ACHTES KAPITEL

Prag im Jahre 1606 war eine Stadt wie aus einem Märchen. Sie wurde von gewaltigen Mauern umgeben, mit hohen Türmen an jeder Ecke, und es gab riesige Tore aus Holz und Eisen. Entlang der krummen Straßen standen unzählige kleine Häuser, deren Dächer aus roten Tonziegeln beinahe den Boden berührten. Hoch oben thronte eine befestigte Burg mit Mauertürmen und einer Zugbrücke. Fahnen in Grün und Gelb wehten von den Zinnen, und von himmelhoch aufragenden Kirchturmspitzen wachten vergoldete Engel über die Stadt. Im Zentrum von Prag erhob sich auf einem Hügel ein grandioser Palast, dessen funkelnd-weiße Fassade im Sonnenlicht leuchtete. Für Wilhelmina sah alles aus wie etwas, das sich möglicherweise die Gebrüder Grimm ausgedacht hatten - als Kulisse für ein Märchen über einen verwöhnten Prinzen und ein selbstloses armes Mädchen. Als Kind hatte Mina ein solches Buch wie einen Schatz gehütet und war bei der Lektüre stets völlig hingerissen gewesen, wenn das subtile Entsetzen jener altertümlichen Geschichten sie befiel.

»Es ist wie ein Traum«, flüsterte sie. Der Anblick des imposanten Ziels ihrer Reise, das sich ihnen plötzlich in seiner ganzen Pracht enthüllte, nahm ihr schier den Atem.

Ohne jegliche Vorwarnung waren sie auf die Stadt mit den vielen Türmen gestoßen. Die hügelige ländliche Gegend hatte nur wenige Hinweise darauf gegeben, was sich direkt hinter der nächsten Anhöhe verbarg. Kurz zuvor gab es nur ein paar Gebäude mehr entlang der Straße - die Zahl der Bauernhöfe stieg ein wenig, zudem sah man ein oder zwei winzige Siedlungen. Und dann, als sie oben auf der Anhöhe angelangt waren, kamen urplötzlich die majestätischen Stadtmauern, die imposante braune, steinerne Burg und die im Wind flatternden Fahnen in Sicht. Entlang des südöstlichen Viertels der Stadt zog sich ein breiter Fluss; in der Senke dort waren sehr viele Wohnhäuser errichtet worden, die allerdings einfachen Bretterbuden ähnelten.

Engelbert fand das nicht gut, da er sich sagte, dass dieses Gebiet bei einem Hochwasser rasch überflutet würde. »Eigentlich sollten sie es besser wissen«, schnaubte er. Allerdings äußerte er sich anerkennend über die mächtigen steinernen Befestigungswälle, von denen die Stadt umgeben wurde, und über die stabilen, eisengepanzerten Stadttore. Er erklärte, dass es sich um sehr gute Arbeiten handelte. »Starke Mauern sind nämlich wichtig«, fügte er hinzu.

Mittlerweile hatte sich das Wetter geändert, und es war kalt geworden. Auf den Gräsern und Bäumen lag eine glänzende Frostschicht. Als Mina und Etzel durch ländliche Gebiete gefahren waren, hatten sie die Straße zumeist für sich allein gehabt. Jetzt aber, während sie sich den Toren näherten, nahm der Verkehr stark zu. Engelbert verließ seinen Sitz, als sie sich dem langsam voranrückenden Treck anschlossen, und führte von nun an die Maulesel mit der Hand. Zu dieser Parade unterschiedlicher Gefährte gehörten Ochsenkarren, Pferdefuhrwerke und nicht wenige Handwagen: mobile Geschäfte der verschiedensten Art, die alle von ihren Eigentümern gezogen wurden - von Kesselflickern, Schustern, Webern, Tischlern und anderen Handwerkern. Es gab auch zahlreiche Leute, die ohne ein Fahrzeug reisten, und sogar ein oder zwei Ziegenkarren konnte man sehen. Die meisten, die nur zu Fuß unterwegs waren, trugen Bündel auf dem Rücken: Stöcke, Stroh, Seile und Ballen aus Gras, das offensichtlich als Tierfutter verkauft werden sollte.

