SECHSUNDZWANZIGSTES KAPITEL
Bis zum Sonnenaufgang würde es immer noch eine ganze Weile dauern, doch Burleigh konnte spüren, wie die nächtliche Kühle dahinschwand und die Hitze des Tages aufzusteigen begann - als ob irgendwo jenseits des Horizonts ein Ofen angezündet worden wäre und nun geschürt würde. Wieder einmal würde es eine Affenhitze geben, was kein Wunder hier wäre; immerhin hatte er sich, so gut er konnte, darauf vorbereitet und war entschlossen, den Tag zu genießen. Er hatte einen Anzug aus kamelfarbenem Leinen erworben, der locker herabhing, und vervollständigt wurde seine Bekleidung durch einen Tropenhelm sowie eine Kufiya, ein in der arabischen Welt von Männern getragenes Kopftuch, mit dem er seinen Nacken vor der Sonne schützte.
Nun saß er im Fond von Lord Carnarvons Reisewagen, der nach dessen Wünschen angefertigt worden war. Das Automobil fuhr eine unmarkierte Piste entlang und wurde dabei kräftig durchgeschüttelt. Während Burleigh die bleichen, ausgedörrten Hügel beobachtete, die an seinem offenen Fenster vorüberzogen, fragte er sich, was der Tag wohl bringen würde. Gewiss war sein Gastgeber in einer außergewöhnlichen Hochstimmung.
Der Ort des Grabmals wurde als ein Geheimnis bewahrt, über den man sich ausschwieg. Obwohl Gerüchte grassierten - und viele wussten, dass eine Grabung stattfand -, kannten nur vier Menschen auf der Welt die genaue Lage der Ausgrabungsstätte. Trotz dieser Geheimniskrämerei hatte sich gezeigt, dass es für einen Mann mit Burleighs Fähigkeiten und Überzeugungskraft keine große Schwierigkeit darstellte, sich eine Einladung zu verschaffen, um der Graböffnung beizuwohnen. Zweifellos spielte sein Wissen um die Geschichte und die Kunstwerke Ägyptens eine Hauptrolle dabei, Carnarvon davon zu überzeugen, dass er, Burleigh, aufrichtig daran interessiert war, die im Entstehen begriffene Wissenschaft der Archäologie zu unterstützen. Und was Lady Evelyn, Carnarvons Tochter, betraf, schadeten zudem weder Burleighs Charme noch sein gutes Aussehen der eigenen Sache. Nach einigen Drinks und einem Dinner auf der Hotelterrasse schien es für Carnarvon das Natürlichste auf der Welt zu sein, Burleigh - einen Landsmann und Angehörigen der eigenen Klasse - dazu einzuladen, sie zu begleiten und Augenzeuge einer Begebenheit zu sein, die sicherlich ein monumentales Ereignis sein würde.
»Haben Sie schon zuvor Grabungen besucht, Lord Burleigh?«, fragte nun Evelyn, die ein Hemd und eine Hose aus locker herabhängendem Leinen trug und ihr Haar unter einem Kopftuch verbarg. Sie hatte auf dem Notsitz der hin und her rüttelnden Limousine Platz genommen und saß ihrem Vater und seinem Gast direkt gegenüber.
