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Im Shore-Haushalt in der Tessler Avenue wachte Tante Una von ihrem Nickerchen auf und fühlte, wie die erdrückende Einsamkeit ihrer über 80 Jahre in ihr heraufstieg und dabei ihre Wohnung mit ihrer Beständigkeit erdrückte. Das Gewicht war etwas Physisches wie eine Grabsteinplatte, die ihre Wohnung erdrückte, sie festhielt und sie so fühlen ließ, wie die Jahre sie auffraßen und sie zu Staub dahinschwinden ließen.

Oh Gott, oh Gott.

Sie öffnete ihre Augen und realisierte, dass, ja, sie allein war und seit vielen, vielen Jahren allein gewesen war. Sicher, es gab ihre Nichte Phyllis und deren Ehemann Benny, die Kinder … aber das schien ein allzu spärlicher Trost zu sein. Denn ihr Leben, ihr eigenes Leben, war seit Jahren leer und kümmerlich und nur jetzt in dieser dünnen, verwirrten Aufwachphase erkannte sie die Wahrheit über ihr leeres, weggeschmissenes Leben. Sie arbeitete sich durch diese Gefühle hindurch und setzte ein Lächeln auf, erzwang jetzt ein Lachen und noch eins tief aus ihrer Brust, aber alles war gefälscht.

Künstlich.

Was ihr noch blieb, war nicht mehr als ein vergilbtes Foto in einem Sammelalbum, etwas, das in schmutziger Seide eingehüllt war. Ihr Leben war nicht real, nur ein Insektenpanzer auf einem Gehsteig, vertrocknet und abblätternd, der auf einen Stiefel wartete, der ihn zerquetschte, oder auf einen Windstoß, der ihn in eine Abflussrinne blies.

Die Realität war verschwunden und sie war es inzwischen schon sehr lange.

Charles war vor 16 Jahren gestorben und ihre gemeinsamen Kinder Barbara und Lucy wohnten weit entfernt und riefen selten an. Una konnte es ihnen nicht verdenken. Warum eine Mumie in einem Museum anrufen? Warum sie an ihre langsame Auflösung in einem Glaskasten erinnern, der mit Fingerabdrücken der Lebenden verschmiert war, die ihren Verfall beobachteten?

Nein, das alles war verschwunden und sie hatte sich viel zu lange etwas vorgemacht.

Sie setzte sich in ihrem Bett auf und die Pfefferminz- und Kampferdüfte des Einreibemittels stiegen um sie herum auf. Sie fing an zu zittern und zu keuchen, während sie sich an die feuchten Laken unter ihr klammerte. Oh lieber Gott, was mache ich? Warum habe ich so etwas zugelassen? Oh, du dumme, verblendete, verrückte, alte Hexe! Dringst in ihr Leben ein, bringst Phyllis dazu dich aufzunehmen, als du nirgends sonst unterkommen konntest! Du bist nichts als ein verdammter, aussaugender Parasit, der ihr Leben und ihre Lebensfreude schröpft … siehst du das nicht?

Oh, du solltest auf dem Stadtfriedhof liegen, direkt neben Charles, unter die Erde und die Würmer füttern und das Gras unter diesen großen, im Wind knarrenden Ulmen grün sprießen lassen! So sieht’s aus, so sieht’s doch aus!

Zumindest würdest du so etwas bewirken!

Während Tränen an ihrem Gesicht herunterliefen und das Alter sich durch sie hindurchfädelte wie Risse im Fundament eines antiken Hauses, schaffte sie es aufzustehen. Sie wusste nicht, warum sie so etwas dachte, aber es war erstaunlich, dass sie vorher nie daran gedacht hatte. Die Wahrheit war ein Spiegel, der keine Lügen erzählte. Nicht über Alter oder Lebenslage oder was wirklich aus dir geworden war oder was du aus dir werden lässt.

Sie ging zum Fenster hinüber und sah Greenlawn vor sich liegen … die Dächer und mächtigen Bäume, Fahnenmasten und Kirchenturmspitzen. Ja, alles in diesen Ort hineingebaut und -gestampft. Er war für Lebewesen vorgesehen, nicht für mumifizierte, alte Hexen auf einem Besenstiel wie sie. Sie sah flüchtig ihr Spiegelbild im Fensterglas und es wirkte, als schwebte ein Geist über der Stadt. Sie konnte die kriechende Trockenheit des Alters fühlen, die Feuchtigkeit des Grabes, die ihre Knochen zusammenschrumpfte. Und das Entsetzen vor dem, wer sie war und nie wieder sein würde.

