13
Macy Merchant ging an diesem Tage irgendwie benebelt von der Schule nach Hause. Sie verstand nicht, was passiert war. Sie wusste nur, dass sie sich sehr verängstigt fühlte. Sehr verstört. Sie dachte darüber nach, dachte immer wieder darüber nach, und alles, was dabei herauskam, war eine Leere. Eine absolute Leere.
Es ergab einfach keinen Sinn.
Klar, sie konnte weder Chelsea Paris noch Shannon Kittery oder sonst jemanden dieses hochnäsigen, elitären Rudels leiden. Aber sie hatte niemals zuvor gegen sie gestänkert. Sie hatte es sich niemals getraut. Und natürlich hatte sie niemals eine von ihnen angegriffen. Macy konnte sich nicht erinnern, jemals in einen Streit verwickelt gewesen zu sein. Chelsea und Shannon waren fies zu ihr, seitdem sie denken konnte, aber selbst wenn sie sie in den Gängen der Junior High schubsten oder ihr die Bücher aus den Händen schlugen, hatte sie sich nie gewehrt.
Du hast mehr getan, als dich zu wehren, Macy, teilte ihr eine strenge Stimme in ihrem Kopf mit. Du hast angegriffen. Du hast Chelsea angegriffen. Du hast ihr einen verdammten Bleistift in die Wange gebohrt.
Oh Gott. Oh lieber Gott.
Es war, daran erinnerte sie sich, richtig gewesen.
Sie konnte sich an den absoluten Hass und Ekel erinnern, den sie plötzlich gegenüber Chelsea empfunden hatte. Es war wie ein Gift gewesen, das sich seinen Weg durch sie hindurchbahnte, bis … bis sie einfach die Kontrolle verloren hatte. In ihr hatte alles gebrodelt, bis sie anfing Chelsea zu beschimpfen.
Sie gepackt hatte.
Ihren Kopf auf den Schreibtisch knallte.
Dann hatte sie mit dem Bleistift zugestoßen.
Und das Blut … Gott, der Geruch davon. Er hatte sie hungrig gemacht. Ihr war das Wasser im Mund zusammengelaufen. Und schlimmer, viel, viel schlimmer war, dass der Geruch sie geil gemacht hatte.
Allein die Erinnerung daran widerte sie an.
Mr. Benz hatte sie hinunter ins Büro geführt, Chelsea wurde zur Schulkrankenschwester gebracht. Macy erinnerte sich, dass Mr. Shore, der Direktor, ihr den Angriff bitter vorwarf. Er hatte sie immer wieder gefragt, warum sie, eine Einser-Schülerin mit einer makellosen Akte, bloß etwas so Bösartiges und Grauenvolles getan hatte.
Chelsea wurde ins Krankenhaus gebracht. Sie musste genäht werden. Und während Shore immer weiterredete, saß Macy nur da und dieses schwarze Gift brodelte in ihren Eingeweiden. Sie lächelte immer wieder, obwohl Shore sie aufforderte dieses verdammte Grinsen zu unterlassen. Aber das hatte sie nicht vermocht. Es hatte sich angefühlt, als ob irgendjemand für sie lächelte, schreckliche Dinge dachte und schlimme Sachen machte – und sie selbst war nur ein Zuschauer.
Während Shore tobte, hatte sie auf seinen Bauch gestarrt. Er sah so voll und rund unter seinem gestärkten, weißen Hemd aus. Was würde es für eine Sauerei geben, wenn ihn irgendjemand mit einem Messer aufschlitzte.
Dann verschwand es … was auch immer von ihr Besitz ergriffen hatte … einfach.
Macy fing an zu weinen.
Keine Schluchz-Schluchz-Krokodilstränen, sondern echte. Was auch immer dieser schreckliche Zwang gewesen war, sobald er sie freiließ, fühlte es sich an, als wäre sie innerlich aufgerissen und bis auf die Knochen aufgeschnitten worden. Sogar Shore war gerührt, als er es sah. Macy … die süße, zarte, liebenswürdige … war zurück und das sah er vielleicht.
