DREIUNDZWANZIGSTES KAPITEL

 

Zu der Entscheidung, zum Black Mixen Tump zurückzukehren, war man rasch gekommen - so rasch, dass Kit immer noch Bedenken hegte. Lady Fayth besaß jedoch genug Selbstsicherheit für sie beide, zumal sie sich in Anbetracht der Aussicht, endlich einen Sprung zu vollführen - also genau das, wonach sie sich ihr ganzes Leben lang gesehnt hatte -, in gehobener Stimmung befand. Tatsächlich war sie deswegen beinahe ganz außer sich, was Kits nüchternere Einschätzung kleinlich und griesgrämig erscheinen ließ.

»Glaubt mir, wenn das Springen nicht schon gefährlich genug wäre -«

»Oh, ja: bösartige Vulkane und menschenfressende Tiger und solche Sachen, die Ihr bereits in den grellsten Farben geschildert habt.«

»Richtig. Nun, abgesehen von alldem gibt es noch etwas, von dem ich bislang nicht erzählt habe. Da sind Leute - schlechte Menschen, sehr schlechte Menschen; ja, Mörder -, die uns Böses wollen. Sie scheinen jedes Mal aufzukreuzen. Daher ist zu vermuten, dass sie in der Nähe lauern und nur darauf warten einzugreifen. Sie waren am Black Mixen, und es gab einen Kampf. Sir Henry und Cosimo konnten zwar fliehen, doch ihre Angreifer haben den Sprung mitgemacht.«

»Ich könnte mir denken, dass dies erst recht ein Grund für uns ist, sich auf den Weg zu machen«, erwiderte Lady Fayth unbekümmert.

»Ich bin mir nicht sicher, dass ich Euch folgen kann«, sagte Kit, der nach dem fehlenden Glied in der Logik ihrer Argumentation suchte.

»Wenn unsere angesehenen Großverwandten nicht in schrecklichster Gefahr wären«, erklärte sie, als würde sie ein zurückgebliebenes Kind unterweisen, »bedürften sie nicht der Rettung, und uns würde nicht die Aufgabe zufallen, sie in Sicherheit zu bringen.«

»Nun ja«, räumte Kit ein, »aber das verringert nicht die Gefahr für uns. Wir -«

»Fasst Mut!«, fiel sie ihm ins Wort. »Alles wird gut werden.«

»Da bin ich aber froh, dass das so weit klar ist.« Er seufzte und schüttelte den Kopf. »Ich fühle mich jetzt so viel besser.«

Anscheinend war Sarkasmus im siebzehnten Jahrhundert nicht in Mode, denn seine Bemerkungen wurden für bare Münze gehalten, und Lady Fayth gewährte ihm die Gunst eines strahlenden Lächelns.

»Das freut mich für Euch. Wir werden sofort aufbrechen. Ich werde Villiers über unsere Pläne unterrichten und die Diener anweisen, alles Erforderliche vorzubereiten. Würdet Ihr freundlicherweise Giles mitteilen, die Kutsche abfahrbereit zu machen.«

»Aber wir haben das Buch noch nicht entziffert«, wandte Kit ein.

»Das können wir unterwegs tun. Ihr habt gesagt, es dauert drei Tage, um zu dem Ort des Springens zu gelangen, nicht wahr?« Als er zugab, dass dies der Fall war, legte sie das Buch in seine Hand und folgerte: »Dann dürfen wir keinen weiteren Augenblick verschwenden.«

Nachdem Lady Fayth sich entschieden hatte, eilte sie durch den Raum. Sie war schon beinahe zur Tür hinaus, als Kit rief: »Wartet! Da ist noch eine andere Sache ...« Anschließend zögerte er, da er sich nicht sicher war, wie er es ausdrücken sollte.

»Ja? Worum geht es?«

»Eure ... Gewänder, Lady Fayth. Vergebt mir, dies zu sagen, aber ich bezweifle ernsthaft, dass Euch ein Sprung gelingen wird, wenn Ihr auf diese Weise gekleidet seid.« Bei diesen Worten wies er auf ihre Kleidung.

