DREISSIGSTES KAPITEL
Das Kreischen des Windes fuhr sengend durch seinen Schädel, und die Welt drehte sich um ihn. Doch Cosimo, der mit einer Fertigkeit kämpfte, die aus langer Erfahrung geboren war, ignorierte das Unwohlsein. Er biss die Zähne zusammen und klammerte sich verbissen an die rasch zerreißenden Stränge seiner Aufmerksamkeit. Während die überanstrengten Augen in die siedende schwarze Leere vor ihm starrten, nahm er seine Kräfte zusammen. In dem Moment, als er wieder festen Boden unter seinen Füßen spürte, teilte er mit beiden Händen einen gewaltigen Stoß aus. Seine Fäuste trafen auf feste Muskeln und Knochen. Der Burley-Mann, der wegen der Überquerung im Augenblick desorientiert war, wurde der Länge nach zu Boden geschleudert.
Cosimo wirbelte herum und blickte flüchtig auf den zerstörten Tempel am fernen Ende der langen, von Sphinxen gesäumten Allee: Nun wusste er, dass sie den Sprung vom Black Mixen Tump nach Ägypten erfolgreich beendet hatten. Bedauerlicherweise hatten die Burley-Männer ihn auch geschafft.
Cosimo vernahm einen Schrei und drehte sich um. Er sah, dass Sir Henry auf alle viere gesunken war und sich abquälte, wieder hochzukommen - was durch den Burley-Mann, der den älteren Mann am Rücken gepackt hatte, um einiges erschwert wurde.
Drei schnelle Schritte, und Cosimo war an der Seite der beiden Kämpfenden. Mit zwei raschen Tritten, jeweils gegen die Leiste und den Fußspann des Strolchs, befreite er seinen Freund.
»Lauft!«, schrie er und zog Sir Henry auf die Füße. »Hier entlang!«
Ohne auf eine zustimmende Antwort zu warten, senkte Cosimo den Kopf und rannte auf den Tempel zu.
Weit kam er nicht.
In vollem Lauf spürte Cosimo, dass sein Fuß von hinten erwischt und unter ihm weggerissen wurde. Das zerbrochene Straßenpflaster unter seinen Füßen kam rasch hoch und schlug ihn gegen das Kinn. Er rollte sich auf den Rücken und trat mit seinen Beinen aus, als der Burley-Mann auf ihn niederfuhr. Einer seiner wilden Tritte traf den in einen schwarzen Mantel gehüllten Angreifer und stieß ihn ein oder zwei Schritte zurück.
Cosimo rappelte sich wieder auf die Füße und stellte sich mit schwingenden Fäusten dem Kampf. Es gelang ihm, ein oder zwei Treffer zu landen, bevor er von hinten gepackt und weggerissen wurde. Er schlug um sich und versuchte so, sich aus dem stählernen Griff zu lösen. Eine Bewegung an seiner Seite erahnte er mehr, als dass er sie sah; dann hörte er ein hohes, pfeifendes Geräusch. Er duckte sich genau in dem Augenblick, als der Silberknauf von Sir Henry Fayths Spazierstock an seinem Ohr vorbeiblitzte und direkt in der Stirnmitte des Burley-Manns einschlug. Der Bursche jaulte auf und löste seinen Griff. Die Arme über dem Kopf, sank er fluchend auf die Knie.
»Genug!« Der Ruf war wie das Krachen eines Gewehrschusses in der Stille. »Es ist vorbei.«
Cosimo blickte über seine Schulter nach hinten und sah drei weitere Burley-Männer, die in der Mitte der Allee standen. Einer von ihnen umklammerte eine Kette, an deren Ende der große gefleckte, braune Höhlenlöwe zerrte. Mit angespannten Muskeln, gesenktem Kopf und bösartigem Interesse beobachtete die große Katze die beiden Männer, während sie sich mit ihrer roten, samtigen Zunge über die dolchgleichen Zähne fuhr. Hinter den Männern kam klappernd ein Fuhrwerk herbei, das von Mulis über die uneben gepflasterte Allee gezogen wurde. Es wurde von einem vierten Burley-Mann gesteuert; quer über seinen Schoß lag ein Gewehr.
