ERSTES KAPITEL

Wenn Kit gewusst hätte, dass er noch vor Tagesende die verborgenen Dimensionen des Universums entdecken würde, dann wäre er vielleicht besser vorbereitet gewesen. Zumindest hätte er einen Regenschirm mitgenommen.

Wie die meisten Bewohner Londons erduldete Kit wie ein Märtyrer die täglichen Mühen, sich durch eine Stadt zu navigieren, deren Komplexität und Verworrenheit legendär waren. Er wusste nur allzu gut, welche Gefahren selbst mit dem belanglosesten Ausflug einhergehen konnten. Sich in die Welt jenseits der eigenen Türschwelle hinauszuwagen war das moderne städtische Äquivalent zum alten Gerichtsverfahren des Gottesurteils - ein abenteuerliches Unterfangen, für das er sich wappnete, so gut er nur konnte.

Schon vor langer Zeit hatte Kit »seinen« kleinen Fleck in dieser Großstadt, die sich so gewaltig ausgedehnt hatte, gründlich studiert. Er wusste, wo die für das Überleben notwendigsten Dinge zu finden waren und wie man zu ihnen gelangte. Er hatte eine kleine Bibliothek mit Straßenkarten, Busstrecken und Fahrplänen im Kopf parat. Den Streckenplan der für ihn relevanten Abschnitte der Londoner U-Bahn hatte er sich fest eingeprägt; zudem kannte er die schnellsten Wege zu seiner Arbeitsstelle und von dort zu seinen Lieblingskneipen, den Lebensmittelläden, dem Kino sowie dem Park, wo er joggte.

Betrüblicherweise reichte dieses Wissen in der Mehrzahl der Fälle nicht aus.

Der heutige Morgen war dafür ein perfektes Beispiel. Nur wenige Minuten zuvor hatte er die Türschwelle seiner Wohnung in Holloway überschritten, um einen Ausflug zu machen: Er wollte seine Freundin bei einem Shopping-Trip begleiten, was er ihr schon vor Langem versprochen hatte. Während er zur nächsten U-Bahn-Station marschierte, war er sich der Tatsache nicht bewusst, dass er sich bereits auf eine Reise ohne Wiederkehr begeben hatte. Vor der Eingangsschranke zückte er seine Oyster card. Mit dem elektronischen Ticket berührte er das Kartenlesegerät und stürmte dann die Treppe hinunter, weil er das ratternde Geräusch der einfahrenden U-Bahn hörte. Die piependen Türen begannen sich bereits zu schließen, als er in den Waggon sprang. Er zählte die ersten beiden der vier Haltestellen bis zu seinem Ziel ab. Gerade als er sich - an der dritten Station seiner U-Bahnfahrt - der Vorstellung hingab, dass alles nach Plan verlief, erhielt er die Information, dass die Strecke vor ihm wegen routinemäßiger Wartungsarbeiten geschlossen war.

»Alle Passagiere bitte aussteigen!«, krächzte eine blecherne Stimme aus den Lautsprechern. »Dieser Zug endet hier.«

Kit schloss sich der murrenden Menschenmenge an und gelangte wieder nach oben auf die Straße. Man hatte einen Sonderbus für die U-Bahn-Passagiere bereitgestellt, mit dem sie ihre Reise fortsetzen konnten. Um es ihnen jedoch nicht allzu leicht zu machen, wartete dieser Bus raffiniert versteckt auf der anderen Seite der U-Bahn-Station King's Cross. Erst als Kit einen Blick auf den wartenden Bus und die Schlange von Tottenham-Fans warf, die sich über die halbe Euston Road erstreckte, erinnerte er sich, dass heute Sonntag war und Tottenham Hotspur gegen Arsenal London spielte. Da er nicht bereit war, eine halbe Stunde zu warten, dachte er sich schnell einen Alternativplan aus, um zu Wilhelmina zu kommen: Er würde über die Straße flitzen und mit der Northern Line von King's Cross nach Moorgate fahren, dort die U-Bahn zur Liverpool Street nehmen, in die Central Line umsteigen und an der Haltestelle Bethnal Green aussteigen. Von dort wäre es nur eine kurze Busfahrt zur Grove Road. Dann ein strammer Marsch durch den Victoria Park - und schon bald würde er vor Wilhelminas Wohnung in der Rutland Road stehen. Das wird kinderleicht, dachte er, als er die Treppe zur U-Bahn-Station hinunterstieg.

