FÜNFZEHNTES KAPITEL

Das Golden Cross erwachte in aller Herrgottsfrühe, und sogleich herrschte in ihm eine rege Geschäftigkeit. Alle Herbergsgäste waren begierig darauf, sich rasch ihren Unternehmungen zu widmen. Nach einem Frühstück aus altem Brot und einem hastig hinuntergeschluckten Krug schäumenden Biers kämpfte sich einer nach dem anderen aus der Tür hinaus und hinein in eine der abfahrenden Kutschen. Da Sir Henry über ein eigenes Gefährt verfügte, war er in der Lage, in einer weniger nervenaufreibenden und gehetzten Weise abzureisen - aber immer noch viel zu früh für Kits Geschmack. Er ließ sich mit seinem Ale und Brot Zeit und wünschte sich dabei mit jedem schlaftrunkenen Nerv und jeder müden Sehne, dass vor ihm auf dem Tisch eine Tasse starken schwarzen Kaffee und ein warmes Croissant ständen. Kaffeehäuser waren jedoch in dieser Epoche noch dünn gesät und exklusive Treffpunkte für träge Reiche, Intellektuelle, Radikale und andere Außenseiter unterschiedlicher Couleur.

Nachdem Kit sich mit dem beholfen hatte, was ihm angeboten worden war, folgte er Cosimo und Sir Henry in den grauen Morgen hinaus. Der Boden war überzogen von einer dicken Schicht Nachtfrost, und von den Pferden, die gerade aus dem warmen Stall gekommen waren, stieg Dampf in die kalte Luft auf: Allein vom Hinschauen begann Kit unwillkürlich zu zittern. Er fand eine Reisedecke und wickelte sie um sich. Die Peitsche des Kutschers knallte wie ein Gewehrschuss in der frostigen Luft, und sogleich ratterte der Wagen aus dem Herbergshof hinaus auf die Straße.

Sie kamen zügig voran und erreichten bald Oxfords baufälliges North Gate. Sobald sie es passiert hatten, kamen sie an ärmlichen Behausungen vorbei, die in einem wirren Durcheinander an den zerbröckelnden Ruinen der alten Stadtmauer errichtet worden waren. Anschließend ging es hinaus in die freie Landschaft.

Kit beobachtete, wie das Land unter einem leuchtend blauen Septemberhimmel langsam zum Leben erwachte. Im Verlauf der Weiterfahrt stiegen die Temperaturen, und Kit streifte bald die Reisedecke ab. Er wärmte sich im hellen Sonnenschein, während er den Gesprächen der beiden Männer lauschte.

Nach einer Weile passierten sie einen winzigen Weiler, durchquerten eine Furt des Flusses Cherwell und kutschierten weiter, bis sie das Dorf Banbury erreichten. Dort machten sie Rast und labten sich an ein paar Fleischpasteten, die sie beim Bäcker des Ortes erstanden hatten, bevor sie ihre Reise fortsetzten. Danach bogen sie in Richtung Westen ab und fuhren auf kleinen Straßen sowie Bauernpfaden in das Windrush Valley hinunter.

Kit spähte aufmerksam nach draußen, während die Cotswolds an ihnen vorbeizogen. Er war verzaubert von den runden, dicht aneinander gedrängten Hügeln, die sich schier endlos ausdehnten, und ihren sanften Hängen, die sich über stromlinienförmigen Tälern erhoben, welche kleinen bäuerlichen Gemeinschaften Zuflucht boten.

Der kurze Herbsttag neigte sich langsam seinem Ende zu. Als draußen die Schatten immer länger wurden, erspähte Kit in der Nähe einen merkwürdig aussehenden Hügel: Selbst in einer von Anhöhen geprägten Landschaft fiel er wegen seiner absolut symmetrischen Seiten und seinem Gipfel auf, der flach wie eine Tischplatte war. Ein Trio aus großen Bäumen zierte jene flache Spitze wie die drei Federn im Turban eines Sultans. Eigenartig war auch, dass der Hügel trotz des noch reichlich vorhandenen Tageslichts im Schatten zu liegen schien. Es hatte den Anschein, als würde er eine dunkle, melancholische Luft verströmen - ein Eindruck, der immer stärker wurde, je näher sie herankamen.