»Ein- oder zweimal«, erwiderte Burleigh. Er verzichtete darauf, die Tatsache zu erwähnen, dass seine Besuche nach Mitternacht stattzufinden pflegten, wenn die Wächter der Ausgrabungsstätte durch Bestechung dazu gebracht worden waren, in eine andere Richtung zu gucken. »Ich finde das alles natürlich ungemein faszinierend, aber ich scheine niemals am richtigen Ort zur richtigen Zeit zu sein, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
»Heute wird die große Ausnahme sein«, teilte Carnarvon voller Stolz mit. »Ich erwarte große Dinge. Große Dinge! Es macht mir nichts aus, Ihnen zu verraten, dass ich letzte Nacht kaum ein Auge zugemacht habe. Das gelingt mir nur selten bei solchen Anlässen.«
»Vater ist wie ein quengeliges Kind kurz vor der Weihnachtsbescherung«, vertraute Evelyn dem Gast unbeschwert an. »Er hat immer das Gefühl, jemand anders wird vor ihm da sein und ihm alle Geschenke unter dem Baum klauen. Ich selbst habe wie ein Baby geschlafen.«
»Man hält dies für ein königliches Grabmal«, sagte Carnarvon. »Das ist sehr selten. Zwar können wir nicht vollständig sicher sein, bis wir es geöffnet haben, doch Carter ist überzeugt - zumindest so überzeugt, wie man es in diesem Stadium der Grabung sein kann -, dass wir etwas sehr Außergewöhnliches gefunden haben.« Mit seinen Fingerspitzen klopfte er sich leicht aufs Knie. »Wirklich etwas sehr Außergewöhnliches.«
»Und ich muss Ihnen erneut dafür danken, dass Sie mir erlauben, ein Zeuge dieses historischen Ereignisses zu sein«, erklärte Burleigh. »Das ist unglaublich großzügig von Ihnen.«
»Unsinn!«, blaffte Lord Carnarvon. »Ich will nichts davon hören. Ihre Anwesenheit passt ausgezeichnet zu meinen Absichten. Wir wollen eine glaubwürdige Bestätigung für unsere Funde, wissen Sie - gerade so, wie wir uns Geheimhaltung wünschen bis zu dem Augenblick, wo das Grab geöffnet ist.«
»Öffentliche Aufmerksamkeit, mit anderen Worten«, fügte Lady Evelyn in einem leicht spöttischen Tonfall hinzu. »Wenn es um seine Aktivitäten geht, ist Vater einer kleinen öffentlichen Aufmerksamkeit niemals abgeneigt. Er ist jemand, der den Nervenkitzel sucht. Aus demselben Grund war er es früher gewohnt, mit Autos um die Wette zu fahren, wissen Sie.«
»Aber, aber!«, tadelte ihr Vater sie. »Wir wollen unseren Gast doch nicht mit alten Kamellen langweilen.« Er blickte zu Burleigh und fragte ihn: »Haben Sie jemals an Rennen teilgenommen?«
»Pferderennen, ja«, antwortete er; die Lüge ging ihm glatt über die Lippen. »Als ganz junger Bursche - bis ich zu groß wurde. Doch mit Autos? Niemals - obschon ich mich oft gefragt habe, ob ich es vielleicht versuchen sollte. Aber jetzt bin ich nicht mehr der Jüngste.«
»Papperlapapp«, spottete Lady Evelyn. »Man ist niemals zu alt für Autorennen. Vater hat es nur aufgegeben, weil er bei einem Unfall schwer verletzt worden ist. Ansonsten hätten Sie ihn just in diesem Moment in einer Schmierfettgrube an der Rennstrecke von Brooklands vorfinden können - daran hege ich nicht den geringsten Zweifel.« Mit der Schuhspitze stieß sie leicht gegen das Schienbein ihres Vaters. »Gib es zu, Daddy. Wenn es den Unfall nicht gegeben hätte, wären wir jetzt nicht in Ägypten.«
»Meine Tochter übertreibt schrecklich«, erklärte der Earl of Carnarvon. »Allerdings finde ich wirklich großen Gefallen an Autorennen - beinahe so viel wie an einer guten Ausgrabung. Zurückblickend war es zum Besten - dass mir der Unfall passiert ist, meine ich. Ägypten hat mich in einer Art und Weise in Bann geschlagen, wie es Autorennen niemals vermocht hätten. Ich gestehe bereitwillig, dass es nach dem Unfall die große Lücke in meinem Leben geschlossen hat. Seit damals habe ich all meine Energie in meine Grabungen gelegt.«
»Wird Mr Carter etwas dagegen haben, dass ich mitkomme?«, erkundigte sich Burleigh.
»Ich kann mir nicht vorstellen, warum«, entgegnete Carnarvon. »Ich bezahle alle Rechnungen. Wenn es mir Spaß macht, kann ich daher jeden einladen, der mir gefällt. Sowieso ist Howard Carter ein sehr zugänglicher Bursche. Und extrem sachkundig. Sie werden ihn mögen, sobald sie ihn kennenlernen.«
»Ich freue mich schon auf die Begegnung«, sagte Burleigh.
