tages einfach vor der Tür. Offensichtlich wusste er um Dinge, die allen anderen bis dahin verborgen geblieben waren.
Selbst namhafte Wissenschaftler, Maler und Erfinder sollen sich damals seines Wissens bedient haben. Von denen ließ er sich für seine Lehren fürstlich belohnen, um seine eigenen Interessen ungestört verfolgen zu können.
Während sich Mönche anderer Klöster zu jener Zeit selbst versorgen mussten, war Ater in der Lage, sich alles, was er brauchte, gegen ein Entgelt liefern zu lassen. Somit entfiel der Anbau von Gemüse und Obst, was zu jener Zeit woanders üblich war. Dieser Ater ging andere Wege, verfolgte andere Ziele.
Er wollte die totale Kontrolle. Und dazu schien ihm jedes Mittel recht zu sein. Als eines Tages die Bauern der Umgebung eine Frau, die sie der Hexerei bezichtigten, gefesselt vor die Mauern des Klosters legten, wurde diese nicht etwa gesund gepflegt.
Sie wurde im Gegenzug auch nicht, wie es damals an anderen Orten üblich war, öffentlich auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Ater hatte in ihr sein erstes lebendes Studienobjekt gefunden. Wie er glaubte ein perfektes Exemplar mit übersinnlichen Fähigkeiten.
Domenico wurde Zeuge, wie Ater diese Frau am lebendigen Leibe sezierte. Wie er versuchte, die Wege der Gedanken im Inneren ihres Kopfes mit dem bloßen Auge zu erkennen. Er schilderte in seinem Tagebuch jeden einzelnen Schritt.
Das Entfernen der Schädeldecke sowie die abscheulichen Versuche, mit kleinen Nadeln und Wärmebehandlungen in das lebende Gehirn einzugreifen. Es wurden Erkenntnisse über Reizzonen gesammelt, die bestimmte Körperfunktionen kontrollierten beziehungsweise anregten. Endlose Versuche wurden unternommen, um ins Zentrum der Gedanken vorzudringen.
Die arme Frau musste Schmerzen erleiden, die sich jenseits unserer Vorstellungskraft bewegen.
Ater hatte zum Beispiel herausgefunden, welche Stelle des Gehirns man stimulieren musste, um der Frau das Gefühl zu geben, dass ihr rechter Arm gerade verbrannte. Im Anschluss wurde es als Erfolg empfunden, dass sich auf genau diesem Arm zuerst Brandblasen bildeten und später das Gewebe vollständig abstarb. Alles, wie gesagt, musste die hilflose Frau bei vollem Bewusstsein erleiden. Zwar waren damals schon verschiedene Betäubungsmittel bekannt, aber Ater setzte diese nicht ein. Er wollte jede bewusste Reaktion beobachten und studieren. Die arme Frau war letztlich nur noch eine Hülle ihrer selbst. Viele Körperteile wurden auf die eine oder andere Art verstümmelt.
Jeder anderen Kreatur hätte man einen gnädigen Tod bereitet. Doch nicht einmal das wurde ihr gewährt.
Domenico berichtete, dass die Frau für Aters Experimente über Monate hinweg am Leben gehalten wurde, bis man ihrer überdrüssig wurde. Unmittelbar nach ihrem Tod erhoffte sich Ater, durch Verspeisen ihres noch warmen Gehirns neue geistige Fähigkeiten zu erlangen.
Schnell stellte sich jedoch heraus, dass Gedanken nicht aus der Materie entstehen. Also schwenkte man komplett um und forschte im Bereich des Übersinnlichen weiter. Man lernte, man verstand, und erste Experimente zeigten alsbald die gewünschten Resultate. Man kam zu der Erkenntnis, dass alles, was existiert aus reiner Gedankenkraft entsteht.“
Heinz machte eine kurze Pause, um das Gesagte auf Stefan wirken zu lassen.
„Ein früher Schwarzenbeck also“, flüsterte Stefan leise.
Reiner Schwarzenbeck war der Leiter der Experimente gewesen, denen Stefan damals im Keller beigewohnt hatte, und der nach eigenen Angaben im Auftrag mehrerer Großkonzerne stand, diesen durch gezielte Gedankenmanipulation zu noch mehr Macht zu verhelfen.
„Schwarzenbeck“, so versicherte Heinz, „stand im Keller unter dem Potsdamer Platz noch am Anfang seiner Untersuchungen. Einem sehr gefährlichen Anfang zwar, aber noch ein Anfang.
Ater hingegen hatte es damals erheblich leichter.
Die Gedanken unserer Zeit sind wesentlich komplexer als sie es zu jener Zeit waren. Ich möchte dies am Beispiel von Autos erklären.
Früher bestanden Autos aus relativ einfachen Bauteilen. Man lenkte sie und das Auto kam, aus heutiger Sicht betrachtet, ungefähr dort an, wohin man es lenkte. Die Technik war übersichtlich und für jeden heutigen interessierten Hobby-Mechaniker leicht verständlich. Inzwischen sieht das ganz anders aus. Hinter jedem Bauteil steckt eine lange Entwicklungsphase. Alles ist viel komplizierter und wesentlich umfangreicher. Für jedes einzelne Teil benötigst du heutzutage einen Spezialisten. Es gibt niemanden mehr, der die komplette Technik allein überschauen kann.
Ähnlich verhält es sich mit unseren modernen Gedanken. Das gesamte Spektrum ist breiter geworden. Die Verknüpfungen und Verästelungen wesentlich komplizierter. Man hat fast keine Chance, das heutige Wissen der Menschheit sowie deren Gedanken als Gesamtbild zu erfassen, , weil es einfach zu viele Facetten gibt.
Und genau das macht das damals erlernte Wissen so besonders wertvoll. Das, was Ater damals herausfand, beziehungsweise die Methoden, die er entwickelte, um den menschlichen Geist zu beeinflussen, würden sich leicht auch in der heutigen Zeit anwenden lassen. Das Wissen, welches er damals erlangte, wäre heute jedoch aufgrund der vielen gedanklichen Streuungen kaum noch erreichbar.