Das fremde Wesen war verschwunden. Shore hatte versucht sie zu trösten, hatte es verzweifelt versucht. Macy befand sich in so einer weinerlichen Verzweiflung, dass es ihm sogar in den Sinn gekommen war, ihr zu sagen, dass ihre Tat okay war, dass es nichts sei, worüber sie sich aufregen müsse. Dann war die Schulsekretärin Mrs. Bleer hereingekommen und tat etwas, wozu viele Männer offenbar zu inkompetent und unfähig sind: Sie beruhigte Macy. Sie brachte sie zum Schweigen, umarmte sie, ließ sie wissen, dass, obwohl es sehr schlimm war, eine andere Schülerin anzugreifen, sie eine Lösung finden würden.
Wäre es jemand anderes als Macy Merchant gewesen, wäre sie nicht so wohlwollend und verständnisvoll behandelt worden. Aber Mrs. Bleer kannte Macy genauso gut wie Mr. Shore und sie wussten, dass Macy ein gutes Kind war. Klug, ausgeglichen, pflichtbewusst … sie war keine Wilde, die andere Mädchen angriff.
Beide stellten ihr immer wieder die gleiche Frage: Warum? Warum war sie so auf Chelsea losgegangen? Was hatte Chelsea gesagt? Was hatte sie getan? Beide kannten Chelsea und sie kannten die Sorte von Mädchen, zu denen sie gehörte. Sie waren überzeugt, dass Chelsea dieses Mal etwas wirklich, wirklich Schreckliches getan haben musste, um ausgerechnet bei Macy Merchant eine derartige Reaktion auszulösen.
Ja, sie wollten wissen, warum.
Als Macy jetzt die Colidge Street hinunterlief, in Richtung der 7. Avenue und Rush Street, wollte auch sie wissen, warum.
Sie sah Kathleen Soames auf ihrer Veranda stehen. Kathleen winkte ihr zu.
Macy ging weiter, nahm nur die Gedanken wahr, die ihren Kopf ausfüllten, und das war genug. Sie presste ihre Bücher an die Brust, hielt den Kopf gesenkt und starrte auf den Gehsteig. Die Ritzen darin. Die Ameisennester, die darin alle paar Meter aufblühten.
Am meisten Angst machte ihr die Tatsache, dass sie keinerlei Kontrolle gefühlt hatte – als ob jemand oder etwas anderes sie einfach übernommen hätte. Sie fragte sich, ob sich verrückte Leute so fühlten, wenn sie mit einem Gewehr in einen Supermarkt stürmten oder wenn sie jemanden mit einer Axt verfolgten. Als wären nicht wirklich sie daran schuld, sondern jemand oder etwas anderes, irgendein schrecklicher Trieb, der sie komplett unter Kontrolle gehabt hatte und dem sie machtlos ausgeliefert waren.
War das so?
Zählte sie nun zu solchen Leuten?
Gott, es war niemals irgendetwas Ähnliches passiert, kein Anzeichen, dass sie verrückt war. Klar, sie dachte manchmal etwas Böses, so wie jeder andere auch, aber sie hatte noch niemals zuvor in ihrem Leben einer Fliege etwas zuleide getan. Trotz der Angst und Traurigkeit fühlte sie sich nicht wesentlich anders als vor zwei Wochen oder vor zwei Jahren. Und das war das Gruselige. Würde es wieder passieren? Würde sie aus heiterem Himmel wieder jemanden angreifen? Und hätte wieder keine Kontrolle, wenn es passierte?
Was für ein Schlamassel, was für ein schrecklicher Schlamassel.
Vielleicht litt sie an einem chemischen Ungleichgewicht wie bei Schizophrenie oder an einer von diesen Krankheiten, die sie letztes Jahr in Persönlichkeitspsychologie durchgenommen hatten. Multiple Persönlichkeiten. Gute Macy und böse Macy. Wenn das der Fall war, dann würde es Medikamente und Therapien geben. Ihr Leben würde trotzdem nie mehr das gleiche sein. In der Schule würde sie von manchen als Psycho abgestempelt werden und als Held von allen anderen, die Chelsea Paris schon immer in ihre Schranken hatten weisen wollen, aber sich niemals getraut hatten. Wow, was für ein Ruhm. Auf einen solchen Ruhm konnte sie verzichten.
Mom würde über das alles gar nicht glücklich sein.
