33
»Hör mir zu, Dick«, sagte Louis zu dem schlammbeschmierten Mann mit der Axt, der einmal Dick Starling gewesen war. »Hör mir genau zu, Dick. Wir sind seit Jahren befreundet, du und ich. Nimm bitte einfach die Axt runter, okay?«
»Befreundet?«, fragte Dick, als ob er versuchte, einen Sinn in diesem Wort zu erkennen.
»Ja, Dick. Wir sind Freunde. Ich vertraue dir und du vertraust mir.«
Dick warf seinen Kopf wie ein verwirrtes Tier in den Nacken und grunzte. Ein tiefer Kehllaut, der völlig nervtötend war. Mit Schlamm und Blut verdreckt und mit trockenen Blättern und Ästen, die an ihm klebten, sah er wie ein urzeitlicher Wilder aus.
»Dick? Verstehst du?«
Dick Starling stand regungslos da, Dunkelheit erfasste seine Augen und es sah aus, als wollten sie wie Tränen herausströmen. Sein Mund war zu einem verzerrten Grinsen verformt. Er atmete sehr schnell, seine Brust senkte sich auf und ab. Er schaute von Macy zu Louis und konnte sich scheinbar nicht entscheiden, was er machen wollte.
Aber er dachte nach.
Man konnte die primitive Maschinerie seines Verstandes beinahe surren hören. Und Louis dachte, dass es ein sehr simpler Verstand war, den Dick Starling nun besaß. Alles, was Dick zu Dick machte, war verschwunden. Was auch immer dieses Gehirn antrieb, scherte sich nicht um die NFL oder um Bademode-Kalender oder Basketballkader oder Sportwetten. Es hatte das Interesse an dem 66er Camaro verloren, der in der Garage unter der Plane stand, den der alte Dick wie ein Baby behandelt hatte, ewig putzte und polierte und frisierte und ihn nur für Oldtimershows herausholte. Derartige Dinge bedeuteten dem neuen und veränderten Dick Starling gar nichts. Sogar seine Frau und seine beiden Töchter waren ihm scheißegal.
Das alles war durch viel simplere Notwendigkeiten ersetzt worden … jagen, töten, ficken, essen. Vielleicht hatte Earl Gould recht.
Alle da draußen … Tiere … sie entwickeln sich zu Tieren zurück, werfen ihr Joch der Intelligenz und Zivilisation ab, kehren in den Dschungel zurück und alleine der Stärkere wird überleben …
»Dick.« Louis’ Stimme klang sehr ruhig, obwohl sein Herz versuchte, ein Loch in seine Brust zu hämmern. »Dick … hör mir zu. Es ist wichtig, dass du hörst, was ich sage.«
Aber Dick dachte scheinbar, dass es absolut nicht wichtig war.
Was nun wichtig war, Freunde und Nachbarn, war diese hübsche blühende Fotze zu bekommen, sie zu vergewaltigen, ihr dann vielleicht die Kehle aufzuschlitzen und das warme Blut in den Mund laufen zu lassen, weil das der älteste Orgasmus der Welt war; der Geruch und der Geschmack und das Gefühl von Blut. Nur Spießer-Arsch Louis Shears wusste das scheinbar nicht, weil … na ja, weil er noch immer auf altmodische und unbedeutende Dinge wie Moral und Ethik und Kultur Wert legte.
»Louis«, sagte Dick schließlich und es schien, als kostete es ihn wirklich Mühe zusammenhängend zu reden. Er schüttelte den Kopf und leckte die Lippen. »Louis, verdammt noch mal, versau es nicht! Ich nehme diese Schlampe mit … du kannst entweder mitkommen … oder du bleibst hier. Was meinst du, alter Kumpel?«
Louis hatte Angst.
Zur Hölle, ja. Man beobachtet seinen besten Freund, wie er sich direkt vor einem in einen Werwolf verwandelt. Denn die Verwandlung war tatsächlich so vollkommen, so vollständig. Dick war ein sabberndes, zotteliges Monster, das hungrig auf Eroberung und auf Fleisch war. Alles, was ihm die Zivilisation, seine Eltern und die Umwelt als akzeptables Verhalten beigebracht hatten, war direkt aus dem Fenster geschmissen worden. Was noch übrig blieb und die Kontrolle über ihn ausübte, war etwas viel Älteres, etwas Atavistisches und Fundamentales, etwas aus der Dämmerung der Menschheit.
»Dick, du rührst das Mädchen nicht an! Ich kann es nicht zulassen. Ich glaube, tief in dir weißt du das. Versuch einfach zu denken, Dick. Versuch vernünftig zu sein, okay? Du warst immer ein guter Mensch und ich glaube, dass etwas von dieser Güte noch immer in dir steckt.«
»Fick dich, Louis!«
Louis blieb beharrlich. »Tu es nicht, Dick.«
Drohe ihm nicht, warnte Louis sich selbst. Er ist nur ein Tier. Wenn du dich ihm gegenüber territorial aufführst, wird er mit dir kämpfen müssen. Er wird keine Wahl haben. Wenn du ihn in eine Ecke drängst, greift er dich an.