Auf uns anwendbar, aber sicherlich nicht mehr genauso intensiv zu erlernen. Schwarzenbecks Versuche würden bestenfalls ausreichen, um die Welt kaputt zu machen. Laut deiner Geschichte hattest du es damals erkannt und ihn gestoppt, bevor genau dies geschah.
Aters Versuche hingegen waren wesentlich erfolgreicher. Es gelang ihm, das Rätsel um die Entstehung der Welt fast vollständig zu lüften. Die Zusammenhänge zu verstehen.
Nach dem Tod der jungen Frau gab es noch unzählige weitere erfolgreiche Versuche an lebenden Personen, die man heimlich aus dem Ort entführte und deren Gedanken man später ohne Mühe manipulierte.
Es fehlten ihm nur noch ein paar Teile im Puzzle und er wäre in der Lage gewesen, Schöpfer zu spielen.
Die fehlenden Teile lagen aber woanders.
An einem zweiten unbekannten Ort wurden lange vor Aters Zeit ebenfalls Experimente gemacht, die zusammen mit den von ihm zusammengetragenen Erkenntnissen, den Schlüssel zum Tor der Welt ergeben hätten.
Alles rund um die Wahrnehmung der Menschen hatte er bereits erforscht. Zeit und Raum waren jedoch ein ganz anderes Problem. Während er bereits Einfluss auf Gedanken und Materie nehmen konnte, mangelte es am Wissen über die Zeit.
Domenicos Aufzeichnungen enthielten alles, was damals im Kloster herausgefunden wurde. Als unbedeutender Zuschauer hatte er Einblick in alle vorgenommenen Experimente.
Irgendwann jedoch endeten seine Berichte schlagartig. Da seine Texte mitten in einem Satz aufhörten, liegt die Vermutung nahe, dass er durch irgendetwas gestört wurde und seine Arbeit nie zum Abschluss brachte.
Wer aber war dieser Domenico und was hatte er genau erlebt? Kam er jemals wieder im Kreis seiner Familie an, und beendete er deshalb seine Arbeit an den Büchern?
Alles um diesen jungen Mann interessierte mich noch lange Zeit, nachdem ich seine Dokumente entdeckt hatte. Vielleicht konnte ich auch einfach nicht mit der Vorstellung leben, dass ein Mensch unzählige Briefe schrieb, die ihren Bestimmungsort nie erreichen sollten.
Ich stellte nach dem Krieg Nachforschungen an und fand heraus, dass zu einem späteren Zeitpunkt eine Horde aufgebrachter Bauern eines Nachts das Kloster gestürmt hatte. Hunger hatte diese Menschen dazu gebracht, alles Essbare zu plündern, die Bewohner des Klosters wie Tiere abzuschlachten und das gesamte Kloster bis auf die Mauern niederzubrennen.
Selbst Aters Wissen und seine ganze Macht waren offensichtlich nicht in der Lage gewesen, dies zu verhindern.
Es waren einfach zu viele Angreifer und er war völlig unvorbereitet gewesen.
Ich lebte, während ich die Tagebücher damals las, im ständigen Zwiespalt. Einerseits zog es mich magisch in seinen Bann und im selben Augenblick widerte es mich an.
Immer wieder verstaute ich Domenicos Werk unter der großen Steinplatte, die es bereits seit mehreren hundert Jahren schützte.
Eines Abends, als ich gerade wieder in meinem Versteck war und las, bemerkte ich aus dem Augenwinkel ein kleines flackerndes Licht, das auf mich zukam. Es war der Lichtkegel einer Taschenlampe, so wie auch ich sie zum Lesen benutzte. Das entgegenkommende Licht gehörte an diesem Abend zu einem Sanitäter, der mit einer Krankenschwester an der Hand nach einem Liebesquartier suchte.
Ich hörte ihre Schritte immer näher kommen und löschte meinerseits die Leselampe, um unentdeckt zu bleiben. Aber ich war anscheinend zu langsam. Wo ich gerade noch die Schritte von zwei Personen gehört hatte, verstummte eine Hälfte davon schlagartig, während die zweite lauter wurde.
Die Schritte schwerer Stiefel kamen rasch näher, und ehe ich mich versah, stand ich im Lichtkegel der Lampe von Artur Grünitz. Ausgerechnet der Sanitäter, auf dessen Nachlässigkeit das Leben mehrerer Verwundeter ging. Es gab nichts, was ihn positiv auszeichnete. Bis zu jenem Abend. Als Feigling, der er nun einmal war, schrie er sofort laut um Hilfe. Er hatte mich nicht erkannt und hielt mich aufgrund der diffusen Beleuchtung für einen Feind.
Innerhalb weniger Sekunden war ich von unseren eigenen Leuten umstellt. Keine Zeit mehr, um meine Entdeckung zu schützen. Keine Zeit die Bücher zu verstecken.
Der Kommandeur kam zu mir, blickte mich kurz an und erklärte, dass alles, was ein deutscher Soldat erbeutet hätte, dem deutschen Volke gehöre.
Allein die Bezeichnung ?deutscher Soldat? empfand ich als persönliche Beleidigung. Ich war ein angehender Arzt, der diesen Krieg bestimmt nicht gewollt hatte. Er entriss mir das Buch, welches ich in den Händen hielt, und stellte mich unverzüglich unter Arrest. Dann verständigte er umgehend seinen nächsten Vorgesetzten.
Die restliche Nacht verbrachte ich unter der Bewachung meiner eigenen Kameraden. Grünitz selbst ließ es sich nicht nehmen, mich (tapfer, wie er war) die komplette Nacht mit einem Maschinengewehr in Schach zu halten.
Ich war mir unsicher, was der primäre Grund seines aufkeimenden Fleißes war? Lag es an der Tatsache, dass ich ihm sein Schäferstündchen vereitelt hatte, oder an der Tatsache, dass ich seine berufliche Inkompetenz mehrfach öffentlich gerügt hatte. Zumindest genoss er die Situation in vollen Zügen. Für ihn war es eine willkommene Gelegenheit, sich für einen Vorfall an mir zu rächen, der sich zwei Monate zuvor in einem anderen primitiven Lazarett ereignet hatte.