Sie blickte auf ihre elegante Satinrobe. »Was ist denn verkehrt an meiner Kleidung?«

Ihr herausfordernder Gesichtsausdruck ließ ihn erkennen, dass er sich auf sehr dünnem Eis bewegte. »Sie ist nicht ... ähm ... funktional«, wagte er ihr anzutragen.

»Ich nehme an, es wäre Euch am liebsten, wenn ich überhaupt nichts anhaben würde!«

Die bloße Andeutung, ihre geschmeidige Form in ihrer natürlichen Pracht aufmarschieren zu lassen, erwies sich als so verwirrend, dass Kit diesen Gedanken mit einer heroischen Kraftanstrengung unverzüglich aus seinem Kopf drängte und sein Bestes versuchte, um den Sachverhalt in einer Weise zu erklären, die nicht falsch aufgenommen werden konnte. »Mylady, wir können nicht wissen, in was wir hineinspringen werden: Es kann ein raues Land sein, ein Dschungel, eine Wüste, einfach alles. Auch ist die Zeit von großer Bedeutung. Vielleicht werden wir Jahre oder Jahrhunderte nach dem aktuellen Datum und dem gegenwärtigen Zeitalter sein - oder vielleicht Jahre oder Jahrhunderte vorher. Kurzum, wir können einfach nicht wissen, welche Kleidung die Leute tragen werden, denen wir begegnen - wo auch immer das sein wird, wohin wir gehen. Wir müssen versuchen, uns nicht zu sehr von ihnen ... äh ... zu unterscheiden.«

»Solch ein Mangel an Konformität könnte eine unerwünschte Aufmerksamkeit auf uns nach sich ziehen«, schlussfolgerte sie. »Ich verstehe. Meiner Treu, Euer Rat ist weise. Ich werde etwas finden, das besser für unsere Zwecke geeignet ist.« Sie drehte sich erneut um und sagte dann, während sie bereits ging: »Des Weiteren werden wir, wie ich annehme, noch Geld und Waffen benötigen.«

»Wenn Ihr das besorgen könnt ...«, begann Kit, doch sie war bereits aus dem Zimmer verschwunden. Er blieb stehen und starrte zum leeren Türeingang. Mein Rat ist weise, dachte er glücklich. Seine Bedenken flatterten fort wie trockene Blätter, hinweggeweht durch die sanfte Brise des Wohlwollens von Lady Fayth - wenn auch nur für den Augenblick.

Auf Kits Vorschlag hin wurde Giles in ihre Pläne eingeweiht, und er stimmte allem bereitwillig zu. Sie fuhren los, sobald die Ausrüstung und der Proviant in die Kutsche geladen worden waren - Lebensmittel und Getränke für drei Tage, mehrere Sätze Kleidung zum Wechseln, eine Börse voller Gold-Sovereigns, zwei ein wenig verrostete Buschmesser und eine noch taugliche Steinschlosspistole. Schon bald klapperten sie durch die nördlichen Vororte und dann hinein in den Gürtel aus bäuerlichen Siedlungen, der die Stadt umringte.

Während der Stunden, in denen die Lichtverhältnisse dies erlaubten, widmete sich Kit dem Studium des grünen Buchs. Das Buch selber war so schön, wie ein Musterexemplar der Buchbinderkunst nur sein konnte: feste Seiten aus feinstem Papier mit Goldrand, ein schwarzes Seidenbändchen als Lesezeichen, und das Ganze elegant gebunden in glänzendem jadegrünem Ziegenleder. Alles war auf eine so hervorragende Weise verarbeitet, dass das Buch nach dem Öffnen flach liegen blieb und sich mit einem leichten, befriedigenden Schnappgeräusch schließen ließ.

Nachdem die beiden die Kunstfertigkeit, mit der das Werk hergestellt worden war, weidlich bewundert hatten, nahmen sie das Studium seines Inhalts in Angriff. Kit hatte immer noch seine Probleme mit der minutiösen Handschrift von Sir Henry, doch Lady Fayth, deren Augen mehr an die Schreibweise ihrer Zeit gewöhnt waren, schien nur geringe Schwierigkeiten zu haben. Unter ihrer Anleitung begann Kit die Schrift allmählich ein wenig zu beherrschen.

