44
Macy schrie nicht.
Als sie sahen, was in der Polizeistation vorgefallen war, öffnete sie nicht ihren Mund und sie stieß nicht den Schrei aus, der sich ohne Zweifel in ihr bildete. Nicht so etwas Hollywoodmäßiges oder Dramatisches. Sie biss nicht einmal in ihre Faust, wie eine Jungfrau in Nöten in einem alten Film. Eigentlich tat sie gar nichts. Sie stand neben Louis und saugte die Gräueltat vor ihnen auf. Es sah so aus, als wäre ein wahnsinniger Krieg zwischen Menschen und Hunden ausgebrochen und sie schauten sich die Überbleibsel an. Aber eigentlich war es sogar schlimmer als das: als hätte ein gewaltiger Fleischwolf Hunde und Menschen eingesogen, die Polizeistation mit Fleisch und blutigem Schleim, der an diesen Wänden herunterlief, gefüllt und das bis auf den Gehsteig gespuckt.
Louis stand neben Macy, ihm war nur schlecht, er war schockiert und entsetzt. Ein oder zwei verstümmelte Leichen an einem Unfallort waren schlimm genug. Man war dann aufgebracht, aber man vermochte es zumindest zu verarbeiten. Zwei Autos fuhren ineinander, zwei Autos wurden zertrümmert, die Fahrer wurden zermatscht. Aber so etwas? Wie betrachtet man so ein Gemetzel und was stellt der Anblick mit einem an? Der Mannschaftsraum der Polizeistation war das reinste Grauen, einzig Leichen von Menschen und Hunden, die alle ineinander gewickelt, zerrissen und ausgeweidet waren. Der Boden war ein Fluss aus geronnenem Abfall, wie etwas, das aus der Grube eines Schlachthauses geschaufelt worden sein könnte.
Macy öffnete ihren Mund und sagte etwas vollkommen Unverständliches. Aber Louis verstand es. Er verstand es gut. Etwas in ihr drinnen, etwas Gutes und Wichtiges und Menschliches, war freigelegt worden und sie blutete innerlich aus einem Dutzend Schnittwunden. Er nahm ihre Hand und führte sie von diesem schrecklichen Ort weg, während der raue, warme Geruch des Todes einfach abscheulich war.
Es wurde schlimmer. Stunde um Stunde.
Und er konnte nicht aufhören, Earl Goulds Stimme in seinem Kopf zu hören: Alle da draußen … Tiere … sie entwickeln sich zu Tieren zurück, werfen ihr Joch der Intelligenz und Zivilisation ab, kehren in den Dschungel zurück und alleine der Stärkere wird überleben …«
Gott.
Das erklärte die Regression der Menschen zu Wilden hier und auf der ganzen Welt … doch was war mit diesen Hunden? Hunde konnten natürlich sehr wild sein, ihr instinktives Verhalten wurde nur durch Zucht und durch die Disziplin ihrer Besitzer unter Kontrolle gehalten … aber was war mit diesen Hunden? Demnach zu urteilen, was er sah, hatten sie sich auch zurückentwickelt und wurden weniger zu gezähmten Hunden und eher zu Wölfen, zu wilden blutrünstigen Wölfen.
Besaßen auch sie das Gen? Die Hunde? Oder war es nicht so einfach? Er dachte, dass die Regression der Menschen mehr als nur psychologisch war. Vielleicht wuchsen ihnen keine Klauen und sie wurden nicht zu haarigen Ur-Menschen wie in den alten Filmen, aber die Aktivierung dieses Gens … es musste die biochemischen Veränderungen im menschlichen Tier auslösen. Und wenn die Chemie unterschiedlich war, mehr basisch als animalisch, dann würden sich die körperlichen Sekrete offensichtlich auch ändern. Vielleicht war es eine chemische Signatur, die die Hunde rochen, irgendein Duft, der ein aggressives Verhalten in ihnen auslöste.
Louis vermutete, dass er es wohl nie wirklich wissen würde.
