ZWEITES KAPITEL
Kit traute seinen Augen nicht. Vor ihm breitete sich eine Szenerie aus, die er bisher nur in Filmen zu sehen bekommen hatte: eine geschäftige Werft mit einem dreimastigen Segelschoner, der im Dock vertäut war, und dahinter eine glitzernde blaugrüne Bucht, die sich in einem gewaltige Bogen erstreckte. Die strahlende, sonnenüberflutete Luft war erfüllt von dem lauten, gackernden Geschrei der Möwen, die über dem Wasser schwebten und sich immer wieder nach unten stürzten, um Fischreste oder andere Abfälle zu ergattern. Fischer hatten ihre kleinen Boote am Kai befestigt und hievten Weidenkörbe voller silberner Fische nach oben, wo sie von Frauen entgegengenommen wurden, die blaue Hauben und über ihren langen Baumwollkleidern graue Umhänge trugen. Auf den beiden Seiten der groß angelegten Bucht erhoben sich breite schwarze Landzungen - zerklüftete Hügelketten, an deren Abhängen sich ein malerisches Städtchen aus kleinen weißen Häusern emporzog. Stämmige Männer, die in kurze, ausgebeulte Hosen und schlaff herabhängende Hemden gekleidet waren und Strohhüte auf den Köpfen trugen, schoben Handwagen oder fuhren mit Maultiergespannen das Ufer entlang. Sie halfen das große Schiff zu entladen und schafften in Sackleinen gewickelte Bündel fort.
Verschwunden war King's Cross mit seinen Bürotürmen und den schmalen, von Autos und Doppeldeckerbussen verstopften Straßen mit ihren zahllosen Coffeeshops, kleinen Lokalen, Wettannahmestellen und Zeitungsverkäufern; auch das Betjeman Arms, das Postamt und die Volkshochschule gab es nicht mehr. In der Ferne waren auch nicht mehr die imposanten Gebäude der einst weltbeherrschenden Metropole London zu sehen - oder ihre dichten Ansammlungen von Stadtteilen und Einkaufsvierteln, die durch große Straßen für den Durchgangsverkehr und durch vierspurige Autobahnen miteinander verbunden wurden.
Alles Vertraute, das für Kit als reale, konkrete Wirklichkeit mit absoluter Gewissheit existiert hatte, hatte sich in Luft aufgelöst. Und damit hatte auch sein eigenes Realitätsempfinden, gemäß dem handfeste Dinge unzweifelhaft existent waren, jegliche Sicherheit verloren. Die bekannte Umgebung war durch ein malerisches Küstenpanorama ersetzt worden, das so bezaubernd, so aufrüttelnd, so idyllisch und so anziehend aussah, dass es ein Gemälde in der Londoner Nationalgalerie hätte sein können. Dann aber traf ihn der Gestank - die strengen Ausdünstungen von Fischeingeweiden, verfaulendem Gemüse und von Teer. Ihm wurde ganz schummrig im Kopf, und er hatte ein flaues Gefühl im Magen.
Hastig drehte Kit sich um und sah, dass die Gasse immer noch existierte, immer noch schmal war und immer noch gerade verlief. Ihr Ende allerdings lag in dunklen Schatten verborgen, als ob dort ein schreckliches Geheimnis verdeckt werden sollte.
»Wo ...?«, fragte Kit und schluckte schwer. »Wo sind wir?«
»Du brauchst nicht zu sprechen, bevor du nicht dazu bereit bist.«
Kit wandte sich erneut um und richtete seinen erstaunten Blick auf das geschäftige Treiben vor ihm: das große Schiff, die muskulösen Hafenarbeiter, die Fischer in ihren Schlapphüten aus Filz, die Fischverkäuferinnen in ihren Holzschuhen und Kopftüchern. Verzweifelt bemühte er sich, mit dem Verstand zu verarbeiten, was seine Augen erblickten. Angesichts der schockierenden Veränderung der Realität suchte er Halt in äußerer Gelassenheit: »Was ist mit King's Cross passiert?«
»Alles zu seiner Zeit, mein lieber Junge. Kannst du gehen? Vielleicht sollten wir den Kaffee vergessen und stattdessen einen Drink nehmen. Hast du Lust auf ein Pint?«
Kit nickte.
