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Tja, so endet es also. So ist es, wenn alles um dich herum zusammenbricht.
Das dachte Benny Shore, Direktor der Greenlawn High School, als er die Schule an diesem Tag verließ und über alles staunte. Ja, wegen dem Grauen war er ganz durcheinander, klar, aber mehr als das, er war einfach verdutzt. Wie man so sagt: Was ein Tag für einen Unterschied machen kann. Er war heute Morgen zur Arbeit gekommen, putzmunter und glücklich, pfiff eine blöde Melodie … und jetzt ging er, deprimiert und hoffnungslos, wollte sich seine Handgelenke aufschlitzen.
Ja, ein Tag konnte den ganzen Unterschied in der Welt ausmachen.
Es gab jetzt wenig zu tun, außer abzuwarten und zu schauen, was sich als Nächstes ereignete.
Die Schulbehörde war außer sich, die City und State und County Cops kratzten sich nur an den Köpfen. Shores Telefon hatte andauernd geklingelt, seitdem das alles passierte und dann, seit der letzten Stunde … war es merkwürdigerweise ruhig. Er hatte erwartet, von Eltern belagert zu werden, sobald ihr Arbeitstag einmal zum Stillstand kam, aber es war ruhig geblieben.
Die Ruhe vor dem Sturm?
Oder ein Zeichen für etwas Schlimmeres?
Das Zeichen einer Welt, die vor die Hunde ging, das war es. Es bricht jetzt überall aus … willkürliche Gewalt, Blutvergießen, Grausamkeit. Und ausnahmsweise einmal, alter Knabe, brauchst du nicht CNN einzuschalten, um es zu sehen. Weil es HIER passiert. Es passiert auf diesen STRASSEN …
Shore hüpfte in seinen Jeep und vergrub das Gesicht in seine Hände.
So saß er vielleicht zehn Minuten lang da und anschließend starrte er auf den verlassenen Parkplatz. Da standen ein paar Polizeifahrzeuge, aber das war auch alles. Er dachte daran, was Ray Hansel ihm von der Gewalt nicht nur in der Schule, sondern auch in der Stadt erzählt hatte, als die Einheit der State Police CSI den Trümmerhaufen durchkämmte. So viel davon an einem Tag, dass es selbst den skeptischsten Schaulustigen mehr als ein bisschen nervös machte. Gab es für alles eine grundlegende Ursache, wie Hansel angedeutet hatte? Gab es ein sehr offensichtliches Muster, aber eines, das sie nicht sehen konnten, weil es nicht in gewöhnliche Parameter passte? Und wahrscheinlich das Schlimmste und Undenkbarste überhaupt: War es möglich, worauf Hansel hingewiesen hatte, dass das nur der Anfang von etwas viel Größerem war?
Würde diese Bestialität-Infektion sich auf die gesamte Welt ausweiten?
Shore schüttelte den Kopf.
Zu viel, zu viel. Er bekam davon Kopfschmerzen. Er hatte den ganzen Tag lang fiese, leichte Kopfscherzen gehabt und jetzt kehrten sie zurück und breiteten sich mit bösem Druck in seinem Kopf aus.
Er kramte ein Fläschchen mit Ibuprofen aus dem Handschuhfach und kaute einige Tabletten, spülte sie mit einem Schluck kalten Kaffee hinunter, der seit heute Morgen den ganzen Tag in seinem Jeep gestanden hatte. Er schmeckte schrecklich, aber er bemerkte es nicht. Er fummelte eine Zigarette bis in seinen Mund, zündete sie an und blies den Rauch durch die Nasenlöcher aus.
Er fühlt sich so … hilflos.
So völlig hilflos.
Er war seit beinahe elf Jahren Direktor der Greenlawn High, davor Zweitrektor und Vertrauenslehrer. Diese Schule war seine Schule und ihm gefiel die Vorstellung nicht, dass er absolut nichts unternehmen konnte. Dass das alles in den Händen anderer lag, die meisten davon mit keinem echten, persönlichen Interesse an der Schule, an den Kindern, an ihrer gemeinsamen Wirkung auf die Gemeinde. Er fühlte sich, als würde er, ohne zu kämpfen, aufgeben.
Er öffnete das Fenster vollständig und starrte auf die Schule.
Zwei Etagen aus rotem Ziegelstein, die seit 1903 standen, genau an der Stelle, an der das alte Schulhaus – groß und eng, getünchte Schindeln mit einem herausragenden Belfried – gestanden hatte, bis es im Winter 2001 niederbrannte. Er dachte an die vielen Klassen, die durch diese hohen, gewölbten Türen gegangen waren, die Klassenfotos, die man in dem grasbewachsenen Hof geschossen hatte. Die ganzen Football-Spiele und Leichtathletik-Wettkämpfe, die auf dem Sportplatz dahinter stattgefunden hatten. Fast konnte er das Jubeln und Lachen hören, die Schläge der Trommeln und den Lärm der High-School-Kapelle. Ja, er konnte den Herbst in der Luft riechen, Blätter, Lagerfeuer und Äpfel.
