NEUNUNDZWANZIGSTES KAPITEL

Die Kutsche rumpelte über die Brücke, und Wilhelmina hatte erstmals einen guten Ausblick auf den Kaiserpalast. Er hatte eine wuchtige, dräuende Präsenz - war mehr Bunker als Schloss - und ließ sie an die schwerfällige, graue Erhebung des Buckingham Palace zu Hause in London denken. Kaiser Rudolfs Palast fehlte es gleichermaßen an Charme und Eleganz: Er war eine kolossale Steinkiste ohne Türme, Bergfried, Zinnen oder irgendeine Form von äußerlichen Verzierungen - und zeigte so der Welt ein grüblerisches und ansonsten ausdrucksloses Gesicht.

Der Bau ließ die Kathedrale in seiner unmittelbaren Nähe umso strahlender hervortreten: Direkt gegenüber dem Palast ragten die Spitzen des Doms empor, der dem heiligen Veit gewidmet war. Das gewaltige Gotteshaus, das im frühen Morgenlicht rötlich-golden leuchtete, mutete im Vergleich zu seinem schwerfälligen Nachbarn wie ein fast magisches Gebilde an. Und da es auf dem höchsten Punkt der Stadt errichtet worden war, schien das heroische Bauwerk - ungeachtet seiner Kapellen und Türme und vor allem trotz des kolossalen Glockenturms mit der kupfernen Kuppel - im Begriff zu sein, den Himmel zu erstürmen.

Sobald sie die Brücke überquert hatten, entschwand der Palast augenblicklich ihren Blicken; und dies blieb so, auch als ihre Kutsche den steilen Weg zu ihrem Bestimmungsort hinauffuhr.

Mina wandte sich ihrem Gefährten zu. »Du lächelst gerade, Etzel«, bemerkte sie. »Woran denkst du jetzt?«

»Ich denke daran, dass ich heute - was auch immer geschehen mag - vor dem Kaiser stehen und ihm etwas von dem geben werde, was ich gebacken habe.« Sein Lächeln verzog sich zu einem breiten, lässigen Grinsen. »Das ist etwas, das sogar mein Bruder und mein Vater mir nicht wegnehmen können.«

Im Laufe der langen Zeit, in der sie nun schon zusammenarbeiteten, hatte Wilhelmina sich ein Bild von Engelberts Leben vor der Begegnung mit ihr gemacht. »Es war hart für dich, unter dem Daumen deines Vaters und deines Bruders zu leben.«

Er zuckte leicht mit den Schultern. »Ich nehme an, es war auch nicht leicht für sie. Na ja, vielleicht nicht ganz so hart ...«

»Ich wünschte, sie wären hier, um dich zu sehen. Das wäre doch was, oder?«

Er lachte. »Ihnen würden die Augen aus dem Kopf fallen, wenn sie sähen, dass ihr Engelbert dem Kaiser sein Backwerk anbietet.«

Sie warf einen Blick auf die Kiste mit der Gerätschaft und den Vorräten auf dem Boden der Kutsche. Der Behälter stand direkt neben ihr; sie hätte es nicht erlaubt, ihn auf den Gepäckträger zu schnallen, wo er außerhalb ihrer Sicht wäre. Nun fragte sie sich, ob sie auch an alles gedacht hatte. Fehlte irgendetwas?

Etzel folgte ihrem Blick. »Alles ist da, Herzerl«, versicherte er ihr. »Wir haben eine Liste erstellt und anschließend alles in die Truhe gelegt. Wir haben nichts vergessen.«

Sie hatten die Gegenstände, die in die Kiste gestellt worden waren, überprüft und dann noch ein weiteres Mal geprüft: alles, was sie brauchen würden, um für den Kaiser und einige wenige ausgewählte Mitglieder seines Hofes Kaffee zu machen.

»Heute ist einer der wichtigsten Tage in meinem Leben«, verkündete Mina und schaute dabei Etzel an. »Ich will nur unsere Sache ordentlich machen. Unsere Zukunft hängt davon ab.«

»Nein«, widersprach ihr der sanftmütige Mann. »Unsere Zukunft liegt in Gottes Händen. Nichts kann daran etwas ändern. So, und jetzt lass uns den Tag genießen und glücklich sein.«

»Ich bin glücklich, Etzel«, sagte sie und streckte den Arm aus, um dem ihr gegenüber sitzenden Gefährten die Hand zu drücken. »Ich möchte, dass du das weißt. Ich bin sehr glücklich, mit dir heute hier zu sein. Ich würde nirgendwo anders sein wollen.«

Er öffnete den Mund, als ob er etwas sagen wollte, aber nicht die richtigen Worte finden könnte. Und so fuhr er stattdessen mit der Hand durch sein blondes Haar und nickte zustimmend mit seinem runden Kopf.