»Es ist nicht allzu weit«, teilte der alte Gentleman ihm mit. »Hier entlang.«
Kit versuchte, sein aus der Fassung geratenes Ich in den Griff zu bekommen, und folgte seinem Führer in Richtung Hafen. Er hatte das Gefühl, als wollten die Beine ihm nicht mehr richtig gehorchen oder als wären sie nur geborgt und gar nicht mehr seine eigenen. Bei jedem seiner plumpen Schritte schien der Uferweg ins Schlingern zu geraten und sich zu verändern.
»Du kriegst das wunderbar hin. Als es mir zum ersten Mal passiert ist, konnte ich noch nicht einmal aufrecht stehen.«
Sie gingen an einer Reihe von winzigen Läden, Bootshäusern und einfachen Behausungen vorbei. Kit wurde schwindlig bei dem Versuch, alle Sinneseindrücke gleichzeitig zu verarbeiten. Als sie sich von dem übel riechenden Weg entfernten, wurde die Luft sauberer, obwohl sie immer noch von den Gerüchen des Meeres erfüllt war: Es roch nach Fisch und Seetang, nach nassem Hanf, Salz und Gestein.
»Um deine vorhergehende Frage zu beantworten«, nahm der Alte den Faden wieder auf, »dieser Ort wird Sefton-on-Sea genannt.«
Nach dem zu urteilen, was Kit sah, schien das Städtchen eine jener vergessenen Küstensiedlungen zu sein, in denen die Zeit stehen geblieben war, weil irgendein Gemeinderat beschlossen hatte, aus dem Fremdenverkehr Kapital zu schlagen. Oder vielleicht eher eine Ortschaft, die von der Zeit vergessen worden war. Sefton-on-Sea wirkte auf eine authentische Weise antiquierter und malerischer als jedes Fischerdorf an der Westküste, das Kit je zu Gesicht bekommen hatte. Wie ein Freizeitpark mit nachgestellten Szenerien, der alle anderen seiner Art in den Schatten stellte.
»Wir sind da«, sagte der alte Mann. »Folge mir! Wir beide werden uns einen Drink genehmigen und uns gegenseitig besser kennenlernen.«
Kit schaute sich um und stellte fest, dass sie vor dem Eingang eines echten Backsteinhauses standen, an dem ein bemaltes Holzschild mit der Aufschrift Old Ship Inn hing. Er ließ sich durch die Tür führen und betrat einen dunklen Raum mit niedriger Decke, einigen wenigen Tischen und Bänken sowie einer Bar mit Blechauflage. Ein paar Eingänge zu Nebenräumen waren zu erkennen. Der Pub wurde von einer stämmigen jungen Frau geleitet, die eine Haube aus schlichtem Leinen und eine lange weiße Schürze voller Bierflecken trug - eine wahrhaft überzeugende Kostümierung. Sie begrüßte die beiden Gäste mit einem Lächeln. In dem Raum befand sich sonst niemand.
»Zwei Pints von deinem Besten, Molly!«, rief der alte Mann und führte seinen fügsamen Begleiter zu einem Stuhl in der Ecke. »Setz dich, mein Junge. Wir werden dir jetzt etwas Bier einflößen. Danach fängst du an, dich mehr wie du selbst zu fühlen.«
»Kommst du öfters hierher?«, fragte Kit und zwang sich dabei, seine Stimme etwas unbeschwerter zu lassen. Oder versuchte es zumindest.
»Wann immer ich hier in der Gegend bin ... sozusagen.«
»Und diese Gegend hier ist wo? In Cornwall? Pembrokeshire?«
»Sozusagen.«
Die Bedienung erschien und trug zwei bis zum Rand gefüllte Zinnkrüge herbei, die sie auf den Tisch stellte.
»Danke, Molly«, sagte der Alte. »Hast du etwas zu essen da? Vielleicht etwas Brot und Käse?«
»Hinten bei uns gibt's noch Käse, un' ich kann wegen dem Brot zum Bäcker geh'n, wenn Ihr dat möchtet.«
»Würdest du das bitte tun? Dann bekommst du auch einen Penny zusätzlich. Bist ein braves Mädchen.«
Die junge Frau schlurfte davon.