Darum ging es, erkannte er auf einmal.
Tradition.
Es ging nur um Tradition.
Und diese verdammten Kinder in der Biolabor-Stunde hatten das alles zerstört.
Es betraf nicht nur Shore persönlich, sondern die ganze verdammte Stadt und die Generationen, die noch einen Fuß in die Schule zu setzen hatten. Diese Kinder hatten einen Schatten darüber geworfen – jetzt würde es niemals mehr das Gleiche sein. Womöglich noch in den nächsten 100 Jahren, falls die Schule so lange stand und die Welt sich noch drehte, würden Kinder Geschichten über diesen schrecklichen Tag erzählen. Horrorgeschichten. Das war das ultimative Vermächtnis dieses Tages, diesen Freitag-der-13.-Dreck für Horrorgeschichten.
Shore spürte, wie sich der Kopfschmerz in seinem Schädel immer mehr ausbreitete. Verfluchte Kinder, dachte er. Was zur Hölle haben sie sich gedacht? Was ist nur in sie gefahren, verdammt? Wie können sie es wagen, so was zu machen, meine Schule in eine gottverdammte Horrorshow zu verwandeln!
Der Kopfschmerz wurde stärker, Shore schrie sogar auf, während er seine Hände gegen die Schläfen drückte. Die Zigarette fiel von seinen Lippen hinunter und landete zwischen seinen Beinen auf dem Sitz, brannte ein Loch hinein, aber weder bemerkte er es noch kümmerte es ihn. Der Schmerz ging vorüber und er fluchte leise.
Er hoffte eigentlich, dass keiner dieser kleinen Scheißer aus der 5. Bio-Stunde je gefunden wurde. Er hoffte, dass sie das Richtige taten und sich selbst in das tiefste, dunkelste Loch stürzten, das sie finden konnten, und es mit Dreck zuschütteten. Zur Hölle, ja! Lass das Böse von diesem Tag mit ihnen sterben und niemand wird dann mit dem Finger auf die Greenlawn High zeigen, sie werden nur spekulieren und spekulieren und schließlich die Tatsache akzeptieren, dass diese Kinder sich alle mit Drogen abgeschossen hatten.
Bei dieser Vorstellung lächelte Shore.
Er ließ den Jeep anspringen, warf den Rückwärtsgang ein und fuhr langsam über den Parkplatz. Er zündete eine weiterte Zigarette an und streifte die noch brennende vom Sitz auf den Boden. Er fuhr hinter das Gebäude, vollführte einen Kreis, damit er einen guten, langen Blick auf seine Schule werfen konnte.
Er sah sie gerne.
Dadurch fühlte er sich gut, wichtig geradezu.
Unerlässlich.
Das war sein Revier.
Seins.
Als er um die Ecke bog, am Lehrerparkplatz vorbeifuhr, beschloss er, dass er besser keinen dieser verdammten Drecksäcke sehen musste, wie sie Zigaretten rauchten oder bei den Bäumen hinterm Parkplatz schmusten. Falls er welche sah … na ja, falls er welche sah, würde er sie zusammenstauchen wie niemals zuvor. Er würde ihnen die Köpfe abreißen. Er würde ihnen ihre verdammten Köpfe abreißen.
Aber er sah keinen.
Zumindest bis er an der Rückseite der Schule vorbeikam, und dann sah er ein Kind dastehen, mitten auf der Straße. Ein blödes Kind, das den entgegenkommenden Jeep anstarrte, als hätte es keine Ahnung, was ein Fahrzeug ist. Shore zog eine Grimasse und hupte einige Male. Das Geräusch ließ seinen Kopf pochen.
Blödes Kind … Was zur Hölle tat es da?
Shore schaute es genauer an.
Nein, nicht einfach irgendein Kind. Das war Billy Swanson. Verdammter Billy Swanson aus der 5. Bio-Stunde.
»Billy«, flüsterte Shore. »Sieh an, sieh an, sieh an.«
Er kannte Billy ziemlich gut. Ein kleiner, bedeutungsloser Scheißer, ein Außenseiter, der in einer Fantasiewelt lebte. Er probierte keinen Sport aus, meldete sich nicht freiwillig für einen der Vereine. Er machte absolut nichts, und wie jedes Kind, das sich nicht anpasste, wurde er wie Scheiße behandelt. Shore hatte Kinder wie Tommy Sidel – ein anderes Monster aus der 5. Bio-Stunde – bestraft, weil er Billy drangsalierte, ihn in den Gängen schubste oder ihn in der Sportstunde mit der Faust schlug oder ihm draußen ein Bein stellte. Ja, ja, ja. Shore hatte sich darum kümmern müssen, wie Shore sich verflucht noch mal immer kümmern musste. Aber damals? Hätte er die Zeit zurückdrehen können, hätte er das kleine, verschissene Mamasöhnchen selbst drangsaliert. Hätte seinen Arsch auf den Boden geknallt und seine verfluchten Star Trek-Taschenbücher weggetreten und seinen Arsch damit abgeputzt.