Erneut angelte Kit seine Oyster card aus der Tasche und wischte sie über das Lesegerät vor der Eingangsschranke. Doch anstatt eines grünen Pfeils leuchtete diesmal ein rotes Licht auf. Kit bemerkte, dass sich hinter ihm bereits ein Passagierstau gebildet hatte, der rasch größer wurde, und drückte seine Chipkarte ein weiteres Mal gegen den Sensor. Zur Belohnung leuchtete die gefürchtete elektronische Anzeige WENDEN SIE SICH AN DIE AUFSICHT auf. Wie schrecklich! Er seufzte innerlich und begann, sich durch die Menschenschlange zurückzuarbeiten. Dabei schlugen ihm der Hohn und die Beschimpfungen seiner murrenden Mitreisenden entgegen; die meisten von ihnen trugen eines der Fußballtrikots der rivalisierenden Clubs.

»Tut mir leid«, murmelte er, während er sich durch das Gewühl kämpfte. »Entschuldigen Sie bitte ... Tut mir echt schrecklich leid.«

Er sauste auf die nächste Ticketverkaufsstelle zu. Nachdem er eine Hindernisstrecke aus Absperrungen und Gittern bewältigt hatte, stellte er fest, dass hinter dem Schalterfenster niemand war. Mehrfach klopfte er gegen die Scheibe, und als das erfolglos blieb, rannte er zum nächsten Fahrkartenschalter. Durch heftiges Trommeln gegen das Fenster gelang es ihm schließlich, einen Angestellten herbeizuscheuchen.

»Meine Oyster card funktioniert nicht mehr«, erklärte Kit.

»Da ist bestimmt kein Geld mehr drauf«, entgegnete der Mann.

»Aber ich habe das Guthaben auf dem Ticket erst vor ein paar Tagen wieder aufgeladen. Können Sie das nicht überprüfen?«

Der Angestellte nahm die Chipkarte und schaute sie sich an. Dann zog er sie durch ein Lesegerät, das neben dem Fenster stand. »Tut mir leid, Kumpel.« Er schob das Ticket durch den Schlitz im Fenster zurück. »Der Computer ist außer Betrieb.«

»Okay, macht nichts«, lenkte Kit ein. Er begann, in seinen Taschen herumzuwühlen. »Ich lasse noch fünf Pfund auf die Karte laden.«

»Das können Sie online machen«, teilte ihm der Angestellte mit.

»Aber jetzt bin ich hier«, hob Kit hervor. »Höchstpersönlich.«

»Online ist billiger.«

»Das mag ja so sein«, stimmte Kit zu. »Aber ich muss jetzt fahren - heute noch.«

»Sie können an einem Ticketautomaten bezahlen.«

»Richtig«, sagte Kit, der hören konnte, wie auf dem Gleis unter ihm ein Zug in die U-Bahn-Station einfuhr. Sogleich eilte er zum nächsten Ticketautomaten. Doch auch nach mehreren Versuchen weigerte sich das Gerät, Kits Fünf-Pfund-Note anzunehmen: Jedes Mal spuckte es den zerknitterten Lappen wieder aus. Der Automat daneben war nur mit Kreditkarten benutzbar, und das letzte der drei Geräte war außer Betrieb.

Kit rannte zum Fahrkartenschalter zurück. »Der Ticketautomat nimmt meinen Geldschein nicht an«, erklärte er und schob seinen Fünfer durch die Öffnung im Fenster. »Können Sie mir etwas Kleingeld geben? Oder ein anderes Ticket?«

Der Angestellte betrachtete den zerknitterten Geldschein. »Tut mir leid.«

»Was tut Ihnen leid?«

»Der Computer ist außer Betrieb.«

»Aber ich sehe doch, dass da drüben Kleingeld ist«, sagte Kit mit wachsender Frustration. Er zeigte durch die Scheibe auf ein Gerät mit einer Wechselgeldkassette voller Münzen, die nur darauf warteten, ausgeteilt zu werden. »Können Sie nicht einfach etwas Geld da herausnehmen?«

»Es ist nicht erlaubt, einfach dort Geld herauszunehmen.«

»Warum nicht?«

»Hier läuft alles computergesteuert ab, und der Com -«

»Ich weiß, ich weiß«, fiel Kit dem Mann ins Wort. »Der Computer ist außer Betrieb.«