»Mal, Dex - haltet euch zurück!«, befahl der Mann, der offensichtlich der Anführer der Bande war. »Con, hol das Zeug vom Wagen!« In seiner Kleidung - ein locker herabhängendes Hemd, große Stiefel, ein breitkrempiger Strohhut und ein rotes Taschentuch, das er sich um den Hals geknotet hatte - sah er eher wie ein einfacher Landarbeiter aus als wie der Sadist, der er war. Das Gesicht unter dem Hut wirkte so teilnahmslos wie die Steinstatuen um sie herum. Er stieg vom Wagen und schritt herbei, um seine Gefangenen anzusprechen. »Ich bin Tav«, stellte er sich vor. »Wer von Euch ist Cosimo?«
Sir Henry und Cosimo tauschten einen Blick aus, doch keiner von ihnen sprach ein Wort.
»Baby ist hungrig«, sagte Tav. »Ich hätte nicht übel Lust, sie zu füttern. Wenn Ihr lieber nicht auf dem Speiseplan stehen wollt, dann antwortet mir, wenn ich zu Euch rede, und zwar ohne zu zögern. Ich frage Euch erneut: Wer von Euch ist Cosimo?«
»Ich verhandle nicht mit Strolchen, Sir«, erwiderte Cosimo.
Die Hand des Burley-Manns schnellte so rasch vor, dass Cosimo sie nicht kommen sah. Der Schlag ließ seinen Kopf nach hinten schleudern, und einen Moment später schmeckte er Blut auf seiner Zunge.
»Achtet auf Eure Manieren, Freund«, warnte Tav. »Wir werden gleich einen kleinen Spaziergang machen, und Ihr kommt mit uns, ob es Euch gefällt oder nicht. Nun, Ihr könnt die Sache einfacher für Euch selbst machen - oder schwieriger. Es liegt ganz an Euch. So oder so; es schert mich einen feuchten Kehricht.«
Der Wagen kam klappernd zu ihnen, und der Mann, der Con genannt wurde, eilte mit zwei Seilrollen aus Rohleder herbei.
»Was habt Ihr mit uns vor?«, verlangte Cosimo zu wissen und rieb sich die Lippen.
»Das werdet Ihr noch früh genug herausfinden«, entgegnete Tav und gab seiner gewalttätigen Bande ein Zeichen. Sie legten ihre Mäntel ab, warfen sie hinten in den Wagen und holten Bündel mit leichterer Kleidung heraus. »Ihr beide wollt sicherlich etwas Bequemeres tragen, nicht wahr?«, meinte Tav. »Es wird heiß sein.«
»Uns passt es gut, so wie wir sind«, erwiderte Cosimo mit mürrischer Entschlossenheit.
Tav nickte und rief seinen Männern zu: »Fertig, Jungs?«
Dann kehrte er dem Tempel den Rücken zu und begann, die lange Allee zurückzugehen, die an beiden Seiten mit Sphinxen gesäumt war. Einige von ihnen hatten ihre Köpfe oder Füße verloren; andere waren zerfallen, ihre Formen im Laufe der Zeit vom Wind und Sand erodiert. Doch viele von ihnen waren relativ unversehrt und an ihrem Platz; sie bewachten noch immer den Weg zum Tempel.
Als Tav bemerkte, dass Cosimo und Sir Henry sich weigerten, ihm zu folgen, rief er: »Hier entlang, meine Herren!«
»Ich protestiere auf das Nachdrücklichste gegen diese Behandlung«, erklärte Sir Henry. »Ich werde nirgendwohin mit Euch gehen.«
»Ich fürchte, Ihr werdet keine andere Wahl haben«, gab der Burley-Mann zurück. Er nickte Con zu, der daraufhin mit den Seilen herantrat. Der Mann, der Dex genannt wurde, holte zwei Leinensäcke aus dem Wagen. Bevor Cosimo oder Sir Henry weiter protestieren konnten, waren die Seilrollen um ihre Hüften festgezurrt, ihre Handgelenke zusammengebunden und die Leinensäcke über ihre Köpfe gezogen. Auf diese Weise gefesselt und der Sicht beraubt, wurden die beiden weggeführt. Die anderen Burley-Männer mit ihrem Wagen und der Höhlenlöwin setzten sich hinter ihnen in Bewegung, und die ganze Gruppe zog die uneben gepflasterte Straße hinunter.
