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Die Nacht brach jetzt schnell herein und Mr. Chalmers, der jetzt vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben mit dem, wer und was er war, zufrieden war, roch es in der Luft. Hunde heulten in der Ferne. Er hörte zu und schätzte anhand der Laute ein, wie fern sie noch waren und ob sie eine Gefahr für seinen Clan darstellten.
Er beobachtete seine Jäger am Feuer.
Sie arbeiteten hart in dem, was einmal sein Garten gewesen war, um anzuwenden, was er ihnen beigebracht hatte. Sie nutzten die geraden Äste junger Bäume und stellten Speere her. Nachdem sie die Äste abgeschabt hatten, wurden die Enden gespalten, damit die Klinge eines Messers hineingesteckt und festgebunden werden konnte. Jetzt brannten sie die Spitzen hart, wie er es ihnen auch gezeigt hatte. Chalmers selbst hatte diese Technik im Überlebenstraining in der Armee gelernt. Und obwohl vieles aus seinem früheren Leben inzwischen verschwommen, undeutlich oder absolut unverständlich war, erinnerte er sich daran.
Irgendwo, wahrscheinlich nur ein paar Straßen entfernt, erklang ein Chor aus furchteinflößendem Geschrei. Er stieg an und wurde wieder leiser, ertönte in einem rhythmischen Takt. Es waren keine Schreie der Qual oder der Angst, sondern Freudenschreie. Die Nacht brach herein und die Clans begeisterten sich für die Barbarei und Verheißung, die nur die Dunkelheit mit sich bringen konnte.
Chalmers war einmal verheiratet gewesen. Vor vielen, vielen Jahren. Seine Frau war gestorben und er hatte nie mehr geheiratet, war bis heute kinderlos geblieben. Aber er hatte sich immer Kinder gewünscht, hatte die elterlichen Sehnsüchte nach seinem eigenen Nachwuchs gefühlt. Und dann, mit Anfang 60, die Sehnsüchte nach Enkelkindern.
Jetzt war er zufrieden.
Jetzt hatte er Kinder.
Sie waren seine Jäger: eine linkische, ungleiche Gruppe, mit nackter, schmieriger Haut, dreckigen Gesichtern und schmutzigen Körpern, die mit erdigem Braun, metallischem Blau und blutigem Rot bemalt waren. Als er sie am Feuer beobachtete, sah er, dass sie Perlen, Federn und winzige Knochen in ihre Haare gefädelt und geknotet hatten. Mit ihren nackten, geschmeidigen Körpern und dieser rituellen Bemalung sahen sie wild aus.
Es war ein Dutzend. Der Jüngste war sechs und der Älteste zwölf.
Ihre Eltern hatten sie verlassen – weil sie dem Ruf der Wildnis folgten, der in ihnen aktiviert worden war, um frei herumzurennen – und Mr. Chalmers hatte die Kinder zu einem zusammenhängenden Ganzen versammelt. Und heute Nacht würde er sie gegen die anderen Clans anführen.
Mr. Chalmers trug noch immer seine geliebte Kaki-Hose, obwohl sie jetzt sehr dreckig war, und die Stiefel. Sein Hemd aber hatte er heruntergerissen und den Fuchsmantel seiner toten Frau angezogen, der mit Mottenkugeln im Gästezimmer aufbewahrt worden war. Er hatte die Ärmel abgeschnitten, damit alle die vielen Tätowierungen aus seiner Armeezeit auf seinen Armen sehen könnten. Obwohl er sie viele Jahre lang verdeckt hatte, die grauenvollen Erinnerungen an seine Tage im Vietnamkrieg, als er Aufklärungspatrouillen und Jagd-Killer-Teams tief ins feindliche Territorium geführt hatte, zeigte er sie jetzt. Sie waren Ehrenabzeichen, Symbole militärischer Blutriten, des Gefechts und des Tötens.
Die Kinder, sein Clan, respektierten ihn und wussten, dass er ihr Anführer war. Diejenigen, die gewagt hatten, das infrage zu stellen, hatte er verprügelt. Einen besonders arroganten 15-jährigen Jungen hatte er ermordet, dessen Kehle mit demselben Messer aufgeschlitzt, das er während des Krieges getragen hatte: ein KA-BAR-Kampfmesser mit einer 15 Zentimeter langen Karbonstahlklinge. Er trug jetzt die Ohren des Jungen mitsamt seinem Skalp an einer Kette um den Hals.
Die Schreie ertönten erneut.
Der Clan hüpfte um das Feuer herum, ahmte die Geräusche nach und quoll vor Jagdfieber über – bald würde der Raubzug gegen die anderen Stadtteile beginnen.
Während sein Blut heiß und süß köchelte, fühlte sich Chalmers noch weitaus mehr als Mann, als er sich damals vor vielen Jahren gefühlt hatte, als er im Hinterhalt am Ho-Chi- Minh-Pfad lauerte. Er hielt eine Plastiktube Kajal in seinen Händen. Er öffnete sie mit seinem KA-BAR-Messer und bedeckte seine Finger mit dem schwarzen Make-up. Vorsichtig, genau wie er es im Krieg getan hatte, malte er schwarze Tigerstreifen über sein Gesicht und schwärzte seine Brust und seine Arme.
Heute Nacht kehrte er nach so langer Zeit in den Dschungel zurück.