»Sie können es ja bei einem der anderen Fahrkartenschalter versuchen.«

»Aber an den anderen Schaltern ist niemand.«

Der Angestellte blickte ihn voller Mitleid an. »Es ist Sonntag.«

»Ja, und?«

»Eingeschränkter Service.«

»Im Ernst!«, schrie Kit. »Warum machen Sie sich überhaupt die Mühe, zur Arbeit zu kommen?«

Der Angestellte zuckte mit den Schultern. Er richtete seinen Blick auf einen Punkt hinter Kit und rief: »Der Nächste, bitte!« - obwohl sich niemand dorthingestellt hatte.

Kit nahm seine vorübergehende Niederlage hin und stieg wieder zur Straße hoch. Es gab zahlreiche Läden, wo er seine Fünf-Pfund-Note hätte wechseln können. Allerdings bestand nach wie vor das Problem, dass heute Sonntag war, und alle Geschäfte hatten entweder mehrere Stunden oder gleich den ganzen Tag geschlossen.

»Mal wieder typisch«, schnaubte Kit und gelangte zu der Entscheidung, dass es einfacher und zweifellos schneller sein würde, die rund drei Meilen bis zu Wilhelminas Wohnung zu Fuß zu gehen. Mit diesem Gedanken im Kopf marschierte er los, vorbei am Straßenverkehr und den morgendlichen Passanten. Er war der aufrichtigen Überzeugung, dass er immer noch rechtzeitig Minas Zuhause erreichen könnte. Während er die Pentonville Road entlangging, stellte er sich in seinem Geist eine Straßenkarte der Umgebung vor und dachte sich eine Wegstrecke zum Ziel aus. Doch kaum hatte er einige wenige Hundert Schritte zurückgelegt, sah er sich irritiert um: Er hatte sich irgendwie vertan - es musste ihm vorhin im Niemandsland von King's Cross passiert sein - und einen falschen Weg eingeschlagen.

Ihm war klar, dass er sich in nordwestliche Richtung orientieren musste, und so bog er nach links, westwärts, in die Grafton Street ab. Er hastete voran, wich einer wegen Straßenarbeiten errichteten Absperrung aus und erreichte schnell den nächsten Weg, der nach Norden führte - eine seltsame kleine Gasse namens Stane Way.

So weit, so gut, dachte Kit, als er den schmalen Fußgängerweg entlanglief. Der Stane Way war wirklich nur ein Gässchen, das Lieferanten einen verborgenen Zutritt zu den Läden bot, deren Vordereingänge an den parallel verlaufenden Straßen lagen. Nach rund zwei Minuten begann Kit, nach der nächsten Straße Ausschau zu halten, die das Gässchen kreuzte. Weitere zwei Minuten verstrichen ... Inzwischen hätte er längst das Ende dieser Gasse erreichen sollen - oder etwa nicht?

Auf einmal begann es zu regnen.

Kit legte einen Zahn zu, als das Wasser aus den wabernden, niedrigen Wolken über ihm in die Gasse herabschüttete. Er zog die Schultern hoch und den Kopf ein - und rannte weiter. Wie aus dem Nichts kam ein heftiger Wind auf. Der Sturm peitschte der Länge nach durch die Schlucht aus Ziegelsteinen und trieb ihm den Regen in die Augen.

Kit blieb stehen.

Eilig zog er sein Handy aus der Tasche und klappte das Display auf. Kein Empfang!

»Verdammtes nutzloses Ding!«, brummte er.

Er spürte, dass er bis auf die Haut durchgeweicht war und das Wasser ihm von den Haarenden und der Nasenspitze herabtropfte. Verärgert schob er das Telefon wieder in die Tasche. Ich hab die Nase voll, dachte er. Abbruch der Mission. Auf der Stelle machte er kehrt und eilte den Weg zurück, den er gekommen war; bei jedem Schritt gaben die Schuhe schmatzende Geräusche von sich. Auf einmal gab es gute Neuigkeiten: Der Wind ließ beinahe augenblicklich nach, und auch der Regen hörte auf; der Sturm verschwand so rasch, wie er gekommen war.