»Ah, da ist er ja«, verkündete Cosimo, der gerade aus einem Nickerchen aufgewacht war. Er gähnte und streckte sich. »Das ist der Black Mixen.« Er schüttelte sich. »Ein unangenehmer Ort. Würde mir nicht wünschen, mich dort oben in der Nacht aufzuhalten.«

»Du machst wohl Witze«, meinte Kit. »Das ist doch bloß ein Hügel.«

»Ja, und ich nehme an, dass die Beulenpest bloß eine Krankheit ist.«

Kit räumte ein, dass dieser Ort irgendwie düster zu sein schien. »Was ist denn so schlimm an ihm?«

»Es gibt Geschichten«, antwortete Cosimo vielsagend. »Viele Geschichten, die sich im Verlaufe der Zeit anhäuften wie die Erinnerungen eines alten Soldaten - und sie wurden mit den Jahren immer dunkler und trübseliger.«

Einen Moment betrachtete Kit den unheilvollen Hügel. Er musste zugeben, dass an diesem Ort eine ausgesprochen düstere, bedrohliche Atmosphäre herrschte - hervorgerufen durch die Art und Weise, wie der Hügel kauernd und brütend in der Landschaft saß, und durch seine in trübselige Schatten getauchten Seiten, die ungewöhnlich schroff nach unten fielen.

»Es gibt einen gut dokumentierten Fall, der damals in der Heimatwelt passiert ist«, fuhr Cosimo unbekümmert fort. »Ein junger Bursche, der gerade aus dem Ersten Weltkrieg zurückgekehrt war, ging zu einem Treffen mit seiner Liebsten, das unter den Trollen stattfinden sollte - damit sind die drei großen Eichen auf dem Gipfel gemeint. Der arme Kerl wurde von seinem Mädchen versetzt, wie es schien, und schlief ein, während er dort wartete. Er verbrachte die ganze Nacht alleine im Schatten des Hügels ...« Cosimos Stimme verstummte.

»Und?«, hakte Kit nach.

»Man hat ihn niemals wiedergesehen. Am Boden gab es Hinweise auf einen ungeheuren Kampf, und ein Stück weiter fanden sie seinen Mantel und Hut sowie den Teil eines Schuhs.«

»Wirklich?«

»Ach, Unsinn, du blöder Kerl!«, rief Cosimo lachend. »Der junge Bursche kam am nächsten Morgen nach unten, aß ein zünftiges Frühstück und ließ das unzuverlässige Frauenzimmer für eine hübsche kleine Bardame in jenem Ort sitzen.« Cosimo lachte über den verwirrten Gesichtsausdruck seines Urenkels. »Was hast du geglaubt, was passiert wäre?«

»Du hinterhältiger alter Knacker!«, schimpfte Kit. »Ich habe dir geglaubt.«

»Versuch, nicht den Kopf zu verlieren, mein lieber Junge«, riet sein Urgroßvater, der sich immer noch köstlich über den eigenen Scherz amüsierte. »Nein, nein - vergib mir, aber es gab nichts dergleichen. Die Auswirkungen des Black Mixen sind - ungelogen - sehr viel feiner und weniger störend für die Menschen hier vor Ort.«

»Und welcher Art sind sie?«, fragte Kit misstrauisch.