Sie passierten weit geöffnete Tore und rollten weiter ins Herz der Stadt. Wilhelmina nahm die Eindrücke in sich auf - nicht nur die optischen, sondern auch die akustischen: das Schnattern von Gänsen, das Bellen von Hunden und - von irgendwo aus der Ferne - das wehleidige Blöken von Schafen. Und dann waren da noch die Gerüche! Ganz Prag, soweit sie es feststellen konnte, stank nach Käse und unerklärlicherweise nach Äpfeln. Weshalb das so war, vermochte sie nicht zu sagen, doch zwischen den stechenden Gerüchen von ranziger Milch und verfaulenden Äpfeln entdeckte sie unverkennbar den herben Gestank von Jauche- und Abfallgruben, bei dem sich ihr automatisch die Nase kräuselte. Solche Ausdünstungen überraschten sie nicht im Geringsten, denn in den Abflussgräben der mehr schlecht als recht gepflasterten Straßen stand das dreckige Abwasser; und überall, wohin ihr Blick zufällig fiel, gab es kleine Berge von Müll, der planlos auf Fußwegen und Straßen aufgehäuft worden war.

Engelbert führte seinen Wagen direkt auf den großen, zentralen Platz der Stadt, ein Areal, das von vier gewaltigen Gebäuden begrenzt und beherrscht wurde: eine Militärkaserne, ein Rathaus, ein Zunfthaus und eine große, schwerfällig wirkende gotische Kathedrale. Zwischen die größeren Gebäude zwängten sich zahlreiche andere Bauten. Sie bildeten ein wildes Konglomerat, was Größe und Baustil anbelangte: Mauern aus großen und dünnen Ziegeln erhoben sich direkt neben kleinen, gedrungenen Fachwerkhauswänden, die wiederum unmittelbar an reich verzierte Putzfassaden mit schönen Malereien und Reliefs grenzten. All das formte eine Art von wilder architektonischer Unordnung, die dem extravaganten Platz einen sonderbaren, leicht verrückten Charakter verlieh.

Auf dem ausgedehnten offenen Platz befand sich eine große Zahl verschiedenartiger Passanten - Menschen und auch andere Wesen. Ein Markt schien in vollem Gange zu sein: Händler und Kunden feilschten um die verschiedenen Waren, die vor ziemlich unsolide errichteten Marktständen angeboten wurden; Hausierer belästigten die Besucher und schrien laut, um Aufmerksamkeit zu erregen; Hunde bellten zerlumpten, schnell wegflitzenden Kindern hinterher; Gaukler jonglierten, Tänzer hüpften umher, und Stelzenläufer stolzierten durch die herumschlendernden Menschenmassen.

Für Wilhelmina war das alles atemberaubend. Und als Etzel verkündete: »Hier ist der Ort, wo ich meine Bäckerei haben werde!«, spürte sie ein unverfälschtes aufgeregtes Kribbeln.

»Warum nicht?«, meinte sie.

»Ja!« Er strahlte sie mit seinem freundlichen, pausbäckigen Gesicht an. »Warum nicht?«

Etzel fuhr den Wagen zu einer Ecke des Platzes, wo er einen Steintrog und eine Pferdestange fand. Er hielt an und kletterte herunter, band die Mulis an der Stange fest und ließ sie saufen. »Wir sind angekommen!«, rief er glücklich aus. »Unser neues Leben beginnt.«

Er bezog Mina auf so ungezwungene, natürliche Art und Weise mit ein, dass sie sich sofort einbezogen fühlte. Außerdem hatte sie wohl kaum eine andere Wahl.

Die Fremdartigkeit, ja die völlige Unmöglichkeit ihrer misslichen Lage war für Wilhelmina keineswegs verschwunden. Doch zugleich war sie von einem Gefühl der Akzeptanz des Hier und Jetzt durchdrungen, ohne dass sie es bewusst wahrnahm. Sie musste sich im Geiste immer wieder selber kneifen, um sich daran zu erinnern, dass das, was sie gerade erlebte, in keiner Weise normal war. Aber so bizarr ihre Situation auch sein mochte - mehr und mehr entdeckte sie, dass ihr Aufenthalt in einer Anderswelt auch etwas seltsam Verlockendes hatte. Die eigenartige Kavalkade von Geschehnissen übte einen ganz eigenen verführerischen Einfluss aus. Das altertümliche Prag gewann sie für sich.

