7. Kapitel
Am Anfang des 12. Jahrhunderts, Historiker vermuten um das Jahr 1104, machte sich der französische Adlige Hugo de Payns im Gefolge des Grafen der Champagne auf eine Pilgerfahrt ins heilige Land, von der er tief beeindruckt zurückkehrte.
Bereits 1114 brach er erneut auf, um für immer im Land des Herrn zu bleiben.
Er war verheiratet und hatte einen Sohn mit dem Namen Thibaud, dem späteren Abt des angesehenen Klosters St. Colombe in Frankreich. Hugo de Payns war, genau wie seine restliche Familie, ein gottesfürchtiger Mensch.
Vermutlich um das Jahr 1118 kam es in Jerusalem zur Gründung des ersten geistlichen Ritterordens durch Hugo de Payns sowie acht weiteren Rittern. Ziel dieses Ordens war der Schutz von Pilgern, die das heilige Land bereisten. So zumindest die offizielle Fassung, wie sie in die Geschichtsbücher eingegangen ist.
Zum Dank für ihren Entschluss, als Schutztruppe im Land zu bleiben, wies ihnen der fränkische König Balduin II. von Jerusalem ein besonderes Quartier zu.
In einem Nebengebäude der Al-Aksa-Moschee auf dem Tempelberg, das ihm selbst als Residenz diente, sollten die neuen Beschützer fortan leben. Schon bald wurden die Ritter als ›Brüder des Tempels‹ bezeichnet oder auch nur kurz als die ›Templer‹. Sie selbst nannten sich zu diesem Zeitpunkt offiziell:
„Arme Ritterschaft Christi vom salomonischen Tempel“.
Die kahl geschorenen Krieger des Ordens, es wurden fast täglich mehr, sah man auf den Schlachtfeldern Palästinas stets in der ersten Reihe kämpfen. Anscheinend fürchteten sie nichts und niemanden auf der Welt.
Im Laufe der Jahre wurde das rote Tatzenkreuz auf dem weißen Umhang, auf Brustpanzer und Schild zu ihrem Erkennungszeichen.
Unaufhörlich wuchsen Macht und Einfluss des Ordens. Durch päpstlichen Erlass von 1139 wurden die Templer dann autonom. Sie zahlten keine Steuern und unterlagen weder weltlichen noch kirchlichen Gerichten.
Schnell verbreiteten sie sich auch in Europa, führten neben diversen anderen Neuerungen auch den bargeldlosen Zahlungsverkehr ein, weil sie Angst hatten, dass ihre Geldkuriere überfallen werden könnten. Und Geld hatten sie genügend. Sie häuften Reichtümer an, die es ihnen erlaubten, Einfluss auf die Gesellschaftsstruktur vieler Länder zu nehmen.
Doch auch das reichte dieser Organisation schon bald nicht mehr aus.
Schon damals gab es diverse Spekulationen über eine weitere, jedoch geheime Aufgabe des Ordens.
Die Bruderschaft sei in Wahrheit auch angetreten, um einen geheimen Schatz zu finden, der die Fantasien der Menschheit bis heute noch erregt.
Die jüdische Bundeslade.
Das sagenumwobene Objekt, in dem sich die Gesetzestafeln befinden sollten, die Moses einst vom Berge Sinai mitbrachte.
Angeblich aber auch Texte mit jenen Wahrheiten, die Menschen immer wieder zu suchen schienen – ob als Weltformel, Heiliger Gral oder Stein der Weisen.
Betrachtete man die bekannten und als gesichert geltenden Fakten etwas genauer, so gewannen die Gerüchte und Spekulationen über die Schatzsuche zunehmend an Bedeutung.
Es gilt als erwiesen, dass Hugo de Payns mindestens zwei Reisen in den Osten unternahm.
Das erste Mal in der Zeit von 1104 bis 1105 und das nächste Mal von 1114 bis 1115. Beide Male in Begleitung des Grafen der Champagne.
Dieser war damals vier- bis fünfmal reicher als der König von Frankreich. Der Graf, ein begeisterter Anhänger eines gewissen religiösen Mystizismus, unterhielt zu seiner Zeit eine enge Freundschaft zu Etienne Harding, dem Abt von Citeaux, der im Jahr 1115 einen Mönch kommen ließ, der als Spezialist für hebräische Schriften galt. Dies geschah unmittelbar nach der Rückkehr des Grafen der Champagne.
Hugo de Payns soll sich zu jener Zeit noch im Osten aufgehalten haben. Nur sein Reisebegleiter kehrte also nach Frankreich zurück.
Aber was hatte der Graf mitgebracht, das es zu übersetzen galt?
Zumindest begannen irgendwann in der Zeit zwischen dem Jahr 1118 und dem Jahr 1126 die Templer mit Ausgrabungen unter dem Tempel Salomons an der Stelle, wo sich einst die Stallungen befanden. Dann, im Jahr 1126 erfolgte unerwartet der erneute Aufbruch des Grafen der Champagne. Um sich den Templern unter der Leitung seines ehemaligen Weggefährten Hugo de Payns anzuschließen, verließ der Graf Frau und Kinder und verzichtete auf seinen gesamten Reichtum sowie die dazugehörige gesellschaftliche Stellung.
Offensichtlich war man im Osten inzwischen fündig geworden.
Sieht man sich die zeitlichen Abläufe genauer an, so wird schnell klar, dass seit der zweiten Reise 1114-1115 nahezu zehn Jahre vergangen waren.
Wenn die Geschichte von neun Rittern spricht, die allein zum Schutz von Pilgern aufbrachen, dann setzten unsere Geschichtsschreiber eine gewisse Naivität bei uns voraus.
Neun Menschen, die es allein mit einer Übermacht aufnahmen? Eher unglaubwürdig.
Vielmehr hatte man fast zehn Jahre Zeit, um Menschen zum Schutz der Tempelherren selbst und dem, was sie damals fanden, zu rekrutieren. Für einen reichen Menschen wie dem Grafen der Champagne sicherlich ein leichtes Unterfangen.
Von Anfang an waren diese Menschen auf der Suche. Auf der Suche nach etwas derart Geheimen, dass der Orden später direkt dem Papst unterstellt wurde.
Entgegen den verbreiteten Spekulationen, dass es sich um den Heiligen Gral, die Bundeslade oder andere Relikte handelte, suchten die Templer anscheinend nach etwas, das es zu übersetzen galt.
Waren es vielleicht Schriften, die Weisheiten von unglaublicher Bedeutung enthielten?
Geht also die Gründung des Ordens tatsächlich auf den selbstlosen Wunsch, Pilger auf den Straßen im Osten zu schützen, zurück?
Oder war die Suche nach einem Vermächtnis aus früher Zeit der Beweggrund für jene Menschen, die bereit waren, ihre Heimat und ihre Angehörigen dafür zu verlassen?
Noch heute fahnden Archäologen und Hobbyforscher auf der ganzen Welt nach dem verschollenen Tempelschatz.
Die Templer aber, so ein verbreitetes Gerücht, hätten die Bundeslade und weitere Teile des Tempelschatzes gefunden und nach Europa gebracht.
Überraschenderweise waren bei den späteren europaweiten Razzien bei der Zerschlagung des Ordens nie entsprechende Dokumente oder sonstige Hinweise bei den Templern gefunden worden.
Konnten sie am Ende doch noch alles in Sicherheit bringen?
Ein mutmaßliches Versteck sollte sich zum Beispiel im südfranzösischen Dorf Rennes-le-Château befinden, das mitten im damaligen Kernland der Templer lag. Immer wieder hieß es, die Bundeslade sowie wichtige Geheimdokumente der Templer seien dorthin gebracht worden.
Doch auch dort wurde man bis heute nicht fündig.
Im Jahre 1291 kam für die Templer dann die entscheidende Wende. Jerusalem wurde von den aus Ägypten kommenden Mamelucken zurückerobert. An die 400 Templer fielen später allein bei der Verteidigung der Burg Akkon, der letzten Bastion im Heiligen Land.
Die Überlebenden flüchteten nach diesem Verlust ihrer offiziellen Existenzberechtigung nach Zypern.
Was dann passierte, gehörte zu den schauerlichsten Episoden des Mittelalters. Ab 1305 tauchten immer wieder Gerüchte über die Templer auf. Begriffe wie Ketzerei und Satanismus wurden allzu gerne mit den Templern in Verbindung gebracht.
Am 13. Oktober 1307 ließ der französische König Philipp der Schöne rund tausend französische Ordensniederlassungen durchsuchen und 548 Templer verhaften. Die Zerschlagung der Gemeinschaft war damit eingeleitet und wurde durch Papst Clemens V. abgeschlossen, der den Orden dann am 20. März 1311 endgültig auflöste.
Über sieben Jahre schleppte sich in Paris das Verfahren gegen die inhaftierten Ritter hin.
Die Anklageschrift liest sich heute noch wie ein Katalog der schlimmsten Verbrechen, die das Mittelalter kannte: Ketzerei, Götzendienst, schwarze Magie, Geisterbeschwörung und Homosexualität.
Einer der wenigen letzten Zufluchtsorte Europas, auf den die nicht inhaftierten Templer zurückgreifen konnten, befand sich in der Nähe der Ortschaften Cölln und Berlin, wo der Orden gegen Ende des 12. Jahrhunderts ausgedehnte Ländereien geschenkt bekam. Die Tempelherren sollten das Land urbar machen.
Das heißt, die Sümpfe mussten trocken gelegt und die Wälder gerodet werden. Auf dem Gebiet des heutigen Bose- und Alten Parks in Tempelhof (heutiger Stadtteil von Berlin) bauten sie eine burgähnliche Anlage und eine Kirche.
Während von der alten Komturei nichts mehr erhalten ist, existierte die Dorfkirche von Tempelhof immer noch. Nach Auflösung des Ordens übernahm der Johanniterorden den Besitz. Inzwischen galt die alte Dorfkirche als ältestes Gebäude Berlins.
Und hier schloss sich der Kreis.
Da es keinerlei Hinweise darauf gab, dass die französischen Verfolger auch in Tempelhof waren, ging Heinz davon aus, dass die alte Dorfkirche in Berlin-Tempelhof auch nie durchsucht wurde.
Es ist davon auszugehen, dass der König von Frankreich damals alle Wege, die aus Europa herausführten, kontrolliert hatte. Folglich konnten die Templer ihre geheimen Unterlagen zu jener Zeit nur in Europa versteckt haben.
Gerüchten zur Folge tauchten immer wieder Gruppen auf, die sich dem alten Orden verpflichtet fühlten. Einige dieser Gerüchte gehen sogar davon aus, dass die Templer nie komplett aufgelöst wurden und selbst in der heutigen Zeit noch existierten.
Dem in Deutschland lebenden Juden, der nach der Überlieferung „Libri Cogitati“ verfasst oder zumindest neu niedergeschrieben haben soll, standen bei seinen Forschungen vermutlich die geheimen Dokumente der Templer zur Verfügung.
Standen er und Ater im Dienste der Templer?
Es wäre zumindest eine mögliche Erklärung dafür, dass beide ihre Forschungen damals fast zeitgleich betrieben. Als katholischem Pfarrer musste es Schwarzenbeck leichtgefallen sein, die alte Dorfkirche in Berlin-Tempelhof genau unter die Lupe zu nehmen. Hatte er etwas gefunden, was über mehrere Jahrhunderte im Verborgenen lag?
Heinz glaubte sich daran zu erinnern, dass Schwarzenbeck als Pfarrer in diesem Stadtteil tätig war. Als Hüter von Domenico – Diarium wäre er jedoch nie auf die Spur der Tempelritter gekommen, wäre ihm nicht eines Tages zufällig das Wappen von Tempelhof in die Hände gefallen.
Eine von ihm selbst gezeichnete Kopie dieses Wappens befand sich bei seinen Unterlagen. Neben dem Hirsch auf der rechten Seite des Wappens befand sich auf der linken Hälfte das Tatzenkreuz der Tempelritter. Heinz, der damals Theologie studierte, war dieses Tatzenkreuz sofort bekannt vorgekommen.
War die alte Kirche von Tempelhof der Ausgangspunkt von Schwarzenbecks Suche?
Wenn ja, dann fehlte immer noch die Verbindung zu dem jüdischen Verfasser von Libri Cogitati. Was genau hatte Schwarzenbeck also gefunden? War es wirklich „Libri Cogitati“ oder waren es die verschollenen Unterlagen der Templer selbst? Fest stand auf jeden Fall, dass auch Stefan seine Suche dort beginnen musste.
Heinz beendete das Schreiben mit dem Rat, dass sich Stefan auf keinen Fall allein auf die Suche nach Schwarzenbeck und Libri Cogitati machen solle. Noch einmal erinnerte er daran, wie gefährlich dieser Mann doch ist.
Wessen Hilfe Stefan jedoch in Anspruch nehmen könnte, das wusste auch Heinz nicht.
Spontan kamen Stefan nur zwei Menschen in den Sinn. Zum Einen war das Frau Kerner, die Ex-Theologin, die Henry und Maria damals aus Mexiko holte und nach Berlin brachte. Sie war es auch, durch deren Kontakte Stefan damals in einem kroatischen Kloster untertauchte, von wo aus er via Internet „Willi“, die erste künstliche Intelligenz, kontaktierte.
Ohne Frau Kerner und Willi wäre es ihm unmöglich gewesen, das damalige Projekt zu stoppen.
Bei Maria, der zweiten Person, handelte es sich um eine Telepatin, die mit ihrem Zwillingsbruder Henry ebenfalls im Projekt-Keller gelebt und mit der sich Stefan damals angefreundet hatte.
Im Ursprung waren sie und ihr Bruder deutscher Abstammung. Noch vor ihrer Geburt wanderte die Mutter der beiden damals nach Mexiko aus, wo sie und ihr Mann, den sie auf der Überfahrt kennenlernte, fernab von jeglichen böswilligen Gerüchten ihre Kinder großzogen.