»Sie werden nicht mehr lange warten müssen«, verkündete Carnarvon. »Wir sind fast am Ziel.« Er lehnte sich vor und wies am Fahrer vorbei durch die Windschutzscheibe auf die Hügelspitze, die sich vor ihnen erhob. »Es ist direkt hinter der nächsten Anhöhe. In zwei Minuten sind wir da.«
Auf dem Gipfel des Hügels bremste der Wagen ab und begann, langsam einen steilen, felsigen Hang hinabzurollen. Dabei bewegte er sich entlang eines nur rudimentär angefertigten Serpentinenwegs, den man für die wenigen Fahrzeuge, die zur Ausgrabungsstätte fuhren, so weit wie nötig geebnet hatte. Den Abstieg setzten sie bis zum Talboden fort und bogen dann in eine enge, steilwandige Schlucht ein, der sie tiefer in die Hügel hinein folgten. Während der Fahrt auf dem welligen Boden strichen die Frontscheinwerfer des Wagens über die Wände des Wadis, das sich zum Schluss zu einer Kreuzung hin öffnete, wo sich zwei andere Schluchten mit der ersten trafen.
Auch wenn noch eine frühmorgendliche Dunkelheit herrschte, so konnte Burleigh doch ein Lager ausmachen und erkennen, dass es recht behelfsmäßig errichtet worden war. Es bestand aus ein paar primitiven Holzhütten und Verdecken aus Leinwänden und Balken, die man über flachen Erdlöchern aufgestellt hatte. An einer Seite standen außerdem in einer Linie drei Zelte, die so groß wie Häuser waren. Darüber hinaus gab es, rund um das Camp verstreut, mehrere kleinere schwarze Beduinenzelte mit winzigen Lagerfeuern.
Die Limousine kam holpernd zum Stehen, und die Fahrgäste stiegen aus. Die größeren Zelte waren leer; ihre Bewohner hatten bereits mit der Arbeit begonnen.
»Carter wird bei der Ausgrabung sein«, rief Carnarvon. »Hier entlang! Folgen Sie mir, aber achten Sie darauf, wohin Sie den Fuß setzen!« Er schritt in der Dunkelheit davon.
»Nach Ihnen, Mylady«, sagte Burleigh und bot Evelyn seine Hand an.
»Ich hoffe, wir können das alles noch vor dem Mittag beenden«, vertraute sie ihm an. »Es wird hier draußen so tierisch heiß. Ich schmelze dann förmlich dahin.«
»Bis heute hätte ich ernsthaft an meinen Verstand gezweifelt, wenn ich im Sommer nach Ägypten gekommen wäre«, bekannte Burleigh und hielt dann kurz inne. »Allerdings ist der Winter nicht viel besser. Ich vermute, es gibt weniger Fliegen.«
»Ich wage zu behaupten, dass Sie nicht viel von einem Archäologen an sich haben, mein lieber Earl. Sie müssen eine Haut so dick wie die eines Nashorns haben und den Dreck in all seinen herrlichen Formen lieben. Im Unterschied zu Ihnen ist Mr Carter in der Wüste geboren worden - mit Sand in den Adern und der Konstitution eines Kamels. Ich für mein Teil denke, dass die Vergangenheit Ägyptens zwischen acht Uhr und Mitternacht am besten auf der Terrasse eines großen Hotels erforscht werden kann.«
»Gesprochen wie eine wahre Tochter der Wüste«, witzelte Burleigh.
Lady Evelyn lachte; ihre Stimme klang tief und voll. »Die Archäologie ist Daddys Leidenschaft, nicht meine. Wenngleich ich an Enthüllungen Gefallen finde - wie heute. Es hat etwas schrecklich Aufregendes an sich, wenn man etwas aufdeckt, das seit zahllosen Jahrhunderten vor der Welt verborgen ist - wenn man die Pracht eines entfernten Zeitalters erblickt, die so lange in der Dunkelheit verschwunden war und nun ans Tageslicht zurückgebracht wird.« Plötzlich wurde sie befangen und starrte auf den großen Mann neben sich. »Würden Sie mir nicht zustimmen?«
»Voll und ganz«, erwiderte Burleigh. »Ansonsten hätte ich ernsthafte Zweifel, ob ich der Hitze, den Fliegen und den Skorpionen trotzen könnte, die es hier gibt.«
Den Rest ihrer Fußwanderung legten sie schweigend zurück. Es ging über holpriges Terrain, das aus zerbrochenem Felsgestein und Schutthaufen bestand. Vorsichtig stiegen sie über Pflöcke und Abspannleinen von Sonnendächern hinweg, die über Grabungsstellen gespannt waren. Lord Carnarvon war ihnen vorausgeeilt und hatte den Bestimmungsort bereits erreicht: ein weiteres niedriges Sonnendach aus schmutziger Leinwand, das sich über einem klaffenden Loch in der felsigen Wüstenlandschaft erstreckte.