Mit der gleichen Verwunderung starrte Engelbert die Stadt an. Zu guter Letzt straffte er sich und wandte sich Mina zu. »Ich möchte dich etwas fragen«, sagte er; seine Stimme klang unerwartet feierlich.

»Fahr nur fort«, erwiderte sie vorsichtig.

»Würdest du für mich auf Gertrude und Brunhild Acht geben?«

Mina starrte ihn verwundert an.

Er zeigte auf die Mulis.

»Oh! Aber natürlich.«

»Ich werde nicht weit weggehen«, versicherte er und drehte sich um.

»Keine Sorge. Ich warte hier.«

Doch er war bereits gegangen und verschwand rasch in den Strudeln des Menschengewimmels. Mina saß im Wagen und ließ weiterhin die optischen und akustischen Eindrücke auf sich wirken. Sie versuchte, den Ort, an dem sie gelandet war, irgendwie einzuordnen. Prag, dachte sie, im dreißigsten Jahr von Kaiser Rudolf II. - hat Etzel das nicht gesagt? Was wusste sie über das siebzehnte Jahrhundert? Nicht viel. Eigentlich nichts. Lebte nicht Shakespeare in diesem Jahrhundert? Oder die Königin Elizabeth? Sie konnte sich nicht mehr genau erinnern.

Wenn sie jemals in ihrem Leben den Gegebenheiten im Böhmen des siebzehnten Jahrhunderts einen flüchtigen Gedanken gewidmet hätte - und das war mit allergrößter Gewissheit nicht der Fall gewesen -, dann hätte sie sich eine Welt voller Aberglauben und Leid vorgestellt. Es wäre ein Ort gewesen, wo obszön reiche und mächtige Aristokraten die große Zahl der im Elend lebenden, schmutzigen Bauern unterdrückte, die wiederum ein scheußliches, stumpfsinniges und kurzes Leben führten. Doch sie beobachtete nun, dass die geschäftigen Leute um sie herum zwar zugegebenermaßen schmutzig aussahen und wohl nicht alt wurden, aber ziemlich glücklich zu sein schienen - allein nach der freundlichen, gutmütigen Atmosphäre zu urteilen, die auf dem Platz im Zentrum der alten Stadt herrschte. Wohin sie auch schaute, erblickte sie lächelnde und lachende Menschen, die sich zur Begrüßung die Hand gaben und küssten. Sie trugen eine ziemlich einheitliche Kleidung aus tristen Braun- und Grüntönen - die Männer weite, knielange Mäntel und Kniehosen, die Frauen kurze Mieder und lange, bauschige Röcke. Nichtsdestotrotz schienen sie wohlhabend genug zu sein.

Es waren die Frauen, die vor allem Minas Aufmerksamkeit erregten. Nach dem zu urteilen, was sie von ihrem Sitz im Wagen aus sehen konnte, war langes Haar eindeutig in Mode: Es wurde hochgesteckt und extravagant gelockt oder geflochten getragen. Und fast jede hatte sich einen Hut auf den Kopf gesetzt. Einige Frauen bedeckten ihre kunstvoll arrangierten Locken mit feinen, spitzenbesetzten Hüten, die meisten jedoch trugen einfache Leinenhauben. Auch Schals gab es im Überfluss. Während die Röcke recht schlicht waren, ließ sich Gleiches von den Umhängetüchern nicht sagen: ob mit Fransen oder Quasten besetzt, ob rechtwinklig geschnitten oder rund, ob fein gewebt oder gestrickt - alle waren so bunt und leuchtend wie nur möglich: Sie strahlten in purpurnen, gelben, blauen und grünen Farben, und dies in jeder nur denkbaren Kombination. Tatsächlich trugen sowohl die Männer als auch die Frauen Umhängetücher. Und die Kinder, von denen es sehr viele gab, waren genauso wie die Älteren gekleidet: Sie wirkten wie kleine Erwachsene.

Die Menschenmenge auf dem Markt nahm Minas Aufmerksamkeit vollständig in Anspruch, sodass sie aufschreckte, als die große Uhr im Rathausturm das zweite Mal seit ihrer Ankunft auf diesem Platz schlug. Erst jetzt bemerkte sie, dass ihr durch das lange Sitzen kalt geworden war. Sie rieb sich die Arme und blies in ihre Hände. Wo war nur Etzel abgeblieben?

