64
Während die Schlinge noch immer ihre Handgelenke fesselte, wurde Macy zum Fuß des Altars gezogen, wo die anderen Gefangenen gehütet wurden. Hier lagen der Mann und die anderen drei Frauen, die sie gesehen hatte. Alle wie Schweine angebunden, bereit für den Spieß. Sie wusste, dass noch andere in der Dunkelheit waren. Sie hörte sie schluchzen und weinen, aber sie konnte sie nicht sehen.
Der Mann, der sie hinübergebracht hatte, ließ sie zurück.
Sie war sich sicher gewesen, dass er sie vergewaltigen würde, aber die alte Frau am Feuer hatte ihm in einer rüden Sprache etwas zugerufen und er war zu ihr gegangen. Macy hatte er dann vergessen. Zumindest vorerst.
Der Gestank in der Kirche war unbeschreiblich. Unsauber und schlecht. Blut und Fleisch und Aas. Ein hochgradiger, heißer Gestank absoluter dunkler Fäulnis, wie der Bau von Geiern riechen musste. Und diese Gestalten, die sie gefangen hielten, waren nicht menschlicher als diese Vögel. Einfach Bestien. Kriechende, fleischfressende Bestien. Viele von ihnen saßen noch am Feuer, aßen von der Leiche des gerösteten Jungen. Er war stellenweise bis auf die Knochen abgenagt worden. Seine Rippen stachen heraus, glänzten und waren gut abgerupft. Sie konnte die Wirbelsäule an seiner Kehle erkennen.
Wie lange noch?
Wie lange noch, bevor sie mich so braten?
Der Gestank nach brennendem Fleisch war vermutlich der ekligste, den sie jemals gerochen hatte. Er widerte sie an und … faszinierte sie zugleich. Sie wusste nicht genau, warum. Nur dass er ihr irgendwie, auf irgendeine Art beinahe … vertraut war. Als hätte sie ihn vor langer Zeit in einem Traum gerochen. Und als sie das begriff, fragte sie sich, ob es nicht irgendeine verborgene Erinnerung vom Anbeginn der Menschheit war, die in ihr zum Leben erwachen wollte, die sich bei dem Geruch des gerösteten Jungen an irgendeine düstere, voller Knochen geschüttete Höhle aus der Vorzeit erinnerte.
Gott!
Die alte Frau mit den Hängebrüsten kam mit zwei Jungen herüber. Sie waren nackt, ihre Körper mit Asche geschwärzt. Die alte Frau trug nichts außer einer Art Halstuch, das aus Leinen oder vielleicht aus Haut hergestellt worden war. Mit ihren dreckigen Fingern deutete sie auf die Gefangenen, während sie etwas murmelte, das absolut unverständlich war. Die Jungen schienen aufgeregt zu sein. Sie krabbelten auf ihren Knien an den Gefangenen vorbei und stocherten mit ihren Fingern auf ihnen herum. Der gefesselte Mann nahm das nicht wahr. Die Frau, die mit schockierten Augen zu Macy hochgesehen hatte, schluchzte nur. Die anderen beiden Frauen keuchten.
Die alte Frau stampfte zweimal mit ihren Füßen auf.
Die Jungen banden eine der Frauen, die gekeucht hatten, los. Macy kannte sie irgendwoher. Sie war vielleicht 30 Jahre alt und hatte langes, rotes Haar. Eine verlebt aussehende Frau, wie die Art von Frauen, die mit ihrer Mutter draußen im Hair of the Dog an der Schnellstraße herumlungerten. Als sie sie vorsichtig losbanden, um ihre Handgelenke nicht zu befreien, kam Leben in sie: Sie kämpfte und trat um sich. Ein Mann kam mit einer langen Eisenstange hinzu und schlug sie drei-, viermal, bis ihr das Kämpfen vergangen war.
»Bitte«, jammerte sie und spuckte Blut. »Bitte … bitte, lasst mich einfach gehen …«
Sie hätte genauso gut versuchen können, einer Schlange das Zubeißen auszureden; es bewirkte genauso viel. Die Jungen zerrten sie an ihren Knöcheln davon, hievten sie auf den Altar und legten sie zu Füßen der grauenvollen Strohhexe, die ans Kreuz genagelt war. Die Kerzen, die der Hexe in die Augen und in den Mund gestopft worden waren, flackerten und tropften Wachs. Macy sah nun etwas, was sie bisher nicht gesehen hatte: Die Hexe sah wie ein Nadelkissen aus. Sie hatten Dinge in ihr Fleisch gesteckt. Messer, Spieße, Schraubenzieher. Das ließ die ausgeweidete, ausgestopfte Leiche nur noch perverser aussehen, noch viel heidnischer.