Der weißhaarige Gentleman hob seinen Krug und sprach: »Auf zwielichtige Abenteuer mit anrüchigen Verwandten!«
Kit gelang es nicht, den Witz in diesem Trinkspruch zu erkennen, doch er freute sich über das Getränk. Er nahm einen kräftigen Schluck, füllte seinen Mund mit dem blumig-süßen Ale und ließ es die Kehle hinuntergleiten. Der Geschmack war auf beruhigende Weise vertraut, und nach einem weiteren Schluck fühlte es sich noch besser an.
»Wir sollten mit dem Anfang beginnen, nicht wahr?«, sagte der alte Mann und setzte seinen Krug ab. »Nun denn.« Er zeichnete mit seinen Zeigefingern ein unsichtbares Viereck auf die Tischplatte: »Was weißt du über die alten Spuren, die sich schnurgerade durch das Land ziehen?«
Kit hatte keine Ahnung, was der Alte meinte. »Na ja, so was ist wohl unübersehbar, oder?«, versuchte er Zeit zu gewinnen.
»Gut«, befand sein Urgroßvater. »Vielleicht war ja deine Erziehung doch nicht völlig nutzlos.« Erneut zeichnete er das Viereck. »Diese Pfade sind wie Trassen und bilden etwas, das man Weichen zwischen den Welten nennen könnte, und als solche -«
»Warte einen Moment!«, unterbrach ihn Kit. »Trassen und Weichen ... Sprechen wir vielleicht über Züge?«
»Züge!« Der Alte richtete sich auf. »Auch, du gütiger Himmel! Es hat nichts mit diesen Rauch ausstoßenden Ungetümen zu tun.«
»Oh.«
»Ich spreche von dem Alten Geraden Pfad - von jungsteinzeitlichen Wegen. Kurz gesagt, ich spreche über Ley-Linien.« Er beobachtete genau den Gesichtsausdruck des jungen Mannes. »Darf ich annehmen, dass du noch nie etwas davon gehört hast?«
»Äh ... nicht so genau«, erwiderte Kit ausweichend.
»Noch kein einziges Mal«, widersprach der Alte.
»Nein«, gestand Kit.
»Ach du meine Güte! Du meine Güte!« Der alte Mann betrachtete ihn mit einem missfälligen Blick. »Du hättest dich wirklich deinen Studien widmen sollen, junger Cosimo.«
Kit trank noch etwas mehr; mit jedem Schlückchen lebte er ein wenig mehr auf. »Also, was sind denn nun diese Leitlinien?«
Der alte Mann zog in dem unsichtbaren Quadrat eine gerade diagonale Linie. »Eine Ley-Linie«, er redete nun ganz langsam, so wie man vielleicht zu einem Hund oder begriffsstutzigem Kind sprechen würde, »ist etwas, das auch als Kraftfeld oder als Spur tellurischer Energie bezeichnet werden könnte. Es gibt Hunderte von ihnen, vielleicht sogar Tausende, und zwar überall in Großbritannien. Schon seit der Steinzeit. Ich dachte, du könntest schon einmal auf so etwas gestoßen sein.«
Kit schüttelte seinen Kopf.