Schon damals wurden den deutschen Vorfahren Hexenkult und ähnliche mystische Neigungen unterstellt.
Obwohl Stefan nie das komplette Ausmaß ihrer paranormalen Kräfte kennengelernt hatte, fiel seine Wahl auf Maria.
Damals war es Maria gewesen, die aufgrund dieser Kräfte in der Lage war, einen Jungen ausfindig zu machen, für den sich Schwarzenbeck und seine Leute brennend interessiert hatten.
Nachdem ihr jedoch klar geworden war, wie außergewöhnlich dieser Junge war, bat sie Frau Kerner und Stefan, ihn den anderen in Berlin vorzuenthalten.
Irgendwie fürchtete sie, dass man diesem Jungen Schaden zufügen würde.
Maria erzählte Stefan damals, dass sie inzwischen 80 Jahre alt sei. Leider wusste er weder den genauen Ort noch den genauen Zeitpunkt, wo ihre schwangere Mutter damals in Mexiko an Land gegangen war.
Sicherlich gab es zu dieser Zeit nicht allzu viele Schifffahrtsgesellschaften, die von Deutschland nach Mexiko fuhren. Also machte er sich auf den Weg in die nächste Stadtbücherei, um herauszufinden, um welche Gesellschaften es sich dabei gehandelt haben könnte.
Gleich neben der Eingangstür des Lesesaals in der ersten Etage stand ein kleiner Tisch, an dem eine ältere Frau emsig damit beschäftigt war, kleine Karteikarten zu ordnen.
Ihr von grauen Strähnen durchzogenes Haar hatte sie, fast schon traditionsgemäß, zu einem unansehnlichen Knäuel zusammengebunden. Die kleine Brille, aus einem einfachen Drahtgestell gefertigt, rundete das Bild der „alten Jungfer“, wie man sie von diversen Fotos kannte, endgültig ab.
Ohne zu ihm aufzusehen, fragte sie auch sofort, was sie für ihn tun könne.
„Ich suche Literatur über Reiserouten nach Mexiko um das Jahr 1925 herum“, teilte Stefan ihr mit.
„Dann muss ich Ihnen erst einmal einen Büchereiausweis erstellen. Ich brauche dafür Ihren Personalausweis.“
„Geht auch der Führerschein?“
„Nein.“
Zum Glück fand er beim Durchsuchen seiner Brieftasche dann doch noch seinen Ausweis, sodass er nach ca. 15 Minuten Wartezeit einen gültigen Büchereiausweis, bestehend aus einer vergilbten Pappkarte im Scheckkartenformat ausgehändigt bekam.
Hier war die Zeit anscheinend vor mindestens 30 Jahren stehen geblieben.
„Was Sie suchen, das müssten Sie hinten rechts in der Ecke unter dem Buchstaben ´A` finden“, teilte sie ihm mit einem kurzen Kopfnicken mit.
Also machte Stefan sich auf den Weg zu einer Regalreihe mit der primitiven Beschriftung ´AA-AC`.
„Nicht bei den Autoren rechts, sondern bei den Titeln links!“, fauchte ihn die Stimme der ´alten Jungfer` hinter seinem Rücken an.
Stefan wusste zwar nicht, was der Buchstabe ´A` mit Reiserouten zu tun haben könnte, wollte sich aber auch nicht mit der Herrin des Hauses anlegen.
„Auswanderer zu Beginn des 20. Jahrhunderts“ stand auf einem Buch, welches er drei Reihen weiter unter den Buchstaben ´AT-AV` entdeckte. Nun begann eine Suche durch die endlosen Regalreihen der Bibliothek. Immer verfolgt von dem wachsamen Auge der Bibliothekarin.
Nach ungefähr fünf Stunden und unzähligen Bechern Kaffee aus einem Automaten, der draußen im Treppenhaus stand, fiel ihm ein Buch mit Passagierschiffen und ihren Schiffsbiografien in die Hände.
Davon kamen aufgrund ihrer aktiven Fahrzeit 11 Stück infrage. Fünf davon fuhren auch von Deutschland nach Südamerika, aber nur eins legte an der Küste von Mexiko an. Es war die Antonio Delfino. Erbaut von der Vulkanwerft in Hamburg konnte sie insgesamt 184 Passagiere in der ersten sowie 334 Passagiere in der dritten Klasse beherbergen.
Sie fuhr zu jener Zeit unter der Flagge des Deutschen Reichs. Allerdings hatte die schwarz-weiß-rote Flagge auf der Abbildung damals schon unsere heutigen Nationalfarben in einer kleinen Ecke oben links. Stefan hatte bis zu diesem Zeitpunkt diese Kombination nie gesehen, weshalb sie ihm sofort auffiel.
Die Reederei Hamburg Süd, an die das Schiff geliefert wurde, existierte, wie er später am Abend via Internet herausfand, noch immer, sodass er sich ihre Telefonnummer notieren konnte.
Stefan hatte Glück. Die freundliche Dame, mit der er am darauf folgenden Tag telefonierte, war sofort bereit, die alten Passagierlisten herauszusuchen und ihm per Fax zukommen zu lassen.
Bereits vier Stunden später hielt er sie in der Hand. Es waren so viele, dass er insgesamt zwei Rollen Papier in sein Faxgerät nachlegen musste.
Er rief die freundliche Dame der Reederei noch einmal an und versprach ihr, sie bei seinem nächsten Hamburgaufenthalt zum Essen auszuführen. Schließlich hatte sie für diese Gefälligkeit extra ins Kellerarchiv gehen und die handgeschriebenen Unterlagen heraussuchen müssen. Man hatte zwar das meiste Archivmaterial inzwischen in digitalisierter Form verfügbar und hätte ihm einiges per E-Mail senden können, doch dieses Datenmaterial reichte bisher nur bis ins Jahr 1970 zurück.
Eines Tages, so erzählte sie ihm, wären auch die Unterlagen, die er benötigte, sicherlich verfilmt und digital eingelesen. Allerdings würde er sich dann noch circa zwei bis drei Jahre gedulden müssen.
Sie lachten beide laut los, denn auch das gemeinsame Essen müsste in diesem Fall genauso lange auf sich warten lassen. Stefan bedankte sich noch einmal für die schnelle, unbürokratische Hilfe und machte sich an die Auswertung.
Am 14. August 1924 war die Antonio Delfino von Hamburg nach Acapulco ausgelaufen. An Bord hatte sich an diesem Tag eine Magda Schönburg aus Nördlingen in Bayern befunden. Sie hatte sich laut der vorhandenen Papiere mit zwei anderen Passagieren eine Kabine in der dritten Klasse geteilt.
Da er sich daran zu erinnern glaubte, dass Maria mit zweiten Vornamen Magda hieß und aus Bayern stammte, entschloss er sich, sich auf diese Fahrt der Antonio Delfino zu konzentrieren. Damals verewigten viele Eltern sehr oft ihren eigenen Rufnamen in einem Doppelnamen ihrer Kinder. Marias Mutter lernte, wie sie damals berichtete, ihren späteren Mann auf dem Schiff kennen, wo dieser als Matrose diente. Mit etwas Glück existierten auch Informationen über ihn.
Nach einem kurzen Anruf in Hamburg suchte die Dame der Reederei auch die Liste mit den Mannschaftsnamen der Personen heraus, die damals im Dienste der Reederei Hamburg Süd tätig gewesen waren und an besagtem Tag mit der Antonio Delfino in See gestochen waren.
Diese Frau erwies sich für Stefan als wahrer Goldschatz. Denn über dies hinaus schickte sie ihm zusätzlich die Liste der Matrosen, die auch auf der Rückfahrt noch an Bord gewesen waren.
Nach einem kurzen Abgleich stand schnell fest, dass fünf Matrosen in Acapulco an Land gegangen waren und nicht wieder mit der Antonio Delfino nach Deutschland zurückgekehrt waren. Mit diesen fünf Namen sowie jeder Menge Hoffnung im Gepäck buchte er telefonisch den nächsten Flug nach Acapulco.
Die freundliche Stimme in seinem Stamm-Reisebüro teilte ihm jedoch mit, dass zu dieser Jahreszeit häufig Hurrikans die Küsten Südamerikas heimsuchten und es ratsam wäre, einen Urlaubsort weiter östlich zu wählen.
Nun, Urlaub war nicht der Zweck seiner Reise. Doch selbst wenn er die Wahl gehabt hätte, so gab es kaum mehr einen Ort auf der Welt, in dem ein sicherer Urlaub in warmer Sonne möglich war.
Weite Teile der Küsten am Indischen Ozean waren vom Tsunami verwüstet, Wirbelstürme mit immer stärkerer Zerstörungskraft tobten sich in Südamerika aus und im kompletten arabischen Raum trieben Terroristen ihr Unwesen mit dem Ziel eines Tages endlich ihren lang ersehnten „Heiligen Krieg“ zu führen.
Irgendwie hatte er anscheinend damals in der Schule nicht richtig aufgepasst. Hatte nicht die Lehrerin im Religionsunterricht, der eine Stunde in der Woche gegeben wurde, von Nächstenliebe gesprochen? Und trotzdem wurden seit Menschengedenken Kriege im Namen von irgendwelchen Göttern geführt. Wie konnte ein Krieg also zu einer heiligen Handlung erklärt werden?
Auch Schwarzenbeck gab damals an, seine Suche nach Libri Cogitati im Namen der Kirche, die er vertrat, zu betreiben. Also im Namen Gottes und trotzdem mit der Bereitschaft, einen Menschen wie Heinz zu töten, um das gewünschte Ziel zu erreichen.
Die Versuche der Reisekauffrau, Stefan einen anderen Flug, verbunden mit einer Pauschalreise zu verkaufen, gab seine Gesprächspartnerin erst auf, als er ihr mitteilte, dass er geschäftlich nach Mexiko müsse. Damit hatte sie ein Einsehen und buchte ihm einen Platz in einer Maschine, die drei Tage später mit dem Ziel Acapulco starten würde.
Genügend Zeit also, sich in seiner Firma zu melden, um sich selbst auf weitere unbestimmte Zeit zu beurlauben.
Frau Janke nahm die bevorstehende Abwesenheit ihres Chefs wesentlich gelassener hin als sein Freund Klaus, den er am Abend in einem Lokal traf.
Als Stefan den Namen Roland Emmerich benutzte, begann Klaus zum ersten Mal, seitdem er ihn kannte, zu hyperventilieren. Zumindest ähnelte das, was Stefan in dem Moment zu sehen bekam, stark an das, was uns Unwissenden im Fernsehen dafür verkauft wird. Deshalb ihm eine Tüte über den Kopf zu ziehen, darauf verzichtete Stefan jedoch.
„Sein Büro hat mich nach Mexiko eingeladen, wo man gerade irgendetwas im Indianer-Jones-Stil dreht“, log er frech heraus.
Am liebsten hätte Klaus sofort alles hingeworfen und wäre mit seinem Freund auf Reisen gegangen. Nur mit Mühe ließ er sich davon abhalten. Schließlich musste sich jemand im Notfall um Stefans Geschäfte kümmern.
„Ob ich Badesachen mitnehmen sollte?“, fragte ihn Stefan mit einem deutlichen Klang der Schadenfreude im Unterton.
Wenn man die Farbe seines Gesichts in diesem Moment in Worte hätte fassen können, dann hätte man sie sicher irgendwo zwischen Orange und Grün angesiedelt.
Innerlich amüsierte sich Stefan köstlich. Es war einer dieser Momente, in denen er sich von der Aufgabe, die ihm bevorstand, nur zu gerne ablenkte.
Klaus war seit jeher immer der erfolgreichere Geschäftsmann gewesen. Im Normalfall war Stefan derjenige, der immer wieder vor Neid erblasste, wenn Klaus von seinen Erfolgen berichtete.
Anders als Stefan mit seiner kleinen Mietwohnung besaß Klaus schon seit vielen Jahren ein eigenes Haus mit einem hervorragend gepflegten Grundstück am Stadtrand von Berlin. Neben einem Gärtner, der sich regelmäßig um die Außenanlagen kümmerte, beschäftigte Klaus schon seit Jahren eine Frau, die sich einmal pro Woche um seine Wäsche sowie den Haushalt kümmerte.
Wenn Stefan also endlich einmal die Möglichkeit hatte, seinen Freund aufzuziehen und neidisch zu machen, dann war es bestimmt nur allzu menschlich, dass er es an diesem Abend auch tat.
Stefans viele Anrufe der nächsten Tage in der Residenz brachten noch immer keine neuen Erkenntnisse, da Heinz nach wie vor nicht in der Lage war mit ihm zu sprechen. Bernd Heider rechnete wieder einmal mit dem Schlimmsten.
Die noch verbleibende Zeit bis zu seinem Abflug schien Stefan einfach nicht vergehen zu wollen.
Das Fernsehprogramm setzte sich wie gewohnt aus Wiederholungen und schlechten Nachrichten zusammen.
Das Wetter spielte inzwischen vollkommen verrückt, und täglich gab es neue Zahlen und Fakten über Naturkatastrophen auf der ganzen Welt.
Zwangsläufig dachte er an die Chaostheorie, nach der bereits ein einziger Flügelschlag eines Schmetterlings Einfluss auf die gesamte Umwelt nehmen würde. Auch, wenn dieser Einfluss nur sehr klein und schwach war, so war es doch die Summe der vielen kleinen Ereignisse, die sich letztendlich zu einem Großen aufaddierten.
Und die Dimensionen, in denen sich Schwarzenbeck eines Tages bewegen könnte, würden von genauso großer Bedeutung sein, wie das viel zitierte Wunder von Mutter Natur selbst. Es sei denn, es gelänge jemandem, dem Treiben dieses Wahnsinnigen ein Ende zu bereiten.
„So geht das nicht weiter!“., Roberto lief in der Bibliothek der Villa bereits seit 10 Minuten auf und ab. Seine Frau Gina beobachtete ihn immer wieder über den Rand ihres Buchs hinweg in der Hoffnung, dass er sich wie schon so oft, auch diesmal wieder schnell beruhigen würde. Sie kannte diese Wutausbrüche ihres Mannes nur zu gut.
