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Ray Hansel verließ gerade Bob Morelands Büro in der Greenlawn Polizeistation, als er die Frau die Treppe hochlaufen sah. Unter gewöhnlichen Umständen hätte er ihr wahrscheinlich wenig Beachtung geschenkt. Es war immerhin eine Polizeistation und viele Leute kommen zu einem solchen Ort. Besonders heute, wo es einen ständigen Besucherstrom gab … Einige waren irre geworden und wurden direkt weggesperrt; die meisten aber waren normal oder beinahe normal und einfach ängstlich und besorgt. Sie kamen herein, um Überfälle und Brandstiftung und sogar ein paar Morde zu melden, doch hauptsächlich ging es darum, vermisste Familienmitglieder und Freunde oder Nachbarn zu melden, die sich etwas seltsam benahmen.
Aber die Frau, die Hansel sah, war keine von ihnen.
Er schloss die Tür zu Morelands Büro – in dem sie gerade beschlossen hatten, dass es eine gute Idee sein könnte, ein Notfalltreffen des Stadtrates einzuberufen, weil sie es mit Bürgerunruhen zu tun hatten – und sah, wie die Frau den Korridor betrat. Was seine Aufmerksamkeit erregte, war die Tatsache, dass sie nur einen Bademantel trug, ein schäbiges, altes Frottee-Ding, dreckig und staubig, mit Spinnweben, die am Kragen und an den Ärmeln klebten, als hätte sie sich in einem Abstellraum aufgehalten. Ihr Gesicht war blass, schrecklich blass, ihre Haare zerzaust wie ein gewaltiges Rattennest. Und ihre Augen sahen wie schwarze Löcher aus, ihr ins Gesicht gebrannt.
»Ma’am?«, fragte Hansel und seine Hand fasste instinktiv an den Griff der stahlblauen 9-Millimeter-Beretta in seinem Halfter. Das passierte automatisch, ohne dass er es steuerte. »Kann ich Ihnen helfen?«
Sie ging zwei weitere Schritte, bewegte sich in einem seltsamen, mechanischen Rhythmus und schien Hansel nicht zu sehen und nicht zu hören. Ihre Aufmerksamkeit war auf Morelands Tür mit einer solchen Intensität gerichtet, dass es beinahe beängstigend war.
Hansel stellte sich ihr in den Weg. »Ma’am?«, fragte er.
Sie drehte sich um, schaute ihn an und fauchte, als hätte sie sich verbrüht.
Ihre Hand kam aus der tiefen Tasche ihres Bademantels hervor und umfasste ein 20 Zentimeter langes Tranchiermesser. Ohne zu zögern ging sie auf Hansel los, ging ihm direkt an die Kehle.
Hansel duckte sich und packte ihren Arm, bevor sie eine Chance hatte, ihr Manöver zu wiederholen. Sie schrie und kämpfte, aber er brachte sie aus dem Gleichgewicht und stellte ihr ein Bein. Sie ließ das Messer fallen und griff ihn weiterhin an.
»Ich brauche hier Hilfe!«, rief er, als sie ihn kratzte und nach ihm trat.
Zwei Polizisten rannten aus einem Büro unten am Korridor herbei und packten die Frau, zogen sie von Hansel fort und warfen sie auf den Boden. Sie landete mit einem dumpfen Aufschlag, rollte sich herum und stellte sich auf alle viere, wie ein Hund, der zubeißen wollte. Ihr Bademantel war weit geöffnet, ihre käsigen, weißen Brüste waren zu sehen. Ihre Zähne waren zusammengebissen, ein Speichelfaden hing an ihrem Kinn, ihre schwarzen, schielenden Augen huschten von Mann zu Mann.
»Okay, Lady«, sagte Hansel. »Ganz ruhig, wir wollen Ihnen nicht wehtun.«
Sie fauchte und zog die Luft durch ihre Zähne ein. Ihr Gesicht war verzerrt, sie wirkte völlig verstört, und es war offensichtlich, dass sie beruhigt werden musste. Die Frau hatte etwas augenfällig Böses an sich – Hansel war sich sicher, dass sie ihre Zähne in seine Kehle rammen würde, wenn sie die Chance dazu erhielt.