Grünitz war uns allen bereits seit längerer Zeit als unzuverlässig aufgefallen, weshalb die ihm zugewiesenen Aufgaben eher die eines Krankenpflegers als die eines studierten Arztes waren. Mehrfach hatte er sich darüber beschwert, dass er als fertig ausgebildeter Mediziner Hilfsdienste ableisten musste, während ich selbstständig operierte. Als Arzt in dritter Generation fühlte er sich degradiert.
Eines Tages, es waren wieder mehrere Transporte kurz nacheinander angekommen, hatten wir keine andere Wahl. Er behandelte den 15-jährigen Jungen Günter Franke, der mehrere Granatsplitter in beiden Beinen hatte. Jeder ordentliche Arzt hätte die verschiedenen Wunden erst vernäht, wenn er mit Sicherheit jeden Fremdkörper entfernt und die Wunden ordentlich gesäubert hätte.
Grünitz war jedoch keiner dieser Ärzte.
Er galt als Frauenheld, der jeder Krankenschwester nachstellte und sich auch an diesem Nachmittag sofort nach der Operation wieder einmal aus dem Staub machte, um sich zu vergnügen.
Zwei Tage später wurde ich an das Krankenlager von Günter gerufen, weil sein behandelnder Arzt wieder einmal nicht aufzufinden war.
Du hättest diesen Knaben, und etwas anderes war er noch nicht, sehen sollen. Abgemagert bis auf die Knochen, mit dem Gesicht eines Kindes. So lag er auf einer schmalen, primitiven Liege, die mit olivgrünem Zelttuch notdürftig bespannt war, vor mir. Hinter mir hing eine einfache Glühlampe, die ihre Energie aus einem Feldgenerator bezog und das bleiche Gesicht des Jungen in ein unreales Licht tauchte.
Nach einer kurzen Untersuchung, die ich vornahm, stand ohne jeden geringsten Zweifel fest, dass der Wundbrand bereits zu weit vorangeschritten war.
Wäre Grünitz seinen Aufgaben als Mann der Medizin nachgekommen, und hätte er den Jungen wenigstens einmal nach der Operation untersucht, dann hätte er als ordentlicher Mediziner seinen Kunstfehler erkennen müssen. Zu einem früheren Zeitpunkt hätte man diesem jungen Menschen nur das linke Bein amputiert, um ihm das Leben, welches noch nicht einmal richtig begonnen hatte, zu retten.
Ich war es, der die letzten Stunden mit dem Jungen, der nicht einmal wusste, für welche kranken Ideale er sterben sollte, verbrachte. Alle außer dem jungen Günter wussten, dass es eine Zeit war, in der jemand ihn bis in den Übergang vom Leben in den Tod begleiten würde.
Nur dieser arme Junge wusste nichts davon.
Ein junger Mann, der glaubte, noch am Beginn seines Lebens zu stehen. Stolz erzählte er mir, dass es in seinem Heimatort ein Mädchen gab, dem er sehr zugetan war. Sie war genau wie er 15 Jahre alt und lebte in seiner Nachbarschaft. Er bat mich, einen Brief, den er für sie geschrieben hatte, seiner Hosentasche zu entnehmen und ihm meine Meinung darüber mitzuteilen. Sobald er nach Hause kommen würde, so verriet er mir, wollte er sie besuchen und ihr den Brief, in dem er ihr seine Liebe gestand, überreichen.
Ich sah die unbeholfene Handschrift eines sterbenden Kindes, das den nächsten Sonnenaufgang nicht mehr sehen durfte, nur weil ein gewissenloser Arzt seine Zeit lieber mit irgendeiner Krankenschwester verbrachte als mit seinen Patienten. Ich lobte ihn für seinen Brief, über den sich das Mädchen sicher freuen würde.
Ich war den Tränen nahe.
Es waren nur noch wenige Stunden, in denen ich seine schwache Hand halten konnte. Stunden der Hoffnung für ihn und der Hilflosigkeit für mich. Um fünf Uhr morgens legte ich meine Hand auf das junge Gesicht, um seine toten Augen für immer zu schließen. Den Brief platzierte ich sorgsam in seinen Händen, die ich anschließend über seinem Bauch zusammenfaltete.
Seit diesem Tag durfte Grünitz keinen Menschen mehr selbstständig behandeln und ich selbst versprach, ihn eines Tages dafür zur Verantwortung ziehen zu lassen.
Und nun stand dieser Mistkerl mit erhobener Waffe vor mir. Mehrmals forderte er mich auf, die Flucht zu ergreifen, weil er mir nur allzu gerne eine Gewehrkugel in den Rücken gejagt hätte. Doch diesen Gefallen tat ich ihm nicht.
Bereits am nächsten Tag, kurz vor Einbruch der Abenddämmerung, wurde ich zusammen mit meiner Entdeckung an einen SS-Offizier überstellt und noch in derselben Nacht nach Berlin ausgeflogen. Wenn jedoch jemand glaubte, dass die Zeit des Krieges damit für mich beendet war, dann irrt er gewaltig.
Ich stand am Anfang einer Schlacht, die ich fortan mein komplettes Leben lang ausfechten sollte. Doch davon erzähle ich dir morgen.“
Heinz war nach seiner Erzählung vollkommen ruhig und entspannt. Es war so, als hätte der Großvater seinem Enkel ein Märchen vorgelesen. Dass jedoch weder Hans Christian Anderson noch die Gebrüder Grimm die Väter dieser Geschichte waren, erkannte Stefan nur zu gut. Diese Geschichte hatte das Leben geschrieben, und Stefan war entschlossen, die Fortsetzung anzuhören.
Dennis war außer sich vor Wut. Er hatte am Vormittag im Internet gerade die verschiedensten Fachberichte gelesen und dabei ein Foto von seinem alten Professor entdeckt, der vor seinen Kollegen eine Rede hielt. Neben der Ablichtung wurde ein kleiner Artikel veröffentlicht, demzufolge der Professor ganz offensichtlich die Arbeit seiner Studenten als seine eigene vorstellte.
Sofort rief Dennis die anderen sechs Studenten zusammen, um zu beraten, was zu tun sei.
Der Professor hatte sich ausgerechnet einen Tag nach dem geplanten Treffen beurlauben lassen, sodass sie ihm nie ihre Arbeiten vorlegen konnten. Aber wahrscheinlich brauchte er die Ergebnisse gar nicht mehr.