Wie eine Antwort auf ihre in Gedanken gestellte Frage hörte sie ein Pfeifen. Sie drehte sich um und sah ihren Reisegefährten, der in seinen Armen etliche in Tuch gewickelte Bündel trug. Er zwängte sich durch das Gedränge auf sie zu und wurde dabei von einer kleinen Horde zerlumpter Schmuddelkinder umgeben.

»Wilhelmina!«, rief er, als er den Wagen erreichte. »Das Glück ist mit uns!«

Er begann, ihr die Bündel hochzureichen. Mina nahm sie entgegen und verstaute sie hinter dem Wagensitz. Die Kinder schrien in einer Sprache, die Mina nicht verstand. Was sprachen eigentlich die Leute in Prag? Tschechisch? Slowakisch?

»Es gibt nur eine Bäckerei am Platz«, verkündete Etzel. »Und sie ist sehr klein.« Er gab ihr ein weiteres Bündel. »Das ist für dich.«

»Für mich?« Wilhelmina empfand eine unerwartete Freude, und sie genoss es. »Was ist es?«

»Mach auf, dann wirst du es sehen.«

Sie zog an einer der Schnüre und wickelte das Bündel auseinander. Mehrere kleine glasierte Kuchen mit gehackten Nüssen und winzigen Samen kamen zum Vorschein. »Honigkuchen!«, gurrte sie. »Wie süß von dir.«

Er strahlte übers ganze Gesicht. Ein weiteres Bündel gab er dem größten der Gassenjungen um ihn herum. »Teil es mit deinen Brüdern und Schwestern«, wies Etzel ihn nachdrücklich an. Dabei sprach er Deutsch, was die Kinder zu verstehen schienen.

Der junge Bursche öffnete das Bündel und verteilte anschließend weiße Plätzchen an seine lärmenden Kameraden, die nun auf und ab sprangen, um ihre Leckerbissen zu bekommen. Bald war alles aufgegessen, woraufhin Etzel sein Gefolge fortscheuchte. Er ermahnte sie noch, gut zu sein, die Messe zu besuchen, den Eltern zu gehorchen und morgen zurückzukommen.

»Die sind aber lecker!«, rief Mina aus, die sich wieder an ein Lieblingswort ihrer Großmutter erinnerte. Sie streckte Etzel einen der Kuchen entgegen.

»Ich bin froh, dass du sie magst«, erklärte er und biss in das Gebäck hinein. »Das hier ist ein guter Platz«, merkte er an und kaute nachdenklich. »Mir gefällt es hier.«

»Was sollen wir nun tun?«, fragte Mina.

»Wir fangen an, nach einem Ort für meine Bäckerei zu suchen.«

»Jetzt?«

»Warum nicht? Es ist ein guter Tag.«

»Na schön«, stimmte sie zu. »Wo sollen wir beginnen?«

»Wir fangen hier an.«

Nachdem sie die Mulis und den Wagen bei einer nahe gelegenen Pferde- und Nutztierstation zurückgelassen hatten, machten Engelbert und Wilhelmina einen ausgiebigen Rundgang über und rund um den Platz. Sie suchten jedes Geschäft auf, das an dem großen Marktplatz lag, der das geschäftige Handelszentrum von Prag bildete, und sprachen mit vielen Ladenbesitzern. Ja, dieser Marktplatz - der Altstädter Ring hieß - war der beste in der ganzen Stadt, sogar der beste in der ganzen Region. Und ja, es war sehr teuer, ein Geschäft in solch einer Spitzenlage zu betreiben. Nein, niemand wusste von irgendwelchen leeren Geschäftsräumen oder Läden am Platz. »Der Hausbesitzer kann jeden Preis verlangen, den er sich als Miete wünscht«, klagte der Fleischer, der vor seinem Geschäft arbeitete, das kaum größer als ein Fuhrwerkkasten war. »Doch selbst bei solch hohen Preisen bleiben die Läden hier nicht lange leer.«

Seine Ansichten und Erklärungen wurden mit nur geringen Abweichungen von jedem wiederholt, den sie ansprachen. Am Ende waren sie gezwungen, sich einzugestehen, dass Engelbert selbst dann, wenn ein Laden frei sein würde, nicht in der Lage wäre, ihn sich angesichts der begrenzten Geldmittel zu leisten, die er aus Rosenheim für das geplante Unternehmen mitgebracht hatte.