Seit Roberto mit seinem Vater aus Berlin zurückgekehrt war, kam sie kaum noch an ihn heran. „Willst du mir nicht endlich erklären, was los ist? Geht es wieder ums Geschäft?“ Gina wusste, wie groß der Wunsch ihres Mannes nach noch mehr Verantwortung war. Schließlich hatte er einen Abschluss in Jura und schrieb bereits an seiner Doktorarbeit. Immer wieder bettelte er förmlich um die berufliche Anerkennung durch seinen Vater.
Diesmal jedoch hatte sein Ärger/seine Wut nichts mit den Geschäften der Familie zu tun. Vielmehr ging es um eine private Angelegenheit, von der ihm sein Vater auf der Rückreise erzählt hatte. Roberto hatte zwar alle Briefe ihres gemeinsamen Vorfahren Domenico gelesen, aber dies war für ihn keine Erklärung dafür, dass man über 30 Jahre lang einen wildfremden Menschen beschützte. Roberto spürte, dass es mehr als nur die Briefe geben musste. Doch warum verschwieg man ihm das?
„Dann rede endlich mit deinem Vater und hör auf, hier Löcher in den Teppich zu laufen! Außerdem kann ich mich nicht auf meinen Roman konzentrieren.“ Demonstrativ hob sie das Buch wieder vors Gesicht und las weiter.
Zwei Minuten später stand Roberto vor Paolos Schreibtisch. „Vater, wir müssen reden!“
Paolo klappte einen Aktenordner zu und schickte den Buchhalter der Firma, einen kleinen glatzköpfigen Mann, nach draußen.
„Was ist los mein Sohn? Geht es wieder um die Domenico-Sache?“
Roberto setzte sich auf das kleine Leder-Sofa, das in der Konferenz-Ecke stand.
„Warum beschützen wir einen Fremden? Ich werde einfach das Gefühl nicht los, dass dieser Mann unsere Familie mit etwas erpresst. Was hat er gegen uns in der Hand?“
„Nichts“, die Antwort war klar und deutlich.
„Allerdings gibt es da etwas, das ich dir noch nicht erzählt habe.
Es war damals, nachdem Heinz Steinberg in seiner Wohnung überfallen wurde. Wie ich dir erzählt habe, musste ich fast ein halbes Jahr lang auf seine Wohnung aufpassen. Dein Großvater bestand darauf. Er selbst kümmerte sich um eine neue Identität sowie die Unterbringung in unserer Seniorenresidenz. Er organisierte sogar die Beerdigung des Mannes, mit allem, was dazu gehörte.
Auch ich habe damals nicht verstanden, warum er gerade mich und nicht einen unserer Mitarbeiter für diese Arbeit auswählte. Später, an Großvaters Sterbebett, sollte ich dann die Wahrheit erfahren.
Eine Woche bevor man Heinz Steinberg damals wieder zu seiner Wohnung brachte, schickte mich dein Großvater wieder nach Hause. Er selbst bewachte die Wohnung in der Zeit. Dabei machte er eine Entdeckung, die ihn veranlasste, Heinz Steinberg für den Rest seines Lebens zu schützen, als sei er ein Familienmitglied.
Unser Vorfahre, Domenico, dessen Briefe du neulich gelesen hast, lebte zu seiner Zeit, wie du ja weißt, in einem Kloster. Doch dieses Kloster war anders als andere. Die Klosterbrüder, die ihn damals aufnahmen, befassten sich mit Experimenten. Gefährlichen Experimenten! Dein Großvater hatte Unterlagen gefunden, in denen diese Experimente im Detail beschrieben wurden, und die ihm eine Höllenangst bereiteten. Domenico war anscheinend Zeuge dieser Geschehnisse, was ihn wahrscheinlich auch das Leben kostete.
Nachdem dein Großvater viele Stunden in diesen Unterlagen geblättert hatte, kam er zu der Überzeugung, dass nur der alte Steinberg in der Lage war, das Wissen darum zu bewahren, und er beschloss zu schweigen. Selbst Heinz Steinberg gegenüber erwähnte er seine Entdeckung nicht. Er legte alle Papiere wieder in ihr Versteck, wo sie später von Steinberg gefunden wurden.
Du weißt ja, dass Großvater ein Mensch war, dem niemand Angst machen konnte. Nun, diese Papiere konnten es!
Auch wenn ich nie erfahren habe, was er damals herausfand, so weiß ich eines jedoch mit Gewissheit: Weder du noch ich oder irgendein anderer auf der Welt darf diese Papiere jemals zu Gesicht bekommen, denn dies wäre das Ende von allem, wofür unsere Familie all die Jahre über eingestanden hat.“
Roberto verstand, was sein Vater ihm sagte und respektierte es. Schlagartig wurde ihm klar, wie wichtig die Sache war. Schließlich hatte auch er inzwischen Frau und Kind, und diese galt es genauso zu schützen, wie sein Großvater und sein Vater ihn beschützten.
Es war nicht mehr wichtig, welche Rolle er zurzeit in der Firma spielte. Sein Vater würde ihn im Laufe der Zeit mit wichtigen Aufgaben betrauen, genauso wie es sein Vater vor ihm tat.
Zum ersten Mal spürte er die Vaterliebe, an der er in der Vergangenheit so oft gezweifelt hatte. Das ihm anvertraute Geheimnis war bei ihm genauso sicher wie bei seinem Vater und Großvater.
Mit zwei Koffern, die er hinter sich herziehen konnte, machte sich Stefan nach zwei langen Tagen und Nächten endlich auf den Weg zum Flughafen. Die Sonne ging gerade auf, als er in das wartende Taxi stieg.
Er hatte es am Vorabend bereits telefonisch bestellt und anschließend seine Koffer gepackt. Klaus hatte wie immer einen Reserveschlüssel seiner Wohnung erhalten und sich dazu bereit erklärt, sich um die einzige Grünpflanze sowie die Post zu kümmern.
Also nahm Stefan alle kleinen Notizzettel von den Wänden, hängte seine Bilder wieder an ihre Plätze und verstaute die gesamten Unterlagen im Futter seines größeren Koffers. Er hinterließ also keinerlei Hinweise auf den Zweck seiner Reise, über die Klaus hätte stolpern können. Dann legte er sich schlafen, bis ihn sein Wecker endlich zum größten Abenteuer seines Lebens rief.
Der Taxifahrer, ein freundlicher Betriebswirtschaftsstudent im blauen Sweatshirt und mit einer für seine Zunft ungewöhnlich gut gepflegten Kurzhaarfrisur, erzählte auf dem Weg zum Flughafen seine komplette Lebensgeschichte, von der Stefan jedoch kaum ein Wort mitbekam.
Zum einen war er an diesem Morgen noch hundemüde, und zum anderen war er mit seinen Gedanken schon mitten in Mexiko auf der Suche nach Maria. Unsicher, ob er sie dort finden würde.
Die Straßen Berlins rasten an seinen Augen vorbei, und er hoffte, dass Heinz’ Entscheidung, ihn auf Schwarzenbeck anzusetzen, eine weise Entscheidung war. Der Fahrer setzte ihn am Otto-Lilienthal-Flughafen in Berlin-Tegel direkt vor der Abflughalle ab und nannte den Fahrpreis.
Flug E944 stand auf dem Ticket, das ihn an die erste Station seiner Reise ins Ungewisse bringen sollte.
Alle Passagiere machten einen entspannten Eindruck und freuten sich offensichtlich auf den bevorstehenden Urlaub. Auch Stefan würde sich zwar auf ein Abenteuer einlassen, aber ein Abenteuerurlaub stand ihm mit Sicherheit nicht bevor.
Um 8:45 Uhr hob das Flugzeug ausnahmsweise pünktlich von der Startbahn ab. Die engen Sitzreihen boten wie immer kaum Beinfreiheit. Und das Rauchen war inzwischen auf allen Flügen strikt verboten worden.
Die Stelle in der Sitzlehne, in der früher ein Aschenbecher eingelassen war, war aus Angst vor unverbesserlichen Kettenrauchern mit einer kleinen Kunststoffblende verschlossen. Wenigstens hatte sich der Anschluss für den Kopfhörerstecker nicht verändert, sodass er seine eigenen Köpfhörer, die er damals auf einem Flug nach Gran Canaria erworben hatte, mühelos benutzen konnte.
Neben ihm saß ein Vater mit seinem etwa 10-jährigen Sohn und dahinter die dazugehörige Mutter mit der etwas jüngeren Tochter. Stefan bemerkte, wie liebevoll beide mit ihren Sprösslingen umgingen. Der Junge stellte sich als besonders wissbegierig heraus, und der Vater war redlich bemüht, jede seiner Fragen zu beantworten.
Ihn so auf seine Zukunft vorzubereiten, damit er sich eines Tages selbst im Leben zurechtfinden konnte, schien eine Aufgabe zu sein, der sich der Vater mit großer Liebe hingab.
Stefan musste daran denken, welche Zukunft diesen Jungen eines Tages erwarten würde und fühlte sich plötzlich auch für ihn verantwortlich. Verantwortlich für die Zukunft des unbekannten Jungen und seiner kleinen Schwester hinter ihm.
Welche Zukunft stünde den beiden Kindern wohl bevor, wenn es niemandem gelänge, Schwarzenbecks Pläne zu durchkreuzen?
Der Flug verlief ruhig.
Wie immer wurde ein fast ungenießbares Mittagessen serviert. Und wie so oft bestand es aus Huhn. Zu Stefans Leidwesen wieder einmal mit Käse überbacken, weshalb er es unberührt ließ und sich lieber eine Tafel Schokolade bestellte.
Es wurden wie immer Kopfhörer verkauft und zwei Filme gezeigt, die er jedoch schon kannte und deshalb beschloss, den fehlenden Schlaf der letzten Wochen nachzuholen.
Elf Stunden später setzte die Maschine auf dem Flughafen von Acapulco auf, und Stefan freute sich auf die erste Zigarette seit Berlin. Es sollte jedoch noch über eine Stunde dauern, bis er sie anzünden konnte.
Die Einreisebestimmungen Mexikos übertrafen fast noch die der US-Amerikaner, und die erhöhte Militärpräsenz auf dem gesamten Flughafengelände war geradezu beängstigend.
Da er bereits in Berlin so viel wie möglich über dieses Land in Erfahrung bringen wollte, hatte er sich auch diesmal wieder des Internets bedient, wo er verschiedene Reiseberichte gelesen hatte. So hatte er einiges über das Land und seine Bewohner erfahren.
Gleich neben dem Flughafen entdeckte Stefan eine Reihe von Käfertaxis. Irgendwie belustigte es ihn zu sehen, dass in diesem Land die Taxifahrer, in alten VW-Käfern sitzend, auf ihre Fahrgäste warteten.
Inzwischen wurden in Mexiko die Käfertaxis jedoch verboten, weil sie ein ungewöhnliches Sicherheitsproblem darstellten. Wie in vielen armen Ländern, so war auch in Mexiko die Kriminalitätsrate besonders hoch, was sich nicht zuletzt in den Statistiken der Autodiebstähle widerspiegelte.
Bei einem Käfertaxi, bei denen für die hinteren Fahrgäste keine separate Tür existiert, kam es immer wieder zu Carnapping-Fällen, bei denen die Räuber versehentlich die Fahrgäste im Fond oftmals gleich mitklauten. Ein Umstand, der Stefan, als er damals das Flughafengebäude verließ, zum Glück nicht bekannt war.
Mit seinen Koffern im Gepäck und der ersten Zigarette seit 14 Stunden im Mundwinkel lief er die Riege der Taxis ab und musterte die Fahrer.
Bereits der Dritte sprach ihn in einer merkwürdigen Abwandlung der deutschen Sprache an. Aus den Reiseberichten, die er gelesen hatte, kannte er den zu erwartenden Fahrpreis vom Flughafen zu seinem Hotel.
Der Fahrer, der sich ihm sofort als Rudi vorstellte (seinen richtigen Vornamen hätte Stefan nie fehlerfrei aussprechen können), machte auf ihn einen vertrauenswürdigen Eindruck, nicht zuletzt dadurch, dass er für die Fahrt zum Hotel drei US-Dollar weniger verlangte, als im Internet für diese Strecke angegeben worden war.
Also willigte er ein.
Der Fahrer stopfte die Koffer auf den Rücksitz seines VW-Käfers und Stefan selbst durch die Beifahrertür, bevor er seinen eigenen rundlichen Bauch hinter das Lenkrad zwängte. Nach ein paar Beschimpfungen, mit denen er aufdringliche Passanten am Straßenrand durchs offene Fenster bedachte, ging die Fahrt dann endlich los.
Nach dem hektischen Einsteigen hatte Stefan nun endlich Gelegenheit, seinen Chauffeur eingehend zu mustern.
Rudi war ein vergnügter Mittvierziger mit einer Körpergröße von circa 1,65 m. Also endlich mal ein Mann, der kleiner war als Stefan selbst. Auf seinem Kopf umrahmten dunkelblonde Haare eine ausgeprägte Halbglatze, und sein verschmitztes Lächeln rundete das Bild des liebenswürdigen Schlitzohrs ab.
Schnell stellte sich heraus, welches gesteigerte Mitteilungsbedürfnis dieser Mann hatte.
Bereits in den ersten 15 Minuten Fahrzeit erfuhr Stefan so ziemlich die komplette Lebensgeschichte dieses Mannes. Angefangen bei der belgischen Herkunft seiner Eltern, bis hin zu seinem Familienstand (überzeugter Junggeselle), den sechs Kindern sowie den dazugehörigen fünf Müttern.
Als Stefan ihm dann eine Zigarette aus seiner Schachtel anbot, hatte er die Sympathie dieses Mannes endgültig gewonnen.