»In einem Radius von einer halben Meile sind dort Kompassangaben verzerrt; Rinder und Schafe setzen kein einziges Bein auf die Abhänge; und Vögel bauen keine Nester in den Bäumen. Es gibt sogar aufgezeichnete Vorfälle von Zeitabweichungen.«

»Zeitabweichungen«, wiederholte Kit. »Na klar.«

»Oh, das entspricht vollkommen der Wahrheit; ich versichere es dir. In den frühen Dreißigern hat ein Oxford-Professor einige Tests durchgeführt - mit Uhren, reflektierten Lichtstrahlen, Messgeräten für die Magnetfeldstärke und wer weiß was sonst noch. Die auf dem Black Mixen zurückgelassenen Uhren liefen entweder immer langsamer oder wurden schneller, oder sie blieben alle zusammen einfach stehen. Die Spektralanalyse von reflektierten Lichtstrahlen zeigte einen dramatischen Wechsel zum Rotbereich hin. Zudem bewegten sich Schallwellen langsamer als gewöhnlich und wiesen alle Arten von seltsamen Anomalien auf.«

»Und welche Erklärung gib es dafür?«

»Keine«, antwortete Cosimo. »Der Professor ging völlig verwirrt fort; und seine Untersuchungen, die immer noch aktenkundig sind, haben bislang zu keinen sinnvollen Theorien geführt. Doch unter den superschlauen Experten wird der Black Mixen als ein Portal oder als ein Drehkreuz angesehen - ein Ort, der zahlreiche Überschneidungen mit anderen Welten enthält. In Großbritannien sind mehrere solcher Knotenpunkte bekannt: Stonehenge ist der größte und aktivste von ihnen, und du tätest gut daran, diesem Portal weit fernzubleiben. Der Ring von Brodgar auf den Orkney-Inseln ist ein weiteres und alles in allem viel nützlicheres Drehkreuz. Natürlich unterscheidet sich ein solcher Schnittpunkt von einem Ley. Aber für unserer Zwecke funktioniert er auf ziemlich die gleiche Weise.«

»Ich verstehe«, erklärte Kit und unterstrich diese Behauptung mit einem Nicken. Gleichwohl begriff er nicht viel außer der Tatsache, dass sie zu diesem Ort gereist waren, um einen Weg zu finden, Wilhelmina aufzuspüren und zu retten: ein Unternehmen, das mit jedem Tag, der verstrich, immer komplizierter wurde. »Es ist ein Hügel, der seltsam aussieht; das gestehe ich gerne zu.«

»Seltsam, das ja - vielleicht, weil er eigentlich von Menschen errichtet worden ist«, teilte Cosimo mit. »In der Jungsteinzeit, glaube ich, oder der frühen Bronzezeit. Das lässt sich schwer feststellen. Der Ort ist so uralt, und er wurde über sehr lange Zeiträume hinweg von aufeinander folgenden Stämmen und Rassen genutzt.«

Kit nickte anerkennend. Er war sehr beeindruckt von der unglaublich harten Arbeit, die geleistet worden sein musste, um solch ein gewaltiges Gebilde zu errichten. Allein das Schleppen der ganzen Erde ohne schwere Maschinen musste Millionen von Arbeitsstunden gekostet haben: eine gewaltige Anstrengung, egal, wie man es betrachtete. Beeindruckend - aber nichtsdestotrotz aufs Höchste unsinnig.

»Wieso unsinnig?«, wollte Cosimo wissen, als Kit seine Überlegungen zum Ausdruck brachte.

»Nun, schau es dir an«, entgegnete er. »Es ist ein Hügel - in einer Landschaft, die voller Hügel ist. Was für einen Sinn soll das haben, um Himmels willen?«

»Das ist genau der Sinn«, erwiderte Cosimo. »Er wurde um des Himmels willen errichtet.«

Sir Henry, der auf dem Sitz neben ihm friedlich schnarchte, bewegte sich in diesem Augenblick und erwachte mit einem kleinen Hopser. »Oh!«, entfuhr es ihm, und er setzte sich rasch gerade. »Du lieber Himmel, ich muss eingedöst sein.«

»Ist schon recht«, versicherte Cosimo. »Ich habe auch ein wenig geschlafen. Ihr seid nur gerade mit einem Ruck aufgewacht. Ist was?«

