VIERZEHNTES KAPITEL
Die Straße, die nach Oxford hineinführte, war ziemlich belebt - und wurde noch belebter, als sie sich hinter Headington Hill hinabsenkte, dann durch das East Gate führte und schließlich die Innenstadt erreichte. Rollkutscher und ihre schweren Pferde verstopften die enge Straße. Auf ihren großen Wagen türmten sich Fässer, Tonnen und Netze, die mit Kohle, Mist und, in einem Fall, mit Kohlköpfen gefüllt waren. Wie kleine Fische, die im Schutz größerer Tiere schwammen, huschten Menschen zwischen den Fuhrwerken herum: Die Leute zogen Handwagen, bewegten Schubkarren vor sich her oder schleppten auf ihren Schultern hölzerne Joche, an deren Enden schwere Weidenkörbe herabhingen.
Während sie sich dem Stadtzentrum näherten, passierten sie die kürzlich fertiggestellte Fassade des Queen's College, die jetzt nach ihrer Umgestaltung aus Cotswolds-Kalkstein errichtet war. Die Sonne stand tief und strahlte matt, sodass der honigfarbene Stein in einem warmen Gelbton leuchtete. Die klare Herbstluft war erfüllt vom herben Duft fallender Blätter. Sir Henry leitete seinen Fahrer zum Golden Cross, einer Postherberge in der Nähe der Cornmarket Street, und buchte dort ein Zimmer für die Nacht. Kit war erleichtert, als er erfuhr, dass ihm gestattet sein würde, die Stadt zu erkunden - vorausgesetzt, er blieb in der Gesellschaft Sir Henrys oder seines Urgroßvaters.
Der Raum war groß genug für zwei Betten und ein niedriges Sofa, für einen Tisch, zwei Stühle sowie eine hohe Kleiderkommode. Es gab ein einziges Fenster, das sich zum Hof hin öffnete, und einen einfachen Ziegelkamin an der Wand. Kit fand, dass der Raum, den sie sich zu dritt teilen mussten, ihnen nur wenig Platz bot.
Cosimo teilte ihm jedoch mit, dass sie nur wenig Zeit in diesem Zimmer verbringen würden. »Wir machen uns fort, sobald wir den Straßenstaub abgewaschen haben. Folge mir, Kit, mein Junge - ich höre den Ruf der Bierkrüge!«
Im Hauptraum der Herberge herrschte reger Betrieb, doch sie fanden einen freien Tisch und bestellten drei Krüge vom Besten. Als das Ale kam, brachte der Schankwirt eine Schüssel mit gerösteten und gesalzenen Haselnüssen. Sir Henry brachte einen Toast aus, und anschließend stürzten sie alle das süße Ale hinunter.
»Sobald wir hier fertig sind«, verkündete Cosimo, »verschwinden wir, um die Karte zu holen.«
»Und dann?«, fragte Kit.
»Dann werden wir unter den verschiedenen Vorgehensweisen, die uns offenstehen, die beste ermitteln«, antwortete Cosimo. »Falls meine Vermutung richtig ist, werden wir uns zu einem der näheren Leys aufmachen; die Cotswolds sind voll davon, und es gibt etliche von ihnen in unmittelbarer Nähe.«
Eine Weile tranken sie schweigend, bis Kit schließlich fragte: »Sag mir, ist es stets nur die Vergangenheit, die wir besuchen? Ich meine, reisen wir jemals in die Zukunft?«
»Die absolute Zukunft?« Sein Urgroßvater schüttelte den Kopf, sodass seine gewellten weißen Haare umherflogen. »Nein. Niemals. Zumindest habe ich niemals gehört, dass es möglich wäre. Also, die relative Zukunft - nun, das ist etwas völlig anderes.«
»Wie bitte?«, entfuhr es Kit.