»Alles ist sehr teuer, weshalb ich anfange zu glauben, dass es ein Fehler gewesen ist, hierher zu kommen«, gestand er schließlich. Der Gedanke warf einen Schatten auf seine ansonsten heitere Stimmung.

»Wie kannst du das nur sagen?«, schalt ihn Mina. »Das hier ist eine große Stadt, und wir haben uns nur einen einzigen Platz angesehen.«

»Wir haben uns den besten Platz angeschaut«, erwiderte er seufzend. »Jeder sagt das.«

»Das mag sein«, gab sie zu. »Aber es gibt sicherlich andere, die genauso gut sein können. Wir müssen nur unsere Suche ausdehnen.«

Engelbert ließ sich dazu verleiten, erneut aktiv zu werden. Die beiden begannen, durch das Netzwerk der miteinander verbundenen Nebenstraßen umherzustreifen. Rasch entdeckten sie, dass es sich dabei ausnahmslos um dunkle, enge Gassen handelte, und die Atmosphäre dort war keineswegs so freundlich wie auf dem großen Platz. Die Geschäfte und Unternehmen waren ärmer und wirkten kümmerlich; sie schienen sogar recht anrüchig zu sein - so wie auch die Menschen, die solche Läden für die unteren Schichten aufsuchten. Innen hinterließen die Geschäftslokale einen mehr oder weniger schäbigen Eindruck; und die Fassaden hatten eine gründliche Reinigung sowie diverse Reparaturen dringend nötig. Überall lag Abfall, und es lungerten einige Frauen herum, die für diese Gegend viel zu fein angezogen waren. Aus den Augenwinkeln erspähte Mina gar ab und an Ratten.

Die Gebäude entlang der Gassen waren sicherlich bedrückend - und aufs Höchste bedrückend für Engelbert, dessen Hoffnungen bei jeder schäbigen, kleinen Straßenschlucht, die sie erkundeten, ein wenig mehr dahinschwanden. Immer häufiger stieß er immer tiefere Seufzer aus. Gleichwohl boten diese schmuddeligen Hintergassen eines, was dem respektableren und blühenden Marktplatz fehlte: billigen Raum, und das reichlich. Tatsächlich schien jedes dritte oder vierte Geschäftslokal entweder leer oder sein Inhaber kurz vor der Pleite zu stehen; und es gab etliche, bei denen man nicht gerade den Eindruck gewann, dass die Besitzer an dem Fortbestehen ihrer Läden hingen.

»Ich habe genug gesehen«, erklärte der mittlerweile entmutigte Bäcker. »Lass uns zurückgehen.«

Mina tat ihr niedergeschlagener Gefährte leid. Zudem sorgte sie sich wegen ihrer eigenen Perspektiven, die jetzt mit seinen verbunden waren. Sie gab ihm einen Klaps auf die Schulter, bevor beide zu dem großen, von der Sonne beschienenen Platz aufbrachen. Während sie sich einen Rückweg durch das Gewirr der Nebengassen suchten, bogen sie in eine kleine Straße ein, in der sie noch nicht gewesen waren. Als sie die Gasse etwa zur Hälfte durchquert hatten, sahen sie, dass der Weg von einem Pferd und einem Wagen versperrt wurde, die vor einem Geschäft angehalten hatten. Ein Mann im Wagen stapelte Möbel und Kisten aufeinander, die allerdings eine sehr wackelige Pyramide bildeten. Hin und wieder erschien im Ladeneingang eine Frau mit einer weiteren Kiste, die sie dem Mann reichte, um sie dem instabilen Haufen hinzuzufügen.

»Ich glaube, sie ziehen aus«, mutmaßte Mina.

»Das kann ihnen wohl keiner verübeln«, merkte Engelbert mitfühlend an.

Sie näherten sich dem Wagen und hielten an. »Ich wünsche Euch einen guten Tag, Herr!«, rief Engelbert, der nicht in der Lage zu sein schien, an jemandem vorbeizugehen, ohne ihn zu grüßen. »Behüt Euch Gott.«

Der Mann schaute von seiner Arbeit auf und gab grunzend eine Antwort. In der Tür tauchte die Frau mit einem zusammengerollten Vorleger auf.