Die alte Frau geiferte etwas.
Einer der Jungen schnappte sich ein Steakmesser, das im Oberschenkel der Strohhexe steckte, und zog es heraus. Er schaute die Klinge andächtig fasziniert an, wie alle Jungen scheinbar Waffen ansehen, nur dass dies hier unendlich schlimmer war. Nicht aus eigentlicher Neugier, sondern beinahe mit einer religiösen Ehrfurcht. Er presste die Klinge an seine Lippen, kniete sich dann hin, riss den Kopf der Frau hoch und schlitzte augenblicklich ihre Kehle durch. Die Frau plumpste hin und würgte, während sie in ihrem eigenen Blut ertrank. Es dauerte nicht allzu lange. Das war der ganze Trick der Zeremonie … obwohl Macy wusste, dass sie ihre Kehle zu Füßen der Hexe nicht ohne Grund aufgeschlitzt hatten.
Es war rituell.
Es war ein Opfer.
Sie hatten sie der Hexe geopfert.
Der Junge steckte das Messer in den Oberschenkel zurück und dann fingen er und die anderen an, ihre Körper mit dem angesammelten Blut zu bemalen. Und als ihre Gesichter und Oberkörper rot schimmerten, malten sie ein merkwürdiges, kleines Symbol auf den zugenähten Bauch der Hexe.
Macy war natürlich angewidert, aber nicht geschockt, nicht wirklich. Sie hatte bis zu diesem Zeitpunkt so viel gesehen, dass sie über solch unbedeutende Dinge wie einen gewöhnlichen Schock längst hinaus war. Der intelligente Teil ihres Verstandes, der sich immer schwerer tat, gegen die Strömungen des Atavismus zu schwimmen, die versuchten, sie zu ertränken, wusste, dass er gerade ein urzeitliches Stammesritual miterlebt hatte, das seit der Vorzeit nicht mehr ausgeübt worden war.
Und vielleicht war Macy irgendwie davon fasziniert, aber die Frau neben ihr war es nicht.
Sie schrie.
Irgendwie hatte sie ihren Knebel ausgespukt und nun schrie sie wie eine Wahnsinnige. Macy flüsterte ihr immer wieder zu, dass sie verdammt noch mal die Schnauze halten sollte, aber es war zu spät. Der Mann und die Frau, die zuerst den Jungen geschlachtet hatten, kamen herbei. Zwei wilde und wahnsinnige Gestalten, die voller getrocknetem Blut waren. Sie flüsterten sich fauchend etwas zu. Sie banden die schreiende Frau los und zerrten sie ein Stück weiter weg. Der Mann hielt ihre Arme fest und drückte sie auf den Steinboden. Die Frau packte ihre Beine, spreizte sie, fasste ihre Oberschenkel an und riss sie auseinander, als wäre sie dabei, ein Kind zur Welt zu bringen.
Sie senkte ihren Kopf zwischen die Beine der Frau.
Will sie sie lecken?, fragte eine durchgeknallte, beinahe hysterische Stimme in Macys Kopf. Aber Macy wusste, dass, was auch immer passieren würde, nichts mit Leidenschaft zu tun haben würde, erzwungen oder nicht. Sie sah, wie die wilde Frau grinste. Ihre Zähne waren zu blutbefleckten Spitzen gefeilt worden.
Macy keuchte.
Die gefesselte Frau schrie erneut. Und Macy beobachtete es, obwohl sie wusste, dass sie hätte wegschauen sollen. Die wilde Frau öffnete ihren Mund und biss in das hinein, was zwischen den Beinen lag, biss mit einem klappernden Kiefer zu. Als ihr Opfer mit einer hohen, schrillen Stimme aufkreischte, zupfte und riss sie das, in was sie hineingebissen hatte, ab. Sie zerrte mit ihren Zähnen daran wie ein Hund, der versuchte ein Stück leckeres Fleisch von einem Knochen abzurupfen.
Die schreiende Frau wurde still und brach schlaff zusammen. Vielleicht war es ein Trauma. Macy hat es nie erfahren. Sie sah die wilde Frau. Ihr Gesicht glänzte rot, ein Fleischlappen hing an ihrem Mund.
Macy verlor das Bewusstsein.