»Schau her«, erklärte Cosimo. »Die relative Zukunft ist das, was Sir Henry besuchen würden, wenn er, sagen wir, in das London des Jahres 1920 reiste.«
»Für uns Vergangenheit, aber für ihn Zukunft. Sie ist relativ zu dem Punkt, von dem aus man startet. Ich verstehe.«
»Genau«, stimmte sein Urgroßvater ihm zu. »Aber niemand - nicht Sir Henry, ich, du oder irgendwer sonst - kann sich über die Gegenwart der Heimatwelt hinaus bewegen. Das ist die absolute Zukunft, und keiner vermag dorthin zu reisen.«
»Warum nicht?«
Cosimo blickte kurz zu Sir Henry, der die Stirn in Falten legte, und gestand: »Wir wissen es nicht. Wir haben es versucht, doch es scheint in keiner Weise möglich zu sein. Warum, wissen wir nicht.« Er hielt inne und fügte dann hinzu: »Es ist eine Frage, mit der ich mich jahrelang abgemüht habe.«
»Wir haben einige Theorien dazu«, meinte Sir Henry.
»Ja, und die einfachste Erklärung ist, dass die Zukunft noch nicht existiert.«
»Genau aus diesem Grund nennt man sie die Zukunft, nehme ich an«, warf Kit ein.
»Du musst in Begriffen der Heimatwelt denken«, erläuterte Cosimo, der die spitze Bemerkung seines Urenkels ignorierte. »Unsere Welt, die Heimatwelt beziehungsweise die Welt, in der du aufgewachsen bist - das ist die Ursprungswelt. Sie ist das Zentrum aller Schöpfung. Für die Ursprungswelt existiert die Zukunft als ein Feld des rein Potenziellen, in dem jede mögliche Auswirkung irgendeiner bestimmten Handlung einen getrennten, abweichenden Weg einnimmt. Bis etwas - oder jemand - kommt und einen bestimmten Weg aussucht, verbleiben die verschiedenen Wege in einem Stadium des Unbestimmten, weshalb sie sich nicht im Reich der Zeit befinden.«
Während Kit noch über diese Erklärung nachdachte, fügte Sir Henry hinzu: »Wenn jene Geschehnisse, die eventuell einen Ley in die Landschaft einprägen, nicht stattgefunden haben können, dann besteht auch nicht die Möglichkeit, dass es dort einen Ley gibt - und infolgedessen ist man auch nicht in der Lage, zu dem Ort zu reisen, auf den dieser hypothetische Ley hinweist.«
»Ich glaube, ich hab's kapiert«, meinte Kit. »Man kann nicht irgendwohin reisen, wenn die Straße noch gar nicht existiert.«
»Ganz genau«, pflichtete Cosimo ihm bei. »Und die einfache menschliche Handlung, sich für etwas Bestimmtes zu entscheiden, führt notwendigerweise zum Zusammenbruch aller Möglichkeiten - mit Ausnahme von der, die ausgewählt wurde. Man kann sagen, dass der freie menschliche Wille die rohe, unbestimmte Potenzialität zur konkreten Wirklichkeit kristallisiert.«
»Nur damit ich das richtig verstehe«, sagte Kit, der sich darum mühte, alles zu begreifen: »Nehmen wir einmal an, ich wache eines Morgens auf und stehe vor einer Wahl: Ich kann zu einem Fußballspiel gehen oder den wöchentlichen Einkauf erledigen. Beide Sachverhalte existieren als potenzielle Geschehnisse, richtig?«
»Genau, und darüber hinaus noch viele andere mehr: Alle Handlungen, die du vielleicht an diesem Tag ausführst, existieren als eine Wolke purer Potenzialität.«
»Wenn ich mich jedoch entscheide, zum Spiel zu gehen, brechen alle anderen Möglichkeiten in sich zusammen, nicht wahr?«
»Ja, denn alle Dinge, die du nicht tust, können für dich nicht existieren. Lediglich der Weg, den du wählst, existiert für dich als Realität.«
»Was passiert mit den anderen Wegen?«, wollte Kit wissen. »All die anderen Möglichkeiten - was geschieht mit ihnen? Verschwinden sie einfach, oder was?«
»Ich hatte eigentlich nicht die Absicht, auf dieses Thema einzugehen«, erwiderte Cosimo. »Aber da du darauf bestehst ... Dann versuch, am Ball zu bleiben. Es gibt noch eine andere Denkrichtung, und sie behauptet, dass die Existenz aller Möglichkeiten für jede gegebene Handlung oder Entscheidung fortdauert.«
»Du meinst -«, begann Kit, doch sein Urgroßvater brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen.