Sie wankte zur Tür.

Sie konnte hören, wie unten Essen köchelte, wie Phyllis summte und die Kinder sich unterhielten und lachten. Echte, prächtige, lebendige Geräusche. Das waren nicht ihre Geräusche. Ihre Geräusche waren wie Regen auf Betongewölbe und Herbstblätter, die über Gruft-Türen geblasen wurden, über Spinnen, die Netze in rabenschwarzen Gräbern spannten, über tote Blumen und schwarzen Erdboden und salpeterhaltige Kästen, die sie im verrottenden Bauch der gesunden Erde festhielten.

Una lief den Gang zur Treppe hinunter, stand da und fühlte eine Stille in sich, die nie mehr von Lärm gestört werden würde. Es war alles, was sie hatte, diese begehrende und umfassende Stille, leer und sehnsüchtig und hohl. Der Klang von Friedhöfen und verlassenen Orten, lauschenden Kirchhöfen.

Die Stufen hinunter, dann eins, zwei, drei, vier …

Sie konnte das Abendessen riechen.

Sie hatte immer einen gesunden Appetit gehabt, aber jetzt war er verschwunden. Skelette waren nie hungrig und Vogelscheuchen brauchten kein Brot. Sie konnte die Schmerzen und Qualen und Starrheit eines Lebens spüren, das schon vor langer Zeit aufgehört hatte produktiv zu sein.

Sie schaffte es nach unten und auf einmal waren die Kinder still und Phyllis hörte auf zu summen. Sie hielten die Luft an, warteten, trieben mit einer alten Frau ihr Spiel, die in ihrem Herzen für Spiele nichts mehr übrig hatte.

Una lief durch das Wohnzimmer zur Küche. Es roch fleischig und stark und würzig.

Immer noch keine Geräusche.

Überhaupt keine Geräusche.

Sie kam in die Küche und sah sie im Esszimmer sitzen.

Phyllis. Stevie. Melody.

Sie waren nackt.

Und hatten Glatzen.

Sie hatten ihre Köpfe rasiert. Alle grinsten, ihre Kinne glänzten fettig. Eine Fleischfaser hing aus Melodys Mund heraus und sie saugte sie ein. Auf dem Tisch stand das Essen, das Phyllis gekocht hatte. Was sie gehackt, geschnitten, geschmort und gekocht und gebraten hatte, und es roch widerlich. Und der Anblick … nein, nein, nein, du alte Frau, du hast deinen Verstand verloren, das hier kannst du nicht sehen! Das kannst du nicht anschauen!

»Setz dich, Tantchen«, sagte Phyllis.

»Und iss«, sagte Melody.

»Es ist lecker«, sagte Stevie, während er etwas Blasses auf seinem Teller aufgabelte.

Una schüttelte den Kopf, als sich ein Schrei aus ihrer Kehle löste. Was von Benny Shore übrig war, war auf dem Tisch verteilt. Der Ernährer dieses Haushaltes, der sogar jetzt ernährte. Seine Glieder waren geröstet und seine inneren Organe geschmort worden, sein Blut war eine Suppe und seine Gedärme waren mit Marmelade gefüllt. Und dort auf der Servierplatte, umgeben von angebratenen Kartoffeln und Karotten, garniert mit Dill, lag sein Kopf, glasiert wie ein Schinken, sein schreiender Mund war mit einem Apfel gestopft.

»Setz … dich«, sagte Phyllis, während ihr der Sabber aus dem Mund lief und ihre funkelnden Augen sie mit einer fixierten Verrücktheit anstarrten.

Schreiend und geistesgestört setzte sich Una.

Dann waren die Kinder da, drängten sich heran, stopften fettiges und helles Fleisch in Una hinein, quetschten es mit ihren schmierigen Händen ihre Kehle hinunter, fütterten ihre Großmutter mit dem Fleisch und Blut ihres Vaters, während Phyllis sie festhielt. Sie leerten Schüsseln und Platten und Servierteller aus, kippten alles über Una, schütteten Suppe über ihren Kopf und schoben halb gares Fleisch in ihren Mund, bis sie nicht mehr atmen, nicht mehr schlucken, gar nichts mehr tun konnte, außer vom Stuhl zu fallen, zu würgen und zu würgen, während sie über ihr standen und grinsten.

Dann stürzten sie sich auf sie mit Messern und Zähnen.

Zerfleischt - Der ultimative Thriller
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