Was war das überhaupt für eine Scheiße, als ein heranwachsender Junge zu lesen?
Shore fühlte, wie es in ihm brodelte, der Zorn, die Wut, der Frust. Er trat ungefähr vier Meter von Billy entfernt in die Eisen und stieg aus. »Billy! Schwing deinen Arsch hierher. Ich will mit dir reden! Hörst du?«
Billy sah ihn nur an, seine Augen wirkten tot und leer und irgendwie trotzig.
Shore gefiel es nicht, wie der Junge ihn anschaute. Nicht nur wegen der bockigen Haltung, sondern weil er absolut keine Furcht zeigte. Shore gefiel das ganz und gar nicht. Billy hätte ängstlich ausweichen sollen, seinen Kopf hängen lassen sollen – aber das tat er nicht. Er starrte ihn wütend an. Shore starrte direkt zurück und fletschte die Zähne. Es kam ihm in den Sinn, dass sie sich wie zwei Hunde gegenüberstanden, die um ein Revier stritten; wer das Recht besaß, an einen bestimmten Baum zu pissen. Aber diesen Gedanken verwarf er, weil mit einem Mal Dinge wie Metaphern keinen Sinn mehr für ihn ergaben.
»Billy …«, sagte er.
Der Junge lächelte still.
Lächelte und spuckte auf seine Füße, während er überprüfte, dass Shore ihm dabei auch zusah. Warum? Der trotzige, kleine Scheißer! Er hatte keine Ahnung, worauf er sich hier einließ. Benny Shore ließ sich von Verlierern wie Billy Swanson nicht verarschen. Er trat auf sie. Er zerquetschte sie. Und Billy war gerade dabei, das herauszufinden.
Aber Billy interessierte das nicht.
Er drehte sich um, lief gemächlich davon und zeigte weiterhin keinerlei Respekt.
Shore wurde rot und kochte. »Billeeeee …«
Er glaubte, dass er den Jungen lachen hörte. Er war sich fast sicher.
Billy zog in einem lässigen Trab davon, die Art von Trab, die sagte, dass du mich eh nicht fangen kannst, du blöder Wichser.
Also dieses Spiel wollte er spielen? Na schön, na schön.
Shore sprang hinter das Lenkrad des Jeeps und fuhr los.
Mit quietschenden Reifen raste er direkt auf Billy Swanson zu. Obwohl er sich dessen nicht bewusst war, war schließlich und endlich etwas wie eine Wunde in seinem Kopf aufgeplatzt und füllte seinen Verstand mit Eiter und krankhaftem Abfluss. Er wusste nur, dass Billy es dieses Mal wirklich übertrieben hatte. Wirklich und wahrhaftig. Er beschleunigte, hielt das Lenkrad fest, und das zu tun, fühlte sich so gut an, so befreiend, so absolut richtig. Der Jeep kam mit fast 100 Kilometern pro Stunde auf Billy zugerast und der blöde Junge hatte nicht genug Verstand, um aus dem Weg zu springen. Er versuchte im letztmöglichen Moment nach links zu huschen, aber keine Chance. Shore erwischte ihn und der Aufprall schleuderte Billy über den Grill auf die Motorhaube. Er rollte hinab und fiel auf den Parkplatz.
Shore hielt mit quietschenden Reifen an und riss den Jeep herum.
Billy stand wieder auf.
Er war jung und der Aufprall hatte ihn verletzt, aber er war kaum angeschlagen. Er starrte Shore mit wütenden Augen an und humpelte wie ein verletztes Tier davon.
Aber Shore ließ sich das nicht gefallen. Er raste mit dem Wagen los und riss das Steuer herum, als Billy über den Bordstein sprang. Er entkam beinahe, aber dann traf ihn der Jeep erneut. Shore krächzte fröhlich auf. Billy flog mit dem Gesicht nach unten auf den Boden und der Jeep rollte direkt über ihn drüber.
Shore sah Billy im Rückspiegel; Knochen waren gebrochen und er blutete. Aber immer noch zeigte er keine Angst. Billy machte ein gehässiges Gesicht und klapperte mit den Zähnen. Shore legte den Rückwärtsgang ein und rollte erneut über den Jungen drüber. Dieses Mal hörte er deutlich das Geräusch von zerbrechenden Knochen. Es war ein schönes Geräusch, eines, das Shore dringend hatte hören wollen.
Aber es war nicht genug.
Also fuhr er noch einmal über Billy hinweg.
Und noch einmal.
Und noch einmal.