Die kaiserliche Kutsche überquerte eine weitere Brücke - sie trennte die obere Stadt von der unteren - und führte die Fahrt zum Palastbezirk über Straßen fort, die immer gefährlicher anstiegen. Schließlich näherte sich die Kutsche den Palastmauern und dem großen Pförtnerhaus, das den Eingang bewachte. Das Tor war geöffnet, und die Wachen winkten das Gefährt durch. Mina hatte das Gefühl, als ob Schmetterlinge in ihrem Bauch auffliegen würden, während die Pferde mit klappernden Hufen in den Hof trabten und zum Stehen kamen. Rechts und links der rot lackierten Doppeltür hielten Soldaten mit langen Piken, verzierten silbernen Helmen und Brustplatten Wacht. Kräftige Doppelsäulen stützten einen Giebel mit der Statue des heiligen Georg, um dessen Füße sich ein grässlicher und äußerst realistisch dargestellter Drache wand. Der Heilige hatte einen Fuß auf den Nacken der zornigen Bestie gestellt und sein stattliches Schwert erhoben, um den tödlichen Schlag auszuführen. Der Drache, der nur aus Zähnen, Schuppen und messerscharfen Klauen zu bestehen schien, krümmte sich in seinem Zorn, während Sankt Georg mit unerbittlicher Strenge nach unten starrte.

Die Statue, die unbeweglich, wie sie eben war, direkt über dem Palasteingang verharrte, ließ Mina erschaudern, während sie zugleich eine plötzliche Vorahnung überkam und wie ein stechender Schmerz durch ihren Körper fuhr. Die Empfindung verschwand im Nu, als zwei Lakaien herbeisprangen, um den Gästen aufzuwarten.

Die Diener öffneten die Kutschentür und stellten einen Tritt darunter, sodass die Insassen bequem aussteigen konnten. Unterdessen tauchte aus dem Palast ein Mann in einer glänzenden kaiserlichen Livree auf; seine dicken, in roten Strümpfen gehüllten Beine trugen ihn voran, so schnell es ihnen möglich war.

»Willkommen, Untertanen«, intonierte er; sein Tonfall klang routinemäßig. »Der Kaiser gebietet seinen geehrten Gästen, ihm aufzuwarten. Er erwartet Euch im Großen Ludwigssaal.« Er vollführte eine kurze, kaum sichtbare Verbeugung. »Ich werde Euch zu ihm geleiten. Wenn Ihr mir folgen mögt?«

Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte er sich um und setzte sich in Bewegung, um in den Palast zurückzukehren.

»Mein Herr, wir haben noch Gepäck zu tragen!«, rief Engelbert hinter ihm her.

Ohne stehen zu bleiben, gab der Hofbeamte mit lauter Stimme den Lakaien einen Befehl. Etzel zeigte auf die Kiste in der Kutsche, und der erste der Diener hob sie hoch. Der zweite streckte die Arme aus, um den kleinen Kasten in Engelberts Händen an sich zu nehmen.

Doch der große Mann schüttelte den Kopf. »Diese Kiste hier trage ich selbst.«

Die Gäste und Diener marschierten hintereinander durch die Tür und gelangten in ein weiträumiges Vestibül, das rot und weiß gestrichen war. Der Raum war mit Marmorbüsten von berühmten Männern geschmückt; die meisten von ihnen gehörten dem Hochadel an, und alle waren tot. Sie kamen zu einer weiteren Tür, neben der an jeder Seite ein Soldat Wache hielt. Der kaiserliche Saaldiener - denn ein solcher war ihr Führer - brachte sie rasch durch den Eingang und geleitete sie in die Haupthalle, einen gewaltigen Raum mit gewölbten Decken, von denen nicht weniger als acht vierstöckige Kronleuchter herabhingen. Zu beiden Seiten wurden die Mauern von riesigen Glasfenstern durchbrochen, durch die sich eine wahre Flut von Sonnenlicht in den Raum ergoss. Unterhalb dieser Fenster breitete sich vor den staunenden Betrachtern die ganze Stadt aus: Hauptsächlich sah man Hausdächer, die einen Flickentepich aus verschiedenen Schattierungen der Farben Rot, Grün und Braun bildeten.