»Die frühen Menschen erkannten diese Linien der Kraft und markierten sie in der Landschaft ... nun ja ... durch alles Mögliche: Stehende Steine - sogenannte Megalithen oder Menhire -, Gräben, Erdaufschüttungen, kleine Hügel, heilige Brunnen und derlei Dinge. Später dann durch Kirchen, Marktkreuze, Wegkreuzungen und was weiß ich nicht alles ...«
»He, warte einen Moment«, unterbrach ihn Kit. »Ich glaube, ich weiß jetzt, wovon du sprichst. Da gibt es so Leute, die an öffentlichen Feiertagen draußen in Wiltshire mit Zauberstäben und Tamburinen um uralte Steinblöcke herumlatschen, mit ihrem Singsang die Erdgöttin verehren und -« Plötzlich bemerkte er, dass der alte Mann ihn finster anblickte. »Doch nicht?«
»Noch nicht einmal annähernd. Diese armen, verblendeten Tölpel, die solchen neuheidnischen Quatsch daherfaseln, sind zu bemitleiden. Nein ...« Nachdrücklich schüttelte er den Kopf. »Wir sprechen nicht von irgendwelchem okkultistischen Unsinn, sondern von Wissenschaft - ungefähr in der Art von: ›Es gibt mehr Dinge im Himmel und auf Erden, als Eure Schulweisheit sich träumen lässt ...‹« Ein Leuchten trat in seine Augen, das ein wenig an das eines Wahnsinnigen erinnerte. »Wahrheit, mein lieber Junge. Wissenschaft!«
»K-korrekt«, stimmte Kit ihm zu, doch seine Stimme verriet seinen Argwohn. »Ich dachte, du hättest gesagt, es gehe um irgendeine Art von Kreuzungen zwischen den Welten.«
»Genau«, erwiderte sein Urgroßvater. »Weißt du, dieses Universum, das wir bevölkern, besteht aus unzähligen Galaxien - unzählig im Sinne des Wortes. Und das ist nur ein Universum.«
»Es gibt noch mehr?«
»O ja ... Möglicherweise. Vielleicht. Wir sind uns dessen nicht sicher.«
»Wir?«
»Die Quästoren. Aber was das bedeutet, soll dir jetzt egal sein; ich werde später darauf zurückkommen.« Der alte Mann schlug mit der Hand durch die Luft, als ob er so den Begriff beiseiteschieben wollte. »Nun denn - wo waren wir stehen geblieben?«
»Unzählige Galaxien«, antwortete Kit, der in seinen Krug starrte. Falls er auch nur einen Augenblick lang die Möglichkeit als denkbar empfand, dass er sich in einem netten Pub mit einem leutseligen alten Mann unterhielt, der nach realistischer Berechnung weit über hundertfünfundzwanzig Jahre alt sein musste ... Der rationale Gedanke löste sich in Luft auf und wurde durch eine ständig anschwellende Angst verdrängt. Und dieses Gefühl basierte nicht nur auf den absonderlichen, verrückten Abschweifungen des alten Knackers. Was Kit zum Schwitzen brachte, war etwas anderes: Trotz allem konnte er sich des Gefühls nicht erwehren, dass ihm hier ein Geheimnis offenbart wurde, welches er aus innerem Empfinden als wahr erkannte. Doch zugleich sagte ihm sein Instinkt, es würde weitaus einfacher und vor allem viel sicherer sein, wenn er dieses Geheimnis ignorierte - umso mehr, als er den starken Verdacht hegte, dass diese Wahrheit sein Leben von Grund auf verändern würde.
Andererseits war ihm bewusst, dass Cosimo vorhin mit seinen Ausführungen richtig gelegen hatte: Er, Kit, war nichts anderes als ein gestresster Arbeitsesel in einem Großraumbüro, ein untergeordnetes Rädchen in der tristen Maschinerie eines drittklassigen Unternehmens - jemand, den man einfach übersah, den keiner mochte und der bei dem großen Karrierespiel bereits aus dem Rennen war. Und wie hatte der Alte es noch gesagt? Er, Kit, war ein einsamer Junggeselle mit dem Liebesleben eines Gartenzwergs. Was hatte er also zu verlieren?
