SECHSUNDDREISSIGSTES KAPITEL
Die Fußschritte im Gang verklangen, und Stille senkte sich wieder über das Grab. Kit stand sprach- und regungslos in der Dunkelheit - vor seinen Augen war alles schwarz. Die Ungeheuerlichkeit des Verrats und die Schnelligkeit, mit der er stattgefunden hatte, raubten ihm den Atem. Er fühlte sich innerlich tot und hohl, als ob man seine Eingeweide mit einem stumpfen Löffel herausgekratzt hätte. Was auch immer Giles empfand - er behielt es für sich.
Es dauerte eine lange Zeit, bis einer von ihnen wieder sprechen konnte, und es war Giles, der feststellte: »Das war eine schlimme Tat.«
Kit, der vor Zorn und Demütigung ziemlich gebebt hatte, brachte schließlich genügend Selbstbeherrschung auf, um zu fragen: »Warum habt Ihr Euch nicht ihr angeschlossen, Giles? Ihr hättet in die Freiheit spazieren können.«
»Meine Treue gehört Sir Henry.« Nach einem Moment fügte er hinzu: »Und denen, die loyal zu ihm sind.«
»Habt Dank«, sagte Kit. »Aber es kann gut sein, dass es Euch das Leben kostet. Ihr wisst das, nicht wahr?«
»Ja, Sir«, antwortete er leise. »Ich weiß.«
»Nun denn«, meinte Kit und tastete in der Dunkelheit nach der nächsten Wand. Als er sie fand, setzte er sich mit dem Rücken gegen sie. Dann hörte er, wie Giles sich ebenfalls mithilfe seines Tastsinns an der Wand entlang einen Weg suchte.
Der Kutscher stoppte an der Stelle, wo Sir Henry lag.
»Sir Henry ist tot«, bestätigte Giles. Seine Stimme klang hohl in der Kammer. »Er muss in der Nacht verschieden sein.« Er hielt inne. »Sollten wir etwas für ihn tun?«
»Das werden wir«, antwortete Kit nach einem Augenblick. »Sobald es hell wird.«
Er schloss die Augen, doch Schlaf war das Letzte, woran er denken konnte. Wie im Namen von allem, was heilig ist, fragte er sich, konnte ich nur so dumm gewesen sein? Wie hatte er sich nur in solch einem leichtsinnigen und schlecht durchdachten Plan verheddern können? Wie hatte er nur so unglaublich unvorbereitet hierherkommen können, um irgendjemanden zu retten? Retten! Schon das Wort allein war reiner Hohn. Die ganze Sache war eine absolute und totale Katastrophe: Cosimo und Sir Henry waren tot, er selbst und Giles gefangen, und Lady Fayth hatte sich mit dem Feind verbündet. Gut gemacht, Kit. Steck dir eine Medaille an die Brust, du verdammtes Genie.
Er war ein Fremder in einem fremden Land: verloren im Kosmos; ein Mann, der weder einen Kompass noch einen Führer hatte. Umgeben von Toten, saß er in einem Grab in Ägypten, zusammen mit Giles - einem Mann, der zwar in Kits Alter war, doch von ihm getrennt durch Klassenzugehörigkeit, Empfindungsvermögen und vierhundert Jahre Zeit. Und dieser Mann erhoffte von ihm Antworten. Aber Kit hatte keine: nur Fragen. Und die wichtigste davon lautete: Wie hatte er nur so dumm sein können?
Die innerlichen Anklagen und Beschuldigungen waren wie kochendes Wasser auf seine Psyche und Feuer auf seine Seele. Die Schande - die Schmach eines so gewaltigen Versagens - lastete mit beinahe unerträglicher Schwere auf seinem Herzen. Trotz größter Anstrengungen, sie zurückzuhalten, flossen heiße Tränen der Scham aus seinen Augen und rollten die Wangen herab, als Kit in einen Zustand tiefsten Elends fiel. Dieser Misserfolg war einzig und allein seine Schuld, und nun würde er den Preis dafür bezahlen. Tragischerweise hatte er andere in seinen unausgereiften Plan hineingezogen, und jetzt würden auch sie dafür bezahlen: Giles mit seinem Leben und Lady Fayth mit ihrer Ehre, was auch immer davon übrig geblieben sein mochte.
Und da war noch eine andere Sache: Er hatte ihr vertraut und dadurch zugelassen, von ihr manipuliert zu werden. Die Einsicht, dass er jenem hübschen Gesicht auf den Leim gegangen war, machte die Schmach komplett.
Diese unglücklichen Gedanken beschäftigten Kit während des Rests der Nacht. Schließlich schwand die Dunkelheit der Grabkammer mit der Dämmerung des neuen Tages. Sobald er die Umrisse des steinernen Sarkophags zu erkennen vermochte, schlich Kit zu ihm und kniete sich neben ihm nieder.
