ELFTES KAPITEL
Die Reise in Sir Henrys Kutsche war, wie Kit fand, recht angenehm, wenn nicht sogar richtig gemütlich. Das sanfte Sonnenlicht des Herbstes ergoss sich wie Honig vom Himmel, durchflutete die prächtige englische Landschaft und verlieh ihr ein feines, bernsteinfarbenes Leuchten. Weite Felder und malerische Dörfer rollten langsam an ihren Fenstern vorbei, akustisch untermalt von dem gleichmäßigen, beständigen Hufgetrappel der beiden Fuchsstuten. Sir Henry mit seinem eleganten schwarzen Hut, den eine Silberschnalle zierte, mit seinen schwarzen Lederhandschuhen und dem mit einem Silberknauf versehenen Spazierstock aus Ebenholz stellte das Idealbild eines formvollendeten, vornehmen Gentleman dar. Gelegentlich trafen oder passierten sie andere Reisende: Bauern mit Eselskarren, Händler mit Packmulis und einen Heuwagen, der von schweren Pferden gezogen wurde. Häufiger begegneten sie Leuten, die zu Fuß unterwegs waren: Landleute, die Körbe mit Obst und Gemüse trugen oder voll beladene Handwagen hinter sich her schleppten. Gelegentlich sah man auch einzelne Menschen zu Pferde.
Das einzige Hindernis bei dieser Art des Reisens war die Straße. Sie ähnelte mehr einer endlosen Reihe von Schlaglöchern, die durch Spurrillen miteinander verbunden waren, als einem makellosen Band aus Straßenpflaster. In unterschiedlichen Abständen musste man Flüsse durchqueren oder felsige Anhöhen überwinden. Bei Letzteren war es erforderlich, dass die Passagiere ausstiegen und ein Stück zu Fuß gingen, während Sir Henrys junger Kutscher das Gespann und den Wagen meisterhaft durch das unwegsame Gelände führte. Das Rütteln und Hüpfen, Holpern und Schaukeln der Kutsche war etwas gewöhnungsbedürftig, doch mit der Zeit empfand Kit es auf seltsame Weise beruhigend.
Was ihm hingegen seine beiden Reisegefährten erzählten, war alles andere als beruhigend. Kit versuchte, konzentriert auf ihre Ausführungen zu achten; doch es erwies sich als ein schwieriges Unterfangen. Das Meiste von dem, was sie berichteten, konnte er einfach nicht verstehen. Und das Wenige, was er begriff, klang zu fantastisch, um wahr zu sein - selbst in Anbetracht der zunehmenden Erweiterung seiner eigenen Maßstäbe. Er konnte sich nicht helfen, doch er hatte das Gefühl, dass Sir Henry und Cosimo sich vom festen Boden der Realität gelöst hatten und nun hoch in den Wolken der Fantasie schwebten.
Andererseits - warum so kleinlich sein? Warum sollte man Mücken seihen, wie sein Vater zu sagen pflegte, wenn man bereits ein ganzes Gnu mit Hufen, Schwanz und Hörnern verschluckt hatte?
»Schau her, Kit«, sagte sein Urgroßvater, »und gib gut Acht, denn diese Sache ist wichtig. Wenn du in eine andere Welt reist, ist es am besten, sich so wenig wie möglich in die Angelegenheiten der Einheimischen einzumischen. Man sollte es nur tun, wenn es absolut notwendig ist. Warum?, fragst du dich sicherlich. Weil jeder Eingriff den Lauf der Dinge in unvorhersehbarer Weise verändert. Kleine, unbedeutende Änderungen werden möglicherweise ohne größere Auswirkungen absorbiert, doch große Änderungen haben einen umfassenden Wandel im Universum zur Folge; und das wollen wir nicht.«
»Ich kenne niemanden, der das will«, meinte Kit. »Doch warte eine Sekunde - was ist mit gestern Nacht? Du weißt schon - als du den Bäcker geweckt und den Brand verhindert hast? Ist das nicht genau die Art von Einmischung, von der du gerade gesprochen hast?«
»Exakt!«, rief Sir Henry aus. »Es wäre am besten, diese Art von Handlungen zu unterlassen. Aber dieser Fall ist anders.«
»Wie bitte?«, protestierte Kit. »Wenn eine Einmischung verboten ist, wie will man dann die Verhinderung von etwas so Gravierendem wie dem Großen Brand von London erklären?«
»Unsere Interventionen werden jeweils nur nach einer langen und ernsthaften Beratung durchgeführt«, antwortete sein Urgroßvater in einem besserwisserischen Tonfall. »Mehrere Jahre lang haben wir immer wieder über diesen Fall diskutiert und sind zu dem Schluss gekommen, dass es niemandem dienen und nichts Positives bringen würde, diese Katastrophe mit all seinem Leid und Aufruhr geschehen zu lassen, wenn man sie verhindern könnte.«
»Nicht einmal der Wiederaufbau der Stadt in Stein stellt für dich etwas Positives dar?«, fragte Kit erstaunt. Denn genau das wurde von den Historikern immer hervorgehoben, wenn sie sich über den Großen Brand ausließen: Anschließend war am selben Ort eine Stadt von Weltrang entstanden und London wie ein Phönix aus der Asche zu neuer Größe emporgestiegen.