Macys Dad war an einem Herzinfarkt gestorben, als sie fünf war, und obwohl sie sich nicht genau erinnern konnte, wie ihre Mom davor war, glaubte sie ziemlich sicher, dass ihre Mom damals keine Säuferin war. Dass sie in der Lage gewesen war, einen Job auch länger als zwei oder drei Monate durchzustehen. Und dass sie zu der Zeit nicht mit jedem, den sie zufällig in der Bar traf, geschlafen hatte.
Das hoffte sie zumindest.
Aber um ehrlich zu sein, war es inzwischen ziemlich schwer zu sagen, wer die Erziehung übernommen hatte. Es gab nur sie beide und Mom lief gewöhnlich verkatert herum, womit so ziemlich alles an Macy hängen blieb. Sie übernahm generell das Kochen, das Wäschewaschen und den Hausputz. Sie war diejenige, die das Haushaltsgeld verwaltete, wenn sie überhaupt Geld hatten. Wenn etwas gemacht werden musste, fiel es auf Macy. Sie kannte den Tratsch in der Nachbarschaft, das übliche Lästern, Mom sei eine betrunkene Hure und dass Macy ohne wirkliche elterliche Aufsicht bald genug in ihre Fußstapfen treten würde. Der Apfel fällt ja nicht weit vom Stamm, sagt man.
Aber sie lagen alle falsch.
Macy trank nicht, rauchte nicht, nahm nie Drogen – und mit 16 war sie im Gegensatz zu Chelsea Paris, Shannon Kittery und dem Rest dieser Tussi-Clique noch Jungfrau. Was die Jungfräulichkeit anging, nun, da hatte es ziemlich wenige Gelegenheiten gegeben, auch weil sie keine Sexbombe war, die schon in der 8. Klasse die ganze körperliche Entwicklung hinter sich hatte. Trotzdem, selbst wenn sie wie Chelsea oder Shannon gewesen wäre, glaubte sie nicht, dass sie so schnell wie sie mit jemandem in die Kiste gesprungen wäre. Das Gleiche galt für Alkohol und Drogen und die ganzen anderen verschiedenen Versuchungen, die Teenager üblicherweise ins Unglück führen.
Macy interessierten solche Dinge nicht, weil sie sich dagegen entschieden hatte.
Vielleicht besaß sie Selbstbeherrschung und vielleicht besaß sie Selbstachtung und vielleicht war sie emotional reifer als andere in ihrem Alter. Trotzdem setzte sie sich selbst einen hohen Maßstab und fragte sich manchmal, ob es an ihrer Mutter und ihrem Vater lag. Was ihre Mutter anging, schämte sich Macy wirklich – sie hatte kein Verlangen danach, wie sie zu sein. Und was Dad betraf, hatte Macy nie die Chance gehabt ihn richtig kennenzulernen, aber sie fühlte, dass sie es seinem Andenken schuldig war, einen Weg einzuschlagen, der ihn stolz gemacht hätte.
Natürlich gab Macy das vor keinem zu, geschweige denn vor Mom.
Denn Mom redete nicht gerne über Dad. Wann immer sein Name fiel, versank sie in einem ihrer Löcher und der Einzige, der sie da herausholen konnte, war Jim Beam. Macy dachte manchmal, Mom wollte, dass sie verlotterte, dass sie viel glücklicher wäre, wenn ihre einzige Tochter abstürzte und aufhörte so ein »Gutmensch« zu sein, wie sie sie oft nannte.
Verstand man das unter Erziehung?
Allerdings würde Mom ihre Freude daran haben, was heute vorgefallen war. Macy griff ein anderes Mädchen an und wurde suspendiert – lieber Gott, suspendiert – eine Ermittlung stand bevor. Macy hatte das seltsame Gefühl, dass Mom lachen würde, wenn sie es hörte, etwas Blödes sagen würde, wie tja, tja, du bist am Ende doch nur wie der Rest von uns, oder?
Und darum ging es doch, oder?
Macy wollte nicht wie der Rest sein.
Sie arbeitete hart, lernte viel, setzte sich hohe Maßstäbe … und jetzt war alles eingestürzt. Sie hatte Chelsea Paris angegriffen. Von allen unmöglichen, unerklärlichen Sachen ausgerechnet so was.
Das würde man ihr nie vergessen.
Als sie die 7. zur Hälfte hinuntergelaufen war, schaute Macy plötzlich auf.
Schaute auf und konnte nicht glauben, was sie sah …