»Bleiben wir bei unserem Beispiel«, fuhr Cosimo fort. »Nehmen wir an, du hast die Wahl, zum Spiel zu gehen oder einzukaufen. Also, entsprechend dieser anderen Denkrichtung geschehen beide Sachverhalte. Du entscheidest dich, den wöchentlichen Einkauf zu erledigen - das ist deine bewusste Entscheidung gewesen, und das wird zu deiner Wirklichkeit. Aber - und das muss erst durch direkte Beobachtung bestätigt werden - es gibt vielleicht eine Welt, in der du stattdessen zum Spiel gehst. Beide Sachverhalte ereignen sich, aber in verschiedenen Welten.«
»Irre!«, hauchte Kit, als er merkte, dass das schiere Ausmaß der Implikationen seine begrenzte Fassungskraft überstieg.
»Ich behaupte nicht, dass diese Theorie gültig ist, doch sie stellt einen interessanten Ansatz dar.« Cosimo leerte seinen Pokal, wischte mit dem Ärmelaufschlag seinen Mund ab und erhob sich. »Fertig, Leute? Tempus fugit!«
Sie verließen das Golden Cross, marschierten durch den Hof und betraten die Cornmarket Street. Obwohl die Sonne untergegangen war, hielt sich am Himmel immer noch ein Lichtschimmer; doch die abendliche Dunkelheit warf finstere Schatten entlang der düsteren Straßen. Ein paar dürre Hunde standen herum und beobachteten sie, als sie zur Straßenkreuzung gingen. Auf einmal spürte Kit, wie die Haut auf seinen Armen unerklärlicherweise kribbelte und sich dort die Haare aufrichteten.
»Ja, wir haben gerade den Kreuzungspunkt der Oxford-Leys passiert«, erklärte Cosimo, der offenbar bei Kit etwas bemerkt hatte, und zog eine Augenbraue nach oben. »Auch ich habe ein Prickeln verspürt.«
»Wirklich?«, sagte Kit. »So was ist mir noch nie passiert.«
»Oh, höchstwahrscheinlich doch«, widersprach sein Urgroßvater. »Ich glaube allerdings, dass du nicht wusstest, was es war. Und deshalb hast du es ignoriert.«
»Das ist ein gutes Zeichen, junger Kit«, meinte Sir Henry und klopfte leise mit seinem Spazierstock auf den Boden. »Denn es zeigt, dass Ihr ein größeres Gespür für Eure Gabe entwickelt.«
Sie gingen noch ein kleines Stück weiter die Straße hinunter, bis sie das bekannte College Christ Church erreichten. Vor dem Pförtnerhaus, das sich direkt in dem halb geschlossenen Tor befand, blieben sie stehen. Außerhalb des Häuschens loderten zwei Fackeln in ihren Wandhalterungen.
»Sir Henry Fayth und seine Gäste wünschen Schatzmeister Cakebread zu sehen, wenn ich bitten darf«, sagte Cosimo zu dem Pförtner.
Der Pförtner war ein dicklicher Mann mittleren Alters. Er trug eine weite Kniehose, dicke Wollsocken, eine lange Jacke aus verblichenem rotem Brokat und einen randlosen Hut, der wie ein umgedrehter Topf geformt war. Er warf einen Blick auf die Männer vor ihm, erkannte Lord Castlemain und erklärte: »Welch seltener Besuch! Aber natürlich, Sir! Ich werde Euch geradewegs zu ihm bringen.«
Der Mann hob eine der Fackeln aus der Halterung und schritt um die Ecke. Er brachte die Besucher in den Collegehof mit seinem unvollendeten, dachlosen Klostergebäude und führte sie zu einem kleinen Raum am Ende des gepflasterten Ganges. Dort klopfte der Pförtner gegen die Tür; und von innen erklang eine Stimme, die ihn bat einzutreten. Er trat ein und kehrte wenige Sekunden später mit dem Schatzmeister zurück, einem kleinen Mann mit birnenförmiger Figur und grauem Bart, der aber nur sein Kinn und nicht die Oberlippe bedeckte. Sein kahl werdender Schädel wurde von einem randlosen, runden Hut aus weichem rotem Samt bedeckt.