Aus einer Laune heraus sprach Mina sie an. »Guten Tag«, sagte sie. »Zieht Ihr aus?«

»Ach so. Deutsch!« Die Frau warf ihr einen finsteren, abfälligen Blick zu und sagte mit einem fremdartigen Akzent: »Bist du blind, Mädchen?«

Die ruppige Entgegnung ließ Wilhelmina einen Schritt zurücktreten, aber machte sie nur noch entschlossener. »Bitte, es ist nur so, dass wir nach einem Ort suchen, wo wir eine Bäckerei eröffnen können.«

»Du kannst den Laden hier haben«, meinte die Frau, »falls du dein Wasser halten kannst, bis wir gegangen sind. Und viel Glück für euch.«

»Ivanka, es gibt keinen Grund unhöflich zu sein«, wies der Mann im Wagen sie zurecht. Er machte eine Pause, um sich mit einem schmutzigen Fetzen das Gesicht abzuwischen. »Es ist nicht ihr Fehler.«

Die Frau sah ihn an und schürzte die Lippen; dann drehte sie sich ohne ein weiteres Wort um und ging wieder hinein.

Der Mann wandte sich Wilhelmina zu. »Der Hausbesitzer ist drinnen. Sprecht mit ihm, gute Frau, und findet alles heraus, was Ihr zu wissen wünscht.«

Ohne mit Engelbert Rücksprache zu nehmen, bückte sie sich, um den Laden zu betreten. Abgesehen von zwei weiteren kleinen Teppichen und einigen wenigen Holzkisten war das Geschäftslokal leer. Ein bleicher Mann mit langem Gesicht und ordentlich geschnittenem Ziegenbart, der die Länge des ohnehin schon schmalen Kopfes nur noch betonte, stand an einer hölzernen Ladentheke und schrieb mit einem Federkiel in ein winziges Buch. Er trug einen langen schwarzen Mantel und ein weißes Hemd mit einer seltsamen, weiß gestärkten, kleinen Halskrause. Sein Kopf war umhüllt von einem großen, beutelartigen Hut aus grüner Seide, der an einer Seite als Verzierung eine lange weiße Feder besaß.

»Ja?«, sagte er, ohne aufzuschauen. »Was gibt's?«

Wilhelmina dachte darüber nach, wie sich ihre Anfrage am besten formulieren ließ, und fragte sich, ob der Mann ihr Deutsch auch verstehen würde.

»Nun? Heraus mit der Sprache, Frau! Ich bin sehr beschäftigt.«

»Herr«, begann Mina, »seid Ihr der Hausbesitzer?«

»Ja, natürlich.« Er betrachtete sie, ohne den Kopf mehr als notwendig zu bewegen. »Wer sonst sollte ich sein?«

»Das weiß ich sicherlich nicht«, erwiderte Mina. »Ist dieser Laden zu mieten?«

»Warum? Wollt Ihr ihn?«

»Ja«, antwortete sie hastig.

»Sechzig Guldiner.«

»Entschuldigung?«

»Sechzig Guldiner für sechs Monate Miete.« Er wandte sich wieder seinem kleinen Buch zu. »Fort mit Euch. Kommt mit Eurem Vater zurück.«

»Wir werden Euch fünfzig geben«, bot sie an. »Für ein Jahr.«

»Raus hier!«, schrie er. »Ihr wisst nicht, was Ihr sagt. Raus aus meinem Laden - und kommt nicht zurück.«

»Wilhelmina!«, rief Engelbert von der Eingangstür. »Was machst du? Geh da weg.«

Widerstrebend begab sie sich zu Engelbert draußen auf der Straße. »Er will sechzig Guldiner für sechs Monate Miete«, teilte sie ihm mit.

»Das ist zu viel«, erklärte Engelbert. »Für einen Laden wie diesen ...« - er rümpfte seine Nase - »... ist das zu viel.«

»Da stimme ich dir zu.« Sie runzelte die Stirn. »Was ist eigentlich ein Guldiner?«

Etzel blickte sie verwundert an. »Hat man denn dort, wo du herkommst, nicht so etwas?«

»Man hat dort etwas Ähnliches«, erklärte sie. »Aber keine Guldiner. Was ist das?«

Er hob seinen Mantelsaum hoch, hantierte einen Augenblick lang herum und brachte einen kleinen Lederbeutel zum Vorschein. Dann band er den Behälter auf und griff hinein. »Das ist ein Groschen«, sagte er und holte eine kleine Silbermünze heraus. »Er ist sechs Kreuzer wert.«