»Hierher!«, schrie er und winkte ihnen zu. »Hier drüben!«
Er stand am Rande einer Ausgrabungsstelle, und als sie sich zu ihm gesellten, rief er in das Loch hinab: »Sind Sie da unten, Carter?« Nach einer kurzen Pause schrie er erneut: »Carter?«
Eine schwache, gedämpfte Stimme wehte aus der Grube nach oben. »Hier!« Sie wurde lauter, während sie weitersprach: »... einen Moment ... Lassen Sie mich Ihnen eine Lampe besorgen. Alles ist bereit.«
Ein dünnes Licht schwebte aus dem dunklen Herzen der Öffnung vor ihnen nach oben und warf einen blassen Glanz auf die oberste Stufe einer schmalen Treppe. An einer Seite des Loches hatte man ein Seil befestigt, das als Geländer diente. Lord Carnarvon ergriff das Seil und verschwand rasch in die Tiefe.
»Nach Ihnen, Mylady«, sagte Burleigh und bot der jungen Frau seine Hand an, um ihr zu helfen, in die Grube hinabzusteigen.
Burleigh folgte ihr und betrat die steile Treppe sowie den Korridor, der in eine ziemlich große unterirdische Kammer führte. Sie wurde erhellt durch Petroleumlampen; ein halbes Dutzend Arbeiter hielten sie in den Händen. Die Männer richteten Laternen auf einen steinernen Eingang, auf dessen Rahmen und Türsturz Hieroglyphen zu erkennen waren. Der Eingang selbst bestand aus Ziegelsteinen, die mit getünchtem Lehm verputzt gewesen waren; den Putz hatte man inzwischen abgeschlagen.
Howard Carter wandte sich an Carnarvon und berichtete: »Wir haben die Beseitigung der obersten Schicht gerade beendet. In Erwartung Ihrer Ankunft -« Abrupt brach er den Satz ab. »Oh, hallo - wer ist denn das?«
»Ach ja, vergeben Sie mir«, erwiderte Lord Carnarvon und drehte sich zu seinem Gast um. »Darf ich Ihnen einen Freund von mir vorstellen - Lord Burleigh, Earl of Sutherland.« Er führte die Vorstellung rasch durch und verkündete, sein neuer Bekannter sei ein begeisterter Amateur-Archäologe.
Lord Burleigh streckte seine Hand aus, um den renommierten Ägyptologen zu begrüßen - einen Mann von mittlerer Größe und durchschnittlichem Aussehen, der den Eindruck hinterließ, als würde er sich hinter einem Schreibtisch der Hauptverwaltung eines Versicherungsunternehmens mehr zu Hause fühlen als beim Herumbuddeln in der Wüste, um vergrabene Schätze zu suchen.
»Ich bin hocherfreut, Ihnen endlich einmal persönlich zu begegnen, Mr Carter. Ich habe so viel über Sie gehört. Ihre Beiträge zur Mehrung unseres Verständnisses der alten Kultur sind unschätzbar.«
»Es freut mich, dass Sie so über mich denken«, erwiderte Carter mit einer dünnen, nasalen Stimme. »Allerdings neigt die Boulevardpresse dazu, alles viel zu sensationell darzustellen, wie ich finde.«
»Unsinn, Mr Carter, Sie sind der gebildetste und klügste Forscher auf Ihrem Gebiet«, schaltete sich Lady Evelyn ins Gespräch ein. »Sie sind viel zu bescheiden.«
Carter lächelte schüchtern. »Ich habe Glück gehabt.«
»Sie haben niemals mehr Glück gehabt als genau in diesem Augenblick!«, erklärte Carnarvon. »Sollen wir nun damit weitermachen? Wir haben Jahre darauf gewartet - der erste Blick auf ein königliches Grabmal. Auf geht's, Mann! Lasst uns sehen, was wir gefunden haben!«
Carter wandte sich dem versiegelten Eingang zu und gab zwei bereitstehenden Arbeitern, die mit Hammer und Meißel bewaffnet waren, ein Zeichen. Die Burschen begannen, den Mörtel zwischen den Ziegelblöcken abzuschlagen, und schon bald war die tote, reglose Luft in der Kammer voller feinkörnigem Staub. Während der Mörtel herabfiel, stieg in der Kammer die erwartungsvolle Spannung: Die Arbeiter murmelten auf Arabisch; Carnarvon und seine Tochter flüsterten immer wieder miteinander. Carter allerdings blieb steif vor der Steinwand stehen und starrte sie an, als könnte er sie allein durch bloße Willenskraft niederreißen.