Cosimo nickte. »Natürlich haben wir auch das bedacht. Aber wie viele Menschenleben würdest du gegen ein paar Steingebäude eintauschen? Wie dem auch sei - aus diesem Brand hat sich nichts ergeben, das nicht auf andere, weniger zerstörerische Weise zustande gekommen wäre. Das Feuer hat bloß einen Prozess beschleunigt, der bereits begonnen hatte. Kurzum, es gab keinen Grund, dass Tausende von unschuldigen Stadtbewohnern leiden sollten. Zumal bei einer solchen Katastrophe immer diejenigen am meisten verlieren, die es sich am wenigsten leisten können.«
»Ganz zu schweigen von dem gewaltigen Rückschlag auf dem Weg zur aufgeklärten Gelehrsamkeit«, fügte Lord Castlemain hinzu.
»Wie bitte?«, hakte Kit verblüfft nach.
»Saint Paul's Cathedral«, erwiderte Sir Henry, als ob es offensichtlich wäre, was er mit seiner vorherigen Äußerung gemeint hatte.
»Genau dort, wo in unserer Welt die Kathedrale steht, lagerten die Buchhändler von London ihre Waren«, erläuterte Cosimo. »Unzählige Bücher über Medizin, Naturwissenschaft, Mathematik und Geschichte - sie alle wurden damals vernichtet. Ein Brand hier würde die Wissenschaft um viele Jahrzehnte zurückwerfen, und das zu einer Zeit, als das Lesen gerade begonnen hat, Schule zu machen, um es einmal so auszudrücken.«
Kit überlegte. »Wir sollen uns also am besten nicht allzu viel einmischen, es sei denn, man hat sich Gewissheit über die Auswirkungen bestimmter Änderungen verschafft. Aber wie will man das steuern?«
»Ein gewisses Maß an Änderungen ist unvermeidlich«, räumte Cosimo ein. »Durch deine bloße Anwesenheit modifizierst du die gegenwärtige Wirklichkeit der Welt, die du besuchst. Aber denke daran: Jede Änderung, wie klein sie auch sein mag, zieht Folgen nach sich. Und wenn das Universum weitreichend genug umgestaltet wurde, können sich die Auswirkungen wellenförmig durch das gesamte Omniversum ausbreiten.«
»Das was? Das Omniversum?« Kit schüttelte den Kopf. »Was ist das denn schon wieder für ein Wort?«
»Omniversum«, wiederholte sein Urgroßvater. »Einfach ausgedrückt, bezeichnet dieser Begriff alles, was existiert. Das schließt unser Universum ein und wer weiß wie viele andere - denn es ist gut möglich, dass es mehr als nur eines gibt.«
»Das muss noch bewiesen werden«, gab Sir Henry zu bedenken. »Wenngleich es die wahrscheinlichste Erklärung zu sein scheint.«
»Stell es dir als die gewaltige Gesamtheit von allem vor, was ist, war und jemals sein wird«, führte Cosimo weiter aus. »Es ist das Große Universum, das möglicherweise eine nicht messbare Anzahl von kleineren Universen enthält - wie die Samen, die in einem Granatapfel stecken.«
»Warum so viele?«, fragte Kit.
»Ich weiß es nicht«, gestand Cosimo. »Gleichwohl scheinen sie alle zu existieren - eine jede Welt in seiner eigenen Dimension, getrennt von den anderen durch eine hauchdünne Haut.«
Kit dachte einen Augenblick lang nach, dann erklärte er: »Ich verstehe, was mit dem Reisen zu anderen Welten gemeint ist und dass sie sozusagen nicht in derselben Zeitzone existieren. Doch warum benötigst du die Karte, wenn du bereits weißt, wo sich die Ley-Linien befinden und wohin sie führen?«
»Du stellst dir die Sache nicht komplex genug vor«, tadelte ihn Cosimo. »Wie soll ich es am besten beschreiben?« Er legte die Hände ans Kinn und schaut einen Moment lang nachdenklich aus dem Fenster. »Ich weiß es!«, rief er plötzlich. »Du bist mit dem System der Londoner U-Bahnzüge vertraut, nicht war?«
»Mein zweites Zuhause«, merkte Kit an.