Vieles von dem, was er auf diese Weise herausbekam, ging so weit über seinen Horizont, dass es - mit Blick auf den Eindruck, den es hinterließ - genauso gut Japanisch hätte sein können. Die Sprache war obskur, wenn nicht gar archaisch; und die erörterten Konzepte setzten ein Wissen oder zumindest einen Wortschatz voraus, worüber Kit nicht verfügte. Dennoch war er dank seines Durchhaltevermögens und Lady Fayths geduldiger Hilfe in der Lage, Sir Henrys theoretisierenden Ausführungen über die Natur von Ley-Reisen, deren Zweck, deren Abläufen sowie deren Verwendungsmöglichkeiten einige wenige nützliche Informationsbrocken zu entlocken. Die Meisterkarte wurde oft erwähnt, und Sir Henry hatte eine ausführliche Abhandlung über ihre seltsamen Markierungen verfasst, von denen ein oder zwei Beispiele vorgestellt wurden, zusammen mit ein paar Vorschlägen über die Bedeutung der Symbole. Außerdem gab es sorgfältig gezeichnete Diagramme von Ley-Linien sowie detaillierte Anweisungen darüber, wo sie zu finden waren, einschließlich Kartenskizzen.

Durch das Studium von Sir Henrys kleinem grünem Buch lernte Kit, dass es einen sehr großen Unterschied machte, wo man auf einem Ley in eine andere Welt übersetzte. Er teilte diese Erkenntnis Lady Fayth mit, die gestand, vollkommen verwirrt zu sein.

»Ich glaube, das bedeutet, dass man nicht nur die Wahlmöglichkeit hat, wohin man springt, sondern auch in welche Zeit«, erläuterte er. »Er scheint nahezulegen, dass es wie bei einer Straße ist - so wie die, auf der wir jetzt reisen: eine mit Schildern und Meilenmarkierungen entlang des Weges, versteht Ihr?« Er zeigte aus dem Kutschenfenster heraus auf einen bleichen, weißen Meilenstein, an dem sie gerade vorbeifuhren. »Also, wenn das hier eine Ley-Linie wäre, dann würde jede dieser Meilenmarkierungen mit einer unterschiedlichen Zeit in derjenigen Anderswelt korrespondieren, die mit diesem bestimmten Ley verbunden ist.«

»Wenn Ihr das so seht«, erwiderte Lady Fayth unsicher.

»Also, nehmen wir einmal an, dass der Meilenstein, an dem wir gerade vorbeigekommen sind, mit dem sechzehnten Jahrhundert in der Anderswelt korrespondiert; dann würde der nächste dem siebzehnten Jahrhundert zugeordnet sein und so weiter und sofort«, erzählte Kit und fuchtelte mit dem Buch in seiner Hand. »Abhängig davon, wo der Sprung ausgeführt wird, landet man in unterschiedlichen Zeiten jener Welt, in die man hineinspringt. Unglaublich!«

»Für mich klingt das unnötig kompliziert«, erklärte Lady Fayth in blasiertem Tonfall.

»Vielleicht«, räumte Kit ein. »Jedenfalls bedeutet dies, dass wir bei unseren Berechnungen sehr viel präziser sein müssen, um überhaupt irgendeine Hoffnung zu haben, dort zu landen, wo wir hinwollen.« Er blätterte ein paar weitere Seiten in dem Buch um. »Präzision - das ist der Schlüssel. Und deshalb brauchen wir die Meisterkarte.«

Lady Fayth kräuselte die Lippen: Ihr perfekter Mund formte sich zu einem perfekten Ausdruck der Verwirrung.