Schon bald war einer der Ziegelblöcke in der Mitte freigelegt. Carter hob seine Hand und rief: »Kata!«, woraufhin die Arbeiter mit dem Hämmern aufhörten.
Er trat vor und fuhr mit den Händen entlang der Fugen um den Block. Dann drückte er die Finger in die Ritzen und zog, doch der Ziegelstein bewegte sich nicht.
»Takkadam«, sagte er und schritt wieder zurück, während die Arbeiter das Hämmern fortsetzten. »Wir müssen den Stein zerbrechen, um ihn herauszubekommen«, erklärte Carter. Sein von einem dünnen Schweißfilm bedecktes Gesicht, auf dem ein Ausdruck ungeduldiger Erwartung lag, leuchtete im Schein der Lampen.
»Wird bestimmt nicht lange dauern«, versicherte Lord Carnarvon den anderen und rieb sich die Hände. »Jeden Augenblick sind wir durch.«
Mit jedem Hammerschlag wurde die Atmosphäre aufgeladener und die erwartungsvolle Spannung immer intensiver. Das Klirren von Stahl auf Stahl und von Stahl auf Stein erfüllt die Kammer mit hämmerndem Getöse; der Staub in der Luft verdichtete sich immer mehr. Der Block brach unter dem Angriff starker Hammerschläge, und der Riss vergrößerte sich rasch.
»Kata!«, rief Carter erneut.
Das Hämmern hörte abrupt auf.
Howard Carter schritt zum versiegelten Eingang und grub seine Finger in die neu entstandene Spalte. Schließlich zerrte er an dem zerbrochenen Ziegelstein und zog langsam die erste Hälfte heraus. Er warf sie hinter sich weg, und nur Momente später folgte ihr die zweite Hälfte.
Carter spähte in das Loch hinein.
»Was sehen Sie?«, fragte Carnarvon.
»Ich sehe ...«, begann Carter.
Lord Burleigh spürte, dass sich Evelyn in ihrer Aufregung eng an ihn gelehnt hatte. Sie drückte die Knöchel ihrer rechten Hand gegen die Lippen.
»Oh, bitte!«, keuchte sie leise.
»... nichts«, beendete Carter seinen Satz und trat von dem Loch im Eingang zurück. »Ich kann nichts sehen, solange wir kein Licht hineinbringen können.« Er wandte sich zu den Arbeitern und gestikulierte. »Takkadam«, sagte er, und das Hämmern setzte wieder ein.
Der zweite Stein fiel schneller als der erste, und dann folgten rasch hintereinander der dritte, vierte und fünfte. In der Vorkammer stieg der Staub in Wolken auf und füllte die reglose Luft. Wohin man auch blickte, sah man mit Hals- oder Kopftüchern bedeckte Nasen und Münder.
»Kata!«, brüllte Carter und nahm sich von einem der Männer die Lampe. Dann schritt er auf die Leere im Eingang zu und stieß die Laterne hindurch. Er zitterte sichtlich, während er sich nach vorne beugte, wobei er sein gespanntes Gesicht gegen das Mauerwerk drückte.
»Und?«, verlangte Carnarvon zu wissen, der vor Aufregung beinahe hüpfte. »Was denn nun? Sagen Sie es uns! Was sehen Sie?«
»Gold!«, verkündete Carter. »Ich sehe Gold.«
Das Wort ließ Burleigh intuitiv am ganzen Körper erschaudern; selbst in seinen Eingeweiden fühlte er
es.
Carter, der immer noch am Eingang stand, gab Lord Carnarvon ein Zeichen, zu ihm an die Lücke zu treten. Der Aristokrat zwängte sich neben ihn und drückte sein Gesicht in die Öffnung.