Weiterhin erfuhr er, dass Rudi früher als Reiseleiter gearbeitet hatte, bis er sich als Taxifahrer beruflich selbstständig machte. Seinen Traum, das Taxi eines Tages gegen einen eigenen Reisebus einzutauschen, hatte er noch nicht ganz aufgegeben, aber: „Was nix ist, kommt sicher noch“, betonte er mehr als einmal.
Dies war übrigens der Lieblingssatz dieses Mannes, der sich stets bemühte, seinen Fahrgast mit kleinen Scherzen zu unterhalten.
Er fragte natürlich auch nach dem Grund von Stefans Aufenthalt, und die Antwort weckte sofort sein Interesse. Allerdings erzählte Stefan ihm nicht die ganze Geschichte, sondern nur, dass er ein älteres Zwillingspärchen aus Deutschland suche, das vor ca. 80 Jahren als Ungeborene in dieses Land kam.
Für nur 25 US$ pro Tag wollte ihn Rudi dabei tatkräftig unterstützen, und Stefan könne über ihn und seine Zeit frei verfügen.
Die Frau, mit der er derzeit zusammenlebte, würde ihn ohnehin nicht sonderlich vermissen. Das hatte er ihr bereits vor Jahren abgewöhnt. Nein, er wolle noch nicht sesshaft werden, betonte er.
Aber, „was nix ist, kommt sicher noch“.
Am Hotel angekommen sprang Rudi aus dem Auto und pfiff einen älteren, gebrechlich wirkenden Mann heran, der sich auch sofort um die Koffer kümmerte, und stolzierte munter pfeifend neben Stefan zur Rezeption.
Nach Auskunft des Reisebüros in Deutschland solle es in diesem Hotel keinerlei Kommunikationsprobleme geben, weil er hier auf Deutschkenntnisse treffen würde.
Die Hotelbesitzerin, eine kleine ältere Dame in einem perfekt sitzenden Kostüm und zu einem Pferdeschwanz zusammengebundenen schwarzen Haar, empfing Stefan mit einem breiten Lächeln und Rudi mit einer liebevollen Umarmung.
Seiner anschließenden Geste ihm gegenüber entnahm Stefan, dass dieser südamerikanische Gigolo vor nichts und niemandem haltmachte, wenn diese Person nur einen Rock trüge.
Inzwischen hatte der alte Mann die Koffer mit einer Sackkarre ins Zimmer 48 gebracht und Stefan alle nötigen Formalitäten erledigt.
Auf ihn machte das Hotel zwar den Eindruck, als ob es maximal über 20 Zimmer verfügte, aber er hatte die Nummer 48 erhalten, zu der ihn die Chefin des Hauses auch umgehend führte. Auf dem Weg dorthin, der durch einen mit Wäscheleinen dekorierten Hinterhof führte, erhielt Stefan einen ersten Eindruck dieses Etablissements.
Seine Erwartungen sanken mit jedem Schritt, den sie seinem Zimmer näher kamen. Dann öffnete die übertrieben geschminkte Chefin die Tür.
Was er zu sehen bekam, war etwas, das ihn mehr als nur ein wenig überraschte. Auf einem perfekt verarbeiteten, spiegelglatten Parkettboden stand ein auf Hochglanz poliertes großes Bett, und gegenüber davon ein aus Eiche gefertigtes Sideboard.
Ein über dem Sideboard aufgehängter Spiegel mit offensichtlich von Hand geschnitztem Holzrahmen perfektionierte den Eindruck einer Luxussuite.
Natürlich sah ihm seine Gastgeberin die Verwunderung darüber sofort an.
„Alles echte Handarbeit“, verriet sie. „Jedes Stück hier drin hat mein Vater selbst gefertigt. Sie haben ihn übrigens schon kennengelernt. Er hat sich vorhin um ihre Koffer gekümmert. Früher hatten wir mal einen Boy für so etwas. Vater sagte allerdings, dass der immer den schönen Fußboden mit den Koffern der Gäste zerkratzte. Seitdem erledigt er es lieber selbst.“ „Das Zerkratzen?“, fragte Stefan. Die Chefin lachte laut los. „Natürlich nicht.“
Offensichtlich hatte Rudi Stefan die Entscheidung, ihn als Reiseleiter zu beschäftigen, bereits abgenommen. Er kam kurz nach ihm am Zimmer an und stand nun im Türrahmen.
„Bevor wir uns um Ihre Verwandten kümmern, ruhen Sie sich erst einmal aus. Ich werde inzwischen Carla Gesellschaft leisten“, waren seine letzten Worte, bevor er seine flache Hand auf die Rückseite des dunkelgrünen Damen-Kostüms legte und munter von dannen ging.
‚Endlich alleine’, dachte Stefan bei sich, als er auf dem schmalen Balkon stand und über die Bucht von Acapulco blickte.
’Wo bist du nur Maria? Bist du überhaupt noch hier oder hat Frau Kerner dich bereits nach Deutschland geholt?’
Mit den Augen suchte er den Strand nach einer möglichen Stelle ab, an der Maria und ihr Bruder Henry einst gelebt haben könnten.
Hatte er überhaupt eine reale Chance hier jemanden zu finden?
So weit er blicken konnte war die komplette Bucht von den modernsten Hotelanlagen eingerahmt. Von den Baracken, die Maria damals erwähnte, war weit und breit nichts zu sehen.
Dann ging er wieder ins Zimmer und kümmerte sich erst einmal um sein Gepäck, welches er eiligst nach frischer Garderobe durchsuchte, um sich nach einem ausgedehnten Duschbad wieder auf den Weg zu Rezeption zu machen.
Bei seinem Eintreffen fand Stefan diese allerdings verlassen vor. Nur die Tür zum Nebenbüro stand einen Spalt offen, und den Geräuschen nach zu urteilen war dieses Büro auch im Moment ‚besetzt‘. Stefan räusperte sich einmal. Erst zaghaft, dann etwas energischer.
Carla, die noch rasch ihre Kleidung ordnete, schoss mit hochrotem Kopf durch die Tür und lächelte ihn breit an.
„Señor suchen bestimmt Rudi“, stellte sie in ihrem mexikanischen Akzent fest, und noch bevor er darauf reagieren konnte, schob sie Stefan bereits auf die Terrasse.
„Ich werde ihn sofort für Señor suchen gehen und bei Señor schicken.“ Augenblicklich war sie wieder dorthin verschwunden, wo sie hergekommen war.
Stefan harrte der Dinge, die da noch kommen würden. Wo sie ihn suchen wollte, daran hatte ihr Dekolleté ohnehin keinen Zweifel aufkommen lassen.
Wie von Zauberhand geleitet, stand Rudi bereits nach wenigen Sekunden neben Stefan. Ein kurzer Blick auf seine Beinkleider verriet, aus welcher Beschäftigung man ihn gerade herausgerissen hatte. Mit einem kurzen Nicken in Richtung seines Hosenstalls, der noch offen stand, machte ihn Stefan auf diesen Umstand aufmerksam.
Rudi lächelte, und noch während er sich wieder in einen gesellschaftsfähigen Zustand versetzte, fragte er Stefan, ob er überhaupt schon etwas gegessen hätte.
Nach dem ausgiebigen Mahl im Flugzeug, das er mit Ausnahme eines trockenen Brötchens und der Tafel Schokolade komplett verschmäht hatte, war er für diese Frage mehr als dankbar, und bereits 40 Minuten später stand ein riesengroßes, dampfendes Steak sowie ein Glas mexikanisches Bier vor ihm.
Rudi, der sich nur ein paar Tacos bestellt hatte, sah Stefan erwartungsvoll an.
„Sie suchen also Ihre Verwandtschaft. Wann wollen wir loslegen?“
Stefan ließ ihn in dem Glauben mit Maria und Henry verwandt zu sein, und so verabredeten sich die beiden für den nächsten Tag um 9.00 Uhr am Frühstückstisch im Hotel.
Um die nächtliche Unterbringung seines Reiseleiters und die damit verbundenen Extraausgaben brauchte sich Stefan allem Anschein nach keine Gedanken zu machen.
Für Rudi dachte er sich eine Geschichte aus, in der Maria und Henry sowie seine Mutter die gleichen Großeltern hätten.
Das Einzige, was er von ihnen wusste, war die Tatsache, dass es sich bei den beiden um Zwillinge handelte. Ungefähr 80 Jahre alt und ehemalige Zauberkünstler. Er erfand noch eine Geschichte, der zur Folge er seiner Urgroßmutter vor vielen Jahren am Sterbebett versprochen hatte, herauszufinden, was aus ihrer verloren gegangenen Schwester geworden war. Und nun, da er sich selbst im mittleren Alter befand, wäre es an der Zeit, dieses Versprechen endlich einzulösen. Schließlich werde man mit zunehmender Reife auch deutlich sentimentaler.
Zu Zeiten, als es in Deutschland noch gegen sämtliche „guten Sitten“ verstieß, wurde diese einzige Schwester seiner Großmutter unehrenhaft schwanger, weshalb man beschloss, sie nach Amerika zu schicken.
Zwar hatte Stefan diese Geschichte dem alten deutschen Spielfilm „Das Haus in Montevideo“ entliehen, aber dies würde einem mexikanischen Taxifahrer wohl kaum auffallen. Der einzige Unterschied lag darin, dass bei Stefans Version der Geschichte kein großes Erbe und auch keine Trauung auf einem Schiff zu erwarten wären.
Stefan war anscheinend mit seiner Darstellung dieser Lüge sehr überzeugend, denn Rudi hatte nach Beendigung der kurzen Geschichte offensichtlich mit seinen Gefühlen zu kämpfen.
Er leerte mit einem letzten großen Schluck sein Bier, sammelte sich kurz und sagte nur noch: „Dann lass uns zusehen, wie wir das Vermächtnis deiner Großmutter erfüllen können.“
Er sprang von seinem Stuhl auf, und noch bevor sich Stefan versah, saß er schon in seinem alten VW und startete den Motor.
„Wir sollten erst einmal zum Strand fahren“, schlug Stefan vor.
Nach der Geschichte, die ihm Maria damals erzählt hatte, lebte ihre Familie einst dort in irgendwelchen Baracken, bis ihr Stiefvater, den ihre Mutter auf der Schiffsreise nach Mexiko kennengelernt hatte, genug Geld für ein kleines Vorstadthaus zusammengespart hatte.
Rudi trat aufs Gaspedal. Schon nach kurzer Zeit hatten sie den Strand und Stefans Magen einen mehr als nervösen Zustand erreicht.
Ihr Weg führte sie an kleinen weißen Villen und unzähligen großen Hotelanlagen vorbei. Von alten Baracken, die laut Marias Erzählungen hier einst gestanden haben sollten, gab es jedoch, wie bereits befürchtet, weit und breit keine Spur.
Plötzlich stoppte Rudi unvermittelt den Wagen vor einer großen weißen Villa.
„Was wollen wir hier?“, fragte Stefan mit einem großen imaginären Fragezeichen auf der Stirn.
„Nun, dass wir heutzutage keine Baracken mehr am Strand finden würden, das wusste ich bereits vorher. Allerdings wohnt hier jemand, der uns vielleicht helfen kann. Diese Villa hier befindet sich seit mehr als 150 Jahren in Familienbesitz.
Sie wurde einst von einem italienischen Einwanderer erbaut, der sich unsterblich in eine Mexikanerin verliebte. Du weißt schon, eine dieser tragischen Liebesgeschichten, die man normalerweise nur aus dem Kino kennt.
Er war nicht edel genug für sie und ihre Eltern zu reich, um einen dahergelaufenen Ausländer als Schwiegersohn zu akzeptieren. Er soll alten Überlieferungen zur Folge sage und schreibe 18 Jahre lang hart gearbeitet und dieses Haus mit eigenen Händen erbaut haben, bis er seine Liebste endlich heiraten durfte.
Wenn also jemand alles über die letzten 150 Jahre weiß, und dazu noch Sympathien für Ausländer hegt, dann findest du ihn in dieser Familie, oder besser gesagt, dem was davon noch übrig ist.“
Das klang überzeugend.
Also betraten sie, ohne weitere Zeit zu verlieren, einen Garten, dem man seine Pflegebedürftigkeit sofort ansah. Beim Näherkommen wurde erkennbar, dass Wind und Wetter deutlich ihre Spuren ins alte Gemäuer des Hauses gebrannt hatten. Überall blätterte die weiße Farbe von den Wänden.
Was aus der Ferne wie eine gepflegte Luxusvilla aussah, entpuppte sich als altes, heruntergekommenes Herrenhaus. Nur noch die Ornamente, welche die riesige Eingangstür umrahmten, ließen die einstige Qualität und Würde erahnen.
Stumme Zeitzeugen einer längst vergangenen Liebe.
Rudi schwang sich mit einem Satz auf die oberste von drei Stufen, die zum Tor führten, und klopfte laut und bestimmend an.
Der alte Mann, der kurze Zeit später die Tür öffnete, sah sie verwundert an. Er hatte kaum noch Haare auf dem Kopf, und an seiner rechten Stirn glänzte ein ungewöhnlich großes, dunkelrotes Muttermal. Der alte rote Hausmantel, der von seinen Schultern baumelte, sah aus, als hätte er darin geschlafen.
Rudi fing sofort an, den alten Mann in seiner Landessprache mit Fragen zu bombardieren.
Dieser setzte sein freundlichstes Lächeln auf und forderte die beiden auf, ihm zu folgen.
‚Sicherlich ein Bediensteter‘, dachte Stefan bei sich und erwartete, gleich mit der Herrschaft des Hauses bekannt gemacht zu werden.
Rudi stieß ihm leicht in die Seite und flüsterte ihm zu, dass sie besonders viel Glück hätten. Der Alte, Hausherr und einzige Bewohner des Anwesens, sei heute besonders gut gelaunt und bereit ihnen zu helfen.
Er führte seine Gäste durch einen Flur, dessen Fußboden komplett mit alten Zeitungen ausgelegt war, in eine Halle, die lediglich aus einem alten Schreibtisch mit Hochlehner dahinter und drei rot gepolsterten Besucherstühlen davor bestand. Ein paar helle Flecke verrieten, dass einst Gemälde die Wände geziert hatten, und auch die Stuckdecke war offensichtlich früher farbig und kunstvoll verziert gewesen.