»Es tut mir leid, Cosimo«, flüsterte er und stählte sich, um einen Blick auf den kalten, steifen Leichnam seines Urgroßvaters zu werfen. »Ich habe dich enttäuscht ... jeden enttäuscht. Das tut mir so leid.« Er zwang sich dazu, in das bleiche, leblose Gesicht zu schauen, und brannte es in sein Gedächtnis ein. Es lag eine Friedlichkeit in den Gesichtszügen des Toten, die Kit überraschte. Doch es war klar: Das, was er im Sarkophag sah, stellte bloß die Hülle des Mannes dar, der einst existiert hatte. Cosimo war nicht mehr da. »Falls ich jemals die Chance bekomme, die Dinge in Ordnung zu bringen, werde ich sie nutzen. Ich verspreche es dir: Ich werde es tun.«
Er hat all seine Hoffnung in Euch gesetzt ... Das waren die letzten Worte, die Sir Henry zu ihm, Kit, gesagt hatte. Sein eigener Vater und Großvater, jeder auf seine eigene Weise, hatten sich als unzureichend erwiesen. Nun war Kit an der Reihe. Aber war er besser geeignet als sie?
Schwache Regungen von Entschlossenheit ließen sein Herz schneller schlagen. Zuerst mussten sie hier herauskommen. Kit begann, die Kammer der Länge nach zu durchschreiten - mit ausgebreiteten Armen und gespreizten Fingern durchsiebte er die Luft in der Hoffnung, das verräterische Prickeln eines Ley-Felds zu spüren. Er fühlte nichts, doch er gab noch nicht auf. Er versuchte es mit Springen - immer wieder an verschiedenen Stellen im Grab. Vergebens. Nicht, dass er irgendetwas erwartet hatte, das geschehen würde. Denn wenn ein Ley-Portal oder Drehkreuz im Grabmal gewesen wäre, dann hätte Cosimo es gefunden.
Kit gab schließlich seine Versuche auf und ging zu Giles, der bei Sir Henry saß. Er kniete sich neben den Körper, der ausgestreckt auf dem Boden des Grabmals lag, und betrachtete ihn einen Augenblick lang. Kein Atemzug bewegte seine Brust, kein Pulsschlag zuckte an seinem Hals. Nur um sicher zu sein, drückte Kit seine Fingerspitzen leicht gegen das Handgelenk von Sir Henry und dann an die Seite seines Halses.
»Es tut mir leid, Giles«, sagte er.
»Wir können ihn nicht so lassen«, meinte der Kutscher. »Wir sollten etwas unternehmen.«
»Kommt, wir können ihn in den Sarkophag legen.«
Gemeinsam hoben sie die Leiche hoch und trugen sie zu dem riesengroßen Granitsarg in der Mitte des Raumes. Langsam ließen sie den Körper herab und legten ihn vorsichtig neben Cosimo. Dann richteten sie die Gliedmaßen des Adligen gerade und falteten seine Hände über die Brust.
»Freunde im Leben«, sagte Kit. »Jetzt können sie im Tode einander Gesellschaft leisten.«
Während er noch sprach, hörte er, wie drüben aus dem Vorraum das Geräusch von leichten Schritten widerhallte: Jemand stieg auf den Stufen ins Grabmal herab. Wer auch immer es war, er bewegte sich rasch und leise.
Kit stürzte zum Eisengitter. »Burleigh! Lasst uns heraus. Uns zu töten ergibt keinen Sinn. Das ist Wahnsinn! Lasst uns heraus.« Er hielt inne, um zu lauschen. Die Schritte kamen ins Stocken, als der Eindringling den Vorraum betrat und offenkundig stehen blieb. Dann war das rasche Getrappel von Füßen zu vernehmen, als der Neuankömmling durch den leeren Raum eilte. »Burleigh! Hört Ihr mich?«
»Kit? Bist du da drin?«
Die Stimme war weich und weiblich. Und trotz allem, was geschehen war, seit er in einer von der Grafton Street abzweigenden Gasse die einzige Welt verlassen hatte, die er bis zu jenem Zeitpunkt jemals gekannt hatte, erkannte Kit die Stimme sofort wieder. »Wilhelmina!«
Und da war sie: Wilhelmina, sonnengebräunt und strahlend, starrte ihn durch das Gitter an. Sie trug einen Militär-Overall mit Reißverschluss und Wüstentarnmuster; ihr langes Haar war nach oben unter einem himmelblauen Kopftuch gesteckt, das sie in der Art ägyptischer Frauen trug. Wie immer war sie groß und schlank, doch die dunklen Halbkreise unter ihren Augen waren verschwunden, und ihre Haut leuchtete - Zeichen einer robusten, guten Gesundheit. Sie hielt einen kleinen, ovalförmigen Gegenstand aus Messing in der einen Hand und in der anderen einen großen Eisenschlüssel. Der Gegenstand strahlte ein weiches türkisfarbenes Glühen aus.