Hier wurden die Besucher von einem anderen Hofbeamten in Empfang genommen - vom Audienzmeister, einem mürrischen und eindrucksvollen Mann in einem langen Gewand aus dunkelgrünem Samt. Ohne ein Wort zu sagen, führte er sie weiter durch die Halle, wobei seine Absätze über den polierten, mit Intarsien geschmückten Boden klickten. In der Nähe der großen vergoldeten Türen am anderen Ende des Raums befanden sich Leute, die in einigen wenigen kleinen Gruppen zusammengedrängt herumstanden, und warteten darauf, dass sie hereingerufen wurden.

Der Audienzmeister geleitete Engelbert und Wilhelmina direkt zu den goldenen Portalen, vorbei an den neidischen Blicken derer, die hier ihre Zeit vertrödelten, und dann in einen schier endlosen Korridor, der von Spiegeln gesäumt war. Winzige ovale Fenster ermöglichten es, dass Licht in den gesamten Durchgang einströmen konnte. Sie passierten eine Tür nach der anderen, bis sie vor einer ankamen, die größer war als die anderen und deren Rahmen mit geschnitzten Lorbeerblätter und Efeu verziert war. Hier blieb der Audienzmeister stehen und zog einen kurzen Stab mit Knauf hervor. Damit klopfte er kurz und hart dreimal gegen die Tür und öffnete sie anschließend.

Sie hörten von innen eine gedämpfte Stimme, und dann beorderte der Hofbeamte die Besucher in die Gegenwart des heiligen römischen Kaisers.

Rudolf, der auf einem großen Thron aus Ebenholz und rotem Satin saß, hatte sein Kinn in die Hand gelegt und die Schultern nach vorne gezogen. Er blickte gelangweilt. In seiner Nähe stand ein Mann in einem langen blauen Gewand, der einen merkwürdigen kegelförmigen Hut trug und in den Händen eine Pergamentrolle hielt. Ein paar Schritte zur Seite befanden sich eine große Staffelei und eine Leinwand, hinter der ein Künstler kurz hervoräugte, bevor er wieder vollständig hinter seinem Werk verschwand.

Beim Erscheinen der beiden Inhaber des Kaffeehauses begann der Kaiser zu lächeln, straffte seine Figur und klatschte mit den Händen. »Vortrefflich!«, rief er und gab dem anderen Mann mit einem Wink zu verstehen, beiseitezutreten. »Kommt! Kommt! Wir sind erfreut, Euch endlich zu empfangen.«

»Eure Majestät«, intonierte der Audienzmeister, »ich stelle Euch Engelbert aus Bayern und Wilhelmina aus England vor.«

Die letzten Wörter bewirkten, dass der Mann im blauen Gewand herumfuhr und die junge Frau anstarrte, die gerade einen tiefen, kunstvollen Hofknicks vor dem Kaiser ausführte. Der Mann zog an seinem grauen Bart und beobachtete sie mit Interesse.

Rudolf streckte seinen Untertanen die Hand entgegen und erlaubte ihnen, den kaiserlichen Ring zu küssen. Dann erklärte er: »Wir hoffen, dass Ihr diesen Trank mitgebracht habt - diesen Kaffee. Wir sind begierig darauf, ihn zu kosten.«

Engelbert blickte zum Audienzmeister, der flüsterte: »Ihr dürft zu ihm reden, wenn Ihr angesprochen werdet.«

Der große Bäcker schluckte und räusperte sich. »In der Tat, Eure Kaiserliche Majestät«, sagte er mit ein wenig zittriger Stimme. »Wir haben alles mitgebracht, was wir brauchen, ihn für Euch ganz speziell zu machen.«

»Zu machen?«, fragte der Kaiser verwundert.

»Ja, Majestät. Wir werden ihn für Euch machen.«

Wilhelmina erkannte das Missverständnis und erläuterte: »Es ist ein Heißgetränk, Eure Majestät. Es muss frisch zubereitet und aus besonderen Tassen getrunken werden, solange es noch warm ist.«

»Bedenkt Eure Position«, zischte der Audienzmeister. »Ihr dürft nur reden, wenn Ihr angesprochen werdet.«

»Wir gestatten es«, seufzte Rudolf, der mit diesen Worten die Verletzung des Hofprotokolls vergab. »Ihr dürft Euch entfernen, Ruprecht.« Mit einer wedelnden Handbewegung schickte er den Höfling fort. Als der Mann im blauen Gewand und mit dem seltsamen Hut begann, sich ebenfalls zurückzuziehen, rief der Kaiser ihm zu: »Nein - bleibt, Bazalgette, bleibt. Wir werden zusammen dieses Getränk zu uns nehmen.«

»Habt Dank, Majestät«, sagte der Mann.

