5. Kapitel
„Wie kamst du als Mediziner eigentlich dazu, als Pfarrer zu arbeiten?“
Inzwischen hatten die meisten Bäume ihre Blätter schon verloren, und Bernd Heider hatte unter Protest zugestimmt, dass Stefan mit Heinz die Seniorenresidenz verließ.
Ein zusammenklappbarer Rollstuhl wurde in den Kofferraum seines Autos verladen und Stefan mit einem elektronischen Pieper ausgestattet. Den zweiten Pieper hatte Heider stets am Körper, um im Notfall schnell zur Stelle sein zu können. Heider gab den beiden noch eine Unzahl an Verhaltensregeln mit auf den Weg, bevor er das große schmiedeeiserne Tor öffnete.
Warum Heider diese Fürsorglichkeit so eindringlich zum Besten gab, war für Stefan zu diesem Zeitpunkt völlig unklar. Inzwischen war er davon überzeugt, dass `Locke` in Heiders Diensten stand und ihn auch auf seinem Ausflug mit Heinz keine Sekunde aus den Augen lassen würde. Schließlich handelte es sich bei beiden Männern um Bodybuilder, die wahrscheinlich sogar das gleiche Fitnessstudio besuchten.
Es war der erste Tag seit über 30 Jahren, den Heinz außerhalb der Residenz verbrachte. Und es sollte auch der letzte Tag dieser Art für ihn sein. Stefan stellte sein Auto am Parkplatz des Sees ab, den er alleine ein paar Tage zuvor zu Fuß erkundet hatte. Nun schob er einen alten Mann im Rollstuhl vor sich her, der die Natur und alles, was er an diesem Nachmittag sah, gierig in sich aufsog. Außer ein paar Liebespaaren und einsamen Hundebesitzern waren keine weiteren Spaziergänger zu entdecken.
Heinz blickte seinen neuen Vertrauten zufrieden über die Schulter hinweg an und legte seine Hand auf Stefans, die den Griff des Rollstuhls fest umschloss.
„Nach dem Krieg musste ich mir überlegen, ob ich meinen Abschluss in Medizin nachholen oder einen anderen Beruf ergreifen sollte. Da ich mehr Blut und Verletzungen gesehen hatte als die meisten Ärzte in ihrem gesamten Berufsleben, entschied ich mich, der Medizin den Rücken zu kehren. Der Krieg war zu Ende, und Deutschland lag in Trümmern.
Ich hatte erfahren, dass meine Mutter, sowie eine junge Frau, die mir damals sehr nahestand, im KZ umgekommen waren. Nicht einmal eine Stelle, wo ich die beiden hätte betrauern können, war mir geblieben. Keine Gräber, die ich hätte pflegen können.
Ich war also völlig auf mich allein gestellt. Darum entschied ich mich, eine Stelle als Gärtner in einer Kirche anzunehmen. Zu jener Zeit waren Kirchen an Sonntagen noch gut besucht. Es gab schließlich viele, die es zu betrauern galt. Auch ich reihte mich in die Riege der Trauernden mit ein und zündete jeden Sonntag drei Kerzen an. Eine in Gedenken an meine Mutter, eine weitere für die Frau, die ich nach Kriegsende heiraten wollte, und eine dritte, die symbolisch für all jene stand, deren Leben wir damals nicht retten konnten.
Auf diese Weise machte ich damals Bekanntschaft mit dem christlichen Glauben. Nachdem ich anfangs aus Langeweile ein paar Mal in der Bibel las, wurde ich jedoch neugierig. Ich wollte mehr wissen. Zum einen über die Struktur der Kirche und zum anderen über das sagenhafte jüdische Buch, welches seit mehreren Jahrhunderten von den verschiedensten Gruppen gesucht wurde.
Auch Domenico hatte einen Hinweis auf ein solches Buch gegeben. Es musste sich also um den erforschten Teil der Gedankenwelt handeln, der sich für Ater nicht erschlossen hatte.