»Ich hatte einen äußerst seltsamen Traum«, enthüllte Sir Henry. »Sehr verstörend. Nun ist er fort - vollkommen verschwunden -, und ich kann mich nicht daran erinnern, was es gewesen sein mag, doch es erfüllte mich mit einer mächtigen, bangen Ahnung ...« Er wandte sich um und schaute in Richtung des Black Mixen. Seine Augen verengten sich. »Der also! Das hätte ich mir eigentlich denken können.«

»Ja, wir sind fast da«, bestätigte Cosimo, zog aus der Westentasche seine goldene Uhr hervor und knipste das Gehäuse auf. »Wir scheinen etwas früh dran zu sein.«

»Eine fantastische Erfindung«, bemerkte Sir Henry und betrachtete Cosimos Zeitmesser mit einem neidischen Blick. »So gerne hätte ich auch eine.«

»Aber, aber, Sir Henry«, ermahnte ihn Cosimo mit hochgezogener Augenbraue. »Ihr kennt die Regeln.« Mit einem Klacken schloss er das Gehäuse und steckte die Uhr wieder in seine Tasche. »Es scheint, dass wir eine kleine Weile warten müssen.«

»Warum?«, fragte Kit verblüfft. »Wir sind hier. Lasst uns beginnen mit dem - was auch immer es ist -, weswegen wir hergekommen sind.«

»Wie bei den meisten Dingen im Leben kommt es auch hier auf den geeigneten Zeitpunkt an«, entgegnete Cosimo. »Leys sind natürlich ›zeitempfindlich‹, wie du inzwischen wissen solltest - und das gilt noch mehr für Portale wie den Black Mixen. Es würde einfach nicht funktionieren, wenn man vorzeitig dorthinaufstürmte und herumpfuschte.«

»Und die geeignete Zeit ist wann genau?«, fragte Kit, der wie immer das Gefühl hatte, überhaupt keine Ahnung zu haben.

»Sonnenaufgang oder -untergang - eins von beiden. Genau dann, wenn Tag und Nacht sich sozusagen in einem Stillstand befinden, werden die Portale am aktivsten; und in dieser Phase können Reisen zwischen den Dimensionen einfacher bewerkstelligt werden. Natürlich gibt es noch andere Wege und Mittel, doch ohne die erforderliche Übung oder die spezielle Ausrüstung ...« Cosimo zuckte mit den Schultern. »Am besten wartet man einfach.«

Kit lehnte sich in seinem Sitz zurück, während die zwei anderen Männer sich eifrig bemühten, ihre Beine zu strecken. Sie entschieden, dass ein Spaziergang um den Hügel genau das Richtige wäre, um die Lebensgeister zu aktivieren.

»Kommst du mit, Kit?«, fragte Cosimo.

Kit betrachtete den Kutscher, der auf seinem Sitz eingeschlafen war, und entschied sich zugunsten eines Nickerchens. »Ich bleibe hier und leiste dem Fahrer Gesellschaft. Ihr zwei macht einen Spaziergang und vergnügt euch dabei.«

»Wir sind bald wieder zurück«, erklärte Cosimo. »Geh nicht fort. Wenn es Zeit ist aufzubrechen, müssen wir alle bereit sein.«

Kit wickelte die Reisedecke fest um sich herum und zog sie bis zum Kinn. Er schloss die Augen, schlief bald darauf ein ... und erwachte wenig später vom Klappern und Plappern von Saatkrähen, die herbeischwärmten und sich auf den hohen Ästen der umstehenden Bäume niederließen. Kit richtete sich auf und sah sich um. Der Kutscher war verschwunden - zusammen mit den Pferden. Zweifellos hatte er sie zum Grasen weggeführt. Die Sonne stand als matter, verblassender, weit entfernter Punkt am westlichen Himmel; die Schatten waren bereits lang und recht dunkel. Die Luft war kühl, und es versprach, eine frostige Nacht zu werden.

Kit ließ seine Augen über den steilen Hang des nahe gelegenen Hügels wandern und erblickte zwei Gestalten, die zur Kuppe hochkletterten. Als sie oben ankamen, machten sie eine kurze Pause und verschwanden dann hinter dem Kuppenrand, sodass sie nicht mehr zu sehen waren.