Cosimo und Sir Henry schlurften dahin. Ein wenig Licht drang durch das ungleichmäßige Gewebe des Sackleinens, und so vermochten sie zumindest ihre Füße und den kleinen Bereich des Bodens zu erkennen, über den sie gerade gingen - aber nicht mehr. Sie konnten die schweren Schritte der Männer hören, das Quietschen der Wagenräder und das tiefe, raue Knurren der Katze, die in gefährlicher Nähe hinter ihnen tappte. Am Ende der Allee verließen Sir Henry und Cosimo das altertümliche Straßenpflaster und gingen hinaus in die Wüste, wo sie in südliche Richtung geführt wurden, auf eine Reihe niedriger mattfarbiger Hügel zu. Es war eine extrem trockene Region - eine Einöde, die in etwa zu gleichen Teilen aus geborstenem Felsgestein, Staub und Sand bestand -, beherrscht von der Sonne und bewohnt nur von Skorpionen und Eidechsen. Der Boden war rau und uneben, trügerisch unter den Füßen - als ob man ein endloses Feld aus Tonscherben und zerbrochenen Ziegelsteinen überqueren würde.
Nachdem sie eine geraume Weile schweigend vorwärtsgetrottet waren, bewegte sich Sir Henry ein wenig näher zu Cosimo heran und wisperte: »Wohin bringen sie uns?«
»Keine Ahnung«, erwiderte Cosimo mit kaum hörbarer Stimme. »Vor ein paar Jahren war ich kurzzeitig hier, doch so weit ich weiß, gibt es hier nichts, und das in einem Umkreis von etlichen Meilen.«
»Wir sollten einen Aktionsplan ausarbeiten.«
»Einverstanden«, flüsterte Cosimo. »Doch bis wir in Erfahrung gebracht haben, was sie beabsichtigen -«
»Ruhe, Ihr zwei da!«, befahl der Bandenführer. »Spart Euren Atem; Ihr werdet ihn brauchen, bevor wir hindurch sind.«
»Bleibt wachsam, und haltet Ausschau nach einer Blöße«, beendete Cosimo das Zwiegespräch.
»Ich habe gesagt: Genug geschwätzt!«, schnauzte Tav sie an und riss heftig an dem Seil, mit dem ihre Hände gefesselt waren. Es gab einen schmerzhaften Ruck.
Am leeren blauen Himmel kletterte die Sonne höher, und die Hitze wurde stärker. Etwa eine Stunde war seit ihrem Aufbruch vergangen. Ab und an gab die Höhlenlöwin ein Knurren von sich - es klang wie das eines verwundeten Tieres -, nur um die Gefangenen wissen zu lassen, dass sie immer noch da war. Abgesehen davon - und dem müden Quietschen und Knirschen der Wagenräder - war nichts zu hören. Sir Henry und Cosimo in ihrer schweren dunklen Bekleidung begannen unter der Hitze zu leiden. Durch das Sackleinen konnten sie spüren, wie die Sonne herabbrannte. Sie fingen an, sich zu wünschen, dass sie die Kleidung gewechselt hätten, als ihnen die Möglichkeit dazu gegeben worden war. Der Schweiß rann ihnen von den Köpfen und den Nacken herunter. Ihre Hemden und Mäntel waren bald durchnässt.
Dennoch stapften sie weiter. Eine weitere Stunde verging und dann eine dritte. Als die vierte begann, stieß Sir Henry einen Seufzer aus und hielt an.
»Weiter!«, erscholl der Befehl von hinten.