Jetzt wurde auch klar, warum er seinen Studenten damals großzügig angeboten hatte, die Computer der Universität zu nutzen. Sie waren alle miteinander vernetzt, und so hatte er jederzeit Zugriff auf alle Arbeiten gehabt.
Von Anfang an waren sich die Studenten sicher, dass ihre Arbeit etwas Besonderes darstellte.
Philosophie gehörte nun mal nicht zu den anerkannten Wissenschaften, auch wenn viele Philosophen diese offizielle Anerkennung in den letzten Jahren zunehmend forderten.
Sie hatten gehofft, die aufgearbeitete Theorie eines Tages beweisen zu können.
Eine Brücke zu den Wissenschaften zu schlagen, von denen ihr eigener Fachbereich bisher immer nur belächelt wurde.
„Wie konnte er uns das antun?“ Susi spielte an ihren langen Haaren, die sie zwischen ihren schmalen Fingern drehte, während sie anscheinend gleichzeitig versuchte, mit ihren Blicken ein Loch in die Wand zu brennen.
„Dumme Frage“, stellte Max nüchtern fest, nachdem er die Öffnungslasche in seine Coladose warf. „Dass dieser Typ schon immer nur an seine Karriere dachte, war mir von Anfang an klar.“
„Quatsch!“, erklärte Nicole „Ich denke immer noch, dass es daran liegt, dass seine Frau damals mit seinem besten Freund durchgebrannt ist. Das hat ihn aus der Bahn geworfen.“
Dennis schlug mit den zu einer Rolle zusammengedrehten Papieren auf den Tisch. „Alles Müll!“, schrie er, „Das ganze Zeug können wir jetzt in die Tonne werfen.“
Wütend schleuderte er den ganzen Papierstapel über den Tisch, wo die Arbeit von drei Monaten teilweise über die Tischkante rutschte und auf den Boden fiel.
„Wenn ich dieses Schwein erwische … … …“, stammelte er, während er gleichzeitig mit den Tränen der Enttäuschung kämpfte.
Die Mädchen versuchten ihn zu beruhigen.
„Hat irgendjemand eine Vorstellung, wo der Typ abgeblieben ist?“, fragte Kai, der ruhigste der jungen Leute, in die Runde.
„Laut dem Dekan ist er spurlos verschwunden. Selbst der Verfasser des Internet-Artikels, der ihn interviewen wollte, hat ihn seit seinem großen Auftritt nicht mehr ausfindig gemacht“, antwortete Dennis, immer noch weinend und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.
„Merkwürdig!“, stellte Jenny fest „Erst die ‚große Welle’ machen und dann plötzlich in der Versenkung verschwinden.“
„Vielleicht hat er seine gerechte Strafe schon bekommen und einen Unfall gehabt oder etwas in der Art?“ Max lächelte fast schon schadenfroh bei diesem Satz „Für uns ist die Sache ohnehin schon gelaufen.“
Nach einer schlaflosen Nacht, in der ihn die Geister der Vergangenheit durch seine Träume verfolgten, sagte Stefan telefonisch alle beruflichen Termine bis auf Weiteres ab und legte seine Geschäfte in die Hände von Frau Janke.
Die nächste Telefonnummer, die er wählte, war die der Residenz. Heider hatte Heinz gerade zur Untersuchung gebracht, die bis ca. 11.00 Uhr vormittags dauern würde. Danach sollte sich Stefan noch einmal bei ihm melden.
Alles, was er selbst bis zu diesem Tag über den Zweiten Weltkrieg gehört hatte, wurde in der Stimme von Heinz plötzlich lebendig. Ihm kam ein Freund in den Sinn, dessen Großmutter damals als Schreibkraft am Fernschreiber im Führerbunker tätig war. Sie erzählte ihrem Enkel eines Tages von den Grausamkeiten, zu der Menschen im Namen des deutschen Volkes bereit waren.
So zum Beispiel von einem Soldaten, der unmittelbar vor Kriegsende den Bunker verlassen wollte. Obwohl der Krieg bereits verloren war und selbst Hitler schon seinen Selbstmord beschlossen hatte, drückte man diesem Soldaten einen Spaten in die Hand und ließ ihn sein eigenes Grab ausheben.
Die Großmutter des Freundes sah mit an, wie dieser Mann im offenen Grab niederkniete und das alte deutsche Volkslied ›Schön ist die Jugend, sie kommt nicht mehr‹ sang, bis Kugeln aus den Waffen seiner eigenen Landsleute diesen Gesang für immer verstummen ließen.
Stefan hörte diese Geschichte zwar, aber sie war ihm nur mündlich überliefert worden. Obwohl er die Großmutter später persönlich kennenlernte, hatte ihn diese Geschichte nicht so sehr berührt, weil er sie nicht direkt von der alten Frau gehört hatte.
Das, was Heinz jedoch erzählte, erwachte in dem Moment für Stefan zu neuem Leben.
Er hörte das Beben in Heinz Stimme und sah die Tränen in den Augen, die all das Grauen gesehen hatten. Zeitweise glaubte Stefan, darin die dazugehörigen Bilder erkennen zu können. Mehrmals musste er sich zur Beherrschung zwingen, um nicht die Fassung zu verlieren.
Es waren noch fast zwei Stunden Zeit, bis er wieder in der Residenz anrufen konnte, und die nutzte er, um sich mit ein paar Tassen Kaffee sowie einigen belegten Toasts zu stärken.
Auf den Anruf um 11.00 Uhr verzichtete er jedoch kurz entschlossen und fuhr stattdessen direkt in die Clayallee.
Die Anmeldeformalitäten waren schnell erledigt, weil er sich sofort bei der Dame mit dem Empfangsformular meldete, und selbst den argwöhnischen Blicken des italienischen Bodybuilders, dem er aufgrund seiner Haarpracht insgeheim den Spitznamen `Locke` verpasst hatte, begegnete Stefan mit einem freundlichen „Guten Tag“, worauf er einen völlig verwirrten Blick erntete.
