NEUNZEHNTES KAPITEL
Die Rückreise nach London war deprimierend. Sobald sie den Black Mixen Tump verließen, wurde das Wetter zunehmend feuchter, kälter und trostloser. Niedrige Wolken zogen sich zusammen, und Nebel stieg von den sumpfigen Gebieten auf. Sie waren gerade außerhalb des Dorfes Banbury, als es aus den dichten Wolken zu regnen begann. Kit, der bei jeder rumpelnden Bewegung des Gefährts zusammenzuckte und sich die schmerzenden Rippen hielt, fasste den Entschluss, dass sie für einen Tag genug Spaß gehabt hatten. Und so wies er Giles an, beim nächsten Gasthof anzuhalten.
Sie nahmen ein Abendessen aus Lammkeule und Knödeln zu sich und saßen dabei gemeinsam mit einigen anderen Reisenden an einem Tisch. Nachdem sie den einzigen Gemeinschaftsraum besichtigt hatten, den sie mit anderen spät eingetroffenen Gästen würden teilen müssen, beschlossen sie, stattdessen in der Kutsche zu schlafen.
Am nächsten Morgen waren sie bereits bei Sonnenaufgang auf der Straße nach Oxford und machten dann eine Rast im Golden Cross, um zu frühstücken. Anschließend setzten sie ihre Reise fort.
Kaum waren sie außerhalb von Headington, begann es wieder zu regnen - ein scheußliches tröpfelndes Nieseln. Kit hatte Mitleid mit Giles, der in gebeugter Haltung allein auf seiner Bank saß und im Regen durch eine trostlose, nasse Landschaft fuhr. Nach einiger Zeit kletterte Kit nach oben und setzte sich neben seinem neuen Freund, nur um ihm Gesellschaft zu leisten. Doch Giles fühlte sich offensichtlich unbehaglich, als er seinen Passagier vorne bei sich hatte. Zweifellos verletzte dies das eiserne gesellschaftliche Protokoll, das streng die unterschiedlichen Klassen auf ihren jeweiligen Plätzen hielt. Daher schlich Kit bei der erstbesten Gelegenheit zu seinem Sitz in der Kutsche zurück, und so war die Ordnung wiederhergestellt.
Spät erreichten sie Chepping Wycombe, wo sie vor der Postherberge Four Feathers anhielten. Da sie am vorherigen Abend den größten Teil ihres Bargelds ausgegeben hatten, begnügten sie sich mit ein paar Fleischpasteten sowie Dünnbier und verbrachten die Nacht wieder in der Kutsche. Am nächsten Morgen gelangten sie auf die Straße nach London und mussten sich mit einem weiteren feuchten, trüben Tag abfinden.
Das Fahren auf schlammigem Weg war eine quälend langsame Schinderei, und so hatte Kit viel Zeit, über die jüngsten Wendungen seiner besonderen misslichen Lage nachzusinnen. Ein ums andere Mal kam ihm folgender Gedanke: Wann immer es den Anschein hatte, dass es ihm gerade gelingen könnte, sich aus dem Unglückssumpf herauszukämpfen, drehte sich Lady Schicksal - diese heimtückische alte Schachtel - zu ihm um und klatschte ihn erneut zu Boden: zurück in den Morast.
Es verschaffte Kit, wie er selbst bemerkte, nur eine geringe Befriedigung, sich solchen Grübeleien hinzugeben. Doch schließlich fand er heraus, dass es ihm ein bisschen half, sich vorzustellen, ein Schiffbrüchiger zu sein, der auf einem fernen Eiland namens »England im siebzehnten Jahrhundert« ausgesetzt war: einem total verrückten Ort, wo ihm jedes Ding auf merkwürdige Weise vertraut und doch gleichzeitig extrem fremdartig vorkam. Wie ein braver Schiffbrüchiger machte er nun eine Bestandsaufnahme seiner Lage sowie seiner Hilfsmittel und erkannte, dass er nicht vollkommen allein und auch nicht ohne beträchtliche Sachwerte war. Er hatte Sir Henrys Dach über seinem Kopf - oder würde es bald haben -, und es gab einige freundliche Eingeborene um ihn herum. Darüber hinaus hatten sie eine annähernd gemeinsame Sprache, die er immer besser fließend beherrschte, sodass er mit ihnen reden konnte.