Draußen stiegen sie über Leichen und Hunde und dann ging Louis hinunter in die Knie und übergab sich. Oh, es hatte sich schon eine Weile angebahnt und als es dann da war, traf es ihn so hart wie ein heftiger Tritt in den Bauch. Auf seiner Stirn brach kalter Schweiß aus und die Welt drehte sich um ihre eigene Achse und nun fiel er um, seine Knie schlugen heftig auf dem Beton auf und seine Hände prallten hart genug auf, dass sie wehtaten. Was sich in seinem Magen befand, kam in einem warmen, beinahe befriedigenden Schwall heraus, als ob er Giftstoffe oder schlechtes Fleisch aus seinem Körper ausleeren würde. Er hatte keine Ahnung, was er zuletzt gegessen hatte, aber da war es nun, verspritzt auf dem Gehsteig.
Schließlich hörte das Würgen auf und endlich schoss ihm das Blut wieder in seinen Kopf. »Macy«, sagte er. »Macy …«
Sie stand da und es berührte sie nicht, was er gerade getan hatte und was sie um sie herum sah. Ihre Augen waren aufgerissen und mit Tränen gefüllt. Sie blinzelten. Ihre Brust hob und senkte sich, als sie atmete. Sie hatte ihre Hände zu Fäusten geballt. Ihr Mund stand offen. Aber ansonsten war sie einfach fort. Sie hatte zu viel gesehen, zu viel absorbiert und irgendetwas in ihr drinnen hatte einfach scheiß drauf gesagt und abgeschaltet.
Louis streckte die Hand aus und griff nach ihrem linken Knöchel. »Macy? Süße, bist du okay?«
Aber sie antwortete nicht.
Sie hatte einen Schock oder so was, dachte er.
Er zog sich hoch und legte seine Hände auf ihre Schultern. »Macy?«, fragte er mit einer sehr tröstenden Stimme. »Hör mir jetzt zu. Ich weiß, dass es schlimm ist, aber du kannst dich davon jetzt nicht verrückt machen lassen. Du musst dagegen ankämpfen.«
Aber sie hatte genug vom Kämpfen.
Louis legte ihre Hand in seine – sie fühlte sich kalt, feucht und schlaff an. Sie ging vielleicht fünf Meter mit ihm mit, dann stöhnte sie und klappte zusammen. Sie fiel gegen ihn und er fing sie auf, was gut war, weil sie sich sonst ihren Kopf auf dem Gehsteig hätte aufschlagen können. Sie fiel in ihn hinein, wackelig und schlaff, und er nahm sie sofort in seine Arme. Sie war ein kleines Mädchen, aber er war erstaunt, wie schrecklich leicht sie war. Er trug sie auf den Rasen, weg von dem ausgebreiteten Tod um sie herum, und setzte sie vorsichtig ab. Sie atmete und ihr Puls war kräftig. Nur der Schock. Nur die Nerven. Nur ein durchschnittlicher Ohnmachtsanfall und wer verdiente einen mehr?
»Alles wird gut«, sagte er. »Alles wird gut.«
Obwohl ihm die Vorstellung nicht gefiel, dass sie sich in der Main Street draußen aufhielten und wehrlos waren, wusste er, dass manches einfach getan werden musste. Dinge, die er vielleicht Stunden vorher hätte tun sollen.
Er holte sein Handy heraus und wählte 911.
Es klingelte und klingelte … aber es kam keine Antwort.
Keine Antwort.
Das bedeutete, dass der Notfallservice ausgefallen war und warum zur Hölle sollte er das nicht? Er hob Macy hoch und trug sie zum Dodge hinüber, während er sich fragte, wie das wohl alles von oben aussah. Die Leichen und die Hunde und irgendein verrückter Kerl, der eine Jugendliche in seinen Armen trug. Oh Gott, wie auf einem Taschenbuchcover oder einem Filmposter. Alles, was fehlte, waren brennende Gebäude hinter ihm und ein paar herumrollende, rauchende Büsche, vielleicht ein paar zertrümmerte Autos.
Während Macy sich an ihn lehnte, öffnete er den Dodge und setzte sie hinein. Ihr Gesicht war mit Schweiß bedeckt. Ihre Augenlider flimmerten ein paarmal, aber sie wachte nicht auf. Er schnallte sie mit dem Gurt an und schloss die Tür.