Das Buch, für das Menschen zu morden bereit waren, wurde zu einer unbekannten Zeit geschrieben. Es soll, der Geschichte nach, die Erkenntnisse einer zweiten Gruppe enthalten, die bereits viel früher mit Gedanken und ihrem Ursprung experimentierten. Bei dem Verfasser soll es sich um den Leiter der Gruppe selbst gehandelt haben, der seinem Werk den Namen «Libri Cogitati» gab, was so viel bedeutet wie «Buch der Gedanken». Ich wusste, dass dieses Buch, genauso wie Domenicos Tagebücher, nie in die falschen Hände gelangen durfte.
Also studierte ich neben meiner Tätigkeit als Gärtner Theologie und betrieb heimlich meine eigenen Recherchen zum Verbleib von ´Libri Cogitati´.
Nach ein paar Jahren gab ich die erfolglose Suche jedoch auf und hoffte, dass ein solches Buch nicht mehr existieren würde. Inzwischen ging ich meinem Beruf als Pfarrer nach und lebte ansonsten völlig zurückgezogen.
Bis ich eines Tages, es war im Sommer 1972, auf einen katholischen Pfarrer stieß, der seinerseits an das Buch glaubte und sich von mir Hilfe bei seiner eigenen Suche danach erhoffte. Irgendwie hatte er erfahren, dass ich mich einst dafür interessierte und glaubte, dass ich es immer noch tat.
Er erzählte damals, dass er im Auftrag der Kirche handelte, was mir auch logisch erschien.
Die Kirchen, und insbesondere die katholische, hatten in den Jahren des deutschen Wiederaufbaus zu viele ihrer Gläubigen eingebüßt. Die Menschen waren alle mit anderen Dingen beschäftigt und glitten dem Klerus förmlich aus den Händen.
Die Beeinflussung von der Kanzel hatte in der modernen Zeit keine Chance mehr.
Fernsehen, Kinos und nicht zuletzt das berühmte Wirtschaftswunder selbst nahmen die Menschen damals sehr in Anspruch. Die Kirchen standen leer und die Klingelbeutel füllten sich nicht mehr. Es mussten neue Wege gefunden werden, um in die Köpfe der Menschen und in deren Brieftaschen zu gelangen.
Der damals noch sehr junge Pfarrer war geradezu besessen von der Idee, eines Tages in den alten Schriften zu lesen. Oftmals besuchte er mich nach den Gottesdiensten, um mich davon zu überzeugen, dass wir gemeinsam in der Lage wären, das sagenumwobene Buch aufzuspüren.
Erst versuchte er, mich neugierig zu machen und als seinen Gefährten zu gewinnen. Er prahlte mit seinen eigenen Ergebnissen, die er nun mit meinen teilen wollte.
Aber, wie gesagt, ich war zu dieser Zeit bereits davon überzeugt, dass es ein solches Buch nicht oder zumindest nicht mehr gab. Mein Interesse war infolge dessen also gleich Null.
Dieser Wahnsinnige jedoch ließ nicht locker. Nach seiner eigenen Aussage handelte er schließlich im Namen seiner Kirche und, wie er mir versicherte, ohne jeden bösen Hintergedanken. Fast täglich meldete er sich bei mir, um mich zu überzeugen. Trotzdem musste ich ablehnen. Was hätte ich ihm auch mitteilen können? Ich erklärte mehrmals, dass es dieses Buch offensichtlich nicht gab und wahrscheinlich auch nie gegeben hatte.
Doch er wollte nicht aufgeben.
Nach einiger Zeit versuchte er es mit Einschüchterung, indem er von seinen zahlreichen guten Beziehungen zu hohen Persönlichkeiten der evangelischen Kirche sprach. Später deutete er sogar gewaltsame Mittel an, um an meine Aufzeichnungen zu kommen.
Abermals bat ich ihn, mich in Ruhe zu lassen.
Und zunächst sah es auch so aus, als würde er dieser Bitte folgen.
Eines Tages jedoch, als ich gerade von einem Gottesdienst nach Hause kam, stellte ich fest, dass meine komplette Wohnung während meiner Abwesenheit durchsucht worden war. Alle meine Aufzeichnungen, oder was man dafür hätte halten können, waren verschwunden. Selbst mein Papierkorb wurde komplett entleert, und sein Inhalt lag im ganzen Zimmer verstreut auf dem Boden.
Die Täter hatten tatsächlich ganze Arbeit geleistet. Erst glaubte ich an einen einfachen Einbruch von Dieben.