Er musste sich nur stets dabei konzentrieren. Selbst wohlbekannte Wörter wurden häufig anders ausgesprochen und konnten ungewohnte Bedeutungen haben. Die Begriffsinhalte waren nicht feststehend, sondern fließend, und es gab abweichende Definitionen. Ständig hielt er bei Gesprächen inne, weil ihm plötzlich klar wurde, dass das, was er gerade gesagt hatte, überhaupt nicht das war, was er gemeint hatte - oder zumindest nicht das war, was seine Zuhörer verstanden hatten. Dennoch bekam er die für ihn so heikle Sprache immer besser in den Griff, und sein Zutrauen in die eigenen sprachlichen Fähigkeiten wuchs ständig.
Und was das Übrige betraf: Das Verschwinden von Cosimo und Sir Henry, denen die Burley-Männer direkt auf den Fersen waren ... Nun, es gab nichts, was er im Augenblick in dieser Sache tun konnte, und so legte er sie beiseite. Der nächste Punkt auf der Liste seiner Betrachtungen war die ungeheuerliche »mehrgeschossige« Theorie des Universums, die sein Urgroßvater verkündete. Ihre Auswirkungen waren einfach zu immens, um sie auf irgendeiner sinnvollen Ebene zu durchschauen. Ohne eine wissenschaftliche Ausbildung auf diesem Gebiet wusste Kit nicht, was er davon halten sollte. Tatsächlich war ihm nicht einmal richtig klar, wie man auch nur über irgendein Element dieser Theorie zu denken hatte. Wenn er doch nur dieses Buch gelesen hätte - dasjenige, was er stets hatte lesen wollen, das aber immer noch verstaubt und ungeöffnet in seinem Regal stand: Eine kurze Geschichte der Zeit von Stephen Hawking. Das hätte ihm vielleicht ein wenig geistige Wegzehrung für seine augenblickliche Entdeckungsreise mitgegeben. So aber geriet sein Verstand schon bei der bloßen Idee einer beinahe unendlichen Reihe von Universen ins Schwimmen. Daher beschloss Kit, diese Theorie bis auf Weiteres ebenfalls zur Seite zu legen.
Und so gelangte er bald zu der Schlussfolgerung, dass aufgrund seiner bedauerlichen Unwissenheit - oder, wie er es sich selbst schönredete, wegen des Mangels an brauchbaren Informationen - die klügste Vorgehensweise zu sein schien, die Dinge einfach so zu nehmen, wie er sie vorfand, und seine Sache so gut wie nur möglich voranzubringen, wo auch immer sich die Chance dazu bot.
Der nächste Tag auf der Straße verlief im Wesentlichen wie der vorherige, und Kit langweilte sich in seiner erzwungenen Einsamkeit. Er döste immer wieder mal ein und wachte schließlich rechtzeitig auf, um zu bemerken, dass sie gerade auf London zurollten: eine Stadt, die er so gut kannte - und doch wiederum überhaupt nicht. Der Regen nahm an Stärke zu, als sie die Dörfer und Weiler am Rande der Großstadt passierten. Die schlammigen Verkehrsstraßen - Wege, die von Füßen und Rädern so aufgewühlt waren, dass sie sich in eine klebrige graue Suppe verwandelten - erschwerten das Vorankommen: Ein Gefährt nach dem anderen - gleichgültig, ob Bauernwagen, Kutsche oder Handkarren - blieb im pappigen Morast stecken und musste herausgezogen werden. Kit, der bis auf die Knochen fror, saß schlotternd in der relativen Behaglichkeit seiner Kutsche und beobachtete die schmuddelige Heerschar der Reisenden, die sich zu Fuß vorwärtsschleppten. Viele von ihnen hatten schwere Lasten bei sich - Bündel und Kisten, die sie nun auf ihren Köpfen trugen in dem vergeblichen Bemühen, den Regen von sich fernzuhalten. Das Wasser lief ihnen in Rinnsalen von den nach unten geklappten Krempen ihrer durchnässten Hüte und von den zerlumpten Enden ihrer dicht zusammengerafften Umhänge herab. Einige wenige Glückliche reisten in Sänften; die Diener allerdings, von denen sie getragen wurden, versanken bis zu den Unterschenkeln im Schlamm.
