72
Louis beobachtete die Dunkelheit außerhalb des Fensters. Er wusste, dass er so weit fort wie möglich hätte rennen sollen, bevor sie zurückkamen. Aber es war ihm scheinbar egal. Alles brach zusammen, innerlich und äußerlich, und er hatte seine Entschlossenheit verloren.
In seiner Fantasie konnte er Earl an diesem Nachmittag sehen, draußen an den Hecken: Wir sind die Instrumente unserer eigenen Vernichtung! Jeder von uns hat eine geladene Pistole in sich und die radikale Bevölkerungsexplosion hat den Abzug gedrückt. Möge Gott uns beistehen, Louis, aber wir werden uns selbst ausrotten! Bestien des Urwalds! Töten, schlachten, vergewaltigen, plündern! Ein unbewusster, genetischer Drang wird alles beseitigen, was wir erschaffen haben, die Zivilisation ausweiden, die Menschheit wie Vieh abschlachten, weil wir von dem primitiven Drängen überwältigt sind und die menschliche Erinnerung Amok läuft!
Damals hatte es verrückt geklungen; jetzt klang es einfach praktisch.
»Glaubst du noch immer an die Gen-Theorie?«
Earl vergrub das Gesicht in seinen Händen. »Ja, absolut. Lass mich hier etwas zum Darwinismus sagen, Louis. Falls das Überleben des Stärkeren der Wahrheit entspricht, dann ist das, was wir in jedem Einzelnen von uns eingesperrt haben, eine genetische Tendenz zum Jagen und Töten, zum Erlegen von Beute und zum Zerstören unserer menschlichen Rivalen. Ich rede von der Bestie in uns. Die Bestie, die eben der Kern von dem ist, wer und was wir sind. Genau das verursacht dies alles: die Bestie. Das anfängliche, gefräßige andere in uns allen, das Kind der Frühzeit, der Schattenjäger, die Grausamkeit und die Unmenschlichkeit, die den Rahmen des menschlichen Tieres bilden.«
»Die Bestie«, sagte Louis. »Ich habe sie gesehen. Ich habe ihr in die Augen gesehen.«
Earl nickte. »Ja, und was für ein verstörender Anblick, oder? Unsere Wurzeln, das sind Tiere, nichts als Tiere. Wir sind aus dem ewigen Schleim der Schöpfung mit dem Tötungswillen gekrabbelt und diesen Willen besitzen wir immer noch. Aufrecht gehende Tiere mit wilden Instinkten und einem Erbe von angeeigneten, barbarischen Eigenschaften. Wir können Gedichte schreiben und Musik machen, Städte errichten, Mikrocomputer herstellen und Sonden zum Mars schicken, aber in unserem Herzen, in unserem schwarzen, schlagenden, kleinen Herzen sind wir immer noch miozäne Affen und Steinzeit-Jäger. Liebe, Hass, Habgier, Begehren, Brutalität, Krieg. Liebe ist eine romantisierende Adaptierung des Fortpflanzungstriebes. Materialismus ist einfach ein Ausdruck des animalischen Instinktes, etwas zu begehren. Nationalismus, unser fahnenschwenkender Patriotismus, ist nichts weiter als der ur-animalische Trieb ein Territorium einzunehmen und zu verteidigen, und Krieg … ja, sogar Krieg, ist nichts als eine reine Übertreibung des territorialen Impulses anzugreifen, zu töten, anderen etwas wegzunehmen, um es selbst zu besitzen.«
Was Louis sich fragte, war: Was aktivierte dieses monströse Gen? Was setzte diese Regression, diese Ur-Erinnerung – oder wie man es auch immer nennen wollte – in Betrieb?