Einer der Polizisten nahm Pfefferspray heraus und sie griff ihn sofort an. Er kam nicht dazu, mit dem Finger auf den Sprühknopf zu drücken.
Er war ein großer Kerl, wog locker 50 Kilo mehr als sie, dennoch schlug sie mit einer solchen Kraft zu, dass er gerade einmal dazu kam kurz aufzuschreien, als sie sich auf ihn warf und ihn umhaute. Sein Partner umfasste ihren Hals mit einem Polizeigriff, doch jetzt erwachte die Frau als eine bewegliche, sich krümmende Masse zu neuem Leben. Ihr Kopf peitschte von einer Seite zur anderen, Speichel spritzte ihr aus dem Mund. Sie sprang in seinem Griff hoch, trat mit beiden Füßen um sich und erwischte ihn an den Schienbeinen, während ihre zersplitterten Fingernägel seine Arme aufrissen. Der Polizist ließ sie keuchend los. Jetzt packte sie seinen Arm und biss hinein. Er schrie laut und jaulend auf und Hansel sah das Blut an der Stelle herausströmen, an der ihr Mund an seinem Arm hing.
Dann ging sie auf Hansel los.
Ihre Zähne schnappten, ihr Kinn war rot verschmiert. Sie griff ihn an und er holte die Pistole hervor und erwischte sie mit dem Kolben direkt zwischen den Augen. Der Einschlag warf sie zurück, sie drehte sich in einem verrückten Kreis herum, fauchte und kreischte und brach dann einfach bewusstlos zusammen.
»Du heilige Scheiße«, sagte Hansel.
Der Cop mit dem zerbissenen Arm ließ sich von seinem Partner auf die Erste-Hilfe-Station bringen und Hansel blieb mit der bewusstlosen Frau allein. Sie atmete schwer, ihr Bademantel hing nur noch um ihre Hüfte herum, die Beine waren weit gespreizt. Hansel verschnaufte, holte seine Handschellen hervor und kniete neben ihr nieder. Eines ihrer Augen war geöffnet und starrte ihn mit einem metallenen Schimmern an; das andere war geschlossen. Er griff nach ihrem linken Arm, dessen Fleisch sich heiß und glitschig anfühlte. Er legte eine Handschelle an und als er dabei war, die zweite anzulegen, tauchte Moreland auf.
»Oh mein Gott«, sagte Moreland.
Hansel setzte die Frau auf, legte ihr die andere Handschelle an und atmete leichter, als es erledigt war. Er konnte das Gefühl nicht ertragen, sie in seinen Händen zu halten. Ihr Fleisch war fiebrig und feucht. Er schaute auf das offene Auge hinunter – es erinnerte ihn an das Auge einer Urwaldschlange, matt und räuberisch.
»Sie wollte geradewegs zu deinem Büro, Bob«, sagte er. »Sie hatte ein Messer.«
Moreland starrte nur stumm.
»Du siehst besser zu, dass du die Versammlung zusammenrufst, Bob«, hauchte Hansel. »Wir brauchen Leute da drin. Der Bürgermeister kann den Gouverneur anrufen, denke ich. Wir brauchen Gremien. Die Nationalgarde und vielleicht die Seuchenschutzbehörde von Atlanta. Wenn das so weitergeht, haben wir heute Nacht eine verdammte Revolution. Hörst du mich, Bob? Wir müssen hier den Ausnahmezustand ausrufen.«
Das kam aus Ray Hansels Mund geschossen, obwohl er wusste, dass nichts davon im Entferntesten brauchbar war. Kniescheibenreflex, das war es. Der ganze Bundesstaat drehte durch, der Gouverneur würde einen feuchten Dreck auf das verdammte Greenlawn geben.
Aber Moreland nahm nichts von dem wahr, was Hansel sagte. Er starrte weiterhin auf die Frau, die am Boden lag.
Hansel gefiel nicht, was er ihn Morelands Augen erkannte: »Bob … Bob, kennst du sie?«
Moreland nickte langsam. »Ja … ich kenne sie. Sie ist meine Frau …«
Hansel schluckte.
Und dann begann im Untergeschoss das Geschrei.