Die in düsteren Farben gekleideten Einwohner der verregneten Hauptstadt erinnerten Kit an eine Schar sehr trauriger Amseln: das Federkleid verfilzt und nass bis auf die Haut, waren sie total unglücklich über ihren augenblicklichen Zustand. Entlang der Straße standen dicht an dicht aus rohen Brettern errichtete Werkstätten und Verkaufsstände, die alle unten mit Schlamm vollgespritzt waren. Dort gingen Schneider, Gerber, Bierbrauer, Barbiere, Färber, Tuchhändler, Walker und Fischverkäufer sowie Händler aller anderen Art ihrer Arbeit nach. Die verloren wirkenden Gesichter der Ladeninhaber starrten aus den düsteren Innenräumen nach draußen auf die Kavalkade der Unglücklichen, die an ihren mit Schmutz bespritzten Geschäftslokalen vorüberzog.
Das Tageslicht verschwand rasch, als Giles schließlich mit geübter Hand die Kutsche auf die große London Bridge und die breite, mit Steinen gepflasterte Straße steuerte. Kit seufzte erleichtert auf, doch - ach! - das Reisetempo nahm nicht zu. Im Gegenteil: Es ging sogar noch langsamer weiter, als die durchnässten Einwohner wie in einen Trichter auf die Brücke strömten. Es war, als hätten sie sich verschworen, dafür zu sorgen, dass der Verkehr nur noch im Schneckentempo vorankam. Kit gab jegliche Hoffnung auf, Clarimond House vor Anbruch der Nacht zu erreichen, und starrte stumpfsinnig nach draußen auf die nasse Welt. Als die Kutsche schließlich durch die Pforte von Sir Henrys Herrenhaus rollte, wurden auf der Straße vor den größeren Gebäuden Fackeln angezündet.
Sie rumpelten in den Hof, und ein Diener kam herausgerannt, um zu helfen, die Pferde auszuspannen und sie in die trockenen Ställe zu führen.
Giles kletterte von seinem Sitz herab, um die Kutschentür für Kit zu öffnen, und sagte: »Begebt Euch nach drinnen und wärmt Euch auf, Sir.«
»Ihr kommt auch, Giles.«
»Ich werde Euch folgen, sobald die Kutsche untergebracht ist.«
»Kann das nicht warten?«
»Nein, Sir«, lautete die Antwort.
Kit akzeptierte dies und rannte zum Haus. Wenige Augenblicke später stand er im hinteren Vorraum und schüttelte das Wasser von seinem Mantel. Ein großer Diener in einem roten Wams tauchte mit einem sauberen Leinentuch auf und reichte es Kit, ohne ein Wort zu sprechen. Kit wischte sein Gesicht ab und rieb sich das feuchte Haar. Dann gab er das Tuch zurück und bedankte sich.