Abrupt riss der Schatzmeister die Kopfbedeckung herunter, als er sich vor seinen Besuchern verbeugte. »Willkommen, Sir Henry. Es ist wie immer ein ganz besonderes Vergnügen, Euch wieder einmal zu sehen. Wie kann ich Euch an diesem schönen Abend zu Diensten sein?«
Sir Henry dankte dem Pförtner, nahm die Fackel und entließ ihn. Das Licht gab er an Cosimo weiter und sagte: »Ich wünsche Euch einen guten Abend, Simeon. Es ist schön, wieder hier zu sein. Wir möchten nur den Schlüssel zur Krypta, ansonsten werden wir Euch nicht stören.«
»Kein Problem, Sir. Kein Problem.« Der Schatzmeister flitzte ins Innere zurück und kehrte mit einem großen Schlüsselring zurück. »Wenn ich bitten darf, Gentlemen - hier entlang.«
Er geleitete seine Besucher zur Kapelle des College und zu einer Tür im Inneren des Eingangs. Dort hantierte Simeon Cakebread an dem Ring, wählte einen langen eisernen Schlüssel aus und schloss damit die Tür auf. Anschließend führte er sie auf einer Wendeltreppe nach unten in die Dunkelheit. Eine zweite Tür wurde aufgeschlossen, dann drückte der Schatzmeister sie mit einiger Anstrengung auf. Als sich Kits Augen an die Düsternis gewöhnt hatten, sah er zunächst, dass er in einem Gewölbe war und sich in einer der Mauern hoch oben ein schmales Gitter befand. Der Raum, der sechs Seiten aufwies, roch nach Staub und Alter, doch er war trocken. Ganze Reihen eisengepanzerter Kästen von unterschiedlicher Größe - einige von ihnen waren kleiner als Schuhkartons, andere größer als Teekisten - säumten die Umfassungswand. In der Mitte des Raums stand ein niedriger Tisch mit einer großen Kerze auf einer Messingplatte.
»Soll ich das Licht für Euch anzünden, Mylord?«
»Habt Dank, Simeon, doch das wird nicht nötig sein. Wir werden uns schon zu helfen wissen, wenn Ihr nichts dagegen habt. Wir haben die Absicht, nur ganz kurz hier unten zu sein.«
»Dann werde ich Euch Euren Studien überlassen, Sir Henry.« Der Schatzmeister öffnete den Ringverschluss und entfernte einen der kleineren Schlüssel, den er dem Lord übergab, bevor er fortging.
»Mein Freund, Euch gebührt die Ehre«, erklärte Sir Henry und reichte Cosimo den Schlüssel. »Schließlich ist es Eure Karte.«
Cosimo gab seinem Urenkel die Fackel und trat zu einer der Schatullen. Er beugte sich vor und hantierte einen Augenblick lang an dem Schloss. Erst war ein dunkles Klicken zu hören und danach ein rostiges Quietschen, als der schwere Deckel an den starren Scharnieren hochgeklappt wurde.
Cosimo bückte sich, griff nach unten in die Kiste hinein und fühlte ein bisschen umher. Dann hob er eine Rolle aus grobem Tuch heraus. Damit ging er zum Tisch, zog das Tuch fort und enthüllte eine Pergamentrolle, die mit einem schwarzen Satinband zusammengebunden war. Er löste das Band und breitete vorsichtig die Rolle aus.
Kit trat näher und hielt die Fackel über dem Tisch hoch.
Im flackernden Licht starrte er nach unten und erblickte ein merkwürdig geformtes Stück Pergament, das etwa fünf oder sechs Zoll lang und rund zehn Zoll breit war. Die Oberfläche war bedeckt mit Dutzenden eigenartiger kleiner Symbole: seltsame, winzige Formen, die nichts mit einem Objekt der Natur oder mit einer Sprache gemein hatten. Oder zumindest keiner Sprache, die Kit kannte.
»Ist das ...?«, begann er zu fragen.