Er hatte ihn als heimlichen Beobachter enttarnt und es ihn wissen lassen. Offensichtlich überraschte ihn das so sehr, dass er seine Chipkarte verlor. Doch gerade als Stefan sie aufhob, um sie ihm zurückzugeben, war er bereits wieder verschwunden.
Also steckte er sie kurzerhand in seine Tasche und ging zur Wohneinheit von Heinz.
Der Doktor war bereits mit sämtlichen Untersuchungen fertig und das Ergebnis mehr als zufriedenstellend.
Heider, Heinz und Stefan trafen sich diesmal im Esszimmer der Privatwohnung, wo sie gemeinsam frühstückten. Heinz war fast unentwegt damit beschäftigt, seinem Freund Bernd klarzumachen, dass es wieder eine Unterredung geben würde, bei der er nicht anwesend sein konnte.
Eine ordentliche Begründung gab er seinem jungen Freund jedoch nicht.
Bevor Heinz an jenem Tag mit der Fortsetzung seiner Geschichte begann, galt es jedoch ein paar grundsätzliche Zusammenhänge zu verstehen.
Die Antwort auf Stefans Frage ›Warum er?‹ stand zu seiner Erleichterung als Erstes auf dem Programm.
Es war der Tag seiner Taufe, an dem Heinz entschied, dass es eines Tages Stefan sein würde, dem er von Dingen erzählen würde, die er nie einem anderen Menschen anvertraute. Er war sich vom ersten Moment an sicher, etwas in Stefans Augen zu sehen, das beide auf eine besondere Art miteinander verband.
Die Geschichte, die Stefan 48 Jahre später schrieb, war für ihn jene Bestätigung, auf die er viele Jahre gewartet hatte.
Und so hatte er beschlossen, sein Schweigen zu brechen.
Stefans Art zu denken bestätigte das, was Heinz schon damals glaubte, in den Augen des Täuflings entdeckt zu haben.
Stefan fühlte sich, als Heinz dies zum Ausdruck brachte, zwar geschmeichelt, aber gleichzeitig empfand er es als Fluch.
Seit jeher strebten Menschen aller Kulturkreise nach Macht. Unsere Geschichtsbücher und selbst die Bibel waren voll davon.
Und von genau diesen Menschen sprach Heinz, als er seine Geschichte des Vortages fortsetzte.
„Man hatte mich also samt der Tagebücher Domenicos nach Berlin gebracht. Normalerweise hätten mich die Machthaber sofort eingesperrt und ein Expertenteam auf die Tagebücher angesetzt.
Schließlich war Hitler, so wie alle seiner geschichtlichen Vorgänger, geradezu versessen auf religiöse Relikte. Die Nazis suchten sie auf der ganzen Welt.
In bereits eingenommenen Ländern wie Polen plünderten sie Kirchen und Museen. In anderen Ländern mussten sie wesentlich vorsichtiger vorgehen. Dort operierten die selbst ernannten Schatzjäger im Verborgenen. Die größte Hoffnung allerdings lag bei den Juden.
Schenkte man einer alten Überlieferung Glauben, dann war es einst ein jüdischer Priester, der irgendwann, unabhängig von Ater, auf dem Gebiet der Gedankenmanipulation erfolgreich experimentiert haben sollte.
Den unbestätigten Berichten einer in Deutschland lebenden jüdischen Familie zur Folge war es einer ihrer Vorfahren, der zu seiner Zeit alte Schriften gefunden und alle Experimente neu dokumentiert haben sollte. Sein Hauptaugenmerk galt dabei der Beeinflussung von Raum und Zeit.
Kein Wunder also, dass sich die Nazis auf alles stürzten, was jüdisch war.
Erst vertrieben sie die Bewohner und plünderten deren Häuser auf der Suche nach Hinweisen. Zu einer späteren Zeit erhöhte man den Druck auf die jüdische Bevölkerung, indem man sie in Konzentrationslager steckte und dort systematisch tötete.
Übrigens war Hitler nicht der Einzige, der sich auf diese Weise den Schlüssel zur Macht erhoffte. Judenverfolgungen gab es seit Christi Geburt. Schließlich sollte auch er über Fähigkeiten verfügt haben, hinter deren Geheimnis man kommen wollte.
Als ich in Berlin eintraf, war der Krieg im Grunde schon verloren. Die Alliierten befanden sich auf dem Vormarsch, und es blieb kaum noch Zeit, das Blatt zugunsten der Nazis zu wenden. Es war also Eile geboten. Durch meine Schuld fiel dem Dritten Reich etwas in die Hände, was unsere Welt für immer hätte verändern können. Eine komplette Auswertung und Umsetzung der Unterlagen hätte die Nazis in die Lage versetzt, unzählige Feinde durch Gedankenmanipulation einfach auszuschalten. Sie waren also fest entschlossen, sofort zu handeln. Alles musste schnell gehen.
Ich gehe davon aus, dass mich dieser Umstand damals vor dem Gefängnis oder etwas noch Schlimmeren bewahrte.
Ich hatte bereits auf Sizilien in den Tagebüchern gelesen und wusste nur zu gut, welche Mächte in ihnen verborgen waren. Also entschied man, mich in einer Projektgruppe mit dem Namen „Domenicos Erbe“ mitarbeiten zu lassen.
Unsere Gruppe bestand aus insgesamt 12 Leuten.
Alle anderen waren Wissenschaftler und Historiker, die eigentlich darauf vorbereitet waren, die noch verschollenen jüdischen Bücher auszuwerten. Ich jedoch hatte etwas gefunden, das mindestens genauso gefährlich war wie das, wonach man all die Jahre suchte.
Göbbels selbst hatte damals einen Mann ausgesandt, der zum Beispiel in Südfrankreich monatelang in einer alten Kirche recherchierte. Er las jedes Stück Papier, das er in die Finger bekam. Doch auch die Erkenntnisse dieses Mannes sollten seine Auftraggeber nie erhalten.
Nachdem er damals seine Nachforschungen abgeschlossen hatte, fuhr er auf einen Berg in den Alpen, wo er Suizid verübte und erst zwei Monate später von einem Einheimischen gefunden wurde.
Nun wollte man mit Domenico – Diarium das Blatt zugunsten von Hitlers Mannen ändern. Es sollte dazu beitragen, die Karten des Krieges neu zu mischen.