Daraufhin sprach ihn der Diener an. »Ihr werdet hungrig sein, Sir.«
»Ja, in der Tat - ich bin ausgehungert«, erklärte Kit. »Gebt ein Festessen. Seit zwei Tagen haben wir nichts Gutes mehr zu essen gehabt.«
Der Diener nickte und verkündete: »Ich werde den Koch informieren.«
»Großartig. Fein.«
»Darf ich davon ausgehen, dass Sir Henry und Mr Livingstone zu ihren Reisen aufgebrochen sind?«
»O ja, sie sind schon eine Weile fort«, antwortete Kit, der sich nicht sicher war, wie viel er darüber sagen konnte. »Giles und ich sind allein zurückgekommen.«
»Wie ich sehe.« Der Diener wandte sich ab, zögerte aber dann. »Benötigt Ihr noch irgendetwas vor dem Abendessen, Sir?«
»Einen Kleidungswechsel, falls dies nicht zu viele Umstände bereitet«, erwiderte Kit. »Diese hier müssen gewaschen werden.«
»Natürlich, Sir. Ich werde etwas in Euer Zimmer bringen. Sonst noch etwas?«
»Nur noch eines. Wie heißt Ihr?«
»Sir?«
»Wie soll ich Euch nennen?«
»Ich bin Sir Henrys Verwalter, Sir. Ihr könnt mich Villiers nennen, wenn Ihr möchtet.«
»Vielen Dank, Villiers.«
Der Diener lächelte schmallippig, senkte den Kopf und entfernte sich.
Kit fand sich in dem Haus rasch wieder zurecht und stieg die Treppe hinauf zu seinem Zimmer. Durch das winzige, dickglasige Fenster drang nur wenig Licht, und es war eindeutig kühl in dem Raum. Kit suchte gerade nach einer Möglichkeit, um die Kerzen anzuzünden, als es an der Tür klopfte und einer der jüngeren Diener verkündete: »Eure Kleider, Sir.«
Daraufhin öffnete Kit die Tür und nahm das Bündel entgegen. Er dankte dem Diener und bat ihn, die Kerzen anzuzünden. Während der Bursche dieser Aufgabe nachging, breitete Kit seine Wechselkleider auf dem Bett aus. Man hatte ihm eine knielange Hose und ein riesiges Hemd gebracht, dazu ein langes Wams aus blauem Brokat mit schlaff herabhängenden Ärmeln, das bis zur Taille zugeknöpft war und an jeder Seite eine tornistergroße Tasche besaß. Das war die aktuelle Mode, wie er sich in Erinnerung rief.
Zitternd legte er seine feuchte Kleidung ab und zog die trockenen Sachen an, wobei er wieder einmal von dem Gefühl der Unwirklichkeit seiner Situation beherrscht wurde. Ein Fisch auf dem Trockenen — das bin ich ganz und gar, fuhr es ihm durch den Kopf, während er die dicken Wollsocken überstreifte. Er band die Strümpfe am Knie fest und stieg mit den Füßen in die großen, bootähnlichen Schuhe. Dann erinnerte er sich an seinen Apostellöffel, steckte ihn in eine der Taschen und stapfte anschließend die Stufen hinunter, um für sich ein wärmeres Zimmer zu suchen. Er betrat Sir Henrys Arbeitszimmer, wo im Kamin ein Feuer flackerte. Ein großer Lehnsessel aus braunem Leder war in die Nähe des Kamins gestellt worden. Auf einem kleinen Rundtisch direkt neben dem Sessel befanden sich eine Kristallkaraffe und ein kleiner Zinnbecher. Nahebei stand ein eiserner Halter mit acht hohen Kerzen.
»Das ist schon besser.« Mit einem Seufzer sank Kit in den dick gepolsterten Sessel. Er streckte seine Beine aus und schob die Füße zum Feuer hin; dann drehte er sich zur Seite und widmete sich der Karaffe. Sie war mit einer wohlriechenden Flüssigkeit gefüllt, bei der es sich, wie Kit nach kurzem Schnuppern befand, wahrscheinlich um Brandy handelte. Er goss ein wenig davon in den Becher und nahm unbedacht einen Schluck. Das bösartige Zeug brannte in seiner Kehle und schien seine Speiseröhre zu verätzen. Umgehend erlitt er einen Hustenanfall, der einen starken Schmerz in seinen wunden Rippen hervorrief, sodass ihm das Wasser in die Augen schoss.