Gerade als Stefan sich auf dem ersten der drei Stühle niederlassen wollte, deutete ihm der Alte mit einem gutmütigen Lächeln, dass er besser daran täte, den mittleren Stuhl zu nehmen.
Erst jetzt erkannte Stefan eine herausstehende Sprungfeder, die sich beinahe in sein Hinterteil gebohrt hätte.
Der Alte faltete seine Hände vor sich auf dem Schreibtisch und stellte Rudi anscheinend eine erste Frage. Stefan musterte diese traurig anmutende Person, die, genau wie ihre Kleidung, die besten Jahre offensichtlich schon lange hinter sich gelassen hatte. Sowohl der Alte als auch sein komplettes Umfeld schien irgendwie nicht in unsere Zeit zu passen.
Die erste Frage, die Rudi im Auftrag des Alten an ihn richtete, riss Stefan aus seinen Gedanken.
„Er lässt fragen, wie deine Großtante und Großonkel mit vollen Vor- und Nachnamen heißen.“
Stefan zog ein Blatt Papier aus der Tasche, auf dem er die fünf möglichen Namen aus den Besatzungslisten der Antonio Delfino notiert hatte. Es waren die Matrosen, die damals nicht wieder an Bord des Schiffes gingen, sondern in Mexiko geblieben waren.
Der Alte zog eine Brille aus der Tasche, die nur noch einen Ohrenbügel besaß. Während er mit der linken die Reste seiner Sehhilfe festhielt, fuhr er mit dem Zeigefinger der rechten Hand die Namen, Buchstabe für Buchstabe, ab.
Stefan hoffte, dass ihm einer der Namen bekannt vorkäme. Vom Alter her wäre es gut möglich, dass er einst als Kind mit Henry und seiner Zwillingsschwester Maria gespielt hatte. Oder vielleicht sogar dieselbe Schule wie die beiden besucht hatte.
Wieder richtete der Alte eine Frage an ihn, die Rudi umgehend übersetzte.
„Wo gingen die beiden zu Schule?“
Selbstverständlich hatte Stefan auch hier keine Antwort parat. Schließlich konnte er ihm nichts anbieten außer einer Stadt und fünf Namen, von denen jeder oder auch keiner passen könnte.
Der Alte murmelte einen der Namen immer wieder vor sich hin, während er die ausgeblichenen Deckengemälde betrachtete.
„Grossmann“. Dann fing er zu erzählen an. Nach jedem Satz machte er eine Pause, um Rudi Gelegenheit zu geben zu dolmetschen.
Er kannte einst eine Familie mit dem Namen Grossmann. Es handelte sich dabei um ein junges Mädchen, auf das er damals ein Auge geworfen hatte. Allerdings hatte sie keine Geschwister und kam damals mit ihrem Großvater, einem alten Seebären an Land.
Die Eltern der jungen Marina, deren Name dem Alten nur mit Wehmut über die Lippen kam, waren bereits früh verstorben, weshalb der Großvater die Überfahrt mit ihr zu seiner letzten eigenen Seefahrt machte. Sie lebten damals in einer der vielen Baracken, bis der Großvater starb und Marina im Alter von circa 20 Jahren in eine andere Stadt zog.
Der Alte schloss seine Augen, und es war deutlich zu erkennen, dass dieses junge Mädchen sich bis zum heutigen Tag in sein Gedächtnis eingebrannt hatte. Alle anderen Namen waren ihm völlig unbekannt, oder er hatte sie, wie er selber eingestehen musste, vielleicht auch nur vergessen.
Dann erhob sich der Alte langsam aus seinem schweren Sessel und bat seine Gäste zu gehen, weil es Zeit für seinen täglichen Mittagsschlaf sei.
Stefan schaute auf seine Armbanduhr.
Sie zeigte erst 10.35 Uhr. Doch ein echtes Zeitgefühl war bei ihrem senilen Gastgeber wohl nicht mehr vorhanden.
Rudi und Stefan bedankten sich höflich bei ihm und verließen die einst so prunkvolle Villa, vorbei an verdorrten Pflanzen, die ihnen den Weg zur Straße wiesen.
Als sie ins Auto stiegen, sah Rudi Stefan seine Enttäuschung sofort an.
„Na? Kopf hoch! Du hast doch nicht etwa erwartet, dass wir schon beim ersten Versuch erfolgreich sind. Zumindest weißt du jetzt, dass Leute, die damals vom Schiff kamen, hier lebten.“
Stefan, ein Mensch, der eigentlich für seine Redseligkeit bekannt war, brachte kein Wort hervor.
„Wie wäre es, wenn ich dich zu der Stelle fahre, wo unsere weltberühmten Klippenspringer ihre Show abziehen? Wenn du schon einmal hier bist, dann solltest du sie dir wenigstens einmal angesehen haben.“
Stefan war jedoch zu sehr in seinen Gedanken vertieft, um sich an irgendwelchen Touristenattraktionen erfreuen zu können.
„Nein, danke“, erwiderte er kurz und knapp.
Rudi konnte und durfte schließlich nicht wissen, was tatsächlich auf dem Spiel stand.
Schließlich gab es da auch noch Heinz.
All die Jahre hatte dieser sein Geheimnis vor der ganzen Welt gehütet. Selbst sein einziger enger Vertrauter, Bernd Heider, wusste nichts von dem, was Stefan inzwischen als Einziger mit ihm teilte. Er hatte eine Aufgabe übernommen. Nicht nur für Heinz, sondern auch für den Rest der Menschheit.
Ihm kamen die beiden Kinder aus dem Flugzeug in den Sinn, um die sich ihre Eltern so liebevoll gekümmert hatten. Sie sollten frei aufwachsen. Ihre Gedanken alleine bestimmen dürfen, ohne dass ein machthungriger Fanatiker wie Schwarzenbeck dieses wertvolle Gut, ihre Gedanken, manipulierte.
„Bitte bringe mich zurück zum Hotel“, bat er Rudi.
„Ich muss jetzt für mich allein sein, um nachzudenken.“
Rudi erwies sich in dem Moment als echter Freund. Ohne auch nur ein Wort zu sagen, fuhr er zurück zum Hotel und sah seinem enttäuschten Fahrgast 30 Minuten später kurz wehmütig hinterher, bevor er mit einem fröhlichen Lied auf den Lippen in Richtung Rezeption zog.
Stefan ging in sein Zimmer, das bereits wieder hergerichtet war. Das Bett war neu zurechtgemacht, und auf dem Sideboard standen frische Blumen.
Jetzt war es an der Zeit, die Unterlagen aus dem Futter des Koffers zu holen. Stefan hatte sie am Abend vor seinem Abflug in der Polsterung des Koffers versteckt, sodass er sie später, wenn er sie benötigen würde, mühelos herausnehmen konnte.
Dafür bedurfte es eines schmalen Einschnitts circa zehn Zentimeter unterhalb des Reißverschlusses. Sowohl seine eigenen Aufzeichnungen als auch die von Heinz lagen jetzt vor ihm.
Auf einer Liste, die er abarbeiten wollte, musste er jetzt die erste Zeile abhaken.
‚Suche nach den Baracken, erstes Heim von Maria und Henry.’
„Wir müssen uns sofort treffen. Der Professor hat unsere Aufzeichnungen und Ergebnisse geklaut und als seine eigenen ausgegeben.
Ich habe es gerade aus dem Internet erfahren. Er hat letzte Woche eine Rede auf dem Kongress gehalten, zu dem er wollte. Trommel bitte die anderen zusammen. Wir treffen uns dann bei mir.“
Immer wieder hörte der ‚Chef’ sich die Aufnahme an. Er stand neben einem Computer, in dem das Telefonat erst vor ein paar Minuten über eine gesicherte Verbindung eingespeist worden war.
„Wo habt ihr die Aufnahme her?“, fragte er den Mann vor dem Bildschirm. „Wir haben uns die nötigen Informationen aus den Unterlagen besorgt, die wir dank Ihrer Hilfe zur Verfügung hatten und vorsichtshalber ein paar Telefone überwacht. Leider entdeckte ich die Datei erst heute Morgen, weil meine Urlaubsvertretung sie falsch abgelegt hatte. Ich kann also nicht mit Gewissheit sagen, ob inzwischen etwas passiert ist. Trotzdem dachte ich, dass es sicherlich nicht in Ihrem Interesse wäre, wenn noch mehr Leute Wind von der Angelegenheit bekommen.“
„Das wäre in der Tat nicht so gut. Gibt es Neuigkeiten aus Freiburg?“, fragte der ‚Chef’
„Wir haben alles gecheckt und festgestellt, dass zwar jemand am System war, aber nichts außer den üblichen kleinen Irrwegen gefunden hat, die wir damals eingebaut haben.“
„O. k.! Wir behalten am besten die jungen Leute weiterhin im Auge. Sobald sie versuchen, etwas zu unternehmen, geben Sie mir Bescheid.“
Ohne sich zu verabschieden, verließ der Chef den Raum, während der Mann vor dem Bildschirm zum Telefon griff, um alles Notwendige zu veranlassen.
‚Telefonbücher’ war das nächste Stichwort auf Stefans Liste, die es abzuarbeiten galt.
Also machte er sich an dem zweiten Punkt seiner Liste zu schaffen.
Rudi, den er wie erwartet in der Nähe der Rezeption oder genauer gesagt bei Carla fand, erklärte sich sofort bereit, die notwendigen Telefonbücher zu besorgen. Stefan sollte derweil in seinem Zimmer warten oder die warme Luft im Garten des Hotels genießen.
„Welcher Garten?“, fragte er sich.
Auf dem Weg zu seinem Zimmer hatte er bisher einige Male nur einen Hinterhof durchquert, dessen einzige Dekoration aus einer überfüllten Wäscheleine bestand.
Wieder einmal hatte er, im wahrsten Sinne des Wortes, die Rechnung ohne die Wirtin gemacht.
Eine kleine Tür neben der Rezeption, die ihm bislang nicht aufgefallen war, führte ihn in einen kleinen, aber mit unendlich viel Liebe angelegten Garten.
Sofort steuerte er auf eine Hollywoodschaukel zu, bei der selbst die Kette, an der Sitz und Lehne aufgehängt waren, einen fabrikneuen Eindruck machte. Das Stoffdach der Liege klappte er, so weit es ging, nach oben, um die warme Sonne auf der Haut zu spüren.
In diesem Idyll genoss Stefan eine Zigarette sowie ein eiligst herangebrachtes 7Up. Eigentlich waren jetzt alle beschäftigt. Rudi besorgte die gewünschten Telefonbücher, während Schwarzenbeck sicherlich gerade an der Kontrolle sämtlicher freier Gedanken arbeitete.
Über dieser und ähnlichen Mutmaßungen schlief er in der warmen Mittagssonne irgendwann ein.
In seinen Träumen befand er sich wieder im Keller unter dem Potsdamer Platz. Dem Ort, wo Schwarzenbeck damals mit seinem Expertenteam eine virtuelle Welt erschuf, um so Rückschlüsse auf unsere eigene zu erhalten. Jede kleine Veränderung wurde protokolliert, jeder eingestreute Gedanke auf seine möglichen Auswirkungen hin untersucht.
Die so entstandene Welt beherbergte virtuelle Personen, die sich ihrer eigenen Existenz genauso sicher waren, wie wir der unseren. Sie wussten nicht, dass alles, was sie erlebten, von außen vorbestimmt beziehungsweise manipuliert wurde.
Während seiner Projektvorstellung, der Stefan damals zufällig beiwohnte, erklärte Schwarzenbeck seinen Auftraggebern, dass sein Team inzwischen in der Lage sei, Teile unserer eigenen Welt zu manipulieren, indem er einfach die Gedanken und Wahrnehmungen seiner Mitmenschen in gewünschte Bahnen lenkte.
Erste Erfolge bei einzelnen Personen konnte er bereits, unter Zuhilfenahme von Henry und dessen telepathischen Fähigkeiten, vorweisen. Die nächste Stufe stand bereits kurz bevor. Wie er damals erklärte, entdeckte man unzählige Gemeinsamkeiten zwischen der virtuellen und unserer Welt. Er sprach von gedanklichen Knotenpunkten, die uns alle miteinander verbanden. Folglich bedürfe es nur einer kleinen Einflussnahme an diesen Knotenpunkten, um Menschen direkt und ohne ihr Wissens zu steuern.
Damals, in einer anderen Zeit, und anscheinend auch anderen Realität gelang es Stefan, gemeinsam mit Willi, das gesamte Projekt zu stoppen, indem sie den Projektkeller dadurch fluteten, dass Willi die computergesteuerten Grundwasserpumpen abschaltete.
Schwarzenbeck reagierte, nachdem er die Anlage evakuieren ließ, anscheinend panisch und zog sozusagen die Notbremse. Zumindest erwachte Stefan irgendwann in einem Hotelzimmer, kurz bevor die ganze Geschichte für ihn einst begonnen hatte.
Schwarzenbeck hatte tatsächlich die Zeit manipuliert und Stefan darin zurückgeschickt.
Laut Heinz gab es dafür nur eine einzige Erklärung. Schwarzenbeck war in den Besitz von „Libri Cogitati“ gelangt. Einer alten längst vergessenen Sage nach hatte nur derjenige die Macht dazu, der dieses Buch kannte und auch verstand.
Doch wo war er selbst gelandet?
Nach alldem, was Stefan von Heinz erfuhr, war dieser Mann von Grund auf schlecht. Einer der Menschen, die niemals aufgeben würden. Egal, welche Steine man ihm in den Weg legen würde, er würde sie ohne jegliche Skrupel beiseiteschaffen.
Heinz’ Befürchtungen waren eindeutig. Die ganze Sache war noch lange nicht ausgestanden. Ein neues Projekt, ein anderer Ort, ein anderes Team vielleicht, aber mit Gewissheit die gleichen Ziele.
