62
Als Macy zu sich kam, vielleicht eine oder zwei Stunden später, hing sie mitten in der Luft etwa einen Meter über dem dunklen Teppich des Altars. Ihre Handgelenke waren mit einem Hanfseil gefesselt, das über ihr festgebunden war. Sie hing da, während das Seil wie heißer Draht in ihr Fleisch schnitt, sich scheinbar enger und enger schnürte und dabei ihre Durchblutung stoppte. Ihre Arme fühlten sich taub an, aber ihre Schultern – die die Hauptlast ihres Gewichts aushielten – brannten mit einem dumpfen, regelmäßigen Pochen.
Aber der Schmerz schien weit entfernt.
Sie befand sich in ihrem Bau.
Sie waren überall, kauerten in der verrauchten Finsternis und bewegten sich wie urzeitliche Schatten im dunklen Nebel. Die einzigen Lichter, die brannten, kamen von den Kerzen, die eine flackernde, ungleichmäßige Beleuchtung abgaben, die sich an den Wolken des langsam bewegenden Rauchs in der Luft spiegelte. Sie hatten ein Feuer gemacht, nachdem sie Bankreihen zu Kleinholz zerschmetterten. Über ein Dutzend von ihnen kauerte drum herum, Männer, Frauen, ein paar dreckige, nackte Kinder. Eine alte Frau, ebenfalls nackt, mit schrecklich hängenden Brüsten, die mit wunden Stellen übersät waren, warf Blätter und Kräuter ins Feuer, während sie leise etwas sang.
Macy konnte nicht verstehen, was es war. Aber die anderen antworteten mit schroffem, heiserem Stöhnen, das ganz und gar nicht menschlich klang, eher wie das leise, brummende Knurren von Wölfen oder Hunden. Ab und zu ließ eines der Kinder ein Jaulen ertönen, das sie an Hyänen erinnerte, die sich um einen Kadaver stritten.
Der Rauch brannte in ihren Augen, legte eine schmierige Schicht über ihr nacktes Fleisch. Sie konnte kaum die Gegenstände erkennen, die über den Boden verteilt waren – sie wirkten wie Knochen oder Felle, vielleicht ein paar kieferlose Schädel, die herumlagen. Sie konnte sie nicht deutlich sehen, aber sie konnte sie riechen. Den Tod an ihnen riechen, den Talg und das Blut der Haut riechen.
Ihr erster Instinkt war zu schreien, sich zu drehen und gegen die Seile zu kämpfen, um Hilfe zu rufen. Aber das hatte sie zuvor bereits getan und sie kannte die Sinnlosigkeit solcher Dinge sehr gut. Manchmal, manchmal war es besser, keine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, wenn man als Fleisch in der Höhle eines Bären aufgebahrt hing.
Sie sah, dass drei andere Frauen und ein Mann vor dem Altar zusammen angebunden hockten. Eine der Frauen schaute mit schockierten, ängstlichen Augen zu ihr hoch. Und das bedeutete, dass sie nicht wie sie war, kein Tier. Normal. Macy hatte Mitleid mit ihr, aber daran konnte man nichts ändern.
Das hier war keine Kirche mehr, das sah Macy. Es war kein geheiligter Ort, sondern der verrottete, dreckige Bau von verdorbenen Gestalten wie Höhlenbewohnern und Kannibalen, die wandelnde Pestilenz aus einer vergessenen Zeit.
Und als sie das realisierte, begriff, dass diese Leute nicht verrückt waren, kein Haufen Durchgeknallter, der einen draufmachte, sondern urzeitliche und animalische Gestalten, eine Regression der Spezies aus Fleisch und Blut, da spürte sie Angst. Denn eine Dunkelheit hatte die Welt eingenommen und die, die in ihr jagten, suchten nicht das Licht. Es gab Gründe, warum sie gerne in den Schatten schabten. Die Kirche war jetzt eine Höhle, ein Bau, ein Versteck. Diese Gestalten da draußen waren keine Männer und Frauen mehr, sie waren einfach … Tiere.