»Aus wie vielen Strecken besteht das U-Bahnsystem?«
»Keine Ahnung. Ein Dutzend vielleicht.«
»Und was würdest du sagen - wie viele Haltestellen gibt es insgesamt?«, fragte Cosimo weiter.
Kit zuckte die Achseln. »Ein paar hundert, nehme ich an. Mehr oder weniger.«
»Ganz bestimmt«, pflichtete Cosimo ihm bei. »Allerdings befinden sich die Strecken der Londoner U-Bahn auf verschiedenen Ebenen - einige liegen höher, andere tiefer und ein paar sehr weit unten. Sie verlaufen kreuz und quer in drei Dimensionen durch die Erde und sind entlang ihres Weges an verschiedenen Punkten miteinander verbunden.«
»Mit Rolltreppen«, fügte Kit hinzu. »So kann man die Linien wechseln.«
»Ja, aber nicht jede Linie ist mit allen anderen verbunden. Sie sind bloß dort miteinander verknüpft, wo die Erbauer der U-Bahn es wollten; und ohne einen Plan lässt sich nicht erahnen, wo diese Verbindungspunkte sind. Es ist ein ausgeklügeltes System, aber auch sehr kompliziert. Leute können leicht in Verwirrung geraten, wenn sie die U-Bahn benutzen. Ist es nicht so?«
»Das kommt schon mal vor«, gab Kit zu, der als ein regelmäßiges Opfer von U-Bahnfahrten das Gefühl nur zu gut kannte.
»Der beste Weg, Irrfahrten zu vermeiden, besteht in der Nutzung einer Karte - dieser recht zweckdienlichen schematischen Zeichnung mit all ihren Farben und sich kreuzenden Linien.« Cosimo starrte ihn mit scharfem Blick an. »Wohlan! Was passiert, wenn du ohne diese kleine Karte versuchst, von Whitechapel nach Uxbridge zu fahren? Was, wenn keine hilfreichen Schaubilder über den Waggontüren angebracht wären, wenn es keine Hinweisschilder auf den U-Bahnsteigen gäbe - wenn nichts da wäre, das anzeigen würde, wo du bist und wohin du fährst? Du wärest ziemlich verloren, nicht wahr? Du könntest nicht erkennen, wohin die Linie führt und wie viele Stationen der Zug unterwegs passiert. Ebenso wüsstest du nicht, ob diese Haltestellen mit anderen Strecken und U-Bahnlinien verbunden sind. Auch wäre dir nicht bekannt, von wie vielen anderen Linien eine Streckenkreuzung benutzt wird und wohin eine jede von ihnen fährt. Also, du reist in einem Zug, ohne einen Anhaltspunkt zu haben, wohin es geht - wie, frage ich dich, kannst du dich hier durchlotsen?«
»Okay, okay, ich hab's begriffen«, erklärte Kit. »Man braucht eine Karte, um seinen Weg durch ein sehr komplexes System zu finden.«
»Genau«, stimmte Cosimo zu, der ganz begeistert von seinem Vergleich war. »Nun stell dir vor, dass du ein U-Bahnsystem entdeckt hast, welches mehrere Millionen Mal größer als die London Underground ist. Dort gibt es eine unfassbar hohe Zahl von einzelnen Linien, die durch Milliarden von Stationen miteinander verbunden sind, und eine unvorstellbare Anzahl von Zügen ...«
»Das wäre aber ein riesiges System«, merkte Kit an.
»Und nur um es noch interessanter zu machen, solltest du dir vorstellen, dass auch die Zeit hierbei eine besondere Rolle spielt: Du weißt niemals, wann du irgendwo ankommst - nicht in welchem Jahr und noch nicht einmal in welchem Jahrhundert!«
»Fürchterlich«, entfuhr es Kit.
»Genau das kommt der Situation, in der wir sind, sehr nahe, mein Sohn«, sagte Cosimo, der sich auf der Bank zurückgelehnt hatte. »Zufällig haben Sir Henry und ich einige der Linien und mehrere Stationen in unserer Umgebung in Augenschein genommen und ihre Lage gewissermaßen auswendig gelernt. Doch der bei Weitem größte Teil dieses gigantischen Systems ist ein Mysterium geblieben ...«
»Wir wissen noch nicht einmal, wie viele andere Systeme es geben mag«, fügte Sir Henry hinzu. »Vielleicht mehr, als es Sterne am Himmel gibt; den Anschein hat es zumindest.«
»Überdies ist es unglaublich gefährlich, auch nur den Versuch zu machen, ohne die Karte jenseits der Grenzen des uns bekannten Liniensystems zu reisen«, warnte Cosimo.