In Stefans Traum war es wie damals im Keller, wo er mit einem Cyberhelm auf dem Kopf in eine andere Welt eintauchte. Eine virtuelle Welt. Irgendwann packte ihn jemand am Arm und rüttelte ihn, sodass er erschrak.
Doch diesmal war es niemand aus dem Keller, sondern Rudi, der vor ihm stand.
Stefan blinzelte gegen die Sonne direkt in sein verschmitztes Gesicht.
„Hey, willst du hier den ganzen Tag verschlafen? Hat dir etwa niemand gesagt, wie gefährlich es ist in unseren Breitengraden einen Mittagsschlaf in der glühenden Sonne zu halten?“
Stefan brauchte einen kleinen Moment, um zu sich zu kommen. Dann fasste er mit beiden Händen in sein Gesicht und wusste, wovon Rudi redete. Bereits bei der geringsten Berührung glaubte er an einen Flammenwerfer, der ihm direkt auf seine Wangen brannte.
„Ich habe deine Telefonbücher besorgt. Sie liegen schon in deinem Zimmer. Allerdings sollten wir dich jetzt erst einmal zu Carla bringen, damit sie sich um deine Verbrennungen kümmert.“
Augenblicke später fand sich Stefan im Nebenzimmer der Rezeption wieder.
„Oh, oh, ihr dummen Gringos, wenn wir nicht ständig auf euch aufpassen, dann grillt ihr euch eines Tags noch selbst.“
Sie schmierte ihm einen dicken, klebrigen und stinkenden Brei ins Gesicht und teilte ihm mit, dass er sich die nächsten 20 Minuten auf keinen Fall bewegen solle.
Rudi schaute kurz bei Stefan vorbei und verkündete, dass er ein wahrer Glückpilz sei. Niemand in ganz Mexiko sei geeigneter als Carla, wenn es um die Behandlung verbrannter Haut ginge.
Carla würde in wenigen Minuten vorbeischauen und ihn dann von seiner Schönheitsmaske wieder befreien.
Nach seiner inneren Uhr, die wahrscheinlich aufgrund des Jetlags immer noch falsch ging, wurde Stefan etwa eine Stunde später endlich von seiner stinkenden Maske erlöst. Er freute sich auf die bevorstehende Gesichtsreinigung sowie auf den Duft seines am Flughafen erworbenen Rasierwassers.
Doch dies sollte ihm für die nächsten 14 Stunden verwehrt bleiben.
Carla schmierte ihn erneut ein.
Dem Geruch nach handelte es sich diesmal um eine Mischung aus Dieselöl und Zitrone. So saß er also am frühen Abend mit Rudi im Nebenzimmer der Rezeption, das neben anderen Vergnügungen auch als Büro diente.
Carla brachte Sandwiches sowie eine Kanne frischen Kaffee, dann ließ sie die beiden allein. Anschließend schloss sie die Tür von außen.
Sicherlich hatte sie die Befürchtung, dass der Geruch die anderen Hotelgäste verschrecken würde.
Rudi erwies sich wieder einmal als unschätzbare Hilfe. Neben den aktuellen Telefonbüchern brachte er noch weitere mit, deren Jahreszahlen bis in die frühen 70er zurückreichten.
Das Hauptproblem bestand jedoch darin, dass jedes Buch mehrere Städte und Ortschaften enthielt, sodass man in mühevoller Kleinarbeit bei jedem Ort nachsehen musste.
Zum Entsetzen der beiden war es nur ein einziger Name, der sowohl auf der Liste wie auch im Telefonbuch von 1972 in einer circa 15 Meilen entfernten Stadt auftauchte.
Es war Marina Grossmann, jene junge Frau, die einst vom Hausherrn der alten Villa begehrt wurde. Anscheinend hatte er nie erfahren, wie nah und trotzdem fern sie ihm war.
Sie blätterten bis in die frühen Morgenstunden durch unzählige Spalten mit Namen. Gegen 4.00 Uhr, das ganze Hotel schlief schon, mussten sie sich eingestehen, wieder in einer Sackgasse gelandet zu sein.
Rudi verabschiedete sich vor Stefans Tür, nachdem er ihm das Versprechen abnahm, die Arbeit am nächsten Tag nicht vor 11.00 Uhr zu beginnen.
Kurz vor dem Schlafengehen holte Stefan seine Unterlagen aus ihrem Versteck und hakte den zweiten Punkt ‚Telefonbücher’ ab.
Pünktlich um 10.55 Uhr am nächsten Tag stand Rudi laut hämmernd vor der Tür.
„Frühstück“, schrie er Stefan durch das mit Schnitzereien verzierte Türblatt entgegen. „Wir sind draußen auf der Terrasse. Beeile dich, sonst bekommst du nichts mehr ab.“
Immer noch mit dem Gestank eines vom Lastwagen überfahrenen Iltis im Gesicht setzte sich Stefan 10 Minuten später an den Frühstückstisch.
Rudi und Carla lachten sofort laut schallend los.
„Du stinkst ja immer noch, warum hast du dir nicht endlich das Zeug aus dem Gesicht gewaschen?“
Stefan verstand nicht recht, was die beiden von ihm wollten. Schließlich war es doch Carla selbst, die ihn noch am Vorabend beschwor die Tinktur über Nacht wirken zu lassen. Anders als beim eigenen Schnarchen hatte er in der letzten Nacht das Gefühl kennengelernt, durch den eigenen Gestank nicht einschlafen zu können.
Und nun diese Frage?
„Es ist Carlas Lieblingsspiel“, erklärte Rudi, der sich immer noch den Bauch vor Lachen hielt.
„Deine Verbrennungen waren bereits gestern nach einer Stunde geheilt. Carla freut sich jedoch jedes Mal, wenn ich anschließend in die Garage gehe, die abscheulichsten Dinge zusammengieße, damit sie euch dummen Touristen wenigstens noch ein paar Stunden damit quälen kann.“
Jetzt musste auch Stefan laut loslachen.
„Ich bin gleich wieder zurück“, rief er den beiden über seine Schulter hinweg zu. „Für diesen Streich verlange ich als Wiedergutmachung ein ordentliches Rührei mit Speck, Paprika und Zwiebeln.“
Schnell ging er zurück in sein Zimmer, um sich wieder salonfähig zu machen. Er wusch sich sein Gesicht und fühlte sich zum ersten Mal seit fast 18 Stunden endlich wieder als Mensch.
Rudi empfing ihn immer noch lachend, als er an den Frühstückstisch zurückkehrte.
„Bitte verzeihe uns unseren Spaß, aber nachdem ich mir vor drei Jahren erstmals diese kleine Gemeinheit einfallen ließ, haben wir immer wieder große Freude daran.“
Stefan nahm einen ersten Bissen seines Toasts, während Carla bereits mit dem Rührei angewackelt kam.
Als kleine Entschuldigung hatte sie seinen Teller ganz besonders dekoriert und stellte ihn vor Stefan ab.
„Was steht als Nächstes auf deinem Programm?“, fragte Rudi, als sie wieder allein waren. „Und wenn es dir nichts ausmacht, dann wäre es auch schön, wenn du mir irgendwann die wahren Gründe deiner Suche erzählst.“
Stefan schluckte kurz einen viel zu großen Bissen Toast herunter, als er sich mit dieser Aufforderung konfrontiert sah.
„Bitte stelle mir heute diese Frage noch nicht. Irgendwann, wenn die Zeit dafür gekommen ist, so hoffe ich zumindest, wirst du die ganze Geschichte erfahren. Ich kann dir zurzeit nur so viel sagen, dass ich von den beiden nichts Böses will.“
„O. k., damit kann ich umgehen“, erwiderte Rudi kurz entschlossen.
„Also wo machen wir weiter?“
„Ich dachte mir, wir sollten das Berufsleben der beiden unter die Lupe nehmen. Ich weiß, dass die beiden ihr Geld damit verdienten, dass sie in verschiedenen Revuen und Varietés auftraten.
Sie nannten sich damals selbst Los Telepanthers und bereisten mit einer trickreichen Hellsehernummer Mexiko und die USA.“
„Na das ist doch wenigstens etwas“, sagte Rudi.
„Dann sollten wir versuchen herauszufinden, wo die beiden damals arbeiteten. Und ich habe sogar schon eine Idee, wo wir das erfahren könnten.“
Schnell packten sie die nötigsten Dinge zusammen (Stefan dachte sogar an ein Sonnenschutzmittel mit dem Lichtschutzfaktor „30“), und schon waren sie wieder auf dem Weg. Auch wenn Stefan noch nicht wusste, was Rudi genau im Sinn hatte, verließ er sich diesmal einfach auf seinen ortskundigen Führer.
„Was hast du genau vor?“, fragte er, als sie im Auto saßen und sich gerade eine Zigarette angezündet hatten.
„Lass dich einfach überraschen.“
Rudi fuhr zu einem alten Varietétheater, welches allerdings dem äußeren Anschein nach seine Türen schon vor Jahren für alle Zeiten geschlossen hatte. Alte, ausgeblichene Plakate schmückten die Fassade und an den wenigen Fenstern, deren Glasscheiben noch nicht durch Holzbretter ersetzt wurden, versperrten alte, vergilbte Zeitungen die Sicht ins Innere.
„Dies war noch vor vier Jahren unser größtes Theater. Leider ist davon nicht mehr viel übrig. Doch die Besitzerin weigert sich hartnäckig es abreißen zu lassen. Es wird erzählt, dass die Angebote für dieses Grundstück inzwischen bei über drei Millionen Dollar lägen. Ein amerikanischer Konzern hat bereits die meisten Grundstücke aufgekauft, um hier ein Einkaufszentrum zu bauen. Wenn du jemals in Miami/Florida warst, dann kennst du sicherlich das Bayside-Einkaufszentrum.
Dieselbe Gruppe will hier etwas von mindestens der gleichen Größe und Qualität errichten.“
Rudi schloss kurz die Augen, als wolle er die alte Atmosphäre noch einmal zurückholen. Dann sprach er weiter.
„Vor dem Eingang, genau dort, wo du jetzt stehst, lag einst ein roter Teppich, der bis zur Fahrbahn führte. Der Vater der Besitzerin stand damals noch selbst im roten Frack und Zylinder vor der Tür. Ich komme immer wieder gerne hierher und denke an die alten Zeiten.
Es war nach einem Abend in diesem Lokal, als ich damals zum ersten Mal eine Frau liebte. Sie nannte sich selbst Jolie und war Tänzerin. Jeden Abend saß ich vor einem kleinen Café gegenüber und träumte von ihr.
Ich war gerade 17 Jahre alt und kaum in der Lage, mir mehr als zwei Getränke zu leisten. Trotzdem musste ich hier sein. Es war wie ein innerer Zwang, dem ich folgen musste.
George, der Besitzer des Cafés, kam ab und zu an meinen Tisch und stellte mir wortlos eine Coke hin. Anscheinend tat ich ihm leid, weshalb er mich ihr irgendwann vorstellte.
Ich weiß noch genau, wie schlimm ich damals stotterte, als sie mich das erste Mal ansprach.“
Rudi schloss noch einmal die Augen, und auch Stefan fing an zu träumen. Er sah den Glanz und Glamour alter Zeiten vor seinen Augen. Limousinen, die ihre Fahrgäste absetzten, sowie Menschen, die im Blitzlicht von Fotografen in Abendgarderobe zum Eingang schlenderten. Oder waren das Erinnerungen von der Oscarverleihung, die uns jedes Jahr via Fernsehen in die Wohnstuben gebracht werden?
Egal, Rudi träumte, und das steckte auch Stefan an.
„Wenn wir einen Moment warten, dann könnten wir Glück haben und die Besitzerin treffen. Sie kommt jeden Tag zur Mittagszeit hierher und lüftet den Laden durch. Man sagt, dass sie die Schließung des Theaters nie richtig überwunden hat.
Doch nachdem die großen Hotels unten am Strand damals ihre eigenen Shows präsentierten und ihre Gäste mit „All inclusive-Angeboten“ lockten, war dies gleichzeitig das Aus für sie und ihr Theater.
Niemand verließ mehr die großen Hotelanlagen, um eines der vielen Straßenlokale oder Restaurants aufzusuchen. Früher gab es hier unzählige Restaurants und Kneipen, die alle nach und nach schließen mussten.
Dort drüben, wo das von Unkraut überwucherte Grundstück ist, war damals das Café, vor dem ich immer gesessen habe.“
Wehmütig sah er über die Straße.
Stefan bot Rudi eine Zigarette an. Diesmal war er an der Reihe, seinen Wegbegleiter aufzumuntern. Rudi nahm ein paar tiefe Züge und blies anschließend den Rauch geräuschvoll in die Luft.
Plötzlich, nur ein paar Minuten später, klopfte er Stefan aufgeregt auf die Schulter.
„Da kommt sie, die Besitzerin.“
Eine alte Frau mit streng zusammengebundenem grauem Haar bog um die Hausecke und verschwand augenblicklich hinter einer kleinen Nebentür des Gebäudes.
Rudi trat seine Zigarette auf dem Gehweg aus und machte sich schnellen Schrittes auf den Weg zu besagter Tür. Im letzten Moment, bevor sie ins Schloss fiel, hatte er seine Hand am Türblatt, öffnete sie einen Spalt und forderte Stefan auf ihm zu folgen.
Die alte Dame drehte sich kurz zu den beiden Eindringlingen um und deutete ihnen das Gebäude zu verlassen.
„It’s closed, come later, when the Show started.“
Doch Rudi ließ sich nicht beirren. Er ging geradewegs auf die Frau zu und stoppte erst unmittelbar vor ihr. Dann sprach er sie an.
Wie immer verstand Stefan kein einziges Wort, weshalb er beschloss, sich dezent im Hintergrund zu halten.
Er sah sich lieber die alten Plakate an den Wänden an, die im schwachen Licht einer einzigen Glühlampe kaum zu erkennen waren. Rudi war immer noch damit beschäftigt auf die Frau einzureden, während diese drei Fenster öffnete, wodurch das Tageslicht nach und nach den Raum, wenn auch nur leicht, erhellte.