»Ich verstehe«, erwiderte Mina und wiederholte für sich Etzels Erklärung in eigenen Worten. »Ein Groschen entspricht sechs Kreuzern.«

»Aber es gibt noch mehr Münzen«, erläuterte er weiter. »Zehn Groschen entsprechen einem Guldengroschen - oder Guldiner, wie wir sagen.« Er fuhr mit den Fingern in den Beutel und fischte eine größere Silbermünze heraus. »Das ist ein Guldiner - er ist sehr viel wert.«

Mina nickte. »Zehn Groschen entsprechen einem Guldiner. Hab's verstanden. Gibt es noch etwas anderes?«

»Es gibt eine neue Münze, die Taler heißt - auch er ist sehr viel wert. Doch du wirst wohl nicht viele von ihnen zu sehen bekommen. Sie haben den Wert von zwölf Groschen.«

»Somit sind Taler sogar noch besser«, stellte Mina fest und griff nach dem silbernen Guldiner, den Engelbert zwischen Daumen und Zeigefinger hielt.

Die Frau, die bald abreisen würde, erschien erneut mit einem zusammengerollten Vorleger unter ihrem Arm. »Wie viel?«, fragte sie im Vorbeigehen. Als Mina sie verwirrt anschaute, ruckte sie den Kopf in Richtung Ladentür und sagte: »Der da drinnen - wie viel hat er verlangt?«

»Sechzig Guldiner«, antwortete Etzel.

»Dieser raffgierige Geizhals«, empörte sich die Frau und reichte den Vorleger hoch zu ihrem Mann im Wagen. »Wir haben ihm nur dreißig für ein ganzes Jahr bezahlt.«

»Wie lange wart Ihr ...« Mina stockte und änderte in Gedanken den Satz. »Wie lange habt Ihr den Laden von ihm gemietet?«

»Vier Jahre sind wir hier gewesen«, antwortete die Frau. »Und in der ganzen Zeit hatten wir nicht einen einzigen guten Tag. Der Teufel soll ihn und seinen Laden holen. Ich will keinen von beiden jemals wiedersehen.«

»Reg dich nicht so auf, Ivanka«, tadelte der Mann sie, drehte sich zu den beiden anderen und fügte entschuldigend hinzu: »Es ist hart, ein Geschäft zu verlieren.«

»Wohin werdet Ihr nun gehen?«, erkundigte sich Etzel.

»Nach Preßburg«, antwortete der Mann. »Meine Frau hat in dieser Stadt eine Schwester, und wir werden dort einen neuen Laden bekommen.«

»Was für eine Art von Geschäft habt Ihr hier geführt«, wollte Mina wissen.

»Es war ein Kerzenladen«, erwiderte der Mann. »Ich stelle Kerzen her.«

»Die besten in der ganzen Stadt«, merkte seine Frau an. »Nicht mehr länger. Sollen sie doch im Dunkeln leben!« Sie spie in den Türeingang, um ihren Gefühlen Nachdruck zu verleihen.

»Sie ist sehr zornig«, erklärte der Mann.

Wilhelmina dankte dem Paar für seine Hilfe und ging in den Laden zurück. »Fünfzig Guldiner ist mehr, als Ihr jemals von irgendjemandem erhalten werdet«, verkündete sie. »Wir wollen den Laden für ein Jahr.«

Der Mann mit dem grünen Hut legte sein Buch zur Seite und richtete sich auf. »Bin ich Euch noch immer nicht los?«

»Nein«, entgegnete Mina. »Nicht, bevor ich eine vernünftige Antwort erhalte.«

»Sechzig Guldiner sind vernünftig«, erwiderte der Hausbesitzer.

»Nicht, wenn die derzeitigen Bewohner nur dreißig im Jahr bezahlen.«

»Die Zeiten ändern sich.«

»Dem stimme ich zu«, erklärte Mina. »Deshalb bieten wir fünfzig an.«

Der Mann im schwarzen Mantel knallte sein kleines Buch zu. »Also gut. Fünfzig dann. Abgemacht.«

Engelbert, der in der Tür stand, öffnete seinen Mund, um zu widersprechen.

»Nicht so schnell«, sagte Wilhelmina. »Dieser Raum muss neu gestrichen werden - und die Fassade ebenso.«

Der Hausbesitzer runzelte die Stirn, und seine Augen verengten sich. »Eine Frau?«, schrie er. »Und Ihr sprecht in dieser Weise mit mir?«

»Fünfzig Guldiner«, erinnerte ihn Wilhelmina.