Während Kit zurückjoggte, musste er einer öligen Pfütze nach der anderen ausweichen. Fast hatte er die Stelle wieder erreicht, wo die Gasse von der Grafton Street abzweigte, als er hörte, wie jemand ihn rief - oder zumindest glaubte er das. Er konnte sich dessen nicht sicher sein, da von den Dachvorsprüngen und Regenrinnen der Gebäude um ihn herum immer noch das Wasser spritzte.

Augenblicklich verringerte er sein Lauftempo. Ein paar Schritte weiter hörte er den Ruf erneut - und diesmal gab es keinen Zweifel.

»Hallo!«, hörte er jemanden schreien. »Warte!«

Sogleich befahl ihm eine innere Stimme: Lauf weiter! Das war eine allgemeine Lebensregel, die ihn davor schützte, in irgendwelche Verrücktheiten der Londoner Obdachlosen verwickelt zu werden. Vorsichtig blickte Kit über die Schulter nach hinten. Er sah, wie ein weißhaariger Mann aus der dunstigen Häuserschlucht auftauchte und auf ihn zustolperte. Von wo war der Mann gekommen? Höchstwahrscheinlich handelte es sich um einen Penner, der in einem Hauseingang seinen Rausch ausgeschlafen hatte. Er war wohl vom Sturm geweckt worden und hatte dann Kit bemerkt, den er für ein leichtes Opfer hielt. So ist eben das Leben, dachte Kit und machte sich darauf gefasst, von dem Kerl belästigt zu werden.

»Tut mir leid, Kumpel!«, rief Kit über die Schulter nach hinten und drehte den Kopf sogleich wieder nach vorn. »Ich bin selbst pleite.«

»Nein! Warte!«

»Kein Kleingeld dabei. Tut mir leid. Ich muss weiter.«

»Bitte, Cosimo.«

Das war alles, was der Obdachlose sagte. Doch es führte dazu, dass Kit wie angewurzelt stehen blieb.

Dann drehte er sich langsam um und sah sich den Mann an.

Der Alte war groß gewachsen, hatte volles silbernes Haar und einen ordentlich geschnittenen Kinnbart. Sein Outfit schien aus den Kleidersammlungen von Wohlfahrtseinrichtungen zu stammen: Er trug ein einfaches weißes Hemd und eine dunkle Drillichhose, die beide ziemlich robust wirkten und abgetragen waren. Die Tatsache, dass die Enden der Hosenbeine in seine Halbstiefel gestopft waren und er einen altertümlichen Paletot mit kurzem Schulterumhang trug, ließ ihn wie eine Figur aus einem Sherlock-Holmes-Roman aussehen.

»Sollte ich Sie etwa kennen?«, fragte Kit, als der Mann herbeihastete.

»Das möchte ich doch hoffen, mein Junge«, antwortete der Fremde. »Man sollte doch meinen, dass ein junger Kerl seinen eigenen Urgroßvater kennt.«

Kit trat einen Schritt zurück.

»Tut mir leid, dass ich mich verspätet habe«, fuhr der alte Mann fort. »Ich musste mich erst vergewissern, dass mir niemand gefolgt war. Das hat länger gedauert, als ich angenommen hatte. Ich begann schon zu befürchten, ich würde dich ganz verpassen.«

»Wie bitte?«

»So, jetzt sind wir hier. Ende gut, alles gut, nicht wahr?«

»Hör zu, Kumpel«, protestierte Kit. »Ich glaube, du bist an den Falschen geraten.«

»Was für eine Freude, dich zu guter Letzt doch noch zu treffen, mein Sohn«, verkündete der alte Gentleman und bot Kit die Hand an. »Die reinste Freude. Aber natürlich sind wir uns noch nicht richtig begegnet. Darf ich mich vorstellen? Ich bin Cosimo Livingstone.« Bei den letzten Worten beugte er ein wenig den Oberkörper vor.

»Okay, und wo liegt jetzt die Pointe?«, verlangte Kit zu wissen.