»Ja«, erwiderte Cosimo. »Das ist die Meisterkarte oder zumindest ein Teil davon. Vor einigen Jahren brachte ich sie hierher, damit sie sicher aufbewahrt ist. Es war Sir Henrys Idee. Cakebread ist absolut vertrauenswürdig und stellt keinerlei Fragen. Und diese Krypta ist praktisch unbekannt, abgesehen von den wenigen, die sie benutzen. Sie ist zudem geschützt vor den Elementen ebenso wie vor zufälliger Beachtung. Ich bewahre die Karte hier auf, damit sie nicht in die falschen Hände fällt.«
»Ganz recht«, pflichtete Sir Henry ihm bei, während er mit einer Fingerspitze vorsichtig über eines der Symbole fuhr - eine winzige Spirale mit Punkten entlang ihres äußeren Randes und einer gezackten Doppellinie durch ihr Zentrum. »Viel Zeit ist vergangen, seitdem ich dies zuletzt gesehen habe.«
Cosimo kramte aus seinen Taschen einen Stift und Papier hervor, die er aus einer anderen Zeit und von einem anderen Ort mitgebracht hatte, und beugte sich über das Pergament. »Hier, Kit, drück das bitte nach unten, ja. Ich muss diesen Teil kopieren.«
Kit legte seine Hand auf eine widerspenstige Kartenecke und starrte auf das nichtssagende Gekrakel sowie die wirbelförmigen und in sich verflochtenen Linien dieser fremdartigen Symbole. »Sie sagen dir, wohin wir gehen müssen, nicht wahr?«
»Das sagen sie mir - und noch mehr«, antwortete Cosimo, der mit dem Stift herumfuhrwerkte. »Ich werde dich lehren, wie die Zeichen zu lesen sind, aber gerade jetzt ...« Er hielt inne und starrte auf das Pergament, das vor ihm lag. »Oh!«
Sein Oberkörper fuhr aufrecht nach oben; immer noch blickte er erstaunt auf die Karte.
»Was?«, fragte Kit.
Cosimo drehte sich ihm zu. Seine Augen waren vor Schreck geweitet.
»Ein Gespenst gesehen?«
»Schlimmer als das«, murmelte Cosimo. »Weitaus schlimmer.« Er packte das Pergament mit beiden Händen und hielt es sich vor die Nase. »Mehr Licht!«, befahl er.
Kit, der die Fackel noch fester umklammert hielt, brachte sie so nahe an das Pergament heran, wie er es wagen konnte.
»Genau wie ich gedacht habe!«, schrie Cosimo und schleuderte die Karte Sir Henry zu. »Eine Fälschung!«
»Bei meinem Wort, Sir«, stieß der Lord keuchend hervor und betrachtete die Karte genau. »Seid Ihr sicher?«
»Es gibt nicht den geringsten Zweifel. Schaut her! Die Symbole sind schlampige, mangelhaft erstellte Nachbildungen. Ach, das Ding ist beinahe unentzifferbar. Wer auch immer das hier gemacht hat, besaß offenkundig nicht die leiseste Ahnung, was er da kopierte.« Verärgert griff er nach dem Pergament. »Das ist nicht die Karte. Jemand hat das Original entwendet und an seiner Stelle eine minderwertige Kopie zurückgelassen. Kurz gesagt, Leute, wir sind bestohlen worden.«
»Ungeheuerlich!«, rief Sir Henry. »Wir werden nicht zulassen, dass diese Verletzung des Besitzrechts einfach so hingenommen wird. Schatzmeister Cakebread wird wissen, wer hier unten gewesen ist und wann. Er wird eine Liste ihrer Namen haben. Wir brauchen nur -«
»Wartet! Wartet«, unterbrach ihn Cosimo, der sich mit der Hand durchs Haar fuhr und sich einmal um die eigene Achse drehte. »Vergebt mir, Sir Henry, aber nein ... Wir werden nichts unternehmen und nichts sagen.«
»Nichts? Aber dieses Verbrechen muss sicherlich gemeldet werden. Wir müssen -«
»Wir dürfen uns nicht anmerken lassen, dass wir von dem Fehlen der Karte wissen - denn sonst riskieren wir, den Dieb zu warnen. Und dann ist er auf der Hut.« Cosimo warf die gefälschte Karte auf den Tisch. »Begreift Ihr es nicht? Wer auch immer das getan hat, muss auch weiterhin der Überzeugung sein, dass seine List unentdeckt geblieben ist.«