Wir wurden in einem Keller untergebracht, in dem Wissenschaftler bis dahin mit chemischen Kampfstoffen experimentierten.
Ein riesiges Gewölbe mitten unter den Straßen Berlins. Allerdings hatte man zu meiner Zeit in diesem Keller noch keinen Fahrstuhl mit Fernsteuerung zu Verfügung.“
Heinz blickte Stefan aus seinen kleinen grünen Augen erwartungsvoll an. Denn wo sich dieser Keller befand, das musste er ihm nicht extra erklären.
„Du siehst also, die Geschichte wiederholt sich“, fügte er hinzu.
Stefan hatte tausend Fragen, die er in diesem Moment hätte stellen können. Doch keine einzige davon kam über seine Lippen. Er saß Heinz wie paralysiert gegenüber und hörte weiter zu.
„Wir wussten alle, dass uns die zur Verfügung stehende Zeit niemals reichen würde. Trotzdem arbeitete man mit Hochdruck an der Auswertung der Schriften. Hitler wollte Ergebnisse, und die sollten wir ihm so schnell wie möglich liefern.
Während die anderen fieberhaft daran arbeiteten, einige Versuche von Ater zu wiederholen, konzentrierte ich mich darauf, dies zu verhindern. Ich war inzwischen so tief in die Materie eingedrungen, dass ich nicht nur um die Gefahren wusste, die davon ausgingen, sondern in der Lage war, einiges vom Erlernten selbst umzusetzen.
Die 11 besten Geisteswissenschaftler des Landes saßen also zusammen mit mir im Keller, und ich musste dafür sorgen, dass sie scheiterten.
Am leichtesten fiel es mir, die telepathischen Versuche zu vereiteln.
Immer, wenn sich zwei Leute aufgrund des Erlernten gedanklich annäherten, bewirkte ich eine Art Barriere. Das ging eine ganze Zeit lang auch gut. Doch die anderen holten schnell auf. Es wurde immer schwieriger, meine Gedanken vor ihnen zu verbergen.
Die Aufzeichnungen von Domenico waren eindeutig und meine Fähigkeiten damals noch nicht stark genug.
Es gab für mich nur einen einzigen Ausweg. Ich musste versuchen, die Bücher vor den anderen in Sicherheit zu bringen, bevor sie am Ziel ihrer Forschungen angekommen waren.
Eines Tages, während die restliche Gruppe schlief, war es dann so weit, und ich wagte die Flucht.
Bereits seit Wochen spielte ich mit dem Gedanken, und so fasste ich einen Plan.
Ich wusste genau, dass wir unter ständiger Bewachung standen. Es gab bereits damals nur einen einzigen Zugang, der zum Keller führte.
Pünktlich alle sechs Stunden fand eine Wachablösung statt.
Drei Soldaten mit schwerer Bewaffnung sicherten die 40 Zentimeter starke Stahltür am unteren Ende der Treppe. Also außerhalb der eigentlichen Anlage. Weitere zwei Soldaten patrouillierten oben auf der Straße in der Nähe einer Litfaßsäule, in der sich eine versteckte Tür zur Treppe befand.
Die Zeiten der Wachablösung unten vor der Tür waren mir inzwischen bekannt. Die Leute wurden alle sechs Stunden ausgetauscht.
Vor ihnen musste ich mich hüten.
Hätte ich meinen Versuch zur falschen Zeit gestartet, dann bekäme ich es mit sechs anstelle von drei Soldaten zu tun. Da wir zweimal täglich mit Lebensmitteln versorgt wurden, kannte ich alle sechs infrage kommenden Bewacher inzwischen gut genug, um sie einschätzen zu können.
Die Tagesschichten kamen nicht infrage, weil sie alle seelisch zu ausgeglichen und somit auch sehr stabil in ihren Gedanken waren. Die Nachtschicht hingegen wurde erst kurz zuvor zu diesem Wachdienst abkommandiert, und die Männer kämpften noch mit dem neuen Tagesrhythmus. Ich kannte sie alle drei inzwischen recht gut, weil ich mich bereits seit zwei Wochen immer häufiger mit ihnen unterhielt, um sie besser einschätzen zu können.
Dies war wegen meiner damals nur begrenzten mentalen Möglichkeiten zwingend erforderlich. Ich musste eine gedankliche Verbindung herstellen können. Und das geht natürlich wesentlich leichter, wenn einem die andere Person bekannt ist. Wenn man in der Lage ist, sich in ihre Denkweise hinein zu versetzen.
Mein Fluchtplan war zwar nicht so genial wie der deine, aber darauf kam es nicht an. Schließlich wollte ich auch kein Buch darüber schreiben.“
Heinz lächelte sein Gegenüber freundlich an. und auch Stefan musste in dem Moment lachen.
Dann fuhr er fort.
„Wir hatten an dem Tag mehrere Experimente durchgeführt, von denen nur ein einziges gelang.
Einem älteren Wissenschaftler namens Borchert stand offensichtlich das größte mediale Potenzial zur Verfügung. Jedes Mal, wenn ein Experiment glückte, war er als Medium daran beteiligt. Und seine mentalen Fähigkeiten wurden von Tag zu Tag stärker. Ich spürte schon seit mehreren Tagen, dass er mich der Sabotage verdächtigte. Gleichzeitig war er auch der Einzige, der den ganzen Tag über in einer Uniform herumlief. Ein kleiner Mann mit Halbglatze und stolzem Gang, der jedoch aus seiner Vaterlandstreue und der damit verbundenen faschistischen Überzeugung keinen Hehl machte.
Mit Gewissheit wäre er der Erste gewesen, der mich als Kollaborateur denunziert hätte. Dazu brauchte er seine Verdächtigungen nicht einmal auszusprechen. Ein stechender Blick von ihm reichte, um mich zu verunsichern. Ich habe nie herausgefunden, wie viele meiner Gedanken er bereits erkennen konnte.
Und ich wollte es auch nicht näher ergründen. Ich wollte nur so schnell wie möglich mit den Büchern im Gepäck die Anlage verlassen. So weit weg wie möglich, um sie in Sicherheit zu bringen.