»Na schön. Sonst noch was?«

»Ja, es gibt noch eine Sache. Wir brauchen einen Ofen.«

»Einen Ofen ...« Er schien diese Art von Anfrage nicht sehr zu schätzen.

»Das hier soll eine Bäckerei werden«, erzählte sie ihm. »Wir brauchen daher einen Ofen.«

»Und zwar einen großen«, warf Engelbert hoffnungsvoll ein. »Mit vier Backblechen.«

Der Mann im schwarzen Mantel zupfte in einer Weise an seinem Bart, die vermuten ließ, dass er dachte, er würde vielleicht mit Verrückten sprechen, sich dessen aber nicht sicher sein konnte. »Nein«, erklärte er schließlich. »Das ist zu viel.«

»Schön«, entgegnete Mina. »Komm, Etzel, ich habe einen besseren Laden gesehen, der näher am Marktplatz liegt. Er ist leer, und ich bin mir sicher, dass der Hausbesitzer glücklich sein wird, wenn wir dort unser Geschäft eröffnen.« Sie packte Engelbert am Arm und wandte sich zur Tür.

»Wartet!«, rief der Hausbesitzer.

Lächelnd drehte sie sich zu ihm um.

»Wenn ich das veranlassen soll, benötige ich die Summe für ein ganzes Jahr direkt auf der Hand.« Er hielt eine Handfläche nach oben und tippte mit einem Finger darauf.

»Wir haben das Geld«, versicherte Wilhelmina, bevor sie daran dachte, Engelbert zu fragen, ob das tatsächlich stimmte. »Natürlich vorausgesetzt, dass die Räume oben geeignet sind, um dort zu wohnen. Wir werden Möbel brauchen - Betten, Tische, Stühle. Ganz einfache Dinge.«

»Treppauf werdet Ihr alles finden, was Ihr braucht.« Der Hausbesitzer fuchtelte mit der Hand in Richtung Treppe, die sich hinten im Laden befand.

Ein schneller Rundgang durch die vier Zimmer im ersten Stockwerk brachte Mina die Gewissheit, dass der Mann die Wahrheit gesagt hatte. In zwei Räumen standen Betten, in einem anderen ein Tisch sowie vier Stühle. In dem vierten Zimmer gab es zwei weitere Stühle und eine große Truhe.

»Das ist annehmbar«, urteilte Mina, als sie ins Erdgeschoss zurückkehrte. »Zwei neue Vorleger würden es noch annehmbarer machen.«

»Und das Geld?«, fragte der Hausbesitzer.

Wilhelmina schaute zu Engelbert, der daraufhin seinen Lederbeutel hervorholte. Er drehte den beiden anderen den Rücken zu und gab ein paar Laute von sich, als würde er etwas abzählen. Schließlich wandte er sich ihnen wieder zu und streckte seine Hand dem Hausbesitzer entgegen. Der Mann bewegte ebenfalls die Hand nach vorne, um seine Miete in Empfang zu nehmen.

»Nicht so schnell«, sagte Mina und schnappte sich das Geld. »Wir bezahlen Euch jetzt die Hälfte. Den Rest bekommt Ihr, wenn wir die Papiere unterzeichnet haben.«

»Papiere?«, entgegnete der Hausbesitzer verwundert. »Was sollen das für Papiere sein? Ich weiß nichts von Papieren.«

»Die Schriftsätze«, antwortete sie. »Den Mietvertrag - oder wie auch immer Ihr das nennt. Ich verlange Papiere, auf denen festgehalten ist, dass wir für ein Jahr im Voraus bezahlt haben, dass bald ein Ofen da sein wird und Ihr das Geschäftslokal neu anstreichen lasst - also alles, was wir miteinander vereinbart haben. Ich will es in schriftlicher Form haben.«

»Mein Wort gilt«, schnaubte der Hausbesitzer. »Fragt alle hier; sie werden es Euch bestätigen. Jakub Arnostovi ist ehrlich. Ich habe niemals zuvor irgendjemandem Schriftsätze angetragen.«

»Die Zeiten ändern sich«, erwiderte Wilhelmina zuckersüß.

Die Zeitwanderer
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