»Dies ist Herr Doktor Bazalgette«, stellte der Kaiser ihn vor. »Er ist der Erste Oberalchemist am kaiserlichen Hof.«

»Zu Euren Diensten, meine Freunde«, erklärte der Mann der Wissenschaft und nahm den Hut ab.

»Könnt Ihr genug von dem Trank für zwei herstellen?«, erkundigte sich Rudolf.

»Wir haben genug für zehn, Eure Majestät«, antwortete Etzel, der erfreut war über die Aussicht, neben dem Kaiser auch einem hochgeschätzten Höfling dienen zu dürfen.

»Was benötigt Ihr noch, um die Herstellung zu erleichtern?«, fragte der Hofalchemist. »Vielleicht kann ich Euch bei der Zubereitung helfen.«

»Wir brauchen nur ein kleines Feuer«, erwiderte Wilhelmina. »Alles andere haben wir mitgebracht. Es befindet sich draußen in der Truhe.«

»Soll ich dafür sorgen, dass sie hereingebracht wird, Eure Majestät?«, bot Bazalgette an.

»Ja, und sagt Ruprecht, dass es erforderlich sein wird, ein Feuer hier im Kamin zu entzünden. Des Weiteren soll er den Kammerherrn unterrichten, dass Wir ihn sofort hier zu sehen wünschen.« Dann wandte sich der Kaiser seinen Besuchern zu und fragte: »Ist dies für Euch annehmbar?«

»Natürlich, Eure Majestät; aber vielleicht würde es einfacher und schneller für mich sein, einfach in die Küche zu gehen und dort den Kaffee zuzubereiten«, erlaubte sich Wilhelmina zu äußern. »Ich werde ihn Euch bringen, wenn er fertig ist.«

»Vortrefflich!«, rief Rudolf. Doch schon im nächsten Moment verlöschte seine Begeisterung, als er bedachte, was die Worte der jungen Frau bedeuteten. »Allerdings haben Wir gehofft, Euch bei der Zubereitung zuzuschauen.« Er legte die Stirn in Falten.

»Dann, wenn Ihr mir gestatten würdet, es vorzuschlagen«, sagte Wilhelmina, »möchte Eure Majestät uns ja vielleicht zur kaiserlichen Küche begleiten und dort alles beobachten, was wir tun.«

Der Herrscher der Christenheit blickte erstaunt, aufgeschreckt durch diese revolutionäre Idee. »Wir glauben nicht, dass Wir jemals in den kaiserlichen Küchen gewesen sind«, überlegte er laut, und bei dem Gedanken bildeten sich tiefe Falten auf seiner Stirn.

Der Erste Oberalchemist rettete die kaiserliche Würde durch einen geschickten Vorschlag. »Vielleicht könnten wir uns stattdessen zu meinem Laboratorium begeben, Majestät«, empfahl er taktvoll. »Dort gibt es ein Feuer im Herd, und es befindet sich genau in diesem Flügel des Palastes.«

»Ja«, pflichtete Rudolf ihm mit einiger Erleichterung bei, »vielleicht würde das am besten sein. Und auf diese Weise werden wir dieses Kaffee-Getränk viel früher kosten können.«

Das war somit geklärt. Der Kaiser erhob sich von seinem Sessel und schritt, begleitet von seinem wichtigsten Alchemisten und gefolgt von den Gästen, auf die Tür zu.

»Erhabene Majestät ...?«, rief eine Stimme vom fernen Ende des Raums her.

»Ach ja, Signore Arcimboldo«, sagte Rudolf, der sich selbst an den Maler erinnerte. »Wir sind fertig für den heutigen Tag. Aber kommt nur mit und schließt Euch uns an, wenn Ihr mögt. Wir sind im Begriff, den neuen Trank zu uns zu nehmen. Vielleicht findet Ihr ihn inspirierend für Eure Arbeit.«

»Euer Diener würde geehrt sein, Majestät.« Der Künstler legte seine Palette und die Pinsel zur Seite, zog rasch seinen Kittel aus und schloss sich der kleinen Gesellschaft an. Er folgte ihr durch den langen Korridor zu einer Treppe, die hinunter zum nächsten Stockwerk führte. Dann gingen sie einen weiteren, von Spiegeln gesäumten Gang entlang, bis sie an seinem fernen Ende auf eine Zimmerflucht stießen.