»Herrlich!«, rief er aus. »Öffnet es! Öffnet es sofort!«
»O Daddy!«, schrie Lady Evelyn. »Lass mich auch sehen!«
»Noch einen Moment, Liebes«, erwiderte ihr Vater, »und wir werden alle in der Lage sein, es zu sehen.« Dann befahl er den Arbeitern: »Reißt das Mauerwerk nieder!«
»Selbstsüchtiges Scheusal«, murmelte Evelyn.
Burleigh tätschelte ein wenig mitfühlend ihren Arm, obgleich er selbst nicht eine so große Enttäuschung empfand. Er war in höchstem Maße glücklich, ausnahmsweise einmal bei einer Entdeckung an vorderster Front zu stehen - anwesend zu sein, wenn man ein Grab öffnete und wenn die Objekte, die seine Lebensgrundlage darstellten, in die Welt der Menschen und deren Geschäfte zurückgebracht wurden. Tatsächlich schwirrten in seinem durchtriebenen Geist bereits zahlreiche raffinierte Pläne, mit deren Hilfe er sich an dem gewinnbringenden Verkauf der Artefakte zu beteiligen gedachte, die bald zum Vorschein gebracht werden sollten.
Ein Ziegelstein folgte dem anderen, bis ein ganzer Bereich des versiegelten Eingangs einstürzte. Innerhalb weniger Momente war die Bresche groß genug, um durch sie einzutreten.
»Hier«, sagte Carter und reichte Laternen herum. Als jedes Mitglied der kleinen Gesellschaft ein Licht hatte, erklärte er: »Ich möchte jeden einzelnen von uns daran erinnern, nichts zu berühren, bis wir eine Möglichkeit haben werden, alles an Ort und Stelle zu fotografieren.« Nachdem er von allen Seiten Zusicherungen erhalten hatte, lächelte er. »Hier entlang, bitte. Geben Sie acht, wohin Sie treten.«
Er drehte sich zur Seite, zog die Schultern ein, um sich durch die Öffnung zu zwängen, und verschwand im dunklen Inneren des Grabmals.
Als Nächster ging Lord Carnarvon, und seine Tochter folgte ihm auf dem Fuße.
Hinter ihr trat Burleigh durch die Öffnung. Vorsichtig schritt er, über den Haufen aus Schutt und zerbrochenen Ziegelsteinen. Er passierte einen schmalen Vorraum und gelangte in eine Kammer, die aus dem natürlichen Gestein ausgehauen worden war.
Niemand sprach ein Wort. Alle standen schweigend im Bann des Mysteriums.
Die Luft im Inneren des Grabmals war trocken und enthielt den metallischen Geruch von Felsstaub und, merkwürdigerweise, Gewürzen - als ob eine einstmals kräftige Mischung aus Kiefernharz und Weihrauch im Verlauf einer unermesslich langen Zeit zu einem nur noch geisterhaften Fetzen ihrer früheren wohlriechenden Existenz dahingeschwunden wäre. Der Geruch reizte mehr die Schleimhäute, als dass er sie kitzelte. Burleigh rieb sich die Nase und drang weiter in das Grabmal vor.
In dem Raum, der nur wenig größer als ein Eisenbahnwaggon war, stapelten sich verstaubte Möbelstücke. Man sah einen schwarz lackierten Stuhl, ein Bettgestell, die bemalten Räder eines Pferdewagens und verschieden große Kisten, Schatullen sowie Truhen. In die Armlehnen des schwarzen Stuhls waren Löwenköpfe geschnitzt worden, die man mit Blattgold bedeckt hatte. Genau dies, so befand Burleigh, war es gewesen, was Howard Carter bei seinem ersten Blick in die Grabkammer funkeln gesehen hatte; denn wohin man auch schaute - es gab kein anderes Gold.
An den entgegengesetzten Enden der Kammer befanden sich Türen, die zu anderen Räumen führten. Instinktiv ging Carter zu der Tür auf der rechten Seite, Carnarvon hingegen zur linken.