Sir Henry griff den Faden auf. »Trügerische Zuversicht wird ihn sorglos werden lassen, und dadurch wird sich sein Ende beschleunigen. Sehr weise, Sir. Ich füge mich Eurem überlegenen Verstand.«
»Was ist nun mit dieser Karte?«, wollte Kit wissen. »Können wir sie trotzdem benutzen?«
»Leider nicht«, erwiderte Cosimo. »Ich fürchte, sie ist wertlos. Wer weiß, welche Fehler sie enthält? Wir müssen uns etwas anderes ausdenken.« Er dachte so angestrengt nach, dass sich auf seiner Stirn Falten bildeten; dann aber erhellte sich sein Gesichtsausdruck ein wenig. »Ich hab's!«, verkündete er. »Black Mixen.«
»Ach ja«, stimmte Sir Henry ihm zu, der sich offenkundig nur langsam für diese Idee begeistern konnte. Dann aber erklärte er: »Ich pflichte Euch voll und ganz bei. Das wird für uns der beste Weg sein.«
»Black Mixing?«, hakte Kit nach. »Was bedeutet das?«
»Black Mixen! Der Black Mixen Tump ist ein Hügel und befindet sich nicht weit von hier in den Cotswolds«, antwortete Cosimo. Als er Kits verwirrten Gesichtsausdruck sah, fügte er hinzu: »Mach dir nichts draus; du wirst schon bald genug sehen.« Er drehte sich um und rollte vorsichtig das Pergament zusammen. Dann legte er das Band um die Rolle, verschnürte es und wickelte sie ins Tuch ein. Schließlich brachte er sie wieder in der Kiste unter und verschloss sie. »Da hinein - und damit basta! Also, kein Wort zu Cakebread oder irgendjemandem sonst über das, was wir heute Abend hier unten entdeckt haben. Einverstanden?«
»Absolut«, erwiderte Sir Henry. »Kein Sterbenswort.«
»Nur noch eine Frage«, sagte Kit, als sie die Wendeltreppe hinaufstiegen. »Wer auch immer die Karte gestohlen hat ... Um den Diebstahl zu verbergen, hat er große Mühen auf sich genommen. Warum hat er nicht einfach die Karte genommen und ist verschwunden?«
»Tut mir leid, ich habe keinen blassen Schimmer, weshalb er das gemacht hat«, antwortete Cosimo. »Womöglich werden wir es erst dann herausfinden, wenn wir den geschnappt haben, der den Schwindel begangen hat.«
Draußen war es inzwischen recht kühl geworden, und am Abendhimmel zeigten sich hoch über dem aufsteigenden Mond feine Dunstschleier. Eine Schar Studenten in schwarzen Roben schlurfte laut das Klostergebäude entlang. Die drei Besucher hielten vor dem Büro des Schatzmeisters an, um den Schlüssel zurückzugeben.
»Ich hoffe, Sir Henry, dass Ihr alles zu Eurer Zufriedenheit vorgefunden habt, oder?«, fragte Simeon, während er hinauskam, um den Schlüssel entgegenzunehmen. »Ist alles in Ordnung?«
»Wir sind zufrieden«, antwortete Sir Henry höflich. »Und nun, Schatzmeister Cakebread, wünsche ich Euch eine sehr gute Nacht und sage Euch Lebewohl, bis wir uns erneut treffen.«
»Das Gleiche wünsche ich Euch, Sir Henry«, erwiderte der Schatzmeister und verbeugte sich dabei. »Gott bewahre Eure Gesundheit, Gentlemen, und Euer Wohlergehen. Gute Nacht.«
Als sie am Pförtnerhaus vorbeigingen, begannen die Glocken des Pembroke College zu läuten und sogleich auch die der Kapelle, die sich auf der gegenüberliegenden Seite der nun menschenleeren Straße befand.
»Zeit für alle gottesfürchtigen Männer, bei ihren Gebeten zu sein«, bemerkte Sir Henry. »Würde einer von Euch sich mir anschließen?«
»Warum nicht?«, antwortete Cosimo. »Zweifellos werden wir noch ein Gebet oder zwei nötig haben, bevor das Ende dieses Abenteuers in Sicht kommt.«
Kit fühlte sich durch diese Erklärung nicht gerade beruhigt. Doch er folgte brav den beiden anderen über die Straße und schritt mit ihnen zum Gotteshaus, dessen Glocken mit ihren messerscharfen Tönen die frische Nachtluft durchschnitten. Sie betraten den Kirchhof; und als das letzte Geläut über der Stadt verklang, schlüpften die drei Männer leise in das geweihte Gebäude.