DRITTES KAPITEL
Nass bis auf die Haut und vollkommen desorientiert tauchte Kit aus dem Stane Way auf. Er hatte das Gefühl, als hätte er gerade einen kleinen Ausflug durch eine Autowaschanlage gemacht - allerdings ohne in einem Fahrzeug zu sitzen. Während er sich das Wasser aus dem Gesicht wischte, stolperte er vorwärts und wäre beinahe mit einer jungen Mutter zusammengestoßen, die einen Kinderwagen vor sich herschob. »Tut mir leid!«, sprudelte es aus ihm heraus. Die Frau funkelte ihn zornig an, als er unverzüglich weiterhastete.
Kit blickte sich um: Die Bürgersteige waren von großen Gebäuden gesäumt, und der Verkehr wälzte sich durch die Straße. Er war zurück.
Erleichterung durchfuhr ihn. Es hat funktioniert, dachte er. Ich bin wieder zu Hause!
Ohne Vorwarnung wurde ihm plötzlich übel, und der Inhalt seines Magens wurde nach oben gepresst. Rasch hielt er sich die Hand vor den Mund, taumelte zum nächsten Rinnstein und übergab sich.
»Wie widerlich«, murmelte ein Mädchen im Teenageralter, das in diesem Moment an ihm vorbeistolzierte. Sie und ihr Freund machten einen großen Bogen um ihn. »Werd endlich erwachsen, Ekelpaket!«
Ich versucht, sagte sich Kit im Stillen. Er spie noch einmal aus und wischte sich anschließend den Mund mit dem Ärmel ab. Das Gefühl, seekrank zu sein, ließ allmählich nach. Er schickte sich an, auf wackligen Beinen zu seiner Wohnung zurückzukehren, um seine Kleidung zu wechseln. Doch auf halber Strecke gab er seinen Plan auf. Er drehte sich um und ging nun Richtung Clapton, wo Mina auf ihn wartete. Seine Kleidung würde auf dem Weg dorthin trocken werden.
Während er so bei normalem Tageslicht durch vertraute Straßen eilte, war es ihm beinahe möglich, sich selbst einzureden, dass die ganze Serie von unwirklichen Geschehnissen eher durch irgendeine Form von eigenartigem Wahn hervorgerufen worden war als durch reale Sachverhalte. War die Fremdartigkeit des Erlebten nicht etwas gewesen, das genau den absonderlichen Eigenschaften eines Traumes entsprach? Das stimmt wirklich, redete er sich ein. Und war es nicht allgemein bekannt, dass Halluzinationen oftmals außerordentlich lebendig wirkten? Offensichtlich war der ganze Vorfall eine Halluzination, die durch eine starke Unzufriedenheit verursacht worden war - ausgelöst durch Erschöpfung und angetrieben von Gefühlen der Frustration. Und trotzdem ...
Und trotzdem besaßen die Geschehnisse nicht die surreale, halluzinatorische Qualität eines Traumes. Der Boden an jenem Ort hatte sich unter seinen Füßen völlig fest angefühlt; die Sonnenstrahlen, die Kit auf seinem Gesicht gespürt hatte, waren so warm wie immer gewesen und die Gerüche in der Luft typisch für die See. Dies und alles andere hatte er als so real empfunden wie die Welt, die er sonst im Wachzustand erlebte - als so fest und wirklich wie das Pflaster des Londoner Bürgersteigs, über das er gerade ging. Was von dem, das er erlebt hatte, ähnelte einem Traum?
Aber was sonst könnte es gewesen sein? Kit hatte über Alternativwelten und Ähnliches gelesen. Aber waren das nicht bloß überspitzte Spekulationen von theoretischen Physikern, die zu viel Zeit besaßen und zu viele öffentliche Fördermittel erhielten? Jedenfalls konnten Menschen nicht so einfach, wie es ihnen gefiel, unvermittelt an einem Ort verschwinden, plötzlich an einem anderen auftauchen und jederzeit ebenso rasch wieder zurückkehren. Nein, es musste irgendeine Art von Geistesverwirrung gewesen sein - zugegebenermaßen in einer extremen Form. Vielleicht eine Hysterie. Oder waren es die Folgen einer Hypnose? Möglicherweise hatte der alte Cosimo ihn hypnotisiert und ihn dazu gebracht, sich das Städtchen an der Küste und alles andere auch vorzustellen. Als Kit dies bedachte, drängte sich eine andere, düstere Aussicht in seine Überlegungen: Bin ich vielleicht schizophren?