Kit löste sich von seinen grüblerischen Gedanken. »Nichts für ungut - aber wenn du wirklich mein Urgroßvater bist, warum bist du dann nicht schon längst tot?«
»Ich vermute, die einfachste Erklärung besteht darin, dass all das Hin- und Hereilen zwischen den Welten seltsame Auswirkungen auf den Alterungsprozess hat. Ley-Reisen scheinen das Altern in irgendeiner Weise zu hemmen.«
»Oh.«
»Können wir nun fortfahren?« Der alte Mann tauchte eine Fingerspitze in eine kleine Bierlache und zeichnete einen großen Kreis auf der Tischplatte. »Das sichtbare Universum mit seinen zahlreichen Galaxien füllt eine Dimension unserer gewöhnlichen Realität aus. Aber es gibt noch andere Dimensionen - viele sogar.«
»Wie viele?«
»Unmöglich zu sagen. Aber jede Dimension hat ihre eigenen Welten und Galaxien und so weiter. Und wir wissen, dass diese Dimensionen in Kontakt miteinander stehen. Sie berühren sich. Sie durchdringen sich gegenseitig. Und dort, wo eine Dimension eine andere berührt oder durch sie hindurchgeht, bildet sich in der Landschaft eine Kraftlinie.« Er schaute auf und sah, dass er mit seiner Erklärung auf totales Unverständnis traf. »Hast du jemals mit Seifenblasen im Bad gespielt?«
»Äh ... schon mal.«
»Nun, du kannst dir diese verschiedenen Dimensionen als Anhäufungen von Seifenblasen vorstellen. Dort, wo eine Blase eine andere berührt oder in sie eindringt, bildet sich eine Linie. Das stimmt wirklich - schau es dir beim nächsten Mal genau an.«
»Ich werde versuchen, mich beim nächsten Bad daran zu erinnern.«
»Wenn also jede Seifenblase eine Dimension wäre, könntest du dich entlang jener Linie von einer zur anderen bewegen.«
»Entlang einer Ley-Linie.«
»Genau.« Sein Urgroßvater lächelte. »Ich habe gewusst, dass du es verstehen würdest.«
»Verstehen wäre zu viel gesagt.«
»Du und ich, wir sind auf eine Art und Weise gereist, die noch zu erklären ist. Über eine Ley-Linie sind wir von einer Welt - oder Dimension - zur anderen gewandert.«
»Stane Way«, mutmaßte Kit, der begann, einen winzigen Teil von dem zu begreifen, was der alte Bursche erzählte. »Diese Gasse war eine Ley-Linie?«
»War und ist.« Der Alte lächelte triumphierend. »›Stane‹ - eine Ableitung des altenglischen Wortes für ›Stein‹ - ist buchstäblich der ›Steinweg‹: benannt nach der Reihe von Megalithen, die in einem früheren Zeitalter den Pfad markierten. Inzwischen sind die Steine verschwunden, aber der Weg ist immer noch da.«
Kit nahm einen weiteren Schluck aus dem Krug. Durch das Bier wurde er langsam mutig, sodass er es nun wagte zu widersprechen. »Sei's drum. Nehmen wir einmal an, dass alles, was du sagst, auf eine seltsame Weise wahr ist: Wie konnte es dann geschehen, dass eine solch gewaltige Entdeckung von keinem einzigen angesehenen Wissenschaftler bemerkt worden ist?«
»Aber sie ist keinesfalls unbemerkt geblieben«, entgegnete der alte Gentleman. »Die Menschen wissen davon seit -«
»Der Steinzeit. Ja, das hast du schon gesagt. Aber wenn es schon so lange bekannt ist, wieso macht man denn ein Geheimnis daraus?«
»Es ist von niemandem als Geheimnis bewahrt worden. Es ist so uralt, dass die Menschen es bei ihrer überstürzten Hast in die Modernität und den Fortschritt einfach vergessen haben. Es wurde aus dem Reich der Wissenschaft in das Reich der Folklore abgeschoben, könnte man sagen, sodass es nun eher eine Sache des Glaubens ist. Das heißt, manche Leute glauben an Ley-Linien, und manche eben nicht.«
»Die meisten glauben nicht an so etwas«, erwiderte Kit.