Gott existierte hier nicht. Dies war nicht sein Haus. Das war jetzt ein Ort heidnischer Sünden. Das bewies die Frauenleiche am Kreuz. Und Macy zweifelte nicht daran, dass mit der Regression der Menschheitserinnerung dieser Ort mit primitiven Geistern erfüllt worden war … längst vergessene finstere Götter der Fruchtbarkeit und der Opfergabe. Und möglicherweise, nur eventuell, wenn sie ihren Verstand abschaltete und ihn auf seinem tiefsten Level vor sich hin summen ließe, würde sie sie sehen; kriechende, zottelige Gestalten aus der unklaren Vergangenheit, die nach Opfergaben verlangten, nach dem Fleisch und Blut der Gläubigen, Sühne in ihrer reinsten Form: So gebe mir deinen Erstgeborenen, weil mir sein Fleisch gefallen würde.
Sie schaute sich um, blinzelte. Die Haupteingangstüren standen offen, die Brise der Nacht saugte den Rauch heraus. Sie konnte sie sehen, die Wilden, wie sie aus der Nacht hereinkamen und etwas hinter sich her zogen – ein Mann brachte ein nacktes Mädchen an einem Seil. Ein Pärchen vögelte auf einem Haufen blutiger Tierhäute. Eine alte Frau zupfte Dinge von den Kinderskalps und aß sofort, was sie fand. Ein Mann schärfte einen Knochen zu einer Ahle. Eine Jugendliche ritzte mit einer Rasierklinge Muster in ihre Haut, während ein anderes Mädchen ihr Gesicht mit dem Blut eines Hundekadavers anmalte und ein Junge das Fell mit einem Messer abzog. Andere krochen am Boden entlang, zupften an Knochen und Müll herum, ritzten Symbole in die Steine, nagten an Fleisch und Innereinen, leckten ihre Finger ab, fummelten an sich selbst herum und schnaubten in die Schatten.
Herrgott!
War die Menschheit aus so etwas entstanden?
Hat die Spezies deshalb so hart für die Zivilisation gekämpft, für Ordnung, hat sie deshalb eine Kirche angenommen, die brutal gegen das Heidentum vorging und strenge Gesetze erließ, um jeden zu bestrafen, der sich … unzivilisiert benahm? Sie glaubte das. Darum fühlten sich die Leute durch Kannibalismus, Kopfjagd und durch Ritualmord so attackiert – ja, es war natürlich etwas Kulturelles, ein Tabu. Und es war tabu, weil genau das in der menschlichen Vergangenheit geiferte. Der Mensch hatte sich endlich davon befreit, hatte es ausgemerzt, war davon entsetzt. Denn jeder sadistische Mord, jeder kannibalische Akt war eine Erinnerung an unsere Vergangenheit, an unsere Entstehung und dorthin wieder zurückzufallen, davor hatten wir Angst.
Aber wie war es passiert? Wie konnte die Dunkelheit der Vergangenheit zurückkehren? Wie hatte die düstere Erinnerung der Menschheit die zivilisierte Welt verschluckt und sie in diese Degeneration hineingetaucht?
Vielleicht ist die Regression in den Primitivismus einfach natürlich. So wie in Europas dunklem Zeitalter, das auf den Zusammenbruch des römischen Reiches folgte und bis zur Renaissance Dinge wie Kultur und Bildung verdrängte. Vielleicht ist das irgendwie vorherbestimmt. Vielleicht war die innere Bestie immer aktiver, als der Mensch dachte, viel näher an der Oberfläche als angenommen, mit gefletschten Zähnen und ausgefahrenen Krallen, zum Angriff bereit. Für die Bestie war es doch einfach, oder? Die Bestie mit ihren grundlegenden Bedürfnissen wie Fressen und Ficken, Jagen und Vermehren, nur vom einen auf den anderen Tag zu leben, um die simplen Triebe der Aggression, der Fortpflanzung und der instinktiven Begierde zu befriedigen.