»Hast du genug von Burleighs Gastfreundschaft?«, fragte sie mit einem Lächeln.
»Ich kann es nicht glauben«, erwiderte Kit. »Was machst du hier?«
»Ich bin gekommen, um dich hier rauszuholen - dich und deine Freunde.« Sie steckte den Schlüssel in das Schloss; als er sich nicht einfach herumdrehen ließ, rüttelte sie an ihm.
»Mina! Mina, ich habe versucht, dich zu finden. Ich habe dich niemals aufgegeben; das musst du mir glauben. Ich wusste nicht, wo du warst oder wie man dich erreichen konnte. Cosimo ist zurückgegangen, um nach dir zu suchen, aber du warst nicht da, und so haben wir Sir Henry um Hilfe gebeten. Genau darum ist all das passiert - um zu versuchen, dich zu finden.«
»Und hier bin ich und finde dich«, erklärte sie mit einem süßen Lächeln. »Wir sollten uns besser beeilen. Wir haben nicht viel Zeit.«
»Aber wie ...?«
Giles steckte den Kopf um die Ecke. »Sir?«
»Oh, Giles, kommt zu uns.« Kit stellte beide miteinander vor: »Dies ist Wilhelmina Klug. Mina, Giles Standfast.«
»Freut mich, Euch kennenzulernen, Giles«, sagte Wilhelmina.
»Ein unerwartetes Vergnügen, Mylady«, entgegnete Giles.
Wilhelmina hantierte erneut am Schlüssel und schaffte es schließlich, ihn herumzudrehen. Das Schloss klickte. Sie zog an der Tür, und das schwere Eisengitter schwang auf und gab die Gefangenen frei. Kit trat hinaus und hinein in Wilhelminas Arme: Ihre Umarmung war allerdings die etwas zögerliche und ungeschickte Umklammerung von vertrauten Fremden.
In diesem Moment begriff Kit, dass Mina nicht mehr die Frau war, die er kannte; die Veränderung war grundlegend und tiefgreifend. »Danke schön, Mina«, flüsterte er und hielt sie nah an sich; er versuchte, etwas von ihrer alten Vertrautheit wieder einzufangen.
»Ist mir ein Vergnügen«, erklärte sie und ließ ihn los. »Wir sollten sehen, dass wir von hier fortkommen.«
»Es tut mir leid, dass ich dich verloren habe, dass ich jeden in dieses Durcheinander hineingezogen habe ... Es tut mir leid wegen ... wegen allem.«
»Das sollte es nicht«, erwiderte sie strahlend. »Es war das Beste, was mir jemals passiert ist.« Sie drehte sich um und schritt auf die Steinstufen zu. Als Kit zögerte, wandte sie sich um und fragte: »Was ist los?«
»Cosimo und Sir Henry - sie sind tot«, berichtete Kit und zeigte nach hinten auf den Sarg. »Wir können sie nicht verlassen - nicht einfach weggehen, als ob nichts geschehen wäre.«
»Oh!« Sie stand einen Moment lang im schummrigen Licht der Kammer und blickte durch das offene Gitter in die Grabkammer hinein; doch sie machte keinerlei Anstalten, dorthin zu gehen. »Es tut mir leid, Kit, ganz ehrlich«, sagte sie schließlich. »Aber wenn wir jetzt nicht weggehen, werden wir ihr Schicksal teilen. Es gibt nichts mehr, was wir sonst tun können. Wir müssen gehen.« Leiser fügte sie hinzu: »Sieh es einmal so: Gibt es eine bessere Ruhestätte als ein königliches Grabmal?«
Giles trat an seine Seite. »Sie hat recht, Sir. Den Gentlemen können wir nicht mehr helfen; und es nützt uns nichts, hierzubleiben. ›Lasst die Toten ihre Toten begraben‹ - so steht es geschrieben, nicht wahr?«
»Mag sein«, erwiderte Kit, der immer noch nicht überzeugt war. »Es scheint mir nur nicht richtig zu sein.«
»Wenn wir jetzt gehen, haben wir eine Chance, eines Tages zurückkommen und ihnen ein richtige Begräbnis zuteil werden zu lassen«, behauptete Wilhelmina. »Aber nun müssen wir gehen.«
Kit akzeptierte diese Zusicherung und legte seine Bedenken beiseite. »Geh voran, Mina.«
Mit schnellen Schritten ging sie in den Vorraum und hielt am Fuß der Treppe an, um zu lauschen. Als sie nichts aus dem Wadi oben hörte, begann sie, die Stufen hochzusteigen. »Bleib dicht hinter mir«, wies sie Kit mit einem verführerischen Lächeln an. »Du willst doch wohl nicht verloren gehen.«