Zunächst weigerte sich Kit, diese Möglichkeit in Betracht zu ziehen. Nichtsdestoweniger war er gezwungen, sich einzugestehen, dass Leute, die unter einer derartigen psychischen Störung litten, oft Menschen sahen, die in Wirklichkeit gar nicht anwesend waren, und sich sogar mit ihnen unterhielten. Zudem hatten diese Geistesgestörten große Schwierigkeiten, ihre Umwelt zu erkennen. Auch war es eine Tatsache, dass die Schizophrenie häufig bei jungen Männern seines Alters erstmals zutage trat - und das ohne jede Vorwarnung. Die Folgen waren genau jene Arten von Dislokation und Orientierungsstörung, die er erfahren hatte.
Doch welche Erklärung auch zutreffen mochte: Je weniger er über diese sogenannten Reisen erzählte, umso besser. Er würde sich dabei nur den Mund verbrennen. So viel war klar. Er würde, so schwor er sich, eher unter der Folter sterben - mit roten, heißen Schürhaken in den Augen -, als irgendjemandem offenbaren, was er erlebt hatte.
Als Kit die nächste U-Bahn-Station erreichte, wischte er seine Oyster card über das Lesegerät vor der Eingangsschranke und erhielt abermals die gefürchtete Anzeige WENDEN SIE SICH AN DIE AUFSICHT. Anstatt sein vorheriges Abenteuer zu wiederholen, erstand er pflichtgemäß aus einem der Ticketautomaten eine Fahrkarte. Mit ihr kam er durch die Eingangsschranke und eilte dann die Stufen zum Bahnsteig hinunter. Nachdem der Zug hereingerauscht war, stieg Kit ein und suchte sich einen Platz.
Die anschließende Fahrt nach Clapton verlief ereignislos. Er stieg aus und ging geradewegs zu Wilhelminas Wohnung. Inzwischen hatte er den festen Entschluss gefasst, das ganze seltsame Zwischenspiel hinter sich zu lassen und es zu vergessen. Niemals in seinem gesamten Leben würde er gegenüber einem anderen Menschen auch nur mit einem einzigen Wort andeuten, was ihm vorhin geschehen war. Während des ganzen Weges zum Hochhaus-Wohnsilo seiner Freundin und zu ihrer Eingangstür hatte er diesen Entschluss im Kopf.
Er klopfte an.
Ein Klicken war zu hören, dann schwang die Tür auf. »Gibt es dich auch noch?«
»Was? Kein Kuss? Kein fröhlicher Gruß?«
Wilhelmina runzelte die Stirn. Dann gab sie ihm einen sehr flüchtigen, trockenen Kuss auf die Wange. »Trotzdem - warum kommst du so spät?«
»Ja, tut mir leid. Ich hatte diesen -« Er hielt abrupt inne und dachte kurz nach. »Ich meine, meine Oyster card war leer, und so musste ich zu Fuß gehen.«
»Und dafür hast du acht Stunden gebraucht?«
»Hä?«, stieß er verblüfft aus. »Nein, nicht wirklich.«
Sie gab den Eingang frei. Kit trat ein und streifte seine klammen Schuhe ab. Ihre Wohnung war für Londoner Verhältnisse ziemlich geräumig und so sauber wie das Behandlungszimmer einer Dentalhygienikerin - und beinahe auch genauso kalt. Wilhelmina war absolut sauber und ordentlich: Das verdankte sie möglicherweise der Tatsache, dass sie wirklich einmal Dentalhygienikerin gewesen war. Allerdings hatte sie diesen Beruf nur kurz ausgeübt - sie war dabei einfach mit zu vielen Leuten und zu vielen Mündern in Kontakt gekommen. Daher hatte sie ihren Job aufgegeben, um Bäckerin zu werden.
Somit füllte sie immer noch die Münder der Leute, allerdings in einer ganz anderen und für sie sehr viel befriedigenderen Weise.