»Das ist wohl wahr«, pflichtete der alte Mann ihm bei und schaute auf, da Molly gerade eintrat. Sie erschien mit einem Holzteller, auf dem ein Haufen Schwarzbrotscheiben und ein paar Stücke hellgelber Käse lagen. »Danke schön, meine Gute.« Er nahm den Teller und bot ihn seinem Urenkel an. »Hier, schieb dir etwas davon zwischen die Kiemen. Es wird dein inneres Gleichgewicht wiederherstellen.«
»Danke.« Kit nahm eine Scheibe Brot sowie ein Stück bröckligen Käse. »Was wolltest du noch sagen?«
»Denk an die Pyramiden, Cosimo. Fantastische Werke - sie zählen zu den beeindruckendsten architektonischen Meisterstücken in der Weltgeschichte. Warst du jemals dort? Nein? Du solltest sie dir eines Tages ansehen. Eine erstaunliche Leistung! Selbst mit den heute zur Verfügung stehenden Kränen und Hydraulik- und Erdbaumaschinen wäre es ein Jahrhundertwerk, solche Bauten zu errichten. Aber mit den technologischen Möglichkeiten der alten Ägypter? Völlig unmöglich - meinst du nicht auch?«
»Klingt jedenfalls so.« Kit zuckte mit den Schultern. »Worauf willst du hinaus?«
»Der Punkt ist, mein lieber Junge, dass es sie tatsächlich gibt! Obwohl niemand heute noch weiß, wie man sie erbaut hat, und obwohl die Methoden ihrer Konstruktion, die einst weit verbreitete Kenntnisse waren, mit der Zeit verloren gegangen sind, sind die Pyramiden da. Sie stehen einfach in der Landschaft, vor aller Augen. Und genau so ist es mit den Ley-Linien. Sie waren tot und vollkommen vergessen wie die Menschen, die sie einst markiert und genutzt hatten - bis sie in neuerer Zeit wiederentdeckt wurden. Doch genau genommen sind die Ley-Linien viele Male wiederentdeckt worden. Alfred Watkins war nur ihr letzter Entdecker.«
»Alfred wer?«
»Watkins. Der gute Alf war ursprünglich Fotograf, und zwar kein schlechter. Hatte ein Auge für Landschaften. In den Anfangstagen des Fotografierens reiste er zu Pferde herum und schoss mit seiner Kamera Bilder: blubbernde Moore, in Nebel gehüllte Berge und ähnliche Motive. Das half ihm gewaltig bei seiner Entdeckung.« Der alte Mann biss ein Stück Käse ab und fuhr dann fort: »Er machte eine detaillierte Untersuchung über Ley-Linien und veröffentlichte ein Buch darüber.«
»Ich verstehe«, meinte Kit. »Aber wie dem auch sei - ich kann nicht erkennen, was all das mit mir zu tun hat.«
»Ach ja, darauf wollte ich gleich kommen, junger Cosimo.«
»Und das ist noch so eine Sache«, beschwerte sich der junge Mann. »Schon einige Male hast du mich Cosimo genannt.«
»Cosimo Christopher Livingstone - ist das nicht dein Name?«
»Zufällig ja. Aber ich ziehe es vor, Kit genannt zu werden.«
»Die Kurzform von Christopher. Ich verstehe.«
»Ich weiß zwar nicht, wie es bei dir war, aber wo ich zur Schule gegangen bin, hat ein jeder, der mit einem Namen wie Cosimo herumgelaufen ist, quasi darum gebeten, ihm den Kopf in eine Kloschüssel zu stecken.«
»Schade!«, schnaubte der alte Gentleman. »Wirklich traurig. Namen sind schließlich sehr wichtig.«
»Es ist sicher nur eine Frage des Geschmacks.«
»Das ist es keineswegs«, erwiderte der ältere Cosimo. »Die Leute benennen einfach sämtliche Arten von Dingen, ohne viel darüber nachzudenken - das gebe ich zu. Eine aktuelle Laune, pure Unwissenheit oder eine plötzliche Eingebung, all das mag dabei eine Rolle spielen. Aber wenn irgendjemand ahnen würde, von welcher gewaltigen Bedeutung die Namengebung einst gewesen war, nähme man diesen Vorgang sehr viel ernster. Hast du gewusst, dass es Stämme im Dschungel von Borneo gibt, die sich weigern, einem Kind einen Namen zu geben, bevor es vier Jahre alt geworden ist? Verstehst du? Ein Kind muss sich weit genug entwickelt haben, um die Eigenschaften zu zeigen, durch die es sich auch als Erwachsener auszeichnen wird. Dann wird das Kind nach diesen Merkmalen benannt. Das ist eine Methode, um wünschenswerte Charaktereigenschaften zu verstärken und sicherzustellen, dass sie im Stamm nicht verloren gehen.«
»Aber ... Cosimo?«
»Ein schöner Name. Daran ist nichts verkehrt.« Der alte Mann musterte seinen jungen Verwandten mit ernstem Blick. »Nun, ich nehme an, dass du nicht ganz unrecht hast.«
»Wirklich?«
»Schließlich können wir nicht beide Cosimo genannt werden. Da wir zwei von nun an sehr viel Zeit miteinander verbringen werden, würde es alles viel zu mühsam und verwirrend machen.« Er klopfte mit den Fingerspitzen auf den Tisch. »Also gut dann - bleiben wir bei Kit.«
Obgleich er den Grund dafür nicht zu nennen vermochte, fühlte Kit sich ein wenig erleichtert, dass er in diesem Punkt die Oberhand behalten hatte. »Du hast mir immer noch nicht gesagt, was all das mit mir zu tun hat.«
»Man könnte sagen, es handelt sich um eine Familienangelegenheit. Hier bin ich - dein lieber Ur-Opa.« Der alte Mann blinzelte Kit zu und lächelte entwaffnend. »Und ich brauche deine Hilfe bei einem Projekt, an dem ich bereits seit längerer Zeit arbeite. Du bist das Einzige an Familie, was mir geblieben ist.«
Kit dachte darüber nach. Trotz allem konnte er immer noch kaum glauben, dass es auch nur eine rudimentäre familiäre Verbindung zwischen ihm und diesem Relikt aus der Vergangenheit gab, das ihm am Tisch gegenübersaß. Sein Gesichtsausdruck verriet seinen Zweifel.