»Nein«, ächzte Sir Henry und beugte sich vor, um die Hände auf seine Knie zu stützen. Der Schweiß strömte unter dem Leinensack hervor und fiel auf den knochentrockenen Boden. »Ich brauche Wasser. Ich stehe kurz davor, in dieser Hitze ohnmächtig zu werden. Bevor ich nicht etwas zu trinken bekomme, werde ich keinen weiteren Schritt mehr machen.«
»Wir sind alle durstig, Kumpel«, entgegnete Tav - eine Aussage, die sicherlich nicht unberechtigt war. »Aber hier draußen gibt es nichts zu trinken. Erst wenn wir unseren Bestimmungsort erreichen, haben wir wieder Wasser.«
»Kein Wasser?«, spottete Cosimo. »Was für eine Art von Idioten seid Ihr eigentlich?«
»Haltet die Fresse!«, brüllte Dex wütend. »Bewegt Euch!«
»Nein«, widersprach Sir Henry und stemmte seine Beine fest in den Boden. »Das werde ich nicht.«
»Ihr könnt den ganzen Tag hier draußen bleiben und von mir aus sterben«, meinte der Bandenführer. »Aber wir sind fast da. Einige wenige Minuten noch, das ist alles. Je früher wir dort sind, desto eher bekommen wir alle etwas zu trinken. Kapiert?«
»Geht weiter, Sir Henry«, forderte Cosimo ihn auf. »Es ist zu heiß hier draußen, um zu streiten.« Und zu Tav sagte er: »Geht voran.«
Die Gruppe setzte ihren Marsch fort, und eine kleine Weile später erreichte sie den Anfang einer niedrigen Hügelkette. Hier legten sie eine Rast ein. Die Leinensäcke wurden abgenommen - sehr zur Erleichterung der Gefangenen, die keuchten und die frische Luft hinunterschlangen. Nach einem Spaziergang von wenigen Minuten gelangten sie an den Fuß des nächsten Hügels, wo sich in der stark erodierten Landschaft ein Gang öffnete: ein Wadi, das kaum breit genug war, um den Muli-Wagen und die Gruppe hereinzulassen. In diese ausgedörrte Schlucht bogen sie ein und gingen weiter durch den langen, gewundenen Gang, der in den Sandstein geschnitten worden war - von Wasser, das sich durch Schmelzprozesse während der letzten Eiszeit gebildet hatte.
Innerhalb des Wadis war die Luft, obschon reglos, zumindest ein wenig kühler, was man den Schatten zu verdanken hatte, die von den steilen Wänden geworfen wurden: Mit Ausnahme von einigen wenigen Minuten am Tag drang die Sonne nicht bis zu dem Talboden vor. Der Schatten waren willkommen, und Cosimo fühlte sich ein wenig wiederbelebt. Während sie tiefer in die Schlucht vordrangen, bemerkte er kleine Nischen, die in den weichen Sandstein gemeißelt waren. Einige waren quadratisch, andere rechteckig. Einige der aufwändiger gestalteten Nischen wiesen an ihren Seiten eingravierte Hieroglyphen auf und hatten zumeist Sockel, die in ihre Böden geschlagen worden waren; es sah so aus, als ob man darauf jeweils einen Gegenstand ausgestellt hatte. Aber was auch immer die Nischen enthalten hatten: Jetzt waren sie alle leer.
Nach einer Weile kamen sie an eine Stelle, wo sich das Wadi teilte. Tav führte sie in den breiteren der beiden Arme und marschierte wie zuvor weiter. Die Wandnischen wurden zahlreicher, größer und kunstvoller. Cosimo bemerkte, dass man einige von ihnen absichtlich verunstaltet hatte: Die Hieroglyphen waren abgekratzt oder mit Meißeln entfernt worden, die Sockel zertrümmert oder zumindest zerbrochen.
Der Canyon schlängelte sich mal in diese und mal in jene Richtung durch die Felslandschaft. Die Wanderer folgten dem langen, verschlungenen Band, der ins Gestein geschnitten worden war, und kamen plötzlich an ein totes Ende: Eine glatte Mauer aus rötlichem Sandstein türmte sich zweihundert Fuß in die Höhe. Doch unten in der Wand war ein von Menschenhand geschaffener Eingang - ein schwarzes Quadrat, das zu beiden Seiten von gewaltigen Bildnissen bewacht wurde. Rechts stand Horus, der Himmels- und Königsgott, mit dem Was-Zepter in der Hand, dem Symbol für Macht und Herrscherwürde: Er besaß den Körper eines muskulösen Mannes mit langen Gliedmaßen und den majestätischen Kopf eines Falken. Auf der linken Seite befand sich Thot, der Gott der Wissenschaft, Weisheit und Magie sowie Protokollant beim Totengericht. Die Gottheit mit dem Ibiskopf war hier - wie zum Zeichen der Warnung - mit hoch erhobener Hand dargestellt.