Dies war ein ziemlich guter Rat, aber Louis vermutete, dass Dick fest in einem Aggressionsmodus eingeschlossen war und so oder so angreifen würde. Das Problem war, dass man keine Angst erkennen lassen durfte und zur gleichen Zeit durfte man auch nicht zu bedrohlich erscheinen. Man musste Dick wie einen tollwütigen Hund behandeln, nichts weiter.
»Wo ist Nancy, Dick? Wo ist deine Frau? Wo sind die Mädchen?«, fragte Louis und hoffte, dass es für Dick wie ein Schlag ins Gesicht sein würde.
»Nancy … Nancy ist tot. Ich habe sie umgebracht, Louis. Sie hat nicht verstanden, wie es ist. Sie hat dagegen angekämpft. Sie hat nicht gesehen, wie … rein die Dinge jetzt sind. Also habe ich die Axt genommen und die Schlampe fertiggemacht.«
»Louis …«, sagte Macy.
Er konnte nicht riskieren, Dick nur für eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Er war kein Kämpfer. Er war keiner von der gewalttätigen Sorte. Aber tief drinnen war er ein Mann wie jeder andere und wenn es darauf ankam, würde er kämpfen, um das Seine zu beschützen. Er würde Macy nicht Dick Starling opfern. Er konnte es nicht und er würde es nicht zulassen.
»Geh mir aus dem Weg, Louis!«
»Das kann ich nicht, Dick. Du weißt, dass ich das nicht kann.« Er schüttelte den Kopf. »Komm schon, Dick. Denk nach, versuch nachzudenken …«
»Ich will nicht denken! Ich hasse denken!«
»… bitte, Dick, versuch’s einfach. Irgendetwas geht in dieser Stadt vor. Eine Krankheit hat die Leute erwischt und sie hat dich auch erwischt. Sie bringt dich dazu, schlimme Dinge tun.«
»Ja, du hast recht, Louis … und ich habe mich noch nie, nie zuvor so lebendig gefühlt.«
Genug geredet und beide wussten es.
Louis würde leichter ein Bügelbrett davon überzeugen, es sei ein Türstopper, als Dick Starlings Meinung zu ändern. Louis bereitete sich auf den Angriff vor und Dick griff an. Er grunzte und schwang die Axt zweihändig und mit aller Kraft. Louis duckte sich. Die Klinge traf den Kühlschrank mit einem klirrenden Geräusch, drückte die Vorderseite vollständig ein und hinterließ einen 15 Zentimeter langen, tiefen Riss.
Macy kreischte und Louis schrie und Dick fauchte, während er erneut mit der Axt zuschlug. Die Klinge verfehlte Louis’ Brust nur knapp um einige Zentimeter. Aber der Rückschwung brachte Dick aus dem Gleichgewicht und Louis stürzte sich sofort auf ihn, packte den Stiel der Axt mit beiden Händen und kämpfte mit aller Kraft darum. Unter gewöhnlichen Umständen hätte es ein Unentschieden sein können. Louis war größer als Dick, aber Dick wog 30 Pfund mehr als er.
Aber es gab nichts Gewöhnliches an dieser Situation: Dick Starling war ein Tier voller animalischer Wut.
Louis strengte sich an und versuchte Dick aus dem Gleichgewicht zu bringen, aber Dick ließ es nicht zu. Als er es nicht schaffte, die Axt aus Louis’ Griff zu befreien, trat er und stampfte und kämpfte mit seiner ganzen wahnsinnigen Kraft. Und, lieber Gott, es stimmte, dass verrückte Leute stark sind. Louis umklammerte den Griff der Axt und Dick schwang sie immer noch, schwang sie und Louis durch die Luft und knallte ihn auf den Tisch. Dick war nur noch Irrsinn. Seine aufgerissenen Augen glänzten, Sabber schäumte an seinen Lippen herab und er roch nach Blut und vergammeltem Fleisch.
»Ich bringe dich um, Louis!«, brummte er beinahe knurrend. »Ich töte dich, verflucht noch mal, töte dich, töte dich …«
Louis hielt die Axt weiterhin fest, verpasste Dick ein paar kräftige Tritte gegen die Beine, die nichts bewirkten, außer ihn zur Weißglut zu treiben. Dick hob Louis noch weiter hoch und knallte ihn wieder herunter, und noch einmal. Louis wusste, er wusste es einfach, dass es keine verdammte Möglichkeit gab, dass er das hier gewann. Dick würde ihn müde machen, ihn umbringen und dann … und dann …
Und genau jetzt trat Macy hinter Dick hervor und schlug mit einer leeren Weinflasche auf ihn ein. Der Aufprall war heftig. Ein hohles, dröhnendes Geräusch ertönte und Dick erstarrte. Er sah vollkommen verwirrt aus. Nun schwang Macy die Flasche mit voller Wucht und zerschmetterte sie direkt auf Dicks Kopf. Grünes Glas sprühte durch die Luft.