»Oh, das ist kein Witz«, versicherte der alte Mann. »Das ist die reine Wahrheit.«

»Nein, Sie irren sich«, widersprach Kit energisch. »Ich bin Cosimo Livingstone. Aber wie auch immer - woher kennen Sie meinen Namen?«

»Würde es dir sehr viel ausmachen, wenn wir das im Gehen besprechen? Wir sollten wirklich nicht hier stehen bleiben.«

»Das ist Unsinn! Ich werde nirgendwo mit Ihnen hingehen.«

»Also, ich denke, du wirst schon herausfinden, dass du keine große Wahl hast.«

»Das stimmt nicht.«

»Wie bitte?«

»Hör mir gut zu, Kumpel. Ich weiß nicht, wie du an meinen Namen herangekommen bist, aber du musst mich mit irgendjemand anderem verwechselt haben.« Kit hoffte, dass er sehr viel gelassener klang, als er sich tatsächlich im Moment fühlte. »Ich möchte wirklich nicht unhöflich sein. Doch ich kenne dich nicht und habe nicht die geringste Absicht, mit dir irgendwohin zu gehen.«

»Wohlan«, entgegnete der Fremde. »Aber was könnte dich zu einer Meinungsänderung bewegen?«

»Vergiss es!«, erwiderte Kit und wandte sich ab. »Ich verdufte.«

»Welche Art von Beweisen würde dich überzeugen? Namen, Geburtstage, Verwandtschaftsbeziehungen - vielleicht so etwas?«

Kit marschierte los. »Und tschüss.«

Der Greis folgte ihm. »Dein Vater heißt John, deine Mutter Harriet. Du bist in Weston-super-Mare geboren worden, und kurz darauf ist deine Familie nach Manchester gezogen. Dort ist dein Vater als Abteilungsleiter bei einer Versicherungsgesellschaft tätig gewesen, und deine Mutter hat in der Verwaltung einer Schule gearbeitet. Als du zwölf warst, zog deine Familie erneut um und ließ sich in London nieder ...«

Kit blieb in der Mitte der Gasse stehen. Er war hin- und hergerissen zwischen Furcht und ungläubigem Staunen. Langsam drehte er sich um.

Der alte Mann war ebenfalls stehen geblieben und lächelte ihn an. »Wie habe ich mich bisher geschlagen?«

Selbst in dem schlechten Licht, das in dieser Gasse herrschte, war die Familienähnlichkeit deutlich zu erkennen: die kräftige Nase, der starke Kiefer, die breite Stirn, das sich wellenförmig kräuselnde Haar, die vollen Lippen und dunklen Augen - wie bei seinem Vater und dem widerlichen Onkel Leonard. All das waren Grundmerkmale, die Kit während seines ganzen Lebens wiederholt bei anderen Familienmitgliedern mit größeren oder geringeren Abweichungen gesehen hatte.

»Seit deiner Universitätszeit in Manchester - Studium der Medienwissenschaft, was auch immer das ist - hast du mal hier, mal dort gearbeitet und nichts gemacht, was wirklich von Wert -«

»Wer bist du?«, fiel Kit ihm ins Wort. »Woher weißt du das alles?«

»Aber das habe ich dir doch schon gesagt«, antwortete der alte Gentleman kichernd. »Ich bin dein Urgroßvater.«

»Ach ja? Etwa der Urgroßvater, der eines Morgens rausging, um in einem Geschäft einen Laib Brot zu kaufen, und niemals zurückkehrte? Derselbe, der 1893 in Marylebone seine Frau und drei Kinder verließ?«

»Du liebe Zeit, du weißt wirklich davon? Nun, beklagenswerterweise ... genau der bin ich. Allerdings wollte ich nicht einen Laib Brot kaufen, sondern Milch und Wurst.« Der Blick des alten Mannes wurde durchdringend. »Sag mir, weshalb bist du heute Morgen nach draußen gegangen?«

Kits Mund wurde ganz trocken.

»Hmm«, brummte der Fremde. »Was wolltest du besorgen? Eine Dose mit Bohnen? Eine Tageszeitung? Genau auf diese Weise geschieht es immer, siehst du das nicht?«

»Nein ...«, entgegnete Kit, der von Sekunde zu Sekunde verstörter wurde.