»Schaut Euch das an«, sagte Kit und lehnte sich in seinem Eifer zu ihr herüber. Er deutete auf eines der seltsamen Zeichen, die Sir Henry in sein Buch kopiert hatte: ein merkwürdiger halbrunder Wirbel, der von zwei fast parallelen Linien durchkreuzt wurde, von denen eine an ihrem Ende einen Widerhaken ausbildete, ähnlich denen, die beim Angeln benutzt wurden; zudem säumte eine Reihe winziger Punkte die Außenkante des Wirbels.

»Das ist eines der Symbole auf der Karte.« Er beugte sich noch näher zu Lady Fayth und hielt ihr das Buch hin. »Sir Henry deutet an, dass dieses kleine Symbol nicht nur anzeigt, wo ein bestimmter Ley zu finden ist, sondern auch, wohin dieser Ley führt und an welchen Orten sich die Meilensteine entlang der Linie befinden, die helfen, sich durch die Zeit zu lotsen.« Er strahlte vor Freude über diese Enthüllung und spürte die instinktive Erregung, die mit der Nähe des warmen Fleisches von Lady Fayth einherging. »Das muss man ihm lassen - dem alten Flinders-Petrie: Er hat an alles gedacht.«

Sie nahm diese Bewertung recht kühl auf. »Diese winzigen Pünktchen sollen all das zum Ausdruck bringen?«

»Offensichtlich«, erwiderte Kit. »Natürlich muss man wissen, wie die Symbole zu entziffern sind. Das ist die Hauptschwierigkeit: Sie sind in einer Art von Kurzschrift geschrieben -«

»Wie bitte? In einer Kurzschrift, habt Ihr gesagt? Was soll denn jetzt die Kürze einer Schrift mit der ganzen Angelegenheit zu tun haben?«

»Ach so ... ja.« Kit sammelte seine Gedanken neu und begann noch einmal mit seinen Ausführungen. »Ich meine ... einen Code. Sie sind in einem Code verfasst worden - oder in einer geheimen Symbolsprache. Man muss den Schlüssel besitzen, um das Geheimnis der Symbole aufzudecken.«

Lady Fayth nickte in Richtung des Buches. »Und ist dieser Schlüssel, von dem Ihr sprecht, irgendwo auf Sir Henrys Seiten zu finden?«

»Das weiß ich nicht. Wir haben bislang noch nicht das ganze Werk gelesen.« Er blickte auf das Buch in seiner Hand. »Vielleicht. Ich hoffe es. Es würde die Dinge sehr viel einfacher machen, wenn es so wäre.«

Und so wandten sich beide dem Abschnitt zu, in dem jene Portale in die Anderswelt beschrieben wurden, die Sir Henry Ley-Drehkreuze nannte - und von denen der Black Mixen Tump ein Paradebeispiel war. Nachdem die Inhalte aus der umständlichen Sprache des adeligen Wissenschaftlers abgeleitet und destilliert worden waren, fand Kit schließlich heraus, dass zu gewissen Zeiten - in Übereinstimmung mit, wie Sir Henry glaubte, bestimmten Mondphasen oder Sonnenkonstellationen oder vielleicht beiden - die Portale offen stehen und den Ley-Reisenden gestatten würden, die Schwelle zu einer anderen Welt zu passieren. Im Unterschied zu einer Ley-Linie, die sowohl eine bestimmte Fortbewegung als auch eine richtige Zeiteinteilung und andere Handhabungen erforderte, war nach Sir Henrys Auffassung für die Benutzung eines Ley-Drehkreuzes nur Folgendes notwendig: Man musste sich bloß zur genau richtigen Zeit auf die genau richtige Stelle begeben - und schon würde der Übertritt in eine andere Welt herbeigeführt. Beim Black Mixen wurde die richtige Stelle von einem Stein angezeigt, den jemand oben auf dem Hügel platziert hatte. Und als richtige Zeit galt die Morgenoder Abenddämmerung an den Tagen, an denen der Mond über dem Horizont gesehen werden konnte, bevor die Sonne auf- oder unterging.

Ganz einfach.