Nachdem er den restlichen Becherinhalt in die Karaffe zurückgegossen hatte, stand er auf und begann, die Bücherregale zu inspizieren, die eine ganze Wand des gemütlichen Zimmers ausfüllten. Die Bücher besaßen eine einheitliche Größe; es handelte sich um blockartige Folianten, die in dickes braunes Leder gebunden waren. Kit hatte diese Art von Büchern schon einmal gesehen, und zwar in der Universitätsbibliothek, wo sie hinter Schloss und Riegel standen. Doch hier waren sie nicht weggesperrt, sodass man sie durchstöbern konnte. Fasziniert von dieser Aussicht, holte Kit den Kerzenständer und hielt ihn so nahe an den Regalen, dass er die Wörter auf den Buchrücken lesen konnte. Alles war jedoch in Latein, und sämtliche Bücher hatten unverständlich klingende Titel: Principium Agriculturae ..., Modus Mundi ..., Commentarius et Sermo Sacerdotis und ähnliche.
Kits Lateinkenntnisse waren recht dürftig, wenn nicht schon so gut wie verschüttet. Dennoch gelang es ihm, die Bedeutung einiger weniger Buchtitel auszutüfteln. Mit den Fingern fuhr er über die Buchrücken, folgte den Wörtern darauf und sprach sie für sich laut aus. »Ars Nova Arcana«, sagte er gerade, als er bemerkte, dass er nicht mehr länger allein im Zimmer war.
Er glaubte, Giles hätte sich endlich zu ihm gesellt, und wandte sich um - nur um festzustellen, dass er den intensiv prüfenden Blicken einer jungen Frau ausgesetzt war, die im Eingang stand.
»Seid Ihr ein Räuber?«, verlangte sie zu wissen und betrat mit eleganten Bewegungen den Raum. »Ein Dieb? Ein Schuft?«
»Äh, nein ... Ich ... ähm ...«
»Was für eine Art von Schurke seid Ihr? Ein Hauseinbrecher?« Sie fixierte ihn mit einem starrenden Blick - der so kühn, frech und herausfordernd war, wie Kit es noch nie auf dem Gesicht eines anderen menschlichen Lebewesens gesehen hatte. »Nun? Heraus mit der Sprache! Seid Ihr ein Strauchritter?«
»Ich denke nicht.«
»Warum seid Ihr hier in Sir Henrys Arbeitszimmer? Warum schleicht Ihr herum? Wer gab Euch die Erlaubnis einzutreten?«
»Ihr stellt eine Menge Fragen«, antwortete Kit leichthin. »Ich weiß kaum, welche ich zuerst beantworten soll.«
Das erwies sich als die falsche Taktik. Sie wurde sogar noch wütender. »Unverschämter Halunke!«, empörte sie sich. »Ich werde Euch verprügeln und hinauswerfen lassen.« Ohne die Augen von ihm zu lassen, rief sie nach dem Verwalter. »Villiers!«
»Bitte«, sagte Kit. »Ich bin nichts von alldem, was Ihr gesagt habt. Ich weiß noch nicht einmal, was eigentlich ein ›Strauchritter‹ ist.«
»Wer seid Ihr dann? Sagt mir die Wahrheit, und zwar schnell.«
»Ich nehme an, man könnte sagen, dass ich ein Gast von Sir Henry Fayth bin ...«
Sie machte einen weiteren Schritt, trat so ein wenig mehr ins Licht - und Kit erblickte die wahrscheinlich schönste Frau, die er jemals aus der Nähe leibhaftig gesehen hatte. Ihre sanft gerundeten Formen waren umhüllt von einem Kleid aus himmelblauem Satin mit schimmernden silbernen Stickereien, und entlang ihrer schlanken Arme zierte eine Reihe winziger schwarzer Bänder von oben bis unten die glänzenden Satinärmel. Das starke Fischbein ihres Mieders, das oben in zart modellierten Wellen aus lichtdurchlässigen Spitzenborten endete, betonte die wundervollen Kurven ihrer Taille und drückte ihren Unterleib flach. Ihren langen, eleganten Hals schmückte eine Kette aus zierlichen schwarzen Perlen. Doch das Aparteste an ihr waren die Klarheit ihrer scharf blickenden braunen Augen, ihr sinnlicher Mund mit den vollen Lippen, die feinen Linien ihres Kiefers, ihre hohe, glatte Stirn, die Art und Weise, wie ihre langen rostbraunen Locken winzige Wellen an ihren Schläfen bildeten ...