»Typisch«, grollte Kit. »Sie haben mich vergessen und hier zurückgelassen.« Er sprang aus der Kutsche und begann die Steigung des von Menschenhand errichteten Hügels hochzuwandern. Das Gras war lang und ein wenig rutschig unter der Schuhsohle, was das Gehen anstrengend und ermüdend machte. Auf halbem Weg nach oben vernahm er ein Geräusch, das von einer leisen, stark nachhallenden Trompete herrühren mochte. Kit blieb stehen und wartete. Doch als danach nichts mehr passierte, stapfte er weiter den Hügel hoch. Als er schließlich den Rand der Kuppe erreichte, schnaufte er stark. Er hielt an, beugte sich vor und legte die Hände auf die Knie, um wieder zu Atem zu kommen. In dem Moment hörte er Stimmen - sie klangen laut und zornig. Er blickte hoch und sah vier Männer: Sir Henry und Cosimo sowie zwei grobschlächtige Fremde in langen schwarzen Mänteln und hohen Reitstiefeln. Ihrer Haltung nach zu urteilen, war es zu einer unvermuteten Konfrontation gekommen.

»Burley-Männer«, murmelte Kit. »Na, toll!«

Um besser sehen zu können, schlich er sich näher heran. Cosimo hielt einen kleinen silbernen Gegenstand in den Händen, der einer Glocke ähnelte. Kit vermochte keine Waffen zu entdecken. Wichtiger noch: Es gab keinerlei Hinweise auf das fleischfressende Maskottchen der Burley-Männer - den gefürchteten Höhlenlöwen. Dadurch, so schien es ihm, dürfte sich das Gleichgewicht der Kräfte etwas zu ihren Gunsten verschieben. Sie würden drei gegen zwei sein; und mit diesem Zahlenverhältnis sollten sie in der Lage sein, die Schlägertypen zu überwältigen oder zu vertreiben.

Zwischen Kit und den anderen standen die Trolle, die großen alten Eichen. Geduckt schlich er am Rand der flachen Hügelkuppe entlang. Dabei achtete er darauf, dass die knorrigen Stämme der altehrwürdigen Bäume sich stets zwischen ihm und den anderen befanden, und versuchte, so gut wie möglich außer Sicht zu bleiben. Als er näher kam, fing er einige Wortfetzen der Auseinandersetzung auf.

»... wissen wir, dass Ihr sie habt ...«, hörte er eine Stimme sagen, die zu einem der Fremden gehörte.

»... habe nicht die geringste Absicht ...«, antwortete sein Urgroßvater.

Dieser Äußerung folgte der Satzfetzen: »... aufgeben, oder Ihr müsst die Folgen tragen ...« Diese Worte stammten vom anderen Fremden.

»Und wenn wir uns weigern?«, entgegnete Sir Henry.

Sie sind hinter der Karte her, fuhr es Kit durch den Kopf. Die glauben, dass wir sie haben.

Er war sich nicht sicher, was er nun unternehmen sollte. Das Beste wäre, überlegte er, irgendeine Art von Ablenkungsmanöver durchzuführen. Dies würde Cosimo und Sir Henry in die Lage versetzen, die Oberhand zu gewinnen. Kit atmete tief ein, um sich innerlich zu beruhigen, und richtete sich zur vollen Größe auf. Dann brach er aus dem Schutz der Bäume hervor und stieß einen, wie er hoffte, Furcht erregenden Schrei aus.

Die Überraschung erzeugte den gewünschten Effekt. Die beiden Fremden schreckten auf und drehten sich gleichzeitig um. Cosimo sprang beiseite und zog Sir Henry mit sich.