»Bitte schön, Eure Majestät, meine Freunde«, sagte Bazalgette und drückte die mit vielen Schnitzereien verzierte Tür auf. »Bitte, tretet ein und fühlt Euch frei, Euch hier zu vergnügen. Wenn Ihr mich entschuldigen wollt, Majestät, ich werde jetzt nach dem Nötigsten sehen.«

Das Zimmer hatte die Größe eines Ballsaals, doch jeder Quadratzentimeter verfügbaren Raums war voll gestellt mit allen möglichen Arten von Ausrüstungen und Gerätschaften: Tische waren voller Gläser, Töpfe und Krüge, alle mit Aufschriften versehen, die den jeweiligen Inhalt angaben; Theken waren gesäumt mit einer beeindruckenden Reihe von bauchigen Dekantiergefäßen, gefüllt mit trüben Flüssigkeiten; es gab Mörser und Stößel, hergestellt aus Porzellan, Glas, Marmor und Granit, in einer ganzen Bandbreite von unterschiedlichen Größen; zahllose Schmelztiegel, Messbecher und Schüsseln aus Blei, Kupfer, Zink und Bronze waren zu sehen; ebenso Töpfer- und Glaswaren in bizarren Formen, Bündel mit Ausgangsstoffen - von getrockneten Kräutern bis hin zu Tierfellen - sowie Eisenwerkzeuge der unterschiedlichsten Art. Und so wie es Mörser und Stößel in Größen gab, die vielleicht ein Riese handlich gefunden hätte, so sah man auch Hämmer und Zangen, die wohl ein Märchenkobold begehren würde. Die Grenzen des Raums wurden an drei Seiten von großen, schwerfälligen Bücherschränken markiert, welche vom Boden bis zur Decke reichten und voller ledergebundener Bände sowie Pergamentrollen waren.

Wilhelmina hatte das Gefühl, als ob sie Aladdins Höhle betreten hätte - nur dass es jetzt keinen Schatz aus Gold und Edelsteinen gab, weil sich die Diebe auf die Gerätschaften von Chemielaboratorien und auf biologische Proben spezialisiert hatten. Wohin man auch blickte, das Auge wurde gefangen von Kuriositäten aus dem Reich der Natur: getrocknete Katzen, ausgestopfte Vögel, ungeborene Schweine in einer Lake, vollständige Eidechsenskelette und prähistorische Insekten in funkelnden Bernsteinstücken aus der Ostsee.

Am anderen Ende des Raums hatte man die ursprüngliche Kochstelle und den Kamin umfangreich verändert, um oben einen großen Herd mit mehreren Öffnungen, darunter zwei Öfen und an einer Seite eine offene Feuerstelle unterzubringen; Letztere schien so etwas wie eine Schmiede zu sein. Neben dem Herd standen zwei Männer, die sein Licht nutzten, um ein Schaubild auf Pergament zu untersuchen. Wilhelmina hatte die Anwesenheit der beiden nicht bemerkt, als sie eingetreten war. Jetzt sah sie sich die Männer genauer an. Der eine war ein großer, muskulöser Mensch mit einem bemerkenswert guten Aussehen und einer majestätischen Körperhaltung, bei dem anderen handelte es sich um den Ersten Unteralchemisten, dem sie im Kaffeehaus begegnet war.

»Ah! Hier seid Ihr!«, rief Bazalgette und eilte auf die zwei Männer zu. »Wir haben die Ehre, den Kaiser zu empfangen.«

Die beiden wandten sich von ihrem Studium des Diagramms ab. Der jüngere Mann verbeugte sich, während der Fremde bloß dastand und wartete, dass die kaiserliche Gesellschaft näher kam.

Bazalgette übernahm es, die Anwesenden miteinander bekanntzumachen. »Eure Majestät, gestattet mir, Euch meinen geschätzten Besucher vorzustellen - Lord Archelaeus Burleigh, Earl of Sutherland. Er ist gerade aus England eingetroffen.«

Lord Burleigh schlug die Hacken zusammen und vollführte eine forsche und doch elegante Verbeugung. »Euer ergebener Diener, Majestät«, sagte er mit einer kraftvollen, wohlklingenden Stimme.