Als Kit zuschaute, wie sie sich wieder auf ihrem großen blauen Sofa zusammenkrümmte, das ihr ständiges Nest darstellte, sagte er sich zum wiederholten Male, dass er sich bei der erstbesten Gelegenheit eine bessere Freundin an Land ziehen müsse. Mina war mit einer schwarzen Schlabberhose und einem gleichfarbigen Rollkragenpulli bekleidet; dazu trug sie wie immer den schrecklichen, schäbigen, handgestrickten lilafarbenen Schal, und ihre Füße hatte sie in schaflederne Stiefel mit flachen Absätzen gesteckt - ein Outfit, in dem sie wie eine Doppelgängerin der anämischen Tochter eines Leichenbestatters aussah. Warum, fragte er sich, musste sie so schmucklos und herb aussehen? Was war mit ihrem Lebensschwung geschehen? Wenn er die Eigenschaften aufzählte, die er sich bei einer Freundin wünschte, standen Schwung und Elan, Lebensfreude, Leidenschaftlichkeit und Intelligenz ganz oben auf der Liste. Wilhelminas Vorstellung von Begeisterung bestand in einer Extrabeigabe von Sultaninen in den Zimthefeschnecken. Ihr Verstand mochte ja scharf genug sein - falls es jemand schaffte, sie lange genug wachzuhalten, um ihr eine intelligente Konversation zu entlocken.
Ihr Job bei Giovanni's Rustic Italian Bakery - »Unsere Spezialität: Handwerkerbrote« - brachte es mit sich, dass sie jeden Werktag schon in den frühen Morgenstunden aufstand. Denn sie musste um vier Uhr bei der Arbeit sein, um die Backöfen zu heizen und den ersten Teig des Tages zu mischen. Mittags direkt nach eins beendete sie ihre Arbeit, abends um sechs war sie vollkommen erschöpft, und gegen acht schlief sie in der Regel bereits tief und fest. All das bedeutete: Wenn man mit ihr zusammen war, war sie entweder gerade dabei zu gähnen, ein Gähnen zu unterdrücken, oder sie hatte soeben gegähnt. Wäre Schlafen eine olympische Disziplin, würde Wilhelmina Klug dem britischen Olympia-Team angehören.
Ihre Augenlider hingen herab - ebenso wie ihre Schultern. Wie viele groß gewachsene Mädchen hatte sie eine nach vorn gebeugte Haltung mit runden Schultern entwickelt, die sich mit der Zeit zu einem Witwenbuckel ausbilden würde. Bei Wilhelmina allerdings, für die eine Ehe sehr weit entfernt zu sein schien, würde es ein Junggesellinnenbuckel sein.
Alles an ihr zog sich zurück. Selbst ihr Kinn wich zurück.
Ihr Haar erinnerte an das einer Maus - sowohl von der Farbe als auch von der Beschaffenheit her: Es war sehr dünn, blank gewetzt und ein wenig struppig. Zudem trug sie es auf eine geradezu aggressive Weise kurz. Umso besser könne man es vom Teig fern halten, behauptete sie; doch die Frisur war alles andere als schmeichelhaft. Sie hatte große, dunkle Augen, die vielleicht, für sich genommen, hübsch gewesen wären, wenn es nicht die dazu passenden großen, dunklen Augenringe gegeben hätte.
Wilhelmina war kein guter Fang. Einer von Kits Kollegen, der an einem der seltenen gemeinsamen Abende mit dem unglücklichen Paar zusammen gewesen war, hatte es anschließend so formuliert: »Mit Blick auf Wärme und Zuneigung, mein Freund, wärst du mit einem Paar Frettchen und einer Wärmflasche besser dran.«
Kit konnte ihm nicht widersprechen.
Aber bis etwas Besseres vorbeikommen würde, war sie seine Freundin. Und trotz ihrer vielen offensichtlichen Fehler und trotz seines ständig neu gefassten Entschlusses, sich nach einer besseren Partnerin umzusehen, kreuzte er unerklärlicherweise immer wieder vor ihrer Wohnungstür auf. Es war, als ob seine Füße ein eigenes Bewusstsein hätten und nicht allzu wählerisch dabei wären, unter wessen Tisch sie sich abstellten.
»Ja, was denn nun?«, fragte sie.