Die Gruppe hielt vor dem Eingang an.
»Setzt sie hier ab, Leute«, befahl Tav. Er schritt zum Eingang und verschwand im Inneren. Der Wagen und die Mulis kehrten um, passierten eine Biegung im Wadi und waren dann außer Sicht.
Cosimo und Sir Henry ließen sich auf einem im Schatten gelegenen Felsen nieder und wischten sich den Schweiß aus ihren Gesichtern. Aufgrund der Strapazen und der Austrocknung saßen sie eine ganze Weile nur keuchend und japsend da. Die Höhlenlöwin lag, ebenfalls schnaufend, auf dem Boden; die rote Zunge hing ihr aus dem Maul heraus.
»Ich weiß, wie sie sich fühlt«, murmelte Cosimo und schnürte sich die Stiefel auf, um seine heißen Füße zu kühlen. Er hatte sich einen Fuß und Knöchel gerieben und nahm sich gerade den zweiten vor, als der Anführer der Bande wieder auftauchte; in der Hand hielt er einen Trinkschlauch. In seinem Schlepptau kam ein weiterer Mann; er war groß und dunkel und hatte ein Gesicht, das dem des in den Fels gemeißelten Horus mit dem Falkenschnabel nicht unähnlich war. Obwohl es sich eindeutig um einen Europäer handelte, war er wie ein Ägypter gekleidet und trug ein langes, locker sitzendes schwarzes Gewand und einen gleichfarbigen Turban auf dem Kopf.
Der Neuankömmling nickte den anderen anerkennend zu und befahl: »Bringt Baby fort und seht zu, dass sie etwas zu essen und zu trinken bekommt.«
Während die Männer vorsichtig die überhitzte Bestie anstupsten, sie so auf die Beine brachten und dann fortführten, füllte der Mann mit dem Turban Wasser aus dem Trinkschlauch in einen Becher und bot ihn Sir Henry mit den Worten an: »Willkommen, Lord Castlemain. Ich bin seit Langem ein Bewunderer von Euch.«
Der Adlige nahm den Becher schweigend entgegen, trank daraus und bot ihn anschließend Cosimo an, der jedoch ablehnte. Daraufhin leerte Sir Henry den Becher in mehreren langen Zügen, bevor er ihn zurückgab.
Der Mann mit dem schwarzen Turban füllte das Gefäß erneut und reichte es Cosimo. »Mr Livingstone, nehme ich an«, sagte er mit einem Lächeln.
»Sehr komisch«, murmelte Cosimo mit krächzender Stimme. »Endlich seid Ihr unter Eurem Felsen hervorgekrochen, Burley.«
»Lord Burleigh, wenn ich bitten darf.«
»Was auch immer Ihr sagt.« Cosimo hob den Becher und trank in kräftigen Zügen. Er spürte, wie die lebensspendende Flüssigkeit seine ausgetrocknete, sich klebrig anfühlende Kehle linderte. »Nun, wo wir hier sind - was habt Ihr mit uns vor?«
»Das hängt ganz und gar von Euch und Eurem Freund ab«, erwiderte Burleigh, nahm den Becher und reichte ihn Tav, der ihn füllte und austrank, bevor er den Trinkschlauch an die anderen weitergab. »Ihr seht«, fuhr Burleigh fort, »ich glaube an das Recht auf freie Entscheidung. Daher werde ich Euch immer eine Wahl geben. Wir können das auf zwei Weisen machen - entweder auf die einfache oder die schwierige.« Er sprach mit sanfter Stimme, ja, er klang sogar gut gelaunt. »Die erste Weise ist behutsam und vorteilhaft für alle Betroffenen. Die zweite ist langsam, schmutzig und schmerzhaft. Wenn Ihr offen für einen kleinen Ratschlag seid - ich würde empfehlen, die erste Option zu wählen. Glaubt mir, es ist rundum einfacher, und es ist verdammt zu heiß, um Feuer zu machen, mit denen die Instrumente der Überredung erhitzt werden.«
Er holte sich den Trinkschlauch von Dex zurück und goss den Becher wieder voll. »Mehr Wasser, Gentlemen?«
Sir Henry nickte. »Wenn es Euch recht ist.« Er nahm den Becher und schluckte hastig das Wasser hinunter.