»Wir heißen Euch willkommen, mein Herr Earl«, begrüßte ihn Rudolf. »Ist das Euer erster Besuch in Prag?«

»Ja, Majestät«, antwortete Burleigh in fehlerfreiem Deutsch. »Aber ich versichere Euch, dass es nicht mein letzter sein wird.«

Die Vorstellungszeremonie ging weiter, doch Mina achtete nicht darauf. Ihr wurde bewusst, dass es ihr vollkommen unmöglich war, die Augen von dem geheimnisvollen stattlichen Earl zu nehmen. So ein Glück!, dachte sie. Ein Landsmann.

Nachdem die Formalitäten erledigt waren, wandte sich der Oberalchemist seinem Assistenten zu. »Rosenkreuz, räumt eine Stelle frei, damit sie von unseren Freunden hier genutzt werden kann«, ordnete er an. »Sie sind hier, um für den Kaiser ein Kaffee-Elixier herzustellen. Und sorgt dafür, dass Sessel herbeigebracht werden!«

»Sofort, Herr Doktor«, erklärte der junge Alchemist und gab Burleigh das Pergament mit dem Schaubild zurück. Mit einem Nicken und anerkennenden Lächeln in Etzels und Minas Richtung begann Rosenkreuz, Messbecher und Töpfe beiseitezustellen, um Platz für die bescheidene Ausrüstung der beiden Gäste des Kaisers zu schaffen. Der Kasten wurde hereingebracht und ausgepackt. Engelbert und Wilhelmina arbeiteten rasch, sodass schon bald frisches Wasser über dem Feuer erhitzt wurde, die Bohnen gemahlen und die Kanne sowie die Tassen bereitgestellt waren. Bei jedem einzelnen Arbeitsgang erklärte Etzel mit großer Feierlichkeit, was sie beide gerade taten.

Während die Gesellschaft darauf wartete, dass das Wasser endlich kochte, bot der Oberalchemist seinen Besuchern an, sie ein wenig durch sein Laboratorium zu führen. Als der Rundgang begann, nutzte Wilhelmina die Gelegenheit, sich zu Lord Burleigh zu gesellen und ihn anzusprechen.

»Guten Tag, mein Herr, ich bin Wilhelmina«, sagte sie leise auf Deutsch und wechselte dann die Sprache: »Aber vielleicht können wir ja auf Englisch miteinander reden?«

»Ich bin erfreut, Euch kennenzulernen, meine Teure«, erwiderte er lässig in derselben Sprache; sein Auftreten stand im Widerspruch zu seinem altmodischen Gehabe.

»Als Herr Bazalgette Euch gerade eben vorgestellt hat, war ich ein wenig überrascht. Ich habe nicht viele Engländer in Prag angetroffen.«

»Ich glaube, das wird auch in Zukunft so sein«, merkte er an und lächelte sie einnehmend an. »Aber, bitte, wenn Euch meine Frage nichts ausmacht: Wie ist es gekommen, dass Ihr hier seid?«

»Hier im Palast? Oder hier in Prag?«

»Sowohl als auch«, entgegnete er und lächelte höflich.

Bevor sie antworten konnte, rief Bazalgette ihnen zu: »Darf ich Eure Aufmerksamkeit auf dies hier lenken - unsere jüngste Entdeckung!« Er hielt eine große Kanne aus grünem Glas hoch, die zur Hälfte mit einer trüben, weißlichen Flüssigkeit gefüllt war. »Kommt näher, ein jeder von Euch.«

»Vielleicht ein anderes Mal«, sagte der Earl zu Mina und lenkte seine Schritte auf die anderen zu, die sich nun um einen Tisch versammelt hatten, auf dem sich Bücher, Gestelle mit Glasfläschchen und Porzellangefäße stapelten.

»Kommt morgen zu meinem Kaffeehaus«, lud Wilhelmina ihn ein und schloss zu ihm auf. »Ich werde Euch eine Tasse Kaffee einschenken, und dann können wir ungestört miteinander reden.«

»Ich wäre hocherfreut«, erklärte der Adlige und beugte dabei seinen Kopf. »Doch sagt mir - welches Kaffeehaus ist es?«

»Es gibt nur eines.«

Die Zeitwanderer
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