»Kit!«, rief Cosimo. »Er hat eine Knarre!«

In dem Moment sah Kit das, was er schon vorher hätte bemerken sollen: Einer der Burley-Männer hielt eine Steinschlosspistole in der Hand. Ohne das geringste Zögern riss er sie hoch und zielte damit direkt auf Kit, der sich augenblicklich zu Boden warf. Es gab ein dumpfes Klatschgeräusch, als der Feuerstein auf die Pfanne schlug. Darauf folgten das scharfe Zischen des entzündeten Pulvers und der Explosionsknall. Kit spürte, wie die Bleikugel einen knappen Zoll über seinen Kopf hinwegsauste. Ohne abzuwarten, was als Nächstes passieren würde, sprang Kit auf und stürzte sich mit dem Kopf voran auf den vordersten der beiden Burley-Männer. Der Strolch holte aus, um Kit zu treffen, dem jedoch ein beinahe perfektes Rugby-Tackling gelang: Er prallte gegen den Unterleib seines Gegners und schleuderte ihn rücklings zu Boden.

Nach dieser Attacke hatte Kits Plan seinen natürlichen Abschluss gefunden.

Bevor er darüber nachdenken konnte, was er als Nächstes unternehmen sollte, spürte er, wie ein brutaler Ellbogenschlag seine Rippen traf. Kit rollte sich fort und hielt sich die Seite, während sein Angreifer sich auf die Füße kämpfte.

Sir Henry stürzte nach vorn. Er packte seinen Spazierstock wie einen Kricketschläger, schwang ihn nach oben und schlug ihn ins Gesicht des Burley-Mannes, der daraufhin zurückwich. Cosimo griff den zweiten Gegner mit einem ungestümen Schwinger an, der jedoch sein Ziel verfehlte. Nichtsdestotrotz verlor der Mann beim Zurückweichen sein Gleichgewicht. Er stolperte nach hinten, und Cosimo stampfte auf seinen Fuß, sodass der Schurke der Länge nach hinfiel.

»Kit!«, schrie Cosimo. »Hierher! Beeil dich!«

Kit, der sich am Boden wand, blickte auf und sah durch seine tränenfeuchten Augen, dass sein Urgroßvater auf einem viereckigen Markierungsstein stand. Er hatte seine Arme hochgehoben und wurde von etwas umgeben, das wie ein umgekehrter Kegel aus leuchtendem, türkisfarben schillerndem Nebel aussah. Sir Henry trat rasch in den unirdischen Dunst und ergriff eine der hochgestreckten Hände von Cosimo.

Der Burley-Mann, der Kit am nächsten stand, trat um sich und traf ihn mit dem Stiefel in den Unterleib. Kit klappte zusammen und schnappte nach Luft.

»Kit!«, brüllte Cosimo. »Jetzt mach schon! Wir haben keine Zeit mehr!«

Doch der Burley-Mann war mit Kit noch nicht fertig. Er bückte sich und ergriff einen Felsbrocken. Dann trat er näher heran und hob den schartigen Stein hoch über seinen Kopf, um den Fels auf Kits ungeschützten Schädel niederzuschmettern.

»He, du!«, schrie jemand hinter ihnen. »Halt!«

In Kits verschwommenem Gesichtsfeld tauchte Sir Henrys Kutscher auf. Er jagte mit einer Kutscherpeitsche in der Hand heran. Kit hievte sich auf Hände und Knie und versuchte aufzustehen.

Im Vorwärtsstürmen schwang der Kutscher seine Peitsche. Der Burley-Mann stand nun über Kit, zielte mit dem Felsen und stellte sich auf die Zehen, um einen vernichtenden Schlag auszuführen.

Die Peitsche knallte.

Das dünne, geflochtene Leder sauste auf den Raufbold zu, schlängelte sich um einen seiner Arme und riss diesen zur Seite. Der Stein glitt aus seinen Händen, fiel nach unten und prallte dabei gegen den Kopf des Strolchs. Der Burley-Mann schrie vor Wut und Schmerz auf, drehte sich fort und hastete auf den schimmernden Lichtkegel zu. Sein Kumpan im schwarzen Überzug brüllte etwas, das Kit nicht verstand. Dann tauchten beide Männer mit dem Kopf voran in das schillernde Licht ein und folgten Cosimo und Sir Henry nach.

