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Louis brach die Verbindung ab und steckte das Handy zurück in die Tasche.

Er stellte seinen Drink ab und fragte sich, was er als Waffe benutzen könnte, falls er eine brauchte. Er war weder Jäger noch Hobbyschütze, deshalb besaß er keine Schusswaffen. Seine Angelrute und Spule brachten nichts. In der Küche lagen natürlich Messer. Er ging zum Schrank neben der Eingangstür und holte einen Schläger aus seiner Golftasche. Draußen knarzte die Stufe erneut. Er spitzte durch den Spion im ovalen Türfenster.

Nur der Postbote.

Der alte Lem Karnigan.

Louis seufzte. Was zur Hölle stimmte nicht mit ihm? Warum blähte er das alles zu etwas Größerem auf, als es war, zu irgendeiner verrückten Verschwörung?

Lem sah ihn aus einem Augenwinkel heraus und winkte abwesend.

Louis zog die Tür auf.

Lem war fast 70, aber er war nicht in Rente gegangen und davon war auch keine Rede. Man würde ihn wahrscheinlich dazu zwingen müssen. Lems Frau war im Winter vor zwei Jahren gestorben und seine Kinder waren alle weggezogen. Er hatte vermutlich nichts außer seinem Job. Und das war traurig, wenn man darüber nachdachte.

Er stand auf der unteren Stufe und sortierte Briefe und Flugblätter. Der Postsack, der über seine Schulter geschnallt war, sah unwahrscheinlich sperrig und schwer aus. Beinahe zu viel für einen dürren, alten Kerl wie ihn.

»Eines Tages, Louis«, sagte er ohne hochzuschauen, »haue ich ab. Ich gehe mit den restlichen alten Käuzen runter nach Florida. Ich habe Ronny Riggs letzte Woche getroffen, ist gerade aus Miami Beach gekommen. Weißt du, was er gesagt hat? Er behauptet, dass es da unten Strände gibt, an denen die Mädchen alle oben ohne liegen. Wie findest du das?, hat er gefragt. Nun Ronny, hab ich geantwortet, das finde ich gut.«

Lem kicherte vor sich hin, schaute auf und sein Lachen verstummte. Er sah Louis’ zerzaustes Aussehen, die verkrusteten Blutspuren auf seinem Hemd.

»Du lieber Himmel, Louis! Was zur Hölle ist passiert? Hast du dich geprügelt?«

Louis schüttelte den Kopf. »Irgendein Junge hatte einen Unfall … Ich musste helfen. Es war eine richtige Sauerei.«

Lem stand weiter auf der unteren Stufe und starrte ihn an.

Und während Louis ihn beobachtete, sah es fast so aus, als ob sich ein Schatten über Lems Gesicht legte. Er zitterte, sein Mund verzog sich grimmig. Es sah aus, als ob etwas, etwas Wichtiges gerade von ihm abgefallen wäre. Und zwar schnell.

Dann machte er das Verblüffendste: Er beschnupperte die Luft.

Schnüffelte, als könne er das ganze Blut an Louis riechen. Wie ein Tier.

»Alles okay, Lem?«

»Also hast du dem Jungen geholfen, oder?«, fragte Lem. »Na ja, das war nett von dir.«

Louis schluckte. Gänsehaut breitete sich auf seinen Armen aus. Schau seine Augen an! Schau seine verdammten Augen an! Was Louis sah, brachte ihn dazu, dass er sich wünschte, er hätte seinen Golfschläger bei sich. Denn Lems Augen waren leer und schwarz und funkelten wie die einer Klapperschlange, bevor sie zuschnappt. Genau wie die Augen des Jungen … ausdruckslos.

»Alles okay, Lem?«, sagte er erneut.

Lem blinzelte, seine Lippen zogen sich zurück, er fletschte regelrecht die Zähne. »Nein … nein, nichts ist okay, Louis Shears! Ich bin überhaupt nicht okay. Ich habe … ich habe an letztes Weihnachten gedacht … Du hast mir kein Trinkgeld gegeben, wie du es sonst immer gemacht hast. Ja, ja, ich weiß, es ist mein Job dir deine verdammte Post zu bringen, aber ein Trinkgeld zeigt mir, dass du meine Arbeit anerkennst. Weil ich mir sechs Tage die Woche bei gutem und schlechtem Wetter den Arsch aufreiße und dir deine verdammte Post bringe!«

Louis machte sich bereit zurück ins Haus zu springen. »Na ja, Lem, das tut mir leid. Letztes Weihnachten war eine schlechte Zeit für uns. Michelles Mutter wurde krank und so weiter. Alles war verrückt.«

Lem fuhr mit seiner Zunge an den Vorderzähnen entlang. »Sicher, Louis, sicher. Typen wie du, die haben immer für alles eine Antwort parat, oder? Na ja, mach dir keine Sorgen, Mr. Louis Shears, ich kenne meinen Job. Ich mache meinen Job. Brauche keinen, der mir sagen muss, wie ich meinen Job mache, am allerwenigsten dich. Hier hast du deine verdammte Post.« Er knüllte die Briefe, Zeitschriften und Flyer in seiner Faust zusammen und warf sie Louis zu. »Bitte schön, du Hurensohn!«

Und dann schlenderte er davon und warf Louis dabei ab und zu einen Blick über die Schulter zu, als hasse er dessen Anblick. Er ging auf dem Gehsteig entlang und sprach mit sich selbst. Wirklich beängstigend war, dass er sich dabei in einer walzenden, schreitenden Gangart wie der eines Affen bewegte.

Und schlimmer: Er wühlte in seinem Postsack und warf Briefe in die Luft. Warf sie stapelweise durch die Gegend.

Dann blieb er bei den benachbarten Merchants vor der Reihe von Rosenbüschen stehen, öffnete den Reißverschluss der Hose und pisste. Vor aller Augen genau dorthin.

Louis schaute regungslos zu.

Etwas befand sich im Wasser, oder in der Luft. Er wusste nicht was, aber alle schnappten langsam über. Was zur Hölle war es? Er hatte gesehen, wie es Lem erwischte, wie es seine Persönlichkeit ausleerte und etwas Ursprüngliches, Primitives und Wütendes zurückließ.

Er fragte sich, ob es an dem Blut auf seinem Hemd lag.

Lem war ganz normal gewesen – bis er das Blut gesehen hatte. Sagte man nicht, dass der Anblick und der Geruch von Blut bei Tieren aggressive Reaktionen auszulösen vermag? Bei Hunden? Galt das auch für Menschen? Nein, das war lächerlich. Lem war auf eine plötzliche und unerklärliche Weise aggressiv geworden … Und es war noch mehr als das gewesen. Er verhielt sich wie der Junge oder die Bullen. Irgendwie waren auf einmal Dinge wie Moral oder Selbstbeherrschung verschwunden und von einer räuberischen Wut verdrängt worden.

Louis schloss die Tür.

Dann verriegelte er sie.

Er schielte aus dem Fenster.

Am benachbarten Merchants-Haus ließ Lem die Post auf dem Rasen verstreut liegen. Bei den Lovemans zwei Häuser weiter wühlte er in seiner Tasche, scharrte wie ein Tier darin herum, das in der Erde nach Raupen buddelte. Dann hielt er eine Hand vor sein Gesicht und schüttelte sich. Er warf die Tasche beiseite und schlenderte den Weg entlang, als hätte er einen Sonnenstich.

Es ging los und Louis wusste es.

Irgendetwas Schreckliches und Unbekanntes übernahm die Stadt, Stück für Stück …

Zerfleischt - Der ultimative Thriller
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