»Da muss mehr sein als bloß das«, murmelte Kit, der mehr zu sich als zu seiner Begleiterin sprach. »Ist das alles, was er darüber zu sagen hat?«

»Die Eintragung ist ziemlich vollständig, aber er hat noch Platz gelassen, um weitere Beobachtungen niederzuschreiben.« Lady Fayth drehte die Buchseite um, sodass er es sehen konnte. »Der nächste Eintrag handelt von etwas, das er ›Manipulation von Materie durch harmonische Vibration‹ oder ›Schallwellen‹ nennt. Über diesen Mixen Tump gibt es nichts mehr.«

Zweifellos gab es mehr zu diesem Thema, als Sir Henry wusste. Doch im Großen und Ganzen entsprachen die von ihm erstellten Informationen in etwa dem, was Kit vor nicht langer Zeit an genau jenem Ort miterlebt hatte. Darüber hinaus hatte er keine bessere Alternative, als der Aufrichtigkeit und dem Urteilsvermögen Seiner Lordschaft zu vertrauen. Das grüne Buch, auch wenn es nur ein beschränktes Wissen vermittelte, war der einzige Führer, den Kit besaß.

Sie erreichten schließlich das Dorf Chepping Wycombe und nahmen Zimmer für die Nacht in der Herberge am Wegesrand. Früh am nächsten Morgen, nachdem sie fest geschlafen und ein herzhaftes Frühstück genossen hatten, setzten sie ihre Reise fort. Den ganzen Tag kamen sie problemlos voran und hielten nur an, damit die Pferde saufen und sich ausruhen konnten. Lange vor Sonnenuntergang gelangten sie nach Tetsworth Swan. Am nächsten Morgen waren sie noch früher auf der Straße und folgten ihr hinab in das breite Tal der Themse.

In Oxford angelangt, machten sie eine Rast in der Postherberge Golden Cross. Während die Pferde gefüttert und getränkt wurden und sich erholen durften, erfreuten sich Kit und seine Begleiterin an einer herzhaften Mahlzeit aus guten, fettigen Schweinekoteletts, Rübenbrei und gekochtem Grüngemüse. Giles nahm sein Essen mit den anderen Kutschern im Hof ein, wobei er Informationen über den Straßenzustand sammelte und in Erfahrung brachte, wo sie die Nacht in Banbury verbringen konnten. Als die strahlende Sonne hoch oben am Himmel stand, beschlossen sie, sich die Beine zu vertreten. Und so spazierten sie umher, nahmen die Sehenswürdigkeiten der Universitätsstadt in sich auf und sahen zu, wie die Studenten in ihren langen schwarzen Roben und akademischen Hüten von einem Ort zum anderen flatterten. Kit jubelte innerlich, mit der liebreizenden Lady an seiner Seite gesehen zu werden - eine neue Erfahrung für ihn und ein seltenes Ereignis auf den Straßen des biederen Oxford. Das innere Jauchzen alles, was ihm blieb, denn er wollte vermeiden, dass er wie ein Angeber umherstolzierte.

Schließlich verließen sie Oxford und machten sich auf den Weg nach Banbury. Sie hatten die Absicht, dort die Nacht zu verbringen - um bei Tagesanbruch, wenn dem grünen Buch zufolge das Portal oben auf dem Black Mixen offen stehen würde, in Reichweite ihres Zielortes zu sein.

Es war bereits eine ganze Weile dunkel, als sie in dem kleinen Marktflecken ankamen, und das einzige Gasthaus, das sich über der Fox and Geese Inn befand, hatte nur noch ein einziges Zimmer frei. Lady Fayth nahm es und überließ Giles und Kit die Wahl, im Kneipenraum auf Stühlen nahe dem Feuer oder im Stall die Nacht zu verbringen. Sie entschlossen sich, mit den Pferden im Stall zu schlafen, allerdings in der Kutsche. Dort war es warm genug und recht bequem, auch wenn es nach Stroh, Leder, Pferden und Dung roch.

Am nächsten Morgen weckte Giles die beiden anderen, als es noch dunkel war, und anschließend legten sie ihre Reisekleidung an. Kit und Giles zogen große Schnürhemden, Kniehosen, robuste Schuhe und breitkrempige Filzhüte an; Lady Fayth trug Kniehosen, ein Männerhemd über ihrem Kittel und Mieder, derbe Socken und Schuhe mit etwas bedenklich hohen Absätzen. Alle drei hatten weite Jacken aus feinem, dünnem Leder an.