Die Russen standen bereits vor den Toren Berlins, weshalb man an einem der darauf folgenden Tage die Wachen verdoppeln wollte. Also eine meiner letzten Chancen, und ich war bereit sie zu ergreifen.
Ich entfernte leise die große Glaskuppel, unter der wir die Bücher nachts aufbewahrten. Ständig hatte ich das Gefühl, beobachtet zu werden. Doch niemand war zu sehen. Niemand war zu hören.
Bereits damals befand sich der Eingang zum Gewölbe oberhalb einer Treppe, die zu einer großen, kargen Halle führte, in der notdürftig ein paar Trennwände aufgestellt waren, damit sich die Menschen, die an den telepathischen Experimenten beteilig waren, nicht sehen konnten.
Borchert forderte immer wieder zwei schalldichte Kabinen an, die er jedoch nie bekam. Er musste sich damit begnügen, dass nur die Beleuchtung einzelner Bereiche sektional abgeschaltet werden konnte.
Während der Nachtzeit, die aus maximal vier Stunden Schlaf für alle bestand, wurden fast alle Glühlampen gelöscht. Nur oben am Eingang sowie unten, wo die Bücher aufbewahrt wurden, brannte ein schwaches Licht, welches die langen Schatten meines Körpers auf das mächtige Mauerwerk warf. Bei jeder meiner Bewegungen glaubte ich, einen schwarzen Riesen zu sehen, der mich von den Wänden her anstarrte. Doch es war niemand da. Ich blieb immer wieder stehen, um auf Geräusche zu achten. Ein leises Summen eines Deckenventilators war das Einzige, was ich in dieser unwirklichen Nacht hörte. Ich war hilflos und allein mit einer Aufgabe, die ich mir selbst gestellt hatte. Trotzdem fühlte ich mich ständig beobachtet.
Eine Alarmanlage war nicht vonnöten, weil niemals ein Außenstehender den Keller betreten würde. Noch weniger gab es die Möglichkeit den Keller zu verlassen.
Der einzige Schlüssel zur dicken Stahltür, die den Weg in die Freiheit verhinderte, befand sich außerhalb der Anlage im Treppenhaus. Er hing an einem primitiven Nagel gleich neben der Tür, die, wie gesagt, von drei Soldaten bewacht wurde.
Während sich die anderen in der Anlage tagsüber damit beschäftigten, ihre Gedanken an eine Person innerhalb eines Raumes zu übermitteln, stand ich in der Nacht vor der Aufgabe, drei Menschen zu manipulieren, von denen mich mehrere Tonnen Stahl trennten. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, ob ich dieser Aufgabe gewachsen sein würde.
Langsam, und immer darauf bedacht, keine Geräusche zu verursachen ging ich die Treppe hinauf, bis ich irgendwann mit Domenicos Tagebüchern hinter der Tür stand. Ein letzter Blick hinunter in die Halle, dann drehte ich mich langsam zur Tür um.
Mein Herz blieb fast stehen, als ich dabei plötzlich Borchert neben mir entdeckte, der mir direkt in die Augen sah. Er stand nur einen halben Meter von mir entfernt.
Keiner von uns beiden sprach ein Wort. Ich wusste, dass er jeden Moment die anderen rufen würde. Mein ganzes Leben lief noch einmal vor meinem geistigen Auge ab.
Natürlich hätte ich versuchen können, ihn zu überwältigen. Ich hätte versuchen können, ihn niederzuschlagen. Aber Gewalt war noch nie etwas, womit ich mich anfreunden konnte. Zudem war er trotz seiner Körpergröße von höchstens 1,65 m wesentlich kräftiger und trainierter als ich. Ich hätte nicht den Hauch einer Chance gehabt.
Plötzlich lächelte er und gab mir zu verstehen, dass es an der Zeit wäre, die ganze Sache endlich zu beenden. Hierfür war es nicht einmal erforderlich zu sprechen. Er war inzwischen mental wesentlich stärker, als ich bis dahin glaubte.
‚Mach, dass du endlich wegkommst!‘, gab er mir mit auf den Weg.
Aus dem Augenwinkel konnte ich gerade noch erkennen, wie er seine Hände an die Schläfen führte, um sich zu konzentrieren. Wir drehten uns beide zur Tür um.
Das leise Geräusch bewegter Mechanik sowie das endgültige Zurückspringen des Schlossriegels waren die schönsten Geräusche, welche ich während meines ganzen Lebens hörte.
Ich drückte mit der Schulter gegen die Tür.
Es war unglaublich. Ohne jegliche Anstrengung ließen sich mehrere Tonnen fester Stahl bewegen. Es gab sie also doch, die deutsche Qualitätsarbeit. Im Licht einer schwachen Glühlampe, die sich auf dem nächsten Treppenabsatz befand, konnte ich drei schlafende Soldaten ausmachen.
Der Schlüssel hing an seinem Platz gleich neben der Tür. Zu meiner Überraschung bewegte er sich nicht. Kein Pendeln, als wäre er erst angehangen worden. Ich warf Borchert noch einen Blick zu und formulierte ein Dankeschön. Wir wussten beide, dass wir uns niemals wiedersehen würden.
Dann rannte ich die Treppe hinauf.
Du kannst übrigens dankbar sein, dass zu deiner Zeit bereits ein Fahrstuhl eingebaut war. Mit den Büchern im Gepäck kam ich nur mühsam voran. Es vergingen mindestens 10 Minuten, bis ich am oberen Ende der Treppe ankam. Dann machte ich mich auf die Suche nach dem Ausgang.
Irgendwo musste es einen Mechanismus geben. Eine Tür. Ich tastete alles ab, bis ich einen primitiven Sperrriegel entdeckte.
Vorsichtig öffnete ich den geheimen Eingang, der sich, wie gesagt, in einer Litfaßsäule befand und suchte die Straße nach den Wachen ab. Niemand war zu sehen. Die komplette Straße war menschenleer. Keiner der Wachleute war auszumachen.
Ich schlich mich in den nächsten Hausflur, wo ich unter einer Kellertreppe die restliche Nacht verbrachte.“
„Du hast also die Bücher in Sicherheit gebracht“, bemerkte Stefan vorsichtig.