»'tschuldigung? Hab ich was verpasst?«
»Schon vergessen, du Blödmann? Du hattest mir versprochen, heute Morgen mit mir einkaufen zu gehen. Du wolltest mir helfen, Vorhänge für das Bad auszusuchen.«
»Nun, hier bin ich. Lass uns losgehen.«
»Ist das ein lahmer Versuch von dir, witzig zu sein?«
»Sonntagmorgen - und das Geschäft, zu dem du gehen willst, ist John Lewis, nicht wahr? Also, lass uns aufbrechen und ein paar Vorhänge aussuchen.«
»Jetzt verarschst du mich, oder? Du weißt nämlich ganz genau, dass sie sonntags um fünf schließen.«
»Augenblick!« Er trat näher heran. »Was hast du gesagt?«
Verbittert blähte sie ihre Wangen auf. »Ich bin zu müde für so etwas.«
»Nein, ich meine es ernst. Wie viel Uhr ist es?«
»Es ist halb fünf, verdammt noch mal!« Sie starrte ihn zornig an, eine Frau am Rande des Wutausbruchs, doch dann fiel sie auf der Couch in sich zusammen. »Du Schwachkopf.«
»Das kann nicht sein.« Kit zog sein Handy aus der Hosentasche und blickte auf das Display. Er sah die Ziffer Vier, gefolgt von zwei Dreien - und spürte einen Anflug von Fassungslosigkeit. Rasch schob er das Telefon in die Tasche zurück.
»Willst du mich verarschen? Du hast dich den ganzen Tag irgendwo rumgetrieben, und als einzige Entschuldigung sagst du locker: ›Ach nee, da hab ich doch glatt vergessen, wie viel Uhr es schon ist ...‹ Das ist jämmerlich.« Sie rollte ihre großen braunen Augen. »Kannst du dir nichts Besseres einfallen lassen?«
»Nein, wirklich, Mina.« Plötzlich wollte Kit unbedingt etwas erklären. »Hör mir zu, da ist etwas passiert ...«
»Natürlich ist was passiert. Ich habe die Möglichkeit verpasst, an dem einzigen Tag der Woche, den ich frei habe, einkaufen zu gehen. Und das nur wegen dir! Wo bist du überhaupt gewesen? In einem Pub? Ich habe versucht, dich anzurufen, doch ich bekam keine Verbindung mit deinem Handy.«
»Wir gehen nächste Woche«, schlug er vor.
»Nein, danke. Dann geh ich lieber alleine - wie üblich.«
»Nein, Mina, hör mir zu! Ich versuche doch, dir die Wahrheit zu sagen.« Noch während er sprach, konnte er spüren, wie sich sein früherer Entschluss in der Hitze von Minas gerechter Empörung in Luft auflöste. Er setzte sich neben sie auf die Couch. »Etwas ist passiert. Ich habe es selbst nicht geglaubt ... Ich bin sogar immer noch nicht sicher, ob ich es tatsächlich glaube. Aber ich kann alles erklären. Wirklich!«
»Da bin ich aber gespannt!«, blaffte sie. Dann verschränkte sie die Arme über ihrer tief liegenden Brust, stieß ihr Kinn vor und sah ihn trotzig an. »Dann leg mal los.«
»In Ordnung.« Sein Schwur, nichts über seine Halluzination auszuplaudern, verblasste nun angesichts der Notwendigkeit, dass Mina ihm Glauben schenkte. »Aber du darfst es niemandem weitererzählen, versprochen?«
»Ja klar. Als ob ich so was tun würde!«
»Nun, ich war auf dem Weg hierher, doch auf meiner Oyster war nichts mehr drauf ...« Sie öffnete schon den Mund, um zu protestieren, doch er schnitt ihr das Wort ab, noch bevor sie eines aussprach. »Nein, jetzt sei still und hör mir zu! Der Ticketautomat wollte meinen Geldschein nicht annehmen, und ich konnte kein Kleingeld bekommen, klar? Also habe ich mich entschieden, zu Fuß zu gehen. Unterwegs kam ich am Eingang zu einer kleinen Seitengasse vorbei und beschloss, eine Abkürzung zu nehmen. Plötzlich gab es einen schrecklichen Sturm, mit starkem Regen und Hagel: Und genau da wurde es bizarr. Aber du musst mir glauben - ich sage die Wahrheit, ich schwöre es ... Ich habe meinen Urgroßvater getroffen.«
»Deinen was?« Ihre Stimme klang schrill.