Der alte Mann beugte sich nach vorne und umfasste Kits Hände.
»Du musst eines begreifen, junger Cosimo ...«, flüsterte er mit ernster Stimme, die heiser und eindringlich klang. »Entschuldigung ... Kit. Es wird das Abenteuer deines Lebens sein - ein Abenteuer für mehr als ein Leben. Und es wird dich für immer verändern.« Der alte Gentleman schwieg kurz; immer noch hielt er die Hände des Jüngeren und starrte ihn mit fiebrigem Blick an. »Ich brauche dich, mein Junge. Und ich habe mir sehr viel Mühe gemacht, um dich zu finden. Nun, was sagst du dazu?«
»Nein.« Kit schüttelte den Kopf, als ob er gerade aus einem Traum erwachen würde. Er befreite seine Hände aus der Umklammerung, fuhr sich mit ihnen durch die Haare und packte seinen Krug. »Das ist verrückt. Es muss sich um irgendeine Art von Halluzination handeln - ja, genau das ist es. Bring mich zurück. Ich will nach Hause.«
Der ältere Cosimo seufzte. »Also gut - wenn es das ist, was du wünschst.«
Kit atmete erleichtert auf. »Du meinst es wirklich ernst?«
»Natürlich, mein lieber Junge. Ich werde dich zurückbringen.«
»Schön.«
»Es gibt nur etwas Seltsames an dieser Geschichte: Ich denke, du wirst herausfinden, dass es kein Zurück gibt, sondern immer nur ein Weiter. Trotzdem - wenn es das ist, was du möchtest. Trink aus, und dann lass uns gehen.«
Kit schob seinen Krug zur Seite und stand auf. »Ich bin bereit.«
Der alte Mann erhob sich, wühlte in seiner Manteltasche und holte zwei Münzen daraus hervor. Er schnipste sie dem Mädchen zu, das sie bedient hatte, und versprach, wieder hier einzukehren, wenn er das nächste Mal vorbeikomme.
Sie gingen hinaus und spazierten wieder durch das Hafengelände. Schließlich kamen sie zu der schmalen Gasse, die hier zwischen zwei Lagerhäusern endete.
»Wir sind da«, sagte der ältere Cosimo. »Du brauchst nur den Weg entlangzugehen, und im Nu wirst du zu Hause sein.«
»Danke.« Ohne auch nur einen Augenblick zu zögern, begann Kit, die Gasse entlangzulaufen.
Als er in den Schatten zwischen den beiden großen Gebäuden eilte, hörte er, wie der alte Gentleman hinter ihm herrief: »Wenn du deine Meinung ändern solltest, weißt du ja, wo du mich finden kannst.«
Nein, danke, fuhr es Kit durch den Kopf, während er weiter durch die enge Gasse hastete. Er warf einen Blick über die Schulter und sah, dass der Eingang bereits weit weg war und im Dunklen lag. Ein böiger Wind wehte durch die schmale Häuserschlucht, und die Schatten wurden immer düsterer. Am Himmel zogen urplötzlich Wolken auf, und es begann zu regnen; zudem fielen spitze, stechende, kleine Hagelkörner wie Geschosse von oben herab.
Über den Geräuschen des sich rasch zusammenbrauenden Sturms vernahm Kit die weit entfernte und doch klare Stimme seines Urgroßvaters: »Lebe wohl, mein Junge. Bis wir uns wiedersehen!«