Lady Fayth hatte protestiert, die Kleider ließen sie wie einen Mann aussehen; eine Ansicht, die Kit energisch zurückgewiesen hatte mit der Begründung, dass eine banale Kniehose niemals dazu führen könnte, dass sie auch nur im Entferntesten männlich erscheinen würde. Die Tatsache, dass er ihre anmutige Figur in einfacher Kleidung noch bezaubernder fand, behielt er für sich. Glücklicherweise war seine Meinung nicht erforderlich, um sie zu überreden, da sie selbst anerkannte, dass ihre teuren Gewänder aus Seide und Satin vollkommen unpassend für die bevorstehenden Aufgaben waren.

So ausstaffiert führten sie ihre Reise fort und zuckelten mit der Kutsche ohne Mühe durch die dunkle, menschenleere Landschaft. Sie erreichten ihr Ziel, als der östliche Himmel sich zu röten begann und die Morgendämmerung ankündigte.

»Dort ist es«, sagte Kit und zeigte auf den unnatürlich symmetrischen Hügel mit der flachen Kuppe, der durch den frühmorgendlichen Nebel wie der schwarze Bug eines gigantischen Schiffes, das weiße Wellen zerteilte, ins Blickfeld rückte. Alles war geisterhaft und ruhig in der rasch dahinschwindenden Nacht. Der Anblick dieser bedrohlichen Masse ließ Kit unwillkürlich schaudern, als er sich an das erinnerte, was sich bei seiner letzten Begegnung an diesem Ort ereignet hatte.

Er war auf dem besten Wege, die Entscheidung zu verfluchen, dieses verhängnisvolle Unterfangen weiterzuverfolgen, als Lady Fayth ausrief: »Das ist der schreckliche Black Mixen?« Ihr Ton ließ wenig Zweifel daran, dass sie dachte, dieser Anblick würde extrem überschätzt. »Aufgrund Eurer Beschreibung habe ich mir einen grimmigen und wüsten Berg vorgestellt, heimgesucht vom ungezügelten Bösen und Grotesken jeglicher Art.«

»Lasst Euch nicht von seinem Anblick täuschen«, murmelte Kit. »Das ist mehr als nur ein Hügel.«

»Dieses winzig kleine Hügelchen?«, spottete sie.

Die Kutsche hielt an. Giles rief, dass sie so weit gefahren waren, wie sie konnten; und sogleich begannen die Räder in den weichen Boden einzusinken. Lady Fayth öffnete die Kutschentür und hüpfte auf die dunkle Flanke des Hügels zu, wobei ihr langes Haar im böigen Wind hin und her wogte: Sie erinnerte an einen exotischen Vogel, der endlich aus seinem goldenen Käfig freigekommen war und jubilierend in seine lang erwartete Freiheit stürmte.

»Mylady, wartet!«, schrie Kit ihr hinterher. »Wir müssen alle zusammenbleiben.« Er trat einen Schritt von der Kutsche weg, schaute zu Giles auf der Bank hoch und erklärte: »Lasst uns die Lebensmittel und Waffen nach dort oben bringen. Wir haben nicht viel Zeit.«

»In Ordnung, Sir.« Giles kletterte mit den Füßen auf den Sitz, reckte die Arme über das Dach und band die beiden dort gesicherten Bündel los. Anschließend reichte er sie nacheinander nach unten zu Kit und stieg von der Kutsche. »Nach Euch, Sir«, sagte er und legte sich den größeren der zwei Packen über die Schulter.

Kaum war Kit losmarschiert, blieb er plötzlich stehen. Er drehte sich um und fragte: »Was geschieht mit der Kutsche und den Pferden?« Er war sich immer noch so wenig der Lebensbedingungen des Zeitalters bewusst, in dem er sich wiedergefunden hatte, dass er nun das erste Mal überhaupt einen Gedanken für Tiere erübrigte.