Ein paar Tage später jedoch suchte mich der Pfarrer selbst zu Hause auf. Er glaubte, dass ich im Besitz weiterer Aufzeichnungen wäre und wollte diese nun einfordern.
Dass ich meine Suche nach ´Libri Cogitati´ bereits vor Jahren aufgegeben hatte, glaubte er mir nicht und wollte mir meine Beteuerungen diesbezüglich auch nicht abnehmen. Ohne dass ich es bemerkte, ließ er beim Betreten meiner Wohnung die Tür nur angelehnt, sodass zwei weitere Besucher eintreten konnten. Ich stand also plötzlich drei Männern gegenüber. Der kleine Pfarrer stand in der Mitte, flankiert von zwei Gestalten, deren Aussehen keinerlei Zweifel an ihrer Gewaltbereitschaft aufkommen ließ. Dann ging alles sehr schnell.
Der Pfarrer selbst war der Erste, der mich schlug.
Er schleuderte seinen Handrücken in mein Gesicht, sodass augenblicklich meine Lippe aufplatzte und Blut herausschoss. Er wischte mit einem Tuch, das er aus seiner Tasche zog, den blutverschmierten Ring an seinem Finger sauber und sah mich mitleidig an.
Doch ich hatte ihm immer noch nichts zu sagen.
Dann setzte er sich auf einen Stuhl und fragte mich noch einmal im leisen Ton, wo die fehlenden Unterlagen wären.
Doch ich hatte keine.
Jetzt waren seine Freunde an der Reihe. Der größere von ihnen, ein glatzköpfiger Hüne von mindestens zwei Metern und Schultern wie ein Möbelträger griff mir von hinten an den Haarschopf und schlug mein Gesicht auf den Holztisch. Das nächste Geräusch, welches ich hörte, war das Brechen meiner Nase.
Mein katholischer Berufskollege blieb völlig ruhig. Er fragte wieder nach meinen Aufzeichnungen. Während ich mit der Hand nach meiner blutüberströmten Nase tastete, spürte ich einen unvorstellbaren Schmerz in meinen Waden.
Ich starrte fassungslos zur Seite. Der dritte Mann im Bunde schwang laut lachend einen Holzschläger in der Hand. Meine rechte Wade knickte in etwa halber Höhe ein, während sich ein spitzer Teil meines eigenen Beinknochens durch meine Haut bohrte.
Wieder befragte mich der Pfarrer. Noch immer hatte ich keine befriedigende Antwort für ihn.
Ich lag nach Luft ringend auf dem Boden meines Wohnzimmers. Eine Art von Cowboystiefel war das Letzte, was ich zu sehen bekam. Ich weiß nicht, wie oft sie zugetreten haben. Bevor ich bewusstlos wurde, versuchte ich noch zu beten, denn ich war mir sicher, diesen Tag nicht zu überleben. Selbst das Rauschen des Blutes in meinen Adern, welches ich vorher noch hörte, verstummte irgendwann.
Ich weiß nicht, wie lange ich in meinem Blut auf dem Boden gelegen habe, bis ich irgendwann allein erwachte.
Meiner damaligen Haushaltsgehilfin hatte ich für ein paar Tage freigegeben, die sie bei ihrer Schwester an der Nordsee verbringen wollte.
Wenigstens waren meine Peiniger verschwunden. Sie hatten alles durchsucht. Kein Möbelstück hatte diese Suche überstanden. Kein Schrank, kein Tisch und kein Stuhl standen noch an ihrer üblichen Stelle. Sie hatten anscheinend alles bewusst zerstört.
Nur langsam kam ich wieder zu mir.
Ich versuchte meine körperlichen Schäden festzustellen. Mein linker Arm schien noch funktionstüchtig zu sein, während der rechte merkwürdig verdreht neben mir lag. Ich musste das Telefon erreichen, um Hilfe herbeizurufen.
Es befand sich ungefähr zwei Meter von mir entfernt. Ich erkannte das Kabel, welches von der Anschlussdose nach oben führte. Nur mühsam kam ich voran. Zentimeter um Zentimeter, bis das Telefonkabel in meine Reichweite kam. Ich griff nach ihm und zog daran, aber das Telefon fiel nicht herunter. Ich zog mit aller Kraft, die ich noch hatte. Dann, nach einigen weiteren Versuchen, fiel es endlich zu Boden. Ein langer Pfeifton signalisierte mir, dass es noch funktionieren könnte.