In Wahrheit gab es so viele vorzügliche Merkmale, die Kit sofort alle in sich aufnahm, dass er sich nicht entscheiden konnte, welches das beste an dieser außergewöhnlichen, atemberaubenden Frau war. Er wusste nur, dass er sich in der Gegenwart eines seltenen Bildes von Schönheit befand - einer Göttin beziehungsweise eines transzendent strahlenden Geschöpfs, das anzusprechen er vollkommen unwert war. Nichtsdestoweniger redete er mit ihr. Schließlich bestand sie ja darauf.
»Nun?«, blaffte sie. »Sprecht, Sir! Es ist beleidigend und ungesittet, eine Dame warten zu lassen.«
»Ich bin mit Sir Henry und seinem Freund Cosimo Livingstone zusammen unterwegs gewesen, bevor ich von ihnen getrennt wurde. Sie arbeiten nun an ...« Kit zögerte erneut, da er nicht sicher wahr, wie viel er erzählen durfte.
»... an ihren geheimen wissenschaftlichen Experimenten?«, ergänzte sie schneidend.
»Ihr wisst davon?«
»Ich weiß alles darüber«, erwiderte sie nonchalant.
Ihre Aussprache war weicher als die der meisten anderen Menschen dieser Zeit, die er hatte reden hören, und ihre Redeweise ähnelte mehr der seinen. Daher war sie einfacher zu verstehen - und er verstand nur allzu gut, dass sie vollkommen und zutiefst erzürnt war.
»Aber ich weiß nicht, wer Ihr seid«, fuhr sie fort.
»Ich bin ... äh ...« Diesmal fing er sich und zwang sich zu lächeln. »Mein Name ist Christopher. Ihr könnt mich Kit nennen.«
Sie blickte noch finsterer drein.
»Und Ihr seid?«, wagte er zu fragen.
»Ihr dürft mich Lady Fayth nennen«, erwiderte sie knapp und hob dabei leicht ihr Kinn.
»Lady Fayth? Vergebt mir. Ich wusste nicht, dass Sir Henry verheiratet ist.«
»Entschuldigt, Sir!«, entgegnete sie hochmütig. »Ich bin seine Nichte - nicht dass das etwas für Euch zu bedeuten hat.«
»Nein, natürlich nicht, Mylady«, erklärte Kit. Einer plötzlichen Eingebung folgend, verbeugte er sich vor ihr; und trotz fehlender Praxis gelang es ihm sogar mit einiger Eleganz. »Bitte vergebt mir meine gedankenlose und völlig unbesonnen vorgebrachte Annahme. Ich bitte um Entschuldigung.«
Sein versöhnliches Benehmen hatte den gewünschten Effekt. Sie schien sich etwas zu entspannen, obwohl sie ihn immer noch misstrauisch betrachtete. »Was macht Ihr im Privatgemach meines Onkels? Und was habt Ihr mit Sir Henry gemacht?«
Bevor er darauf antworten konnte, erklang irgendwo im Haus ein Ton.
»Ah, die Glocke hat geläutet«, flüsterte Kit. »Vielleicht erlaubt Ihr mir, mich beim Abendessen zu rechtfertigen. Darf ich Euch zum Tisch geleiten, Mylady?«
Er bot ihr seinen Arm in der Weise an, wie er es in alten Filmen gesehen hatte. Zu seiner Verwunderung nahm sie das Angebot an, allerdings mit einer deutlich zurückhaltenden Kühle.
»Wir werden dies weiter besprechen.«
»Nichts würde mich mehr erfreuen«, erklärte er und meinte es wirklich so, wie er es sagte.