»Fertig?«, fragte Burleigh, als Cosimo ebenfalls einen zweiten Becher ausgetrunken hatte. »Später gibt es mehr. Ich würde nicht zu viel auf einmal nehmen; das ist schlecht für den Magen.« Er warf Tav den Becher zu. »Nun denn, wenn Ihr erfrischt seid, dann kommt mit. Ich muss Euch etwas zeigen.«
»Hoch mit Euch beiden!«, sagte Con. Diesmal mussten die Männer keinen anstupsen.
Cosimo zog seine Stiefel wieder über die geschwollenen Füße, und anschließend folgten die beiden Gefangenen dem Earl. Er führte sie um die nächste Kurve der Schlucht zu einem Loch am Fuße der Felswand, über dem jemand vor langer Zeit einen Holzschutz errichtet hatte. Davor hielt Burleigh an, holte aus einer versteckten Falte seines Kaftans einen Schlüssel hervor und verschwand über eine hölzerne Treppenflucht nach unten. Man hörte ein klirrendes Geräusch und das Knirschen von rostigen Angeln, und dann wehte seine Stimme von unten herauf.
»Einer nach dem anderen, Gentlemen. Und: Vorsicht, Stufe!«
Cosimo und Sir Henry stiegen auf der Holztreppe in die trockene Düsternis hinab, drückten sich unten durch eine schwere Eisenpforte und fanden sich in einem sehr kleinen, beengten Vorraum zu einer Kammer wieder, die aus dem natürlichen Felsgestein herausgehauen worden waren.
Tav folgte ihnen, doch kaum hatte er sich zu ihnen gesellt, schickte ihn Burleigh wieder fort, indem er kurz und knapp befahl: »Den Generator, Tav!«
»Ja, Sir.« Tav verschwand, und wenige Augenblicke später war das entfernte, keuchende Geräusch eines Verbrennungsmotors zu hören, der anschließend zu wummern begann.
»Glaubt mir, Ihr werdet dies in all seiner Pracht sehen wollen«, sagte Burleigh.
Cosimo blickte Sir Henry an, während ihr Kidnapper sich herabbeugte und an einer schwarzen Kiste auf dem Boden hantierte. Dann war das Klicken eines Schalters zu vernehmen, und aus der Kammer vor ihnen strömte ein warmes gelbes Leuchten.
»Hier entlang, Gentlemen.«
Burleigh führte sie in den nächsten Raum, der größer als der erste war: ein einfacher rechteckiger Kasten ohne irgendwelche Möbel oder besondere Merkmale - mit Ausnahme der blau gestrichenen Decke, die von weißen Flecken bedeckt war, welche Sterne darstellten.
»Hier hindurch«, sagte Burleigh und ging durch einen Eingang in einen weiteren Raum.
Cosimo, dessen Beklemmung völlig verschwunden und einem ungeheuchelten Interesse gewichen war, folgte ihm bereitwillig. Die Kammer war leer bis auf einen Sarkophag aus Granit in der Mitte und drei nackte Glühbirnen, die man auf behelfsmäßig errichteten Gestellen angebracht hatte. Beim Sarkophag fehlte der Deckel, und die Lichter flackerten leicht, entsprechend den unregelmäßigen elektrischen Impulsen des Generators.
»Bitte schön, Gentlemen«, sagte Burleigh und eilte zur gegenüber liegenden Seite des Raums, auf der jeder Quadratzoll mit Malereien bedeckt war: Vom Boden bis zur Decke war die Wand voller unglaublich naturgetreuer, farbenfroher Bilder, die das Leben im alten Ägypten zeigten.
Sir Henry, der seine erste Präsentation von Elektrizität erlebte, konnte seine Augen nicht von den matt leuchtenden Glühbirnen nehmen.