Kit erblickte flüchtig die vier vom schimmernden Licht umhüllten Männer. Für einen winzigen Augenblick hörte jede Bewegung bei ihnen auf, und dann schienen die Männer sich gleichzeitig auszudehnen und kleiner zu werden. Der türkisfarbene Kegel schrumpfte zu einem bloßen Funken und verschwand mit einem leisen Knacken wie von statischer Elektrizität.

Kit, der inzwischen aufgestanden war, rannte zum Markierungsstein. Doch von dem Licht und den vier Männern war nichts mehr zu sehen.

Er sprang auf das steinerne Quadrat, wo die Männer gestanden hatten - doch ohne Erfolg. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, was er als Nächstes unternehmen sollte; und so vollführte er einen kraftlosen Hüpfer und setzte sich nieder.

»Seid Ihr verletzt, Sir?«, fragte der Kutscher und eilte zu ihm.

»Mir tun die Rippen weh«, antwortete Kit, der sich mit der Hand die Seite hielt. »Oh, ich fühle mich nicht allzu gut.«

»Ich bin sofort herbeigerannt, als ich den Lärm gehört habe«, beteuerte der Kutscher. »Doch es scheint, dass ich zu spät gekommen bin.« Er wickelte seine Peitsche auf und schaute umher. »Nun, ich schätze, Sir Henry und der andere Gentleman sind zu einer ihrer Reisen aufgebrochen - und das in recht rauer Gesellschaft, wie ich vermute.«

Zum ersten Mal betrachtete Kit den Kutscher genauer. Er war ein wenig überrascht, als er entdeckte, dass es sich um einen jungen Burschen handelte. Der Mann war mehr oder weniger so alt wie Kit, hatte volles, kurz geschnittenes Haar und einen untersetzten, stämmigen Körperbau. Er besaß ein breites, ehrliches Gesicht, starke Schultern und einen Stiernacken. Seine Hände waren kräftig und schwielig von der körperlichen Arbeit. Zudem trug er ein weißes Halstuch, das er straff geknotet hatte.

»Wie lautet Euer Name?«

»Standfast.« Er vollführte eine kuriose Handbewegung an seiner Schläfe - das symbolische Lüften einer unsichtbaren Kopfbedeckung. »Giles Standfast.«

»Wie nennen Euch Eure Freunde?«

Der Diener blickte verdutzt, dann zuckte er halbherzig mit den Schultern. »Ich habe keine Freunde, Sir.«

»Nun, jetzt habt Ihr einen.« Kit streckte seine Hand aus. »Ihr habt mein Leben gerettet, und dafür danke ich Euch. Nennt mich Kit.«

Der Kutscher betrachtete die dargebotene Hand mit zögerlichem Interesse, dann nahm er sie mit einem kraftvollen Schütteln an.

»Freut mich, Euch kennenzulernen, Giles«, sagte Kit, der beim kräftigen Händedruck des jungen Mannes zusammenzuckte.

»Ebenfalls, Sir.«

»Also, Ihr wisst von Sir Henrys Reisen?«, fragte Kit, der seine Hand zurückzog, als wäre sie in einem Fangeisen für Bären gewesen.

»Jawohl, Sir«, antwortete Giles.

»Nun denn«, nahm Kit ihn beim Wort, »vielleicht könntet Ihr mir ja sagen, was wir jetzt unternehmen sollen?«

»Nun, Sir, ich soll nach Hause gehen und auf Sir Henrys Rückkehr warten«, meinte der Kutscher.

»Zurück nach London?«

»Gewiss, Sir. Zurück nach London.«

Kit nickte. Er warf einen letzten Blick rund um die flache, kreisförmige Kuppe des Black Mixen. Die Trolle ragten drohend über ihren Köpfen auf, und die abendlichen Schatten hatten bereits den Hügelgipfel für sich beansprucht. Alles war ruhig und friedvoll in der anbrechenden Nacht.

»Na schön«, sagte Kit, der sich den Staub von den Kleidern klopfte. »Also zurück nach London. Geht voran, Giles, mein Freund.«

Die Zeitwanderer
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