Ich wählte einen Anschluss in Italien und erzählte, was passiert war.
Dann überkam mich wieder die Bewusstlosigkeit.
Drei Wochen später erwachte ich in der Residenz. Zu früh für einen Mann meines Alters, aber der einzige Ort, wo mich meine Peiniger nicht finden konnten.
Es dauerte ein halbes Jahr, bis ich wieder sprechen konnte. Wieder rief ich in Italien an.
Meine Freunde dort hatten alles richtig gemacht. Sie hatten die Miete für meine Wohnung weiterhin bezahlt und fuhren mich ein paar Tage später zu ihr hin.
Sie sah immer noch aus wie ein Schlachtfeld. Ich sah den großen inzwischen getrockneten Blutfleck, in dem man mich gefunden hatte. Die Möbel waren teilweise umgeworfen und die Matratze meines Bettes aufgeschlitzt. Doch die Dielen unter meinem Bett hatten sie nicht herausgenommen. Es war immer noch da:
Domenico – Diarium.“
Heinz strahlte Stefan wie ein kleines Kind an, das mit einer guten Note aus der Schule nach Hause gekommen war und nun vom Vater eine Belohnung erhoffte. In seinen Augen glänzte der pure Stolz.
„Wer waren diese Freunde?“, fragte Stefan.
„Es waren die Nachkommen von Domenicos Schwester, die ich nach dem Krieg ausfindig machte. Sie waren damals überaus glücklich, als sie durch mich eine Lücke in ihrem Stammbaum schließen konnten. Durch mich haben sie erfahren, was aus Domenico geworden war.
Er hatte seine Familie nie wiedergesehen, und wir gingen davon aus, dass auch er zu den Opfern gehörte, als das Kloster damals überfallen wurde und alle Bewohner getötet wurden.
Inzwischen gehört die Familie zu den reichsten Familien Italiens.
Das Gut von Domenicos Eltern gibt es immer noch. Es dient heute als Wohnsitz der Nachkommen. Die Familie besitzt inzwischen Ferienanlagen auf der ganzen Welt. Wie ich erfuhr, hat Domenicos Vater sich damals geschworen, die Familie künstlich klein zu halten, damit niemals mehr ein Familienmitglied verloren ginge. Ich empfand diese Maßnahme zwar immer sehr übertrieben, aber alle Nachkommen halten sich seitdem daran.
Von dem Buch haben sie jedoch nie erfahren. Selbst als ich es damals aus seinem Versteck in meiner Wohnung holte, erzählte ich ihnen nicht, wer es einst geschrieben hatte.
Nur die ersten Briefe, die er damals an seine Familie geschrieben hatte, übergab ich ihnen.“
Stefan und Heinz waren inzwischen wieder am Auto angekommen. Stefan setzte Heinz behutsam auf den Beifahrersitz und verfrachtete den zusammenklappbaren Rollstuhl in den Kofferraum.
Jetzt kannte er die ganze Geschichte. Bis auf eine Kleinigkeit.
Was hatte er damit zu tun?
Heider erwartete die beiden bereits am Eingangstor der Residenz. Unmittelbar, nachdem Stefan sein Auto auf den Parkplatz gelenkt hatte, holte er den Rollstuhl aus dem Kofferraum und faltete ihn auseinander.
„Ich möchte, dass wir uns die nächsten Tage nicht sehen. Du kennst jetzt alles Wesentliche und wirst sehr bald wissen, was nun zu tun ist. Aber eines lass dir geraten sein. Hüte dich vor katholischen Pfarrern“, gab ihm Heinz vor dem Aussteigen noch mit auf den Weg.
Stefan lächelte nur verständnisvoll. .
„Vor allem dann, wenn ihr Name Reiner Schwarzenbeck ist“, fügte Heinz hinzu.
Stefan hatte keine Chance mehr, auf diese letzte Bemerkung zu reagieren.
Heider setzte Heinz mit einem gekonnten Griff in den Rollstuhl und schob ihn durch den schmalen Gang nach Hause.