»Ich habe bereits Vorkehrungen für sie getroffen, Sir«, versicherte ihm Giles.

»Wirklich? Wann denn?«

»Letzte Nacht in der Schenke. Der Gastwirt wird einen Jungen herschicken, der alles abholt. Die Kutsche wird zum Gasthaus gebracht und die Pferde bleiben im Stall, bis wir zurückkehren und sie wieder einfordern.« Als der Kutscher Kits Gesichtsausdruck bemerkte, fügte er hinzu: »Keine Sorge, Sir. Ich habe nicht verraten, was wir vorhaben. Das Einzige, was sie wissen, ist, dass wir in den Wäldern hierherum auf die Jagd gehen.«

»Gut gemacht, Giles. Diese Sache ist mir völlig entfallen.«

»Es gibt keinen Grund, weshalb es Euch bekümmern sollte, Sir. Die Kutsche und die Pferde unterstehen meiner Verantwortung.«

Die beiden beeilten sich, um Lady Fayth einzuholen, die den serpentinenförmigen Pfad gefunden hatte, der zur Hügelkuppe hinaufführte. Mit großen Schritten eilte sie bereits auf den Gipfel zu, und die zwei Männer quälten sich in ihrem Schlepptau nach oben. Als die beiden die Kuppe erreichten, trafen sie die Lady dort oben an, wie sie voller Ungeduld mit dem Fuß auf den Boden pochte.

Kit ließ sein Bündel fallen, um besser nach Luft zu schnappen. »Der Markierungsstein ist hinter diesen drei Bäumen«, teilte er den anderen mit. Anschließend blickte er zum östlichen Horizont und sah, wie sich der Himmel in einer Linie über den bewaldeten Hügeln in der Ferne rosa färbte. »Bald wird es hell sein.«

»Dann müssen wir uns unter allen Umständen beeilen«, erklärte Lady Fayth, drehte sich um und wollte sich auf den Weg zu den Bäumen machen.

»Wartet, Mylady«, rief Kit und zog ein Buschmesser aus seinem Bündel. »Lasst Giles und mich vorangehen - falls irgendwelche Burley-Männer in der Nähe sind.« Bevor die Lady einen Protest gegen dieses Argument anbringen konnte, begann Kit in Richtung der drei Trolle loszumarschieren, deren schwarze Silhouetten sich gegen den ständig heller werdenden Himmel abzeichneten.

Während er stets mit einem wachsamen Auge nach irgendeiner Bewegung Ausschau hielt, die möglicherweise die Gegenwart eines feindlichen Beobachters verriet, passierte er die großen alten Eichen unterhalb ihrer sich ausbreitenden Zweige. Dann ging er in Richtung des Platzes, wo er, wie er wusste, den viereckigen Markierungsstein finden würde.

Niemand war zu sehen. Sie hatten den Platz ganz für sich allein. Als die Sonne über den Horizont zu spähen begann, fand Kit den quadratischen, flachen Stein.

»Hier ist er!«, rief Kit und winkte die anderen zu sich. »Beeilung! Die Zeit drängt.«

Giles und Lady Fayth gesellten sich rasch zu ihm.

»Stellt Euch auf den Stein«, wies Kit sie an und zog sie näher zu sich heran. »Schließt nun die Arme umeinander. Was auch immer geschehen mag - Ihr dürft nicht loslassen.« An der einen Seite hakte er sich bei Giles ein, an der anderen bei Lady Fayth. »Ich wiederhole!«, schrie er. »Was auch immer geschehen mag - nicht loslassen.«

»Warum schreit Ihr so?«, fragte Lady Fayth.

»Der Wind!«, brüllte Kit - und bemerkte dann, dass der von ihm erwartete Sturm tatsächlich noch gar nicht eingetreten war. Es herrschte absolute Windstille. »Seltsam. Vorher gab es immer Wind.«

Sie standen einen langen Augenblick beisammen und schauten sich gegenseitig an. Der Himmel wurde heller. Noch immer passierte nichts.