»Wenn Ihr die Güte habt, Eure Aufmerksamkeit auf dieses besondere Wandgemälde zu lenken«, erklärte Burleigh, »dann werdet Ihr, wie ich glaube, etwas von unschätzbarem Interesse finden.«
Cosimo stieß seinen Gefährten an. »Nicht jetzt, Sir Henry. Ich werde es Euch später erklären. Lasst uns sehen, worum es bei diesem Schauspiel überhaupt geht?«
Burleigh stand direkt neben einem fast lebensgroßen Bild von einem kahlköpfigen Ägypter, der in den traditionellen knielangen Schurz aus Leinen gekleidet war und einen schweren Halsschmuck aus Gold und Lapislazuli trug. Obgleich die Figur - entsprechend der damaligen Art der Grabmalkunst - stark stilisiert war, konnte man deutlich erkennen, dass die Maler versucht hatten, dem Dargestellten ein Mindestmaß an Individualität zu verleihen: Sein rundes Gesicht strahlte ohne jeden Zweifel gütige Gelassenheit und Humor aus; selbst in einer zweidimensionalen Wiedergabe erschien er als ein sympathischer, freundlicher Kamerad.
»Erlaubt mir, Euch Anen vorzustellen, den Hohen Priester des Amun. Ihr steht in seinem Grab.«
»Der Hohe Priester Anen, sagt Ihr?«, hakte Sir Henry nach. »Ich glaube nicht, dass ich je von ihm gehört habe. Ihr etwa, Cosimo?«
»Oh, er ist ein sehr interessanter Bursche, wie es der Zufall will«, führte Burleigh aus. »Der Schwager von Pharao Amenophis III. Zum Zeitpunkt seines Todes hatte er die gesellschaftlichen Höhen erklommen und war der Zweite Prophet des Amun. Er erfreute sich einer extrem mächtigen und einflussreichen Position am Hof des Pharao, wie Ihr wohl ermessen könnt.«
»Sicherlich sehr beeindruckend«, meinte Cosimo. »Aber was hat das alles mit uns zu tun?«
»Habt Geduld«, erwiderte Burleigh mit einem Lächeln. »Wir kommen noch darauf.«
»Dann fahrt fort.«
»Seht ihn Euch genau an, wenn Ihr so gut sein wollt«, sagte Burleigh und wies auf die etwas untersetzte Figur in dem Gemälde. »Ihr seht ihn genau hier wieder.« Er schritt zum nächsten Wandfeld, auf dem das Bild vom Boden bis zur Decke reichte. Darauf stand der Priester Anen direkt neben einem weißhäutigen Mann, der ein Gewand mit vielen langen Streifen in unterschiedlichen Farben trug. Es war an der Brust geöffnet und enthüllte dort eine Ansammlung winziger blauer Symbole. Hinter den beiden Figuren wurde gerade ein gewaltiges Bauwerk errichtet - ein Palast oder Tempel oder etwas Ähnliches -, und auf der Baustelle drängten sich Hunderte von halbnackten Arbeitern.
»Beachtet Ihr auch den Mann im bunten Gewand?«, fragte Burleigh.
»Unglaublich ...«, flüsterte Cosimo.
Burleigh trat zu einem dritten Wandfeld. »Und jetzt wird die Sache noch interessanter. Hier ist unser Mann, Anen - nun älter, wie Ihr sehen könnt. Und was ist das in seiner Hand?«
»Mein Gott!«, rief Cosimo aus und schritt näher an die Wand. Er blinzelte mit den Augen, um trotz der Schatten genau sehen zu können. »Ist das ...? Das ist nicht möglich!«
Das Bild zeigte den Priester, wie er in der Abenddämmerung allein in der Wüste unter einem glänzend blauen Himmel stand. Eine Hand war mit ausgestrecktem Zeigefinger zum Himmelsgewölbe gehoben, in der anderen hielt Anen etwas, das wie ein zerfetztes Banner aussah - und es hatte ungefähr die Form eines menschlichen Torsos. Dieses merkwürdige Banner war mit denselben Symbolen geschmückt, die beim vorherigen Gemälde auf dem Mann mit dem gestreiften Gewand erschienen.
»Gentlemen, die Meisterkarte!«, verkündete Burleigh triumphierend.