Carnarvon war der Erste, der das Schweigen brach. »Kanopenkrüge«, verkündete der Lord, dessen Stimme in der dumpfen Luft des Grabes seltsam tot klang. »Was haben Sie gefunden?«
»Den Sarkophag«, antwortete Carter. »Er ist hier - und unbeschädigt. Wir haben Glück. Es hat hier keinen Grabraub gegeben.«
Während die anderen sich damit beschäftigten, den kunstvollen königlichen Steinsarg oberflächlich zu untersuchen, machte Burleigh im Geiste eine rasche Bestandsaufnahme der Gegenstände, die er verkaufen konnte, und schätzte ab, was jedes Einzelstück auf dem Markt wohl bringen würde. In einer Ecke sah er zwei sehr schöne, aus rotem Granit gemeißelte Katzenstatuen; direkt neben ihnen war eine kleine Eule aus Ebenholz; und mitten zwischen den Holzkisten befand sich ein großer Jagdhund mit einem juwelenbesetzten Halsband ...
»Wer ist das?«, fragte Carnarvon. »Können Sie es erkennen?«
Burleigh gesellte sich wieder zu den anderen, die nun neben dem Sarkophag standen - einer überdimensionalen lederfarbenen, steinernen Gruft, in der oben Hieroglyphen eingemeißelt waren.
»Es ist hier«, sagte Carter. »Ja, hier ist es. Hier ist ein Name ...«
»Und?«, verlangte Carnarvon zu wissen, dessen Stimme vor lauter Ungeduld ganz schrill geworden war. »Was besagt die Inschrift? Wer ist es?«
Burleigh spürte, dass die Erwartung rasch in tiefe Frustration umschlug. Und er glaubte, dass er den Grund dafür erraten konnte.
»Es ist ein Mann«, erwiderte Carter, der mit dem Finger über die Zeichen fuhr wie ein Blinder über die Brailleschrift. »Sein Name ist Anen.« Er blickte vom Gegenstand seiner Untersuchung auf. »Er ist - war - ein Priester, der den Titel des Zweiten Propheten des Amun trug. Er stand sehr hoch in der Tempelhierarchie.«
»Also kein König«, bemerkte Lord Carnarvon, der es nicht vermochte, die Enttäuschung aus seiner Stimme fernzuhalten. »Schade!«
»Nein, kein König«, bestätigte der Archäologe. »Aber nichtsdestoweniger ist es immer noch ein bedeutender Fund.«
»Natürlich«, stimmte Carnarvon ihm zu und wandte sich ab. »Äußerst bedeutsam.«
»Oh, Daddy«, schalt Evelyn. »Schmoll doch nicht, nur weil es keinen Berg aus Gold und Juwelen gibt, den man plündern kann. Schau nur auf all die wunderbaren Malereien.«
Sie hielt ihre Laterne zur Wand hin, und Burleigh sah, was bis zu diesem Augenblick seiner Aufmerksamkeit entgangen war: Die Wände des Grabmals waren weiß verputzt und mit Bildern überzogen worden. Jeder Quadratzoll jeder einzelnen Oberfläche war mit intensiven, kraftvollen und lebhaften Farben geschmückt. Ein riesiges Wandfeld zeigte den Bewohner des Grabmals mit emporgehobenem Speer in einem Pferdewagen neben der gekrönten Gestalt des Pharao; und vorneweg rannten Hunde, die einer hochspringenden Antilope dicht auf den Fersen waren. Ein anderes Gemälde präsentierte den Priester, wie er in seinen bunten Gewändern eine Zeremonie leitete, bei der eine Reihe von Tieren geopfert wurden; das Ganze wurde beaufsichtigt von einer riesengroßen Figur des bronzehäutigen Gottes Amun mit Federkrone. Ein drittes Wandfeld stellte den Bewohner des Grabmals auf seinem Stechkahn aus Papyrus dar; der Priester stakte durch hohes Schilf und war von Kranichen, Enten und Reihern umgeben; Vögel aller Art bevölkerten den Himmel über ihm, und das Wasser unter dem Boot war voller Fische, sogar ein Krokodil hatte man gezeichnet ... Und noch viel mehr war auf den Wänden zu sehen. Die Decke hatte man ebenfalls bemalt - mit einem strahlenden Blau sowie winzigen weißen Sternen, um den Himmel nachzuahmen. Alle Gemälde waren wundervoll, komplex und detailreich, mit Farben so frisch und leuchtend wie an dem Tage, als die Künstler ihre Pinsel niedergelegt und sich wieder ans Sonnenlicht begeben hatten.
»Da ist sein Reichtum«, bemerkte Burleigh, trat an Lady Evelyns Seite und hielt seine Laterne neben ihre. »Der Bursche hat sein ganzes Vermögen für Kunst ausgegeben.«