Jedes einzelne Plakat wurde von Stefan beäugt in der Hoffnung, auf irgendeinen verwertbaren Hinweis zu stoßen. Er sah Bilder von Menschen, die einst ihr Publikum hier in ihren Bann zogen. Viele davon waren von Hand gemalt und erinnerten ihn an das Foyer des ›Moulin Rouge‹ in Paris, wo heute noch die Bilder von Toulouse-Lautrec ausgestellt wurden.
Unter den mexikanischen Plakaten bekam er nach seinem eigenen Sachverstand wahre Meisterwerke an diesen Tag zu sehen. Doch so sehr er sich auch dafür begeistern konnte, fehlte immer noch jede Spur von Henry und Maria.
Rudi sprach währenddessen immer noch mit der alten Frau, die jedoch keinerlei Anstalten machte, ihm auch nur andeutungsweise Gehör zu schenken. Stattdessen schnappte sie sich einen Besen und fing an, eifrig den Boden zu fegen.
Also beschloss Stefan sich wieder zum Ausgang zu begeben, um draußen auf Rudi zu warten. Wieder vorbei an den Plakaten zum Hintereingang des Etablissements.
Rudi redete immer noch ohne Ablass auf sie ein.
Sie ignorierte ihn weiterhin.
Stefan warf einen kurzen Blick zurück in den Raum und vorbei an den mit Zeitungen verhangenen Fenstern.
Plötzlich blieb er stehen und starrte auf eines der Fenster. Es war nur circa die Hälfte eines alten Fotos, die unter einem anderen Stück Papier hervorschaute und seine Neugierde weckte. Eine Frau, ungefähr 50 Jahre alt, in einem altmodischen Abendkleid, sah ihn in Schwarz-weiß an.
Im selben Augenblick wusste er, dass er diese Frau schon einmal gesehen hatte. Sie war in seiner Erinnerung wesentlich älter, aber es war eindeutig dasselbe Gesicht. Sofort riss er die darüber liegende Seite herunter und entdeckte den Mann neben ihr.
Es war Henry!
Auch wenn er sein Gesicht nicht mehr vor den Augen hatte, war die Ähnlichkeit der Zwillinge unverkennbar.
Vorsichtig entfernte er es von der Glasscheibe und eilte zu Rudi.
„Ich habe sie gefunden!“, rief er ihm bereits von Weitem entgegen.
„Sie sind es, ich bin mir völlig sicher!“
Noch bevor Rudi etwas sagen konnte, hielt Stefan der Frau das Bild unter die Nase und fragte, ob sie die beiden Personen auf dem Foto kannte. Oder ob sie vielleicht wüsste, was aus ihnen geworden war. Natürlich verstand sie kein einziges Wort, sah kurz zu ihm auf und widmete sich wieder ihrer Arbeit.
Rudi versuchte noch einmal, mit ihr zu reden, doch die Frau ließ sich von nichts und niemanden unterbrechen. Sie musste schließlich ihr Theater für die abendliche Show vorbereiten.
„Sorry, but the show must go on“, waren ihre letzten Worte, bevor sie die beiden einfach stehen ließ und mit einem Putzlappen den Tresen polierte.
Stefan folgte Rudi zum Ausgang, als dieser in der offen stehenden Tür unvermittelt stehen blieb.
„Stopp“, hörte man eine Stimme sagen.
Neugierig sah Stefan über Rudis Schulter und entdeckte einen Polizisten mit gezogener Waffe, die er auf sie richtete. Wortlos wurden sie in den Raum zurückgedrängt.
Der Blick des Polizisten ging zur Theaterbesitzerin, die immer noch emsig putzte. Er rief ihr etwas zu, was Stefan, wie so oft in diesem Land, wieder einmal nicht verstand, und sie erwiderte kurz: „It?s ok.“
Dann näherte er sich ihr im Rückwärtsgang, sodass er die beiden Männer die ganze Zeit im Auge behalten konnte. Die Waffe war immer noch auf sie gerichtet.
Der Polizist und die alte Dame sprachen kurz miteinander, was jedoch auch Rudi aus der Entfernung nicht verstehen konnte. Dann griff sie in die Tasche ihrer Kittelschürze und förderte etwas zutage, das sie ihm mit dem gutmütigen Lächeln einer Großmutter in die Hemdtasche steckte. Er verabschiedete sich höflich und ging auf die wartenden Männer zu. Erst jetzt senkte er seine Pistole und verstaute sie in seinem Holster.
Rudi und Stefan atmeten erleichtert auf.
Draußen vor der Tür zeigte ihnen der Hüter für Recht und Ordnung, was sich in seiner Hemdtasche befand. Es waren zwei von Hand gemalte Freikarten. „Der bereits dritte Satz in diesem Monat“, verriet er ihnen.
Rudi bot dem Mann eine Zigarette an, der auf einmal freundlich lächelte.
Auf die Frage, was sie im Theater suchten, bekam der Polizist die Version, die auch Rudi kannte, von ihm zu hören.
Den Zeitungsausschnitt verbarg Stefan vorsichtshalber zusammengefaltet in seiner Hosentasche.
Später, als sie wieder im Auto saßen, verriet Rudi, dass er von dem Polizisten einen Tipp erhalten hatte, wo sie ihre Suche fortsetzen könnten.
Unten am Hafen gab es eine alte Kneipe, in der die Stars von einst gemeinsam ihren längst vergangenen Karrieren nachtrauerten.
Nur selten verirrten sich Touristen dorthin.
Wenn jedoch einmal ein Besucher diese Kneipe entdeckte, bekam er meist für ein paar Drinks eine Liveshow der alten Schule geboten.
Sofort machten sie sich auf den Weg dorthin.
Diesmal parkte Rudi seinen VW direkt vor der Tür auf dem schmutzigsten Parkplatz, den Stefan jemals gesehen hatte. Dann betraten sie das Etablissement.
Diese Kneipe machte einen wahrlich erbärmlichen Eindruck. Am Tresen saßen bereits zur Mittagszeit vier betrunkene Männer, und eine schlecht geschminkte Frau tanzte mit sich selbst zu den Klängen von Frank Sinatra. Immer wieder vorbei an den Männern am Tresen, die sie versuchte zum Mittanzen zu animieren.
Der Wirt, ein fetter Kerl in weißem Oberhemd mit schmutzigem Kragen, musterte seine neuen Gäste eingehend. Sein verfilztes schwarzes Haar hatte er zu einem Zopf zusammengebunden, und beim Öffnen des Mundes sah man gleich mehrere Zahnlücken zwischen den verbliebenen gelben Zähnen.
Die Bitte um eine Bestellung kam wortlos, aber eindeutig. Rudi bestellte zwei 7Up und bat Stefan, ihm das alte Foto zu geben.
Er zeigte es zuerst dem Wirt, der es demonstrativ ignorierte, und anschließend der Reihe nach allen Männern am Tresen. Der Dritte in der Riege wollte es sich erst ansehen, nachdem Rudi ihm ein Bier ausgeben würde.
Es war ein schmächtiger Mann, dessen Alter man nicht schätzen konnte. Hinter seinem ungepflegten Bart konnte sich ebenso das Gesicht eines Mannes um die 40 Jahre, wie auch das eines Greises befinden. Seine Schuhe waren bereits im Bereich des Oberleders durchgescheuert und gaben den braunen Nagel des großen Zehs preis. Seine Hose war zwar im Moment trocken, aber man konnte deutliche Urinflecke auf der Vorderseite erkennen. Die Luft im Raum war entsprechend miefig.
Er musterte das ihm vorgelegte Bild und grübelte lange, in der Hoffnung, noch ein zweites Glas spendiert zu bekommen. Dass er Henry und Maria nicht kannte, war sofort klar.
Rudi nahm ihm das Bild wieder aus der Hand.
Schon kam die einsame Tänzerin auf ihn zu, um ihn zum Tanz aufzufordern. Sie griff nach seiner Hand, um ihn auf den schmutzigen Holzboden zu ziehen, den sie als Tanzfläche auserkoren hatte.
Dann sah sie sich das Bild an, welches sich noch in Rudis Hand befand. Ihre Augen wurden plötzlich größer, und ihr Mund verzog sich zu einer merkwürdigen Fratze.
Plötzlich lachte sie schallend los.
„Los Telepanthers!“, rief sie.
‚Volltreffer‘, dachte Stefan bei sich und zeigte dem Wirt, dass er ihr etwas zu trinken eingießen sollte.
Stefan und Rudi setzten sich mit ihr an einen kleinen runden Tisch, der seine Standfestigkeit nur den unter ihm liegenden Bierdeckeln verdankte, und Rudi, der um das Vergnügen des Tanzes gebracht wurde, hörte sich ihre Geschichte an.
Sie war damals selbst mit einem Partner und einer ähnlichen Varieténummer in verschiedenen Städten aufgetreten. Henry und Maria, so erzählte sie, waren einfach zu schlecht für die Bühne. Ihre Tricks waren zu einfach und ihre Show nur dumm und viel zu primitiv. Sie hingegen sei damals in der Lage gewesen, ihr Publikum wirklich zu begeistern. Ihr Partner war schließlich kein Geringerer als „The Great Mario“, der immer noch auf den großen Bühnen Amerikas zu finden sei.
Wie gerne hätte Stefan sie eines Besseren belehrt.
Schließlich wusste er, dass Henry und Maria echte Telepaten waren. Eine Gabe, von der sie selbst nicht wussten, warum sie sie hatten. Eine Gabe, die sie über all die Jahre geheim hielten, bis Frau Kerner ihnen damals auf die Schliche kam.
Das, was sie an jenem Abend taten, war mehr als eine Show. Frau Kerner erkannte es damals und holte die beiden ein paar Jahre später nach Berlin und ins Projekt.
In größter Eile kippte die einsame Tänzerin ihren Cocktail aus Bier, Rum und einer Olive in der Hoffnung weg, einen weiteren spendiert zu bekommen. Kaum hatte Rudi dem Wirt mit einer entsprechenden Geste gezeigt, dass die ‚Dame‘ sein Gast wäre, da kam er auch schon mit einem zweiten Gebräu dieser Art an den Tisch und stellte es vor ihr ab.
Während sie erzählte, nutzte Stefan die Gelegenheit, sie genauer zu betrachten. Anscheinend war sie einst eine bildschöne Frau. Einige Gesichtszüge betonten dies, wenn sie versuchte, mit ihren übermäßig dick geschminkten Lippen zu lächeln.
Allerdings fehlten inzwischen zwei obere Schneidezähne, dessen sie sich offensichtlich bewusst war, und weshalb sie immer wieder versuchte, die Lücke beim Sprechen mit ihrer Oberlippe zu verdecken. Sie trug ein für ihr Alter viel zu knappes Kleid, welches den Verlust einer einst sicher anmutigen Figur nicht verbergen konnte.
Genau wie bei dem Säufer am Tresen war es unmöglich, ihr Alter einzuschätzen. Es konnte ebenso um die 50 Jahre wie auch weit über 60 Jahre betragen.
Der einzige Hinweis darauf steckte wohl in der Tatsache, dass sie eine Frau wie Maria immer noch als ihre damalige Konkurrentin empfand.
Besonders Maria war ihr noch in Erinnerung. Dieses Flittchen, wie sie sie nannte, hatte jedem Mann schöne Augen gemacht und dabei keinerlei Rücksicht auf ihren Partner genommen, obwohl sie seinen Namen trug.
Rudi warf ein, dass es sich bei den beiden um Bruder und Schwester handelte, doch davon wollte sie nichts wissen. Allerdings hatte sie bereits einen entscheidenden Hinweis gegeben.
Sie Maria trug denselben Nachnamen wie ihr Partner.
Stefan betete, dass sie sich an den Namen erinnerte, und flüsterte Rudi ins Ohr, er möge sie danach fragen.
Nach einiger Überlegung nannte sie ihnen einen Namen.
„Morena! Henry und Maria Morena.“
Sie war sich absolut sicher.
Ein Name, der sich jedoch nicht auf Stefans Liste befand. Dort standen fünf deutsche Namen, und er war die ganze Zeit davon ausgegangen, dass der Stiefvater der beiden deutschstämmig wäre. Zumindest hatten sie jetzt einen echten Anhaltspunkt, mit dem im Gepäck sie sich schleunigst auf den Weg ins Hotel machten.
Inzwischen war es 16.30 Uhr, und ihre Mägen knurrten. So beschlossen sie, sich gleich am nächsten Morgen noch einmal über die Telefonbücher herzumachen.
Nach einem großen Steak mit einer Portion frischem Salat, den Carla für ihn zubereitet hatte, fühlte sich Stefan schnell wie neugeboren.
Anschließend erwartete er Rudis Fragen.
Sie hatten gerade ihren Nachtisch verzehrt, zwei kühle Drinks geordert, und Stefan war immer noch auf der Suche nach Antworten, die er Rudi auf seine Fragen geben könnte. Rudi war mit Gewissheit kein dummer Mensch. Zwangsläufig konnten ihm ein paar Kleinigkeiten nicht entgangen sein.
Wie war es möglich, Maria und Henry auf einem alten, vergilbten Zeitungsausschnitt zu erkennen, wenn Stefan vorher behauptete ihnen nie zuvor begegnet zu sein?
Woher kannte er ihren Künstlernamen?
Und so weiter. Alles Fragen, auf die er ihm Antworten schuldete.
Rudi nahm einen ersten großen Schluck und sah Stefan erwartungsvoll an, während er seine erste Frage formulierte.
„Was arbeitest du eigentlich in Deutschland? Womit verdienst du dein Geld?“
Stefan war ebenso überrascht wie erleichtert und redete einfach drauf los.
„Von meiner Ausbildung her bin ich Handwerker. Und ich glaube, dass ich in meinem Fach nicht zu den Schlechtesten gehöre. Heute betreibe ich eine jedoch kleine Handelsvertretung und komme nur noch selten in den Genuss handwerklich zu arbeiten.“
Rudi sah ihn einen Augenblick lang stumm an.