Die Welt war zu einer Welt von Wilden geworden, von Stammeszugehörigen. Der Beginn eines neuen dunklen Zeitalters war eingeläutet worden. Als hätte die Menschheit die Nase von der Belastung der Zivilisation voll, von Fortschritt und Kultur und Gesetzen, von Habgier und Neid, von religiöser Intoleranz und politischer Korruption; sie wollte in eine Zeit zurückkehren, in der alle Menschen als vollkommen gleich angesehen wurden … in der man nur so erfolgreich wie seine letzte Jagd war, wie die Kinder, die man gebar, wie die Waffen, die man mit seinen eigenen zwei Händen herstellte. Ja, der Ruf der Wildnis. Ein atavistisches Verlangen in jedem Mann, in jeder Frau und in jedem Kind, zurückzukehren in ein Zeitalter der fundamentalen Schlichtheit, in dem das Feuer, das Fleisch röstete und die Höhle wärmte, auch die Welt erleuchtete.
Das Gesetz des Dschungels.
Das Überleben des Stärkeren.
Darwinismus in seiner einfachsten Form.
Das alles ging Macy durch den Kopf. Sie hatte immer intellektuelle Neigungen gehabt und war stolz darauf gewesen. Jeder dämliche Idiot konnte auf dem Spielfeld punkten und jedes Flittchen konnte auf und ab springen und jubeln, aber Denken, richtiges Denken, das war eine Gabe, die mentale Stärke, Disziplin und Energie erforderte. Und als sie das realisierte, realisierte, dass sie immer noch eine Intellektuelle war, wusste sie, dass sie nun absolut am Arsch war.
In dieser neuen Welt der Dunkelheit gab es keinen Platz für Denker.
Sie starrte vor sich hin, beobachtete sie. Man konnte nicht viel mehr tun. Der Rauch hatte sich etwas verzogen und sie wünschte, dass er es nicht getan hätte. Jetzt wurden Dinge sichtbar, die sie nicht anschauen wollte. Über dem Feuer, an einem Dreifuß von etwas, das wie Aluminiumzeltstangen aussah, die mit Isolierband an deren Spitzen gesichert wurden, hing die Leiche eines Jungen. Er wurde geräuchert und anhand des Geruchs – dieses widerlichen Gestanks von angeschwärztem Fleisch – kochte er schon eine Zeit lang.
Macy krümmte sich. Sie hatte Dinge gesehen, Dinge erlebt, war erniedrigt worden, geschlagen und missbraucht worden, aber das konnte sie nicht anschauen … ein Kind, das über dem Feuer räucherte.
Und was als Nächstes passierte, war weitaus schlimmer.
Ein Mann und eine Frau traten an das Feuer. Der Mann hielt ein Messer und die Frau einen Metalleimer in der Hand. Er stupste die Leiche des Jungen mit dem Messer an, ließ sie mit einer langsamen, grausigen Bewegung vor- und zurückschwingen. Das Fleisch des Jungen war stellenweise schwarz verkohlt, sein Bauch war pink-gelb aufgedunsen und glänzte wie der eines Spanferkels. Der Mann stieß das Messer in ihn hinein und heißer Saft floss ins Feuer und brutzelte. Mit dem Messer begann der Mann Fleischscheiben abzuschneiden, indem er sie absägte. Diese warf er in die Menge. Er hackte die Genitalien des Jungen ab und ließ sie in den Eimer fallen. Dann löste er das Fleisch von dem Bauch und der Brust, tranchierte es vorsichtig, bis es sich in einer einzigen Scheibe ablöste, die er mit einem Ruck abriss.
Die Wilden um ihn herum, deren Gesichter ölig und im Flackerschein dreckig schimmerten, konnten sich kaum beherrschen.