Er brach auf der Stelle zusammen.
Benommen und verwirrt versuchte er am Boden zu Macy hinüberzukriechen, während er stöhnte und spuckte. Louis hüpfte vom Tisch herunter und trat ihm mit aller Kraft gegen die Schläfe. Dick verlor das Bewusstsein.
»Danke, Macy«, keuchte Louis und versuchte durchzuatmen.
»Er ist nicht tot, oder?«
Dick stöhnte. Nein, ganz und gar tot war er nicht.
»Wir unternehmen lieber etwas«, sagte sie.
Louis lächelte sie an. Die kleine Macy war kein unterwürfiges Mauerblümchen – nicht wenn sie sauer war. Es gab viele jugendliche Mädchen, die geschrien hätten oder weggerannt wären, aber nicht dieses Mädchen. Wenn man in einem Albtraum wie diesem gefangen war, dann war Macy das Mädchen, mit dem man darin gefangen sein wollte.
Louis bückte sich und packte Dicks Knöchel. »Öffne die Tür«, sagte er.
Macy zog die Hintertür auf und Louis zerrte Dick grunzend und keuchend aus der Küche. Es war keine leichte Aufgabe. Vielleicht sah so was im Fernsehen leicht aus, aber in Wirklichkeit war es eine harte, schweißtreibende Arbeit einen erwachsenen Mann fortzuzerren. Und Dick wog sein Gewicht.
Louis schaffte ihn bis zu den Stufen und ließ ihn hinunterrollen. Er hörte, wie Dicks Kopf auf die Stufen prallte, aber er fühlte keinen einzigen Anflug von Schuld. Mit Macys Hilfe zerrte er ihn über das Gras zur Garage. Es war nicht leicht, ihn durch die Tür zu bekommen, aber sie schafften es.
»Er wird uns später dafür danken«, keuchte Louis.
Er nahm Klebeband und rollte damit Dicks Handgelenke hinter dessen Rücken zusammen, und dafür verwendete er viel. Selbst ein Verrückter konnte das nicht auseinanderreißen. Dann nahm er eine Kette und legte sie um Dicks zusammengeklebte Handgelenke und wickelte sie um einen Stützbalken herum, der vom Boden bis zu den Dachsparren führte. Er brachte ein Vorhängeschloss an der Kette an und das war’s.
Macy starrte zu Dick hinunter. »Du hast gehört, was er gesagt hat, Louis. Über seine Frau. Über Nancy.«
»Ich habe es gehört.«
Louis hoffte, dass es nicht stimmte, aber er vermutete, dass es so war.
Nancy, um Himmels willen!
Sie war einer der nettesten Menschen, die man kennenlernen konnte. Als Michelle und er hierhergezogen waren, war sie als Erste der neuen Nachbarn an ihrer Tür erschienen. Sie hatte einen Weidenkorb mit einer Flasche Wein und einem Laib Brot darin mitgebracht. So ein Mensch war sie.
Draußen versuchte Louis Michelles Handynummer.
Nichts.
»Vielleicht ist sie noch auf der Arbeit.«
Louis atmete tief ein. »Sie hätte vor einer Stunde zu Hause sein sollen, selbst wenn sie länger gearbeitet hätte.«
Aber er rief trotzdem bei Farm Bureau an. Es konnte nicht schaden. Beim vierten Klingelzeichen ging jemand ran und das munterte Louis ein bisschen auf. »Hallo? Carol? Carol, sind Sie das?«
Carol war Michelles Chefin. »Wer ist da?«
»Louis. Louis Shears. «
»Was willst du? «
Louis fühlte sich jetzt nicht mehr aufgemuntert. Er konnte es an Carols Stimme hören: Den Wahnsinn. Er hatte sie noch nicht völlig gepackt, aber sie war nahe dran. Sie taumelte nur am Rand der Dunkelheit.
»Ist Michelle noch da?«
»Nein, sie ist nicht hier. Ich bin hier ...«
»Carol, wann ist sie gegangen?«
»Wen interessiert das? Was willst du überhaupt von ihr?« Er hörte ein schmatzendes Geräusch am anderen Ende, was sich anhörte, als würde Carol ihre Lippen ablecken. »Ich bin hier, Louis. Warum kommst du nicht runter. Ich warte auf dich.«
Louis legte auf. »Komm schon, Macy, lass uns hier verschwinden.«
Sie rannten zum Auto, aber Louis hatte das Gefühl, dass es längst zu spät war.