»Genau«, stimmte Kit ihm zu. »Was also unternimmt man, falls man verloren geht?«
»Mein lieber Junge, verloren zu gehen ist das Geringste, was dir Sorgen bereiten sollte«, erklärte sein Urgroßvater. »Überleg einmal, was passiert, wenn du blind in eine andere Welt hineinspringst: Du könntest dich am Kraterrand eines ausbrechenden Vulkans wiederfinden oder mitten in ein Schlachtfeld hineinstürzen - ins Zentrum eines grausamen Krieges - oder auf einer rasch kippenden Eisscholle in stürmischer See landen.« Er breitete die Hände aus und schüttelte den Kopf. »Alles Mögliche könnte geschehen. Genau aus diesem Grund ist die Karte von allergrößter, essenzieller, lebenswichtiger Bedeutung - sie kann über Sein oder Nichtsein entscheiden.«
»Hört! Hört!«, rief Sir Henry und schlug mit seinem Stock auf. »Wir schulden Arthur Flinders-Petrie höchste Dankbarkeit.«
Kit wollte noch mehr Fragen stellen, doch er spürte, dass er allmählich nicht mehr klar denken konnte. Aber es gab eine Sorge, die an seinem Gewissen nagte. »Um noch einmal auf Wilhelmina zu sprechen zu kommen - was geschieht, wenn wir sie trotz all unserer Bemühungen nicht finden können? Was wäre das Schlimmste, was passieren könnte?«
»Wer vermag das zu wissen?«, entgegnete Cosimo. »Sie könnte natürlich irgendeiner Gewalttat zum Opfer fallen. Oder sie richtet selbst einen unvorstellbaren Schaden an, löst eine Katastrophe aus, deren Ausmaße sich nicht berechnen lassen ...«
»Natürlich unwissentlich«, warf Sir Henry ein.
»Oder es könnte auch nur passieren, dass sie sich in ein neues Leben einfindet - als Fremde in einem fremden Land. Dass sie irgendwann heiratet, eine Familie gründet und keinerlei Art von Schaden anrichtet. Andererseits könnte sie auch als Hexe auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden. Das hängt ganz von den Gegebenheiten vor Ort ab.« Cosimo hob seine Handfläche zum Zeichen seiner Unkenntnis in dieser Frage. »Es gibt einfach keine Möglichkeit, die Auswirkungen vorherzusagen.«
»Ihr müsst sehen, die Hauptschwierigkeit liegt darin, dass die junge Lady ohne Zweifel nicht zu ihrem augenblicklichen zeitlichen Umfeld passt und sie daher möglicherweise eine Idee umsetzt oder eine Einstellung zeigt, die der natürlichen Entwicklung jener Welt fremd ist, in der sie sich nun wiederfindet.« Sir Henry, der seine Hände zusammengefaltet auf seinen Spazierstock gelegt hatte, wandte sein Gesicht dem Kutschenfenster zu und nahm die Landschaft in sich auf. »Es ist eine äußerst komplizierte Angelegenheit.«
»So ist es«, merkte Kit an, der schließlich zu begreifen begann, welches furchtbare Ausmaß dieses Problem hatte. »Wenn also Mina etwas in jener Welt verändert, würde sich diese Veränderung durch das ganze Universum ausbreiten.«
»Werft einen Stein in einen Mühlenteich und beobachtet, wie sich das Kräuseln auf dem Wasser immer mehr ausbreitet, bis die ganze Teichoberfläche in Aufruhr ist.«
Cosimo nickte und deklamierte: »›Du kannst keine Blume berühren, ohne einen Stern zu stören.‹«
Ein Lächeln ging über Sir Henrys Gesicht, als er dieses Zitat hörte. »Diese Worte habe ich noch nie vernommen. Von wem stammen sie?«
»Es ist aus einem Gedicht von einem Burschen namens Francis Thompson - leider ein wenig nach Eurer Zeit. Trotzdem schön, nicht wahr? Hier ist ein weiterer Spruch dieses Dichters: ›Der unschuldige Mond, der nichts anderes bewirkt, als zu scheinen, bewegt all die sich plagenden Wogen der Welt.‹« Cosimo wandte sich abermals seinem Urenkel zu und erklärte: »Der Punkt ist, dass deine Freundin durch irgendeine unschuldige Handlung kleine und große verheerende Schäden anrichten kann, die sich auf dieses Universum und darüber hinaus auswirken.«
»Dann sollten wir sie besser rasch finden«, meinte Kit. »So, wie ich Wilhelmina kenne, wühlt sie wahrscheinlich inzwischen ein ganzes Blumenfeld auf.«