Kit dachte an den Tag zurück, als Cosimo und Sir Henry verschwunden waren. Vor seinem inneren Auge tauchte ein Bild auf: Sein Urgroßvater stand auf dem Stein und hatte die Arme über seinen Kopf nach oben gestreckt, wie ein Profiboxer bei einer Triumphpose. »Ahm«, sagte er, »lasst mich etwas versuchen.«

Er streckte eine Hand empor und fühlte sofort, wie sich auf seinen Armen und im Nacken die Haare aufrichteten. Die Atmosphäre war mit statischer Elektrizität aufgeladen. Als er den anderen Arm hochhielt, verstärkte sich dieses unheimliche Phänomen: Die Luft schien dick und bleiern zu werden, und es war schwierig zu atmen.

»Haltet Euch an mir fest!« Erneut schrie Kit, und diesmal mit gutem Grund, denn wie aus dem Nichts brach ein Gebrüll aus, das direkt über ihnen den Himmel erfüllte. Ein wilder Wind wirbelte umher und riss an ihren Kleidern; zudem wurden sie von einem unirdischen blauen Glühen umhüllt. Die Welt um sie herum - die Hügelkuppe, die Bäume, die Erhebungen dahinter - verblasste zunehmend, wurde wässrig und verschwommen wie bei einem Blick durch eine Art leuchtenden Hitzeschleier. Das Brüllen wurde zu einem Kreischen.

»Nicht loslassen!«, rief Kit mit gellender Stimme und bemühte sich so, trotz des Heulens gehört zu werden. Es fiel ihm zunehmend schwerer, seine Arme in die Höhe zu halten - als ob eine dutzendfach verstärkte Schwerkraft die hochgestreckten Arme nach unten zu ziehen versuchte. Er hatte diesen ungeheuren, fast niederschmetternden Druck nicht vorhergesehen. Es fühlte sich an, als ob der ganze Hügel von seinen emporgereckten Fäusten im Gleichgewicht gehalten würde. Seine Muskeln brannten, und er begann zu wanken. Dann, als er dachte, er könnte nicht mehr länger dem Druck standhalten, spürte er, dass Lady Fayth ihren Griff verstärkte und einen Arm um seine Taille gleiten ließ. Er schaute ihr ins Gesicht und entdeckte darin weder Furcht noch Schrecken, sondern ausschließlich eine freudige Erregung: Ein wildes Jubelfeuer leuchtete in ihren Augen. Sie erwiderte seinen Blick; fast sah sie ihn mit Bewunderung an.

Ihr Blick erneuerte seine Kräfte. Kit stieß einen Schrei aus und stellte sich auf die Zehen. »Springt!«, schrie er, und als er sein Wort in die Tat umsetzte, spürte er, wie seine Füße den Boden verließen.

Es war nur ein kleiner Hüpfer, doch er kam mit einem heftigen Schlag auf, der ihn zusammenstauchte: die Erschütterung pflanzte sich von seinen Knöcheln über die Knie bis zu seinen Hüften fort.

Und das war es.

Von einem Atemzug zum nächsten verstarben die Geräusche und der Wind. Der eigenartige, blau schimmernde Schleier erlosch einfach. Die mit statischer Elektrizität aufgeladene Luft gab ein klägliches, zaghaftes platzendes Geräusch von sich und verpuffte. Kit blickte nach unten und sah, dass sie immer noch auf dem Markierungsstein standen. Ihm sank das Herz.

»Ich schätze, wir sollten es diesen Abend noch einmal versuchen, wenn -«, begann er zu sprechen und hielt dann abrupt inne. »Autsch!«

Lady Fayths Fingernägel bohrten sich in seine Taille. Ihre Augen hatten sich voller Staunen geweitet; und ihr Gesicht und ihre rostrotbraunen Haare strahlten im Licht eines goldenen Sonnenaufgangs. Er wandte seinen Blick von ihr fort und sah, was ihre Aufmerksamkeit fesselte: eine lange, gerade, mit Steinen befestigte Allee - die von einer Doppelreihe von Sphinxen gesäumt wurde.

Die Zeitwanderer
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