»Meinen Urgroßvater ... Ich habe ihn getroffen ...«
»Ich wusste ja gar nicht, dass du noch einen Urgroßvater hast.«
»Ich auch nicht. Es hat sich herausgestellt, dass er auch Cosimo heißt. Und er hat mich zu einem altmodischen Pub geführt, der in einem Küstenort namens Sefton-on-Sea ist, und er -«
»Wie seid ihr denn dorthingekommen?«, verlangte Wilhelmina zu wissen.
»Wir sind gelaufen«, antwortete er ausweichend.
»Den ganzen Weg von London aus?«
»Nun ja, irgendwie schon.«
Ihre Augen verengten sich. »Was meinst du mit ›irgendwie schon‹?«
Er hatte gehofft, den Teil seines Erlebnisses nicht ansprechen zu müssen, da er mit Recht fürchtete, dass sie ihm nicht glauben würde. »Die Sache ist so«, gestand er. »Ich bin mir nicht genau sicher, was passiert ist.«
Ihre Augen verengten sich noch mehr.
»Was auch immer es war, es geschah, als wir in dieser Gasse waren. Es hat etwas mit Ley-Linien und ähnlichem Zeug zu tun. Verstehst du ... Wir gingen immer weiter, und als wir das Ende der Gasse erreichten, waren wir ... anderswo.«
»Anderswo?« Minas Augen verengten sich nun zu Schlitzen, die größten Argwohn zum Ausdruck brachten. »Junge, du gibst es nicht auf, was.«
»Ich glaube, wir waren in Cornwall«, fuhr Kit fort. »Oder Devon.« Er sah, wie sich ihr Gesicht versteinerte; sie war fassungslos. »Möglicherweise auch Pembrokeshire. Jedenfalls sind wir auf diese Weise in dieses antiquierte Fischerdorf und den Pub gekommen.«
Mina schüttelte ihren Kopf.
»Du glaubst mir nicht.«
»Oh, ich glaube dir«, erwiderte sie mit süßlicher Stimme. Dann brüllte sie verärgert: »Du Idiot! Warum sollte ich diesen Haufen Blödsinn glauben? Gib mir einen guten Grund dafür.« Sie starrte ihn herausfordernd an. »Aber lüg mich nicht an!«
Dass sie ihm nicht glaubte, ärgerte ihn; und er wurde von einem heftigen Drang erfasst, ihr alles verständlich zu machen. In diesem Augenblick begriff Kit, dass er die Last seines Erlebnisses nicht alleine tragen konnte. Es zählte jetzt nur eines: Sie sollte wissen, dass er die Wahrheit sagte - als ob es das Geschehene auch für ihn glaubhafter machen würde, wenn er einen anderen Menschen dazu bringen könnte, es zu akzeptieren.
Diese Überzeugung überfiel ihn mit solcher Macht, dass er auf die Füße sprang und erklärte: »Ich werde etwas viel Besseres machen, als dir einen guten Grund zu geben. Ich werde es dir zeigen.«
»Ja klar.« Sie gähnte. »Zieh eine andere Nummer ab.«
»Nein, wirklich. Ich werde es dir zeigen.« Er marschierte durch den Raum und hob ihren grünen Blazer vom Kleiderständer. »Hier, zieh das an. Es wird wahrscheinlich regnen, wenn wir dorthinkommen.«
»Meinetwegen. Der Tag ist eh im Eimer.« Sie gähnte erneut, erhob sich lethargisch und tapste hinter ihm her. »Wie hieß noch mal der Ort, wo wir hingehen?«
»Du wirst schon sehen.«
Wenig später, nach einer kurzen Fahrt mit der U-Bahn, gingen die beiden die Grafton Street entlang und suchten den Stane Way.
»Es ist genau hier in der Gegend«, versicherte Kit.
»Ich kann nicht glauben, dass ich mich von dir hab bequatschen lassen«, maulte Mina. »Als ob ich nichts Besseres zu tun hätte.«
»Ehrlich, du hast nichts Besseres zu tun«, erwiderte er. Ihre Missmutigkeit zwang ihn, ein leidenschaftlicher Verfechter der Expedition zu werden. »Glaub mir, das wird wirklich Spaß machen.«
»Hör auf, so was zu sagen, denn sehr spaßig war es bis jetzt nicht.«
»Komm schon, Mina«, umgarnte er sie. »Denk doch nur: Du wirst eine bezaubernde Landschaft zu sehen bekommen, irgendwo einen netten Nachmittagstee trinken und einen Spaziergang an der frischen Seeluft genießen. Es wird dir gefallen. Ganz bestimmt.«
Als Antwort guckte sie mürrisch und verpasste ihm einen Schlag auf den Arm.