Heinz nickte stumm, doch Stefan traute sich in dem Moment nicht zu fragen, was aus ihnen geworden war.
„Eines verstehe ich aber nicht“, begann Stefan seine nächste Frage. „Wo war die Kirche damals, als die Nazis all die vielen Juden tötete? Warum ist die Kirche nicht eingeschritten?“
Die Frage, die sich jeder irgendwann stellte, der sich mit der deutschen Geschichte und dem Dritten Reich befasste.
Heinz holte tief Luft.
„Darüber habe auch ich lange nachgedacht und bin im Laufe der Jahre zu folgender Überzeugung gelangt.
Unmittelbar vor Kriegsbeginn wurde im Vatikan ein neuer Papst gewählt. Papst Pius XI, mit dem Hitler ein Konkordat verband, in dem er offiziell die katholische Kirche anerkannte, war verstorben und an seine Stelle trat Pius XII., ein Schützling seines direkten Vorgängers. Womit wir beim Thema der Kirche wären.
Hast du dir jemals Gedanken darüber gemacht, welche Organisation die wohl größte und reichste der Welt ist? Wenn nicht, dann sage ich es dir jetzt.
Es ist die Kirche.
Selbst ein so großes Unternehmen wie die Firma Coca Cola soll der katholischen Kirche gehören. Und die Anhäufung von Reichtum geht weiter.
Nachdem die Kirche damals zu Zeiten Napoleons in Deutschland offiziell enteignet wurde, verlangte sie Wiedergutmachung. Und die sollte sie auch bekommen. Im Form der Kirchensteuer, für die sich unser Staat sogar selbst als Geldeintreiber zur Verfügung stellt.
Alle Welt fragt sich seit damals, warum der Papst zur Zeit des Krieges geschwiegen hatte. Dabei liegt die Antwort auf der Hand.
Die Kirche selbst strebt seit jeher nach Macht.
Die komplette Bibel besteht bei genauer Betrachtung nur aus dem Thema Macht und ihrer Demonstrationen.
Doch was hat die Kirche in all den Jahren wirklich erreicht, in denen sie die Menschheit bekehren wollte? In denen ihr einziges Ziel ein gemeinsamer Glaube war? Ein gemeinsamer Gedanke. Sie hat nichts erreicht.
Und nun kam jemand, der sich auf die Suche nach dem jüdischen Buch machte. Die Nazis wandten dabei Methoden an, die sich eine Kirche nicht erlauben konnte. Also ließ man sie gewähren.
Einen Weg, den angestrebten Fund, wenn es ihn wirklich damals gegeben hätte, für sich nutzbar zu machen, den hätte die Kirche sicherlich gefunden. Es wurden schließlich schon ganz andere Schlachten auf den Schultern des Glaubens ausgefochten.“
Draußen dämmerte es bereits, als Heinz mit seiner Geschichte endete. In Deutschland waren am Wochenende zuvor die Uhren bereits auf Winterzeit umgestellt worden, und es war 16.30 Uhr.
Stefan hatte an diesem Tag mehr über die Vergangenheit erfahren, als seine Geschichtslehrer ihm während der gesamten Schulzeit je hatten vermitteln können. Zwar wusste er immer noch nicht, warum Heinz ihm dies alles erzählte, aber er wusste genau, dass es noch nicht das Ende war. In Wahrheit stand er erst ganz am Anfang. Dem Beginn eines Abenteuers, auf das er alles andere als vorbereitet war.
„Sie wollen mir doch nicht weismachen, dass hier jeder reinspazieren und Daten von unseren Computern löschen kann.“
Dieter Tscherno war nicht nur der beste Freund von Professor Leineweber, dem Fachdozenten für Computertechnik, sondern auch der EDV-Beauftragte der Universität. Der Dekan hatte ihn aufgrund der dringlichen Bitte von ein paar Studenten hin beauftragt, die Arbeiten der Gruppe aus der Datenbank zu sichern, damit man feststellen könne, um wessen geistiges Eigentum es sich tatsächlich handele. Die Zugangscodes aller beteiligten Studenten wurden auf deren eigenen Wunsch hin gesperrt, bis die Sache geklärt wäre.
Dem Computerexperten Tscherno, der für das komplette Netzwerk der Universität verantwortlich war, fiel die Antwort schwer.
Er saß dem Dekan gegenüber und verzog das Gesicht wie ein Teenager, der seinem Vater gestehen musste, das nächste Schuljahr nicht erreicht zu haben.
„Es sieht aber tatsächlich so aus.“ Dieter Tscherno sprach so leise, dass der Dekan Mühe hatte, ihn zu verstehen.
„Und Sie sind sich völlig sicher, dass es nicht Professor Drescher selbst war, der alle vermeintlichen Beweise gelöscht hat?
Wenn die Studenten recht haben, dann wäre das die einzig mögliche Erklärung.“
Wieder musste der Dekan genau hinhören, um die Antwort seines Mitarbeiters akustisch zu verstehen.
„Da bin ich mir ganz sicher. Inzwischen steht fest, dass ein Zugangscode verwendet wurde, der nirgends dokumentiert war. Selbst ich hatte keine Ahnung, dass es einen solchen Code gab.
Anscheinend wurde er bereits damals, zusammen mit dem Betriebssystem, installiert.
Zudem wurden die Daten erst gelöscht, als Professor Drescher schon vier Tage verschwunden war. Ich habe mich, nachdem ich das alles festgestellt habe, mit dem Kollegen der Uni in Freiburg in Verbindung gesetzt. Dort wird derzeit geprüft, ob es auch in deren EDV-Anlage eine Hintertür ins System gibt. Schließlich stammen beide Systeme aus derselben Stiftung.“
„Kann sich jemand von außen eingewählt haben?“, fragte der Dekan.
„Mit Gewissheit nicht. Es steht definitiv fest, dass derjenige hier im Gebäude war. Ich konnte sogar feststellen, welches Terminal er benutzt hat.“
„Sobald die Antwort aus Freiburg da ist, geben Sie mir bitte Bescheid. Ich möchte nicht voreilig die Polizei einschalten, die dann den kompletten Universitätsablauf stört“, bat der Dekan, bevor er Dieter Tscherno wieder an seinen Arbeitsplatz schickte.