»Mein Gott - tatsächlich«, flüsterte Sir Henry. »Und ausgerechnet ... hier!«
»Falls es noch irgendwelche Zweifel geben sollte«, sagte Burleigh, der augenscheinlich die Wirkung seiner Enthüllungen genoss, »so möchte ich Eure Aufmerksamkeit auf diese spezielle Kartusche lenken.« Er zeigte auf ein kleines, rautenförmiges Feld, das den Rand des Gemäldes schmückte.
Cosimo beugte sich näher heran. Im Schein des etwas flackernden elektrischen Lichts untersuchte er die Hieroglyphen in der Kartusche und bemühte sich, ihre Bedeutung herauszufinden. »Der Mann ... der eine ... Karte ist.«
»Genau«, bestätigte Burleigh. »›Der Mann, der eine Karte ist‹ - kein anderer als Arthur Flinders-Petrie.«
»Er war hier«, flüsterte Cosimo verwundert. »Ein bildlicher Beweis, dass Arthur hier war.«
»Und darüber hinaus war die Karte hier«, erklärte Burleigh.
»Woher wisst Ihr das?«, fragte Cosimo.
Burleigh lächelte ihn verschlagen an. »Weil ich mit Carter und Carnarvon hier war, als das Grabmal geöffnet wurde. Ich hielt sie in meinen Händen.« Er schüttelte kläglich seinen turbanbedeckten Kopf.
»Ihr kennt Howard Carter?«, entfuhr es Cosimo.
»O ja«, erwiderte Burleigh. »In einem früheren Leben, wie man so sagen kann.«
Er schritt zu dem steinernen Sarkophag, streckte den Arm hinein und zog eine antike Holztruhe heraus, die er Cosimo zeigte. Der blassgelbe Lack war trocken und rissig, doch bei näherem Hinschauen konnte man erkennen, dass die gerundete Oberseite mit den gleichen blauen Symbolen wie auf den Wandbildern bedeckt war.
»Die Karte war in einem Stück, und sie lag hier drin«, erklärte Burleigh und klopfte mit einem Finger auf den Deckel. »Unglücklicherweise wusste ich zu jener Zeit nicht, was ich da in Händen hielt.«
Vorsichtig öffnete Cosimo die Truhe. »Sie war hier«, sagte er und schaute sich das staubige Innere an. »Irgendwann einmal.«
»Ja«, bestätigte Burleigh, »aber das ist jetzt unerheblich.«
»Was, bitte, ist dann erheblich?«, verlangte Sir Henry zu wissen und ließ sich von Cosimo die leere Truhe geben. »Kommt zur Sache, Mann!«
»Habt Geduld«, tadelte Burleigh ihn ein wenig. »Wir müssen behutsam auftreten, denn hier stehen wir dem elementaren Mysterium gegenüber.« Er trat wieder zu dem Gemälde, das er als Letztes gezeigt hatte. »Denkt mal darüber nach, was unser Freund Anen, der Hohe Priester, auf diesem Bild macht.«
»Er hält natürlich die Karte in der Hand«, erklärte Cosimo.
»Ja, das haben wir schon festgestellt. Aber was tut er mit der anderen Hand?«
Cosimo folgte mit den Augen dem erhobenen rechten Arm des Priesters bis zum ausgestreckten Zeigefinger. »Wieso? Er zeigt zum Himmel hinauf ...«
»Er scheint auf einen Stern zu zeigen«, fügte Sir Henry hinzu.
»Das macht er tatsächlich«, pflichtete Burleigh ihm bei. »Aber nicht bloß auf irgendeinen Stern.«
»Nicht?«, fragte Cosimo verblüfft.
»Bedenkt, wo wir sind, Gentlemen«, sagte der Earl. »Ägypten - der Südhimmel, nicht wahr? Und was ist der hellste Stern am südlichen Firmament?«
»Sirius«, antwortete Sir Henry. »Der Hundsstern.«
»Gut gemacht!« Burleigh applaudierte; das Klatschen der Hände schallte laut in der leeren Kammer. »Der Hohe Priester Anen hält die Meisterkarte in der Hand und zeigt auf den Hundsstern.« Er warf seinen beiden Gefangenen einen scharfen, fragenden Blick zu. »Nun, was glaubt Ihr - warum tut er das?«