»Au! Wofür war das?«
»Ich habe dich gewarnt«, antwortete sie und schob ihre Hände tief in die Taschen ihrer Jacke. »Ich jedenfalls will nicht an die Küste. Nein, danke!«
»Du musst das einfach sehen.«
»Er wird also dort sein?«
»Wer?«
»Dieser Typ!«
»Du meinst meinen Urgroßvater?«
»Wen sonst?«
»Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Andererseits - vielleicht doch.« Er zuckte die Schultern. »Ich weiß es nicht.«
»Wenn ich sagen würde, dass ich dir glaube - müssen wir das hier dann durchziehen?«, fragte Mina vorsichtig.
»Bei dir klingt es wie eine Tortur«, entgegnete er. »Es wird« - er sah ein gefährliches Glimmen in ihren Augen und änderte schlagartig seine Taktik - »eine lehrreiche Übung sein.«
Sie spazierten weiter. Wenige hundert Yards weiter entdeckte Kit das Straßenschild STANE WAY. »Schau! Hier an dieser Stelle ist es passiert - oder zumindest in der Nähe.« Er bog in die lange, dunkle Gasse ein. »Dieser Weg, hier war's. Und hab keine Angst: Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht.«
Sie gingen eine kurze Strecke schweigend nebeneinander. Die Schatten um sie herum wurden immer dunkler.
»Meine Güte, das ist ja wirklich ein hübsches Fleckchen«, spottete Mina und trat über eine Plastiktasche hinweg, aus der Sandwichbehälter und Tüten mit Knabberzeug auf den Bürgersteig gefallen waren. »Warum hast du mich nicht früher schon einmal hergebracht?«
»Geh einfach nur weiter.«
»Das wirst du bei mir wiedergutmachen müssen, mein Junge«, erklärte Mina drohend. »Und zwar mit mehr als nur einer Tasse Tee und Gebäck, das du in der Mikrowelle aufgetaut hast.«
Kit marschierte nun mit übertrieben großen Schritten in der Mitte der Gasse. Sie folgte ihm und imitierte - mehr aus Langeweile denn aus Überzeugung, dass es irgendeinen Sinn hätte - seine Art zu gehen.
»Ich weiß nicht, ob es funktionieren wird!«, rief Kit über die Schulter hinweg. »Es muss ungefähr hier gewesen sein, als es passierte.«
»Als was genau passierte?«
»Dieser heftige kleine Sturm, der wie aus dem Nichts aufkam und -«
»Was?«, fragte sie mit lauter Stimme, um trotz des brausenden Windes gehört zu werden, der in diesem Moment durch die Gasse blies.
»Ich sagte ...«, schrie er zurück, »dass plötzlich ein Sturm aufkam -«
»Du meinst, so wie jetzt?«, brüllte sie, so laut es ihre Lungen zuließen.
Kit hielt an. Der Sturm! Schwarze Wolken ballten sich über ihnen zusammen, und ein stürmischer Wind pfiff laut durch die Gasse, die wie eine Kluft zwischen Gebäuden wirkte. Dann begann es zu regnen. »Genau so!«, schrie er. »Fühlst du es?«
»Was?«, rief Wilhelmina. Sie strengte sich an, trotz des unheimlich kreischenden Sturms etwas zu hören und gehört zu werden.
»Mir nach!«, brüllte er. »Bleib dicht hinter mir! Du willst bestimmt nicht verloren gehen.«
Er begann zu laufen, um aus dem Regen herauszukommen. Er spürte, dass der Weg unter ihm seine feste Form verlor: Es war, als würde er über den Boden einer Hüpfburg joggen. Im selben Augenblick vermochte er nur noch verschwommen zu sehen und fühlte, wie er stürzte - nicht weit nach unten, wie sich herausstellte: Es war so, als ob er von einer Treppenstufe auf den Boden fallen würde.
Er wischte sich mit den Handballen das Wasser aus dem Gesicht und schrie: »Hier! Hier bin ich!«
Als er keine Antwort erhielt, drehte er sich zur Gasse hinter ihm um. Wilhelmina war nirgendwo zu sehen.