Mit einem kräftigen Hieb versenkte der Mann das Messer knapp unterhalb des Nabels und schlitzte den Jungen bis zur Kehle auf. Er schnitt den Magen, die Leber, die Nieren und die Gedärme heraus. Es dauerte eine Weile. Während er das tat, aßen die anderen, kauten auf dem Fleisch herum und schmierten sich ihre Gesichter mit Blut und Fett ein. Die Eingeweide wanderten in den Eimer. Mit dem Griff des Messers durchbrach er die Rippen des Jungen; er hämmerte und hämmerte, bis die Knochen nachgaben. Mit bloßen Händen riss er die Rippen auseinander und schleuderte sie beiseite. Er schnitt die Lunge durch, löste sie ab und schlitzte die Muskelmasse des Herzens weg. Auch die wanderte in den Eimer.
Die Brut der Wilden brüllte und kreischte vor Freunde.
Macy wollte nicht hinschauen, aber sie konnte nicht anders. Sie sah zu dem gefesselten Mann und den drei Frauen hinüber. Die eine Frau blickte wie zuvor zu ihr hinauf. Sie war wie die anderen geknebelt. Sie schrie nicht. Aber nach ihren großen, tränenfeuchten Augen zu urteilen, wollte sie.
Die Leiche des Jungen wurde losgeschnitten.
Der Mann warf sie auf den Boden. Mit einem Beil hackte er beide Beine ab, dann die Arme. Die Menge nahm sie an sich, kämpfte um sie, biss und kratzte sich gegenseitig. Den Kopf teilte er nicht. Der Mann hackte darauf herum, bis der Schädel zertrümmert war, und löste dann die Kopfhaut und Knochenscherben ab, indem er sie wie Krabbenbeine abbrach. Er schlitzte die Häutchen auf und legte das Gehirn frei. Etliche Frauen hatten sich jetzt um ihn herum versammelt und er teilte glücklich mit ihnen. Sie setzten sich in einen Halbkreis, tunkten ihre schorfigen Finger in den Schädel und schaufelten Gehirnbrocken heraus, die sie geradezu genießerisch kauten, sie zwischen ihren Lippen nuckelten und sie mit ihren Zähnen zu Brei zermalmten.
In der Zwischenzeit teilte die Frau mit dem Eimer die Eingeweide aus, die sie eilig auf Stöcke spießten und über den Flammen rösteten. Blut und Fett tropfte herunter und spritzte auf die Kohlen.
Macy sah, wie das Herz aufgespießt wurde, und schaute weg.
Sie musste sich übergeben – nicht so sehr wegen des Anblicks, sondern wegen des Gestanks. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie eine der Frauen die Innenseite des Schädels des Jungen sauber leckte, während der blutverschmierte Mann mit dem Messer eine ihrer Freundinnen brutal fickte.
Oh Gott, dieser Gestank.
Dann merkte Macy, dass jemand hinter ihr stand. Ihr BH wurde abgeschnitten, dann ihre Unterhose. Schwielige Finger packten ihre Arschbacken, schlugen sie und drückten mit stummelartigen, fetten Fingern darauf herum. Ein Mann. Es war ein Mann. Er presste sich an sie. Sie konnte seinen Ständer spüren, der sich zwischen ihren Beinen hindurchbohrte. Er leckte ihren Hals ab und schnaufte in ihr Ohr. Sein Atem stank wie eine faulige Wunde.
Er streckte seine Arme aus und schnitt die Fesseln an ihren Handgelenken durch. Sie fiel auf den Altar und machte sich bereit zu kämpfen. Er würde sie nun vergewaltigen, das wusste Macy. Aber sie würde es ihm nicht leicht machen. Er grinste sie an; seine Augen waren wie infizierte Verletzungen weit aufgerissen.
Er streckte seine verkrusteten, blutenden Hände nach ihr aus.