„Ich dachte mir schon etwas in der Art. Man sieht es deinen Händen an. Was machst du in deiner Freizeit? Du hast doch bestimmt Hobbys.“
Wieder erzählte ihm Stefan ein paar Dinge aus seinem Leben. So saßen sie den ganzen Abend gemütlich beisammen, ohne auch nur ein einziges Wort über Henry und Maria zu verlieren.
Kurz vor Mitternacht kam Carla an den Tisch und fragte nach der letzten Bestellung für diesen Abend. Da Stefan jedoch wusste, dass der nächste Tag anstrengend werden würde, verzichtete er darauf und auch Rudi meinte, es wäre Zeit zu Bett zu gehen.
Pünktlich um 8.30 Uhr verrichtete Stefans Reisewecker seinen Dienst. Das gemeinsame Frühstück war für 10.30 Uhr angesetzt, weshalb er die noch verbleibende Zeit nutzte, um erste Recherchen anzustellen.
Die aktuellen Telefonbücher legte er vorerst zur Seite und kümmerte sich stattdessen um eine Ausgabe von 1978. Diesmal ging die Suche wesentlich schneller, da er sich nur noch auf einen Namen statt auf fünf konzentrieren musste.
Bereits der erste Jahrgang bescherte ihm den gewünschten Erfolg. Henry Morena.
Überglücklich nahm er das aktuelle Telefonbuch zur Hand und blätterte gezielt auf die infrage kommende Seite.
Doch hier fand sich kein entsprechender Eintrag.
Stefan beschloss mit der ihm eigenen Logik vorzugehen, indem er die Anzahl der Jahre, die dazwischen lagen, immer wieder halbierte. In der Ausgabe von 1984 wurde er wieder fündig. Also kam dem Gesetz der Logik zur Folge das Jahr 1995 an die Reihe.
Wieder ein Treffer.
Er fand Einträge mit dem Namen Henry Morena bis zum Jahr 2001. Danach verlor sich die Spur. Trotzdem wusste er, dass sie zur angegebenen Adresse fahren mussten. Er riss die Seite aus dem Telefonbuch und nahm sie mit einem Gefühl der Glückseligkeit mit in den Frühstücksraum.
Rudi, so berichtete Carla, würde diesmal ein paar Minuten später zum Frühstück kommen. Er hätte noch ein paar Dinge zu erledigen, und Stefan sollte schon ohne ihn anfangen.
Sie stellte einen großen Teller mit Rührei sowie einen Korb mit getoasteten American Sandwiches auf den Tisch. Eine komplette gefüllte Kanne mit heißem Kaffee und ein Aschenbecher machten den Start in den Tag für Stefan zum Himmel auf Erden.
Gegen 11.00 Uhr kam Rudi grinsend an seinen Tisch und setzte sich ihm gegenüber. Bei Carla bestellte er nur eine Tasse Kaffee, und dann fragte er Stefan, wie er geschlafen hätte.
Stolz legte ihm Stefan die Seite aus dem Telefonbuch hin. Er hatte den Namen und die Adresse mit einem Kugelschreiber eingekreist und klopfte aufgeregt mit seinem Zeigefinger darauf.
Rudi sah sich die Adresse an und meinte ganz ruhig.
„Ich kenne die Adresse. Es liegt etwas außerhalb der Stadt. Eine kleine Siedlung mit einfachen Einfamilienhäusern auf Holzpfählen. Wir brauchen höchstens eine halbe Stunde. Hast du schon dort angerufen und unser Kommen angekündigt?“
Selbstverständlich hatte Stefan mehrmals von seinem Zimmer aus die Nummer gewählt, jedoch ohne Erfolg. Irgendeine Mexikanerin sprach ein paar für ihn unverständliche Worte, gefolgt von einer Art Besetztzeichen.
Rudi nahm das Blatt Papier in die Hand und eilte damit zur Rezeption.
Stefan hörte ihn durch die offene Tür etwas sagen, verstand allerdings nicht, was es war. Dann kam Rudi zurück an den Tisch und teilte ihm mit, dass der Anschluss nicht mehr existiere.
Stefan bestand trotzdem darauf, zu der Adresse zu fahren, und nachdem er ein paar Mal seine Bedenken erfolglos äußerte, willigte Rudi endlich ein, ihn dorthin zu bringen.
Gegen 12.30 Uhr standen sie vor dem Haus, in dem Henry und Maria lebten beziehungsweise noch vor ein paar Jahren zu Hause gewesen waren.
Es war das siebte Haus in einer Reihe von zwölf. Alle glichen einander wie ein Ei dem anderen. Und obwohl es einen unbewohnten Eindruck machte, war der Garten immer noch gepflegt. Der Rasen war frisch geschnitten und die Blumenbeete von Laub und Unkraut befreit.
Die Zahl 29 neben der Eingangstür bewies, dass es sich um das richtige Haus handelte. Es war allerdings das einzige in der Straße, das kein Namensschild trug.
Zwei Löcher neben der Eingangstür zeugten davon, dass es erst kürzlich entfernt worden war. Auf dem Boden lagen noch kleine Holzspäne, und die Stelle um die beiden Löcher herum war, anders als der Rest der Wand, noch nicht von der Sonne ausgeblichen.
Was hatte das zu bedeuten?
Warum wurde das Schild erst jetzt entfernt, obwohl die beiden schon seit einigen Jahren nicht mehr hier wohnten?
„Die sind anscheinend ausgezogen oder inzwischen vielleicht verstorben“, mutmaßte Rudi. „Ich glaube, wir können zurück ins Hotel fahren.“
Doch genau das wollte Stefan nicht. Er war den weiten Weg aus Deutschland nicht in dieses Land gekommen, um jetzt so nah am Ziel aufzugeben.
Rudi ging zum Auto, während sich Stefan auf den Weg zum Nachbarhaus machte. Er betätigte die Türklingel in der Hoffnung, dass Rudi ihm folgen würde. Schließlich brauchte er ihn als Übersetzer.
Hinter Stefan startete der Motor des alten VWs. Unbeirrt klingelte er ein zweites Mal.
Plötzlich hörte man Geräusche, und die Tür wurde einen kleinen Spalt geöffnet. Stefan erkannte eine Sicherungskette, über die ihn einen Moment später zwei Augen anblickten.
„Please. I come from Germany. I?m searching Maria and Henry Morena”, stotterte er in seinem schlechten Englisch.
Die Augen musterten ihn jetzt eingehend von Kopf bis Fuß. Dann schloss sich die Tür und Stefan hörte, wie die Sicherungskette entfernt wurde.
Eine alte Frau in Morgenmantel und mit dauergewelltem weißem Haar öffnete die Tür. Dann drehte sie sich in die Wohnung um und rief ihren Mann herbei.
Endlich verstummte der Motor, und Rudi kam zur Tür.
Ein Riese von Mexikaner in Shorts und Unterhemd durchquerte schnellen Schritts den Flur und stoppte kurz vor Stefan.
Rudi schob Stefan zur Seite und erklärte dem Mann, was sie von ihm wollten.
Der Riese, ein gebürtiger Brite, setzte ein gutmütiges Grinsen auf und bat die beiden einzutreten. Stefans Versuche Englisch zu sprechen belustigten ihn, weshalb er darum bat, in genau dieser Sprache mit ihm zu reden.
Er lebte bereits seit 38 Jahren in Mexiko und war wie viele in der Siedlung früher im Theater oder Zirkus tätig gewesen. Seine zierliche Frau und er traten damals als Artisten auf, was seinen massigen, von Muskeln durchzogenen Körperbau erklärte.
Stefan war dankbar, dass er sich in Englisch unterhalten wollte. Somit blieben Rudi viele umständliche Übersetzungen erspart, und auch Stefan war in der Lage, ein paar Fragen zu stellen.
Sie erfuhren, dass die beiden Henry und Maria gut kannten. Sie waren insgesamt 17 Jahre lang Nachbarn gewesen und bedauerten, dass die zwei vor fünf Jahren weggezogen sind.
Damals tauchte eine hochgewachsene Frau aus Deutschland auf und überredete Henry und Maria, mit ihr nach Europa zu gehen.
Sofort war klar, dass es sich dabei um Frau Kerner gehandelt haben muss, die Henry und Maria wegen ihrer telepathischen Fähigkeiten ins Projekt holte.
Doch wohin hatte man die beiden gebracht?
Schließlich hatte sich Stefan selbst davon überzeugen können, dass der Keller unter dem Potsdamer Platz, in dem er damals auf das Projekt gestoßen war, nicht mehr oder noch nicht existierte.
Stefan versuchte zu erfahren, warum der Garten gepflegt, aber das Haus anscheinend unbewohnt war.
Nun, das Haus gehörte immer noch den Morenas. Einen Monat, nachdem sie abgereist waren, tauchte ein junges Paar auf, das sich als Tochter und Schwiegersohn von Henry ausgab.
Genau wie die beiden war auch Stefan davon überrascht etwas von einer angeblichen Tochter samt Schwiegersohn zu hören.
Maria hatte ihm damals erzählt, dass weder Henry noch sie jemals verheiratet waren. Und eine uneheliche Tochter passte nicht ins Bild von Henry. Mit Gewissheit hätte Maria stolz von einer Nichte erzählt, wenn es jemals eine gegeben hätte.
Die beiden kamen in regelmäßigen Abständen zum Haus, lüfteten es kurz durch, nahmen die Post an sich und verschwanden wieder. Besonders diese angebliche Tochter fiel den beiden immer wieder auf.
Eine vollbusige Schönheit mit einer feuerroten Mähne, die ihr bis über den Po reichte. Mit dem Schwiegersohn, einem großen Mann mit durchtrainierter Figur, geriet der Nachbar einmal in Streit, weil der mit seinem Mercedes die Einfahrt zum Grundstück blockierte.
Am liebsten hätte der ehemalige Artist damals festgestellt, wie gut dieser ‚Jüngling‘ körperlich tatsächlich in Form war. Allerdings würde es zu einer solchen Begegnung nicht mehr kommen, weil das Haus am Vorabend von Stefans Besuch verkauft worden war, wie der Verwalter vor Ort selbst erst
zwei Stunden zuvor erfahren und sich lautstark darüber beschwert hatte, dass gleich am frühen Morgen jemand heimlich das Namenschild entfernt hatte.
Jetzt wusste Stefan alles, was es zu wissen gab.
Er hatte also keine Chance, Maria als Hilfe für die ihm bevorstehende Aufgabe gewinnen zu können. Sie war bereits mit ihrem Bruder zusammen in Schwarzenbecks Hand, und irgendjemand versuchte nun, alle Spuren zu verwischen.
Warum ausgerechnet jetzt?
Niemand wusste von seiner Reise nach Mexiko. Selbst Heinz, sein einziger Vertrauter, hatte keine Ahnung, wo Stefan mit seiner Suche beginnen würde.
Er war wieder dort gelandet, wo er angefangen hatte. Allein mit sich selbst und dem Versprechen, das er einem Todkranken gegeben hatte.
Rudi und er verabschiedeten sich höflich und fuhren zurück ins Hotel.
Rudi tat es leid, dass ihre Suche auf diese Art und Weise endete.
Im Hotel angekommen ging Stefan geradewegs in sein Zimmer und packte seine Koffer. Misstrauisch, wie er war, überprüfte er noch einmal das Geheimfach seines Koffers. Aber es war alles noch an seinem Platz.
Niemand hatte seine Sachen durchwühlt. Niemand sein Geheimnis erfahren. Und dennoch hatte er ein ungutes Gefühl.
Das nächste Flugzeug nach Deutschland sollte fünf Stunden später abheben und am darauf folgenden Tag in Frankfurt landen.
Nein, er wollte nicht länger in Mexiko bleiben.
Um einen Anschlussflug nach Berlin würde er sich in Deutschland kümmern. Er brauchte so schnell wie möglich Zeit für sich und seine Gedanken. Und die würde er im Flugzeug sicher finden.
Rudi reservierte ihm telefonisch einen Platz in der Maschine und half beim Verladen der Koffer.
Stefan bezahlte seine Hotelrechnung bei Carla, die ihn zum Abschied liebevoll umarmte und rundete Rudis Honorar von 100,- auf 150,- US$ auf.
Dann chauffierte ihn Rudi wieder zum Flughafen.
Vor dem Haupteingang fand sich schnell ein Boy, der für ein Trinkgeld die Koffer auf einen Handkarren umlud. Den Koffer mit den Unterlagen beförderte Stefan vorsichtshalber selbst.
Jetzt hieß es auch von Rudi Abschied zu nehmen.
Rudi verzichtete darauf die Fahrkosten vom Hotel zum Flughafen zu kassieren und teilte Stefan mit, dass es ihm eine Ehre gewesen wäre, ihn kennenzulernen. Dann stieg er in seinen alten klapprigen VW und reihte sich in der Schlange der wartenden Taxifahrer ein.
Ein neuer Fahrgast würde einsteigen und die Lebensgeschichte dieses Mannes hören. Vielleicht sogar die Geschichte von dem armen Trottel, der nach Mexiko kam, um seine verloren gegangene Verwandtschaft zu suchen und mit leeren Händen wieder nach Hause zurückkehrte.
Beide winkten sich zum Abschied noch einmal zu, bevor Stefan das Flughafengebäude betrat.
Lange Menschenschlangen drängelten sich im Inneren auf schier endlosen Wegen. Stefan schloss sich ihnen an. Vorbei an der großen Glasscheibe. Vorbei an den Taxis, die draußen auf ihre nächsten Fahrgäste warteten.
Er sah Rudi hinter dem Steuer seines Autos und einen Traum von Frau, die zu Fuß auf den Wagen zusteuerte.
Die beiden sprachen einen Moment miteinander, bevor Rudi ausstieg und der Frau zu einem silbernen Mercedes folgte, in dem erst er und anschließend auch die Frau mit ihren langen, feuerroten Haaren verschwand.