»Man kann sagen, dass es eine Familienschwäche ist. Oder ein Talent.« Der alte Mann trat einen Schritt auf Kit zu. »Komm mit mir.«

»Warum - bei allem, was heilig ist - sollte ich mit dir irgendwo hingehen?«

»Weil du, mein lieber Junge, ein einsamer siebenundzwanzigjähriger Junggeselle bist - mit einer wertlosen Ausbildung, einem langweiligen Job ohne Perspektiven, einem festgefahrenen Liebesleben und mit sehr geringen Aussichten, dein trauriges Los zu verbessern.«

»Wie kannst du es wagen, so was zu sagen! Du weißt überhaupt nichts über mich.«

»Im Gegenteil, ich weiß alles über dich, alter Schwede.« Der Greis kam noch einen Schritt näher. »Ich dachte, das hätten wir bereits bewiesen.«

»Ach ja? Was sonst noch?«

Der ältere Gentleman seufzte. »Ich weiß, dass du ein gestresster Arbeitsesel in einem Großraumbüro bist, das die Seelen der Menschen zerstört, die sich dort abquälen müssen. In den letzten neun Monaten hat man dich zweimal bei einer Beförderung übergangen. Vom letzten Mal weißt du übrigens nichts, weil sie sich noch nicht einmal die Mühe gemacht haben, es dir zu sagen.«

»Das glaube ich nicht.«

»Du verbringst viel zu viel Zeit alleine - und vor dem Fernseher. Und du wendest zu wenig Zeit auf, um den inneren Menschen zu kultivieren. Du lebst in einer armseligen kleinen Wohnung, die auch als No-go-Area bezeichnet wird und vor der all deine Freunde, die du immer weniger siehst, die Flucht ergriffen haben. Schon seit Langem leben sie mit ihren Frauen und Sprösslingen in Vororten. In der Liebe bist du über alle Maßen unglücklich. Du hast jetzt mehrere Jahre in eine Liebesbeziehung investiert, die - wie du selbst nur zu gut weißt - weder eine befriedigende Gegenwart noch eine aussichtsreiche Zukunft hat. Kurz gesagt, die Perspektiven für dein geselliges Dasein und für dein Privatleben sind die eines Gartenzwergs.«

Kit musste sich eingestehen, dass der alte Knacker - mit Ausnahme der nicht sehr witzigen Bemerkung über sein Liebesleben - der Wahrheit bemerkenswert nahegekommen war.

»Reicht das jetzt, oder soll ich weitermachen?«

»Wer bist du?«

»Ich bin der Mann, der gekommen ist, um dich von einem Leben der stillen Verzweiflung und der Reue zu erretten.« Erneut lächelte der Greis. »Komm, mein Junge! Lass uns bei einer Tasse Kaffee zusammensitzen und die Angelegenheit wie Gentlemen besprechen. Ich hatte sehr große Mühe, dich zu finden. Zumindest ein paar Minuten deines geschäftigen Lebens könntest du für mich erübrigen.«

Kit zögerte.

»Eine Tasse Kaffee und dreißig Minuten. Was würde dich das kosten?«

Angst und Neugierde rangen einen Moment lang gegeneinander. Die Neugierde gewann. »Einverstanden«, lenkte Kit ein. »Zwanzig Minuten.«

Die zwei marschierten los in Richtung Straße.

»Ich muss meine Freundin anrufen und ihr mitteilen, dass ich etwas später komme«, sagte Kit und zog sein Telefon aus der Tasche. Er klappte das Display auf, drückte die Kurzwahltaste für Minas Nummer und hielt sich das Handy ans Ohr. Als nichts passierte, blickte er auf das Display: Die Mitteilung KEIN NETZEMPFANG blinkte ihm entgegen. Er schwenkte das Handy in der Luft hin und her. Erneut schaute er auf das Display: Die winzigen Striche, die sonst den Signalempfang anzeigten, waren immer noch nicht zu sehen.

»Funktioniert es nicht?«, fragte der Alte mit klammheimlicher Genugtuung.

»Müssen die Gebäude sein«, murmelte Kit und zeigte auf die nahen Ziegelmauern auf beiden Seiten. »Die blockieren das Signal.«

»Zweifellos.«

Sie spazierten weiter. Als sie sich dem Ende der Gasse näherten, glaubte Kit ein Geräusch zu vernehmen, das ihm sogleich sehr vertraut und doch seltsam vorkam. Er benötigte ganze zwei Sekunden, um es zu identifizieren. War es das Lachen von Kindern? Nein, nicht Kinder. Das waren Möwen!

Er hatte jedoch wenig Zeit, sich darüber zu wundern. Denn in diesem Augenblick verließen sie die schummrige Gasse und betraten die verwirrendste und ungewöhnlichste Landschaft, die Kit jemals gesehen hatte.

Die Zeitwanderer
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