NACHWORT
Stonehenge - eines der sieben Weltwunder der Jungsteinzeit - habe ich das erste Mal im Sommer O 1985 besucht. Freunde hatten uns zu diesem Ort mitgenommen, und so faszinierend dieses Bauwerk auch war und stets bleiben wird, so wurde doch an jenem Tag meine Aufmerksamkeit von den Menschen um uns herum angezogen und davon, wie sie mit dem Monument interagierten. Zusätzlich zu den Touristen, die man dort erwarten konnte, gab es auch kleine Gruppen von barfüßigen Bohemiens, die auf dem grasbedeckten Boden einherstolzierten, der die uralten Steinkreise umgibt. Mit ausgestreckten Armen, die Gesichter zum Himmel gewandt, schienen sie sich in irgendeiner Art von Trance umhertreiben zu lassen und die beeindruckenden Megalithstrukturen gar nicht wahrzunehmen. Ich hielt sie für Hippies, die noch nicht mitbekommen hatten, dass die Sechzigerjahre vorbei waren. Mein Freund jedoch sagte mir: »Das sind New-Age-Anhänger, die nach Ley-Linien suchen. Siehst du, wie sie mit den Fingern wackeln? Sie versuchen, die Energie aufzufangen.«
Natürlich habe ich sie als Exzentriker abgetan und nicht mehr weiter darüber nachgedacht - bis sich das Erlebnis wiederholte. Als ich ähnliche Aktivitäten bei Avebury, den Rollright Stones und den Steinen von Callanish beobachtete, begann das Gesehene in meine Gedankenwelt einzusickern. Und dann, bei einem Spaziergang in der südlichen Toskana, besuchten meine Frau und ich die wunderschöne Abtei Sant' Antimo. Es ist ein heiliger Ort, der einen nachhaltigen Eindruck hinterlässt und sich im Verlaufe der Zeit mehrerer Neubelebungen erfreuen durfte, deren jüngste die eines Zisterzienserklosters gewesen ist.
Inzwischen haben wir die Kirche dreimal besucht; doch erst bei der letzten Besichtigung habe ich einem Ausstellungsstück an der Rückseite des romanischen Gebäudes Beachtung geschenkt. Forscher haben den tellurischen Energiefluss des kleinen Tales kartografiert, in dem die Kirche errichtet ist, und nicht weniger als sieben Verzweigungen tiefer Erdenergie entdeckt, die sich alle an einem ganz bestimmten Punkt unter dem Altar der Kirche treffen und dort auch enden. Eine Karte war ausgestellt, auf der man die Linien der Kraft aufgezeichnet hat, die unterhalb des Kirchenbodens verlaufen; zudem gab es dort eine Beschreibung der Kartierungsarbeiten.
Was geht hier vor?
Alfred Watkins war ein Schwärmer des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, der - wenn er nicht gerade langanhaltende archäologische Kontroversen anzettelte - ein gewähltes öffentliches Amt führte und mehrere Geschäfte leitete. Darüber hinaus war er ein Pionier der britischen Fotografie, dem die Erfindung etlicher früher fotografischer Instrumente zugeschrieben wird. Watkins verbrachte eine Menge Zeit hoch zu Ross und ritt durch die englische Landschaft; er reiste von Stadt zu Stadt, um die Geschäfte seiner Familie zu fördern. Bei einem dieser Streifzüge bemerkte er, wie seltsam es doch war, dass viele vertraute Markierungspunkte in absolut geraden Linien miteinander verbunden zu sein schienen, die sich über Meilen durch die Landschaft erstreckten: Kirchen, heilige Quellen und Steinkreuze waren verknüpft mit Steinkreisen, Dolmen, Hügelgräbern, Leuchttürmen, von Menschenhand errichteten Erdhügeln, Menhiren, Straßen aus der Römerzeit, in Hängen geschnittene Einkerbungen und mit anderen Merkmalen der alten britischen Landschaft. Er fing an, nach solchen Linien zu suchen und die beobachteten auf einer Karte zu erfassen, und gab ihnen den Namen »Ley-Linien«. Im Herbst 1922 hielt er bei einem Treffen einer lokalen Naturforschergesellschaft einen Vortrag und veröffentlichte später ein kleines Buch mit dem Titel Early British Trackways (›Frühe britische Trassenpfade‹). Darin beschrieb er ausführlich seine Beobachtungen und bat andere, sich ihm bei der Suche anzuschließen - und zwar nicht nur nach weiteren Ley-Linien, sondern auch nach einer Erklärung dafür, was dahintersteckte.
Wenige Jahre später veröffentlichte Watkins ein weiteres Buch, das den Titel The Old Straight Track (›Der alte gerade Pfad‹) trug - worauf sich im vorliegenden Buch die von mir erfundene Figur Cosimo Livingstone bezieht. Watkins stellt in seinem Werk Belege für seine Auffassung zusammen und verlieh ihr so eine breitere öffentliche Aufmerksamkeit. Es folgte bald eine Art Landschaftsführer, der The Ley Hunter's Manual (›Das Handbuch des Ley-Jägers‹) hieß, und das Spiel hatte begonnen. Was sind diese seltsamen Linien? Was ist ihr Zweck? Warum waren sie gemacht worden?
Watkins fand es niemals heraus. Er verbrachte die letzten vierzehn Jahre seines Lebens damit, Beweise zu sammeln, um seine Theorien zu unterstützen; doch als er starb, war er so klug wie zuvor. Andere schlossen sich der Suche an, und das Werk wurde weitergeführt. Obwohl orthodoxe Archäologen und Anthropologen die Idee der Ley-Linien nie ernsthaft in Erwägung gezogen haben, ist das Phänomen selbst niemals erklärt worden und somit auch nicht wirklich verschwunden. Theorien gibt es im Überfluss - von vernünftigen und praktischen Ansätzen bis hin zu durch und durch verrückten. Einmal hatte jemand die prächtige Idee, einige der besser bekannten Ley-Linien mit Messinstrumenten zu untersuchen. Und auf diese Weise - durch den Einsatz bestimmter Verfahren, um elektromagnetische Ströme aufzuspüren - haben Forscher herausgefunden, dass entlang vieler dieser seltsamen Linien ein gewisser Grad an Energie ausgestrahlt wird. Warum dies so sein soll und wie die Menschen in alter Zeit das Vorhandensein dieser Energie wahrgenommen haben, weshalb sie diese Energie markiert und wie sie sie vielleicht eingesetzt haben - all das bleibt ein quälendes Geheimnis.
Gibt es Ley-Linien wirklich? Sind sie verknüpft mit der tellurischen Energie, die mit verschiedenen geodynamischen Kräften der Erde verbunden wird: mit unterirdischen Strömen, Bruchlinien, Bewegungen der Erdkruste und sogar vielleicht mit Blitzeinschlägen? Oder ist das alles nur ein bisschen hoffnungsvolle Spekulation, Halb-Wissenschaft und New-Age-Unsinn - etwas, das man in derselben Schublade ablegen kann wie Nessie, Bigfoot und den Yeti?
Da ich kein Wissenschaftler bin, ist es mein besonderes Privileg, frei in der Welt des »Was-wäre-wenn« umherzuwandern, ohne irgendetwas beweisen zu müssen. Es scheint genug empirisches Beweismaterial zu geben, zumindest einige unvoreingenommene Spekulationen zu rechtfertigen. Und im Lichte all dessen, was Kit und Cosimo erfahren haben - wer kann da schon mit absoluter Sicherheit behaupten, dass Ley-Reisen nicht möglich sind?
Stephen R. Lawhead
Oxford, 2010