»Was aber war der Auslöser, Earl? Was war der Einfluss, der das alles freigesetzt hat und das so massenhaft? Einfach Überbevölkerung? Stress?«
»Wir werden es nie wirklich wissen, Louis. Nicht mehr, als es irgendein Herdentier wissen wird. Aber es ist in uns, mein Freund. Diese Triebe, dieser Sadismus, es ist angeboren und tief verwurzelt. Wir sind das Produkt unserer Vorfahren. Nicht mehr und nicht weniger. Warum bringen sich Leute gegenseitig um? Warum töten sie ihre eigenen Kinder? Ihre Nachbarn? Ihre Ehefrauen? Warum lassen sie Völkermord zu? Warum lynchen sich Menschen unterschiedlicher Hautfarbe? Warum hassen sie diejenigen, die mehr oder die weniger besitzen als sie, oder die, die anderen Religionen angehören? Die Bestie, Louis, die Bestie steckt in uns. Die Kommandos, in unsere Vorgeschichte zu versinken, in unsere wilde Frühzeit, sind in uns allen eingesperrt.
Wie oft hast du gelesen, dass jemand einen anderen umgebracht hat und man wusste nicht wirklich warum? Der Teufel hat mich geritten … aber wir alle tragen den Teufel in uns. Wegen unserer animalischen Vergangenheit, darum. Wir alle verbergen schreckliche Impulse, aber die meisten beherrschen sie. Doch ab und zu drehen ein paar von uns oder sogar ein Mob durch. Es ist unsere brutale Vererbung. Genau das siehst du hier: Die ganzen dreckigen, abscheulichen, und perversen Triebe, die in der Schattenseite dieser Welt, dieser Stadt, in ihrem kollektiven Unterbewusstsein wuchern, sind befreit worden. Die ganzen schrecklichen Wünsche, die in diesen Leuten faulen, sind freigelassen worden. Es war genetisch vorherbestimmt, vermute ich. Die Bedingungen haben gestimmt und es ist einfach passiert. Das ist keine Antwort. Nicht wirklich. Aber das Potenzial war da. Es war in jeder menschlichen Bevölkerung vorhanden, seit wir uns aus unbedeutenden Primaten entwickelt haben. Gott stehe uns bei, aber die Welt ist jetzt ein gewaltiges, lebendes Labor des Menschseins und der Gewalt, des Ur-Instinkts, der Säuberung und des Atavismus. Das Böse ist hier, Louis, und das Böse ist in uns. Den Teufel haben wir nach unserem Bild geschaffen.«
»Aber was ist mit den Tieren, Earl?«
»Tiere?«
Louis schluckte heftig, als er Earl von dem Polizeirevier erzählte. Von den Hunden dort. Wie sie gegen die Menschen gekämpft hatten oder mit ihnen.
»Hm, interessant.« Earl dachte darüber nach. »Na ja, dafür gibt es nur eine logische Erklärung. Hormone.«
»Hormone?«
Earl nickte. »Ja, Hormone, Pheromone. Man hat lange Zeit gedacht, dass Pheromone zum Gebiet der Insekten gehört haben. Falsch. Neueste biochemische Studien erzählen eine andere Geschichte. Alle Gattungen besitzen sie. Die meisten sind gattungsspezifisch, aber bestimmte Sorten können von anderen Gattungen gelesen werden. Es gibt Aggregationspheromone, deren Funktion es ist, Gattungen zur Verteidigung gegen Raubtiere oder zu Paarungszwecken zusammenzutreiben. Primer-Pheromone, die Verhaltensveränderungen als Reaktion auf die Umwelt auslösen. Releaser- oder Attractant-Pheromone, die Partner meilenweit anlocken. Territorial-Pheromone, die im Urin vorhanden sind, um die territorialen Grenzen oder Höhlen zu markieren oder um Eindringlinge abzuschrecken. Sexualhormone, die andeuten, dass das Weibchen paarungsbereit ist. Alle Arten von chemischen Signaturen. Und dann gibt es die Alarm-Pheromone, die eine Gattung darauf aufmerksam machen, wenn einer von ihnen angegriffen wird. Studien haben gezeigt, dass diese Pheromone in Säugetieren den Kampf- oder den Fluchtinstinkt auslösen. Sie machen Tiere ziemlich aggressiv. Ein harmloser Kater wird zu einer Bestie. Beutetiere werden tendenziell fliehen, Raubtiere werden üblicherweise kämpfen. Diese Primitiven da draußen – ein liebenswürdiges Wort für sie – müssen Alarm-Pheromone von absoluter Aggression abgesondert haben und die Hunde reagieren dementsprechend. Es ist etwas Chemisches. Die Hunde können nicht anders. Sie kämpfen. Wenn sie gegen einen gemeinsamen Feind gerichtet wurden, kämpfen sie mit unseren Primitiven. Andernfalls kämpfen sie gegen sie.«
Louis hasste Earl in diesem Moment. Er reduzierte den Menschen auf eine Laborratte. Vielleicht waren alle Gattungen genau das, ein Opfer ihrer eigenen Chemie, aber Louis hasste diese Vorstellung. Es war so … entmenschlichend.
»Die Regression, Earl. Kann man sie stoppen?«
Earl versuchte nicht einmal das zu beantworten. »Hast du jemals von einem Mann namens Raymond Dart gehört?«
Louis antwortete, dass er es nicht hatte.
»Raymond Dart war ein australischer Anthropologe und vergleichender Anatom. Ein echter Gigant auf dem Gebiet. 1924 hat er die fossilen Überreste des Australopithecus in einem südafrikanischen Kalksteinbruch entdeckt. Mit der Zeit hat er mehr Fossilien dieser ausgestorbenen Hominiden entdeckt, zusammen mit zahlreichen versteinerten Knochen, die zur Beute der Australopithecinen gehört haben. Er hat auch primitive Waffen entdeckt, wie etwa Knüppel, die aus Antilopenknochen hergestellt wurden, und Messer, aus Kieferknochen geformt, ebenso wie haufenweise animalische Knochen und Pavianschädel, die die Markierungen von Todesstößen mit genau diesen Waffen getragen haben. Genauso wie die Schädel anderer Australopithecinen. Der Beginn von organisiertem Mord, Louis! Eine Viertelmillion Jahre vor dem Menschen! Darüber hat Dart theoretisiert, dass wir nicht von einem sanften, vegetarischen Affen abstammen, wie es die etablierte Paläanthropologie wollte, sondern von einem wilden, räuberischen Affen mit einer Tötungslust. Man hat es die ›Killeraffen-Theorie‹ genannt. In seiner wissenschaftlichen Veröffentlichung The Predatory Transition from Man to Ape sagte er, dass es in der menschlichen Geschichte von den ältesten ägyptischen und sumerischen Aufzeichnungen bis zu den jüngsten Abscheulichkeiten des Zweiten Weltkrieges immer Kannibalismus, Kopfjagden, Körperverstümmelung und nekrophile Praktiken gab. Diese räuberische Angewohnheit, dieses Kainsmal, welches den Menschen diätisch von seinen anthropoiden Verwandten unterscheidet und ihn eher mit den gefährlichsten der Fleischfresser verbindet. Na, siehst du es nicht, Louis? Kapierst du es nicht?«
Louis war viel zu müde zum Nachdenken; weil das alles so schwierig war. »Wir haben uns aus einem Killeraffen entwickelt, schätze ich. Nicht dass mich das wirklich überrascht.«
»Ja, im Prinzip«, sagte Earl und war sehr aufgeregt, wieder einmal eine Vorlesung zu halten. »Die angeborene Verdorbenheit unserer Gattung stammt direkt vom Killeraffen. Zivilisation ist nur ein netter Deckmantel, denn da drunter sind wir mörderische Bestien. Wir sind territorial, aggressiv und mörderisch – gegenüber unsrer Gattung und jeder anderen. Darum führen wir Krieg, das ist die Grundlage von Massenmord, Serienmorden, Völkermord und unserer instinktiven Grausamkeit. Wir sind Killer. Hör mir zu, Louis! Dart hat weiterhin angedeutet, dass wir keine Intelligenz entwickelt hatten und uns dann dem Morden zuwendeten; wir haben erst Intelligenz entwickelt, als wir uns dem Morden zuwendeten. Irgendwann haben sich unsere Vorfahren von ihren nicht-aggressiven Cousins abgewendet. Diese frühen Hominiden sind dann wahrscheinlich aufgrund der Nahrungsknappheit und vermutlich aufgrund der Nachahmung von anderen Raubtieren räuberisch geworden. Wir haben gelernt, aufrecht zu stehen, um zu jagen, um unsere Beute zu verfolgen. Die Hände frei zu haben, um zu packen und zu zerreißen. Aber weil uns Zähne und Klauen gefehlt haben, haben wir Waffen entwickelt. Primitive Imitationen aus Knochen, Stein und Holz. Ah, so brachte der Waffengebrauch gewaltige Koordination mit sich, folglich sind unsere Nervensysteme gefordert und unsere Gehirne vergrößert worden. Die Entwicklung von Jagdtaktiken hat unser Gehirn noch weiter vergrößert. Wir sind heute Menschen, Louis, weil unsere Vorfahren Killer waren. Wie Robert Ardrey in African Genesis gesagt hat, der Mensch hat nicht die Waffe erzeugt, die Waffe erzeugte den Menschen.«
Earl sagte, dass die ›Killeraffen-Theorie‹ sehr umstritten sei. Viele Anthropologen lehnten sie ab, vermutlich, weil sie ihre konservativen, blutleeren Theorien so ziemlich in die Tonne trat, wo sie auch hingehörten. Aber jetzt gäbe es keinen Grund mehr daran zu zweifeln. Denn da draußen, in den Straßen, liefen die Killeraffen Amok.
»Der Teufel ist sozusagen aus unseren Chromosomen auferstanden, Louis. Wie bestimmte Krankheiten und Krebsarten, die von Natur aus erblich sind, ist der genetische Impuls zur Regression unaufhaltsam. Dagegen anzukämpfen ist wie gegen deine Augenfarbe anzukämpfen. Sie ist vorprogrammiert und absolut unveränderlich.«
Louis seufzte. »Aber wieso hat sich Macy zurückentwickelt und ist wieder normal geworden? Warum du? Warum bin ich noch nicht zu einem Urvieh geworden?«
»Wer weiß das schon, Louis? Das Gen könnte irgendwann aus deinem Familienstamm herausgezüchtet worden sein. Es könnte Tausende wie dich geben oder nur eine Handvoll. Was mich und das Mädchen angeht … ich fürchte, dass die Rückkehr der Vernunft nur vorübergehend ist. Eine Art Remission, wenn du so willst.«
Darauf konnte Louis nichts erwidern. Es war verrückt und haarsträubend, aber vermutlich war es auch wahr. Und das verstörte am meisten. Zu denken, dass alles, wofür der Mensch gekämpft hatte und was er erreicht hatte, jetzt von einem primitiven Gen, von biochemischen Reaktionen tief in mikroskopisch kleinen Zellen zerstört wurde. Das war unheimlich.
»Ich habe Angst um die Menschheit, Louis. Schreckliche, große Angst. Denn was ist, wenn diese Regression andauert?«, grübelte Earl. »Was wird innerhalb eines Jahres passieren? Werden wir weiter absinken? Diese Leute da draußen, sie besitzen noch immer die Fähigkeit zu sprechen und logisch zu denken. Aber ich schätze, dass sie rapide vom Homo sapiens zum Homo errectus übergehen. Das ist natürlich nur eine Vermutung. Aber wie werden wir in fünf oder zehn Jahren sein? Wird unsere Kultur vollständig vergessen sein? Werden wir zu Australopithecinen, zu Gruppen von Jägern zerfallen? Werden wir Werkzeuge aus Tierknochen machen, mit der wiedererwachten Mordlust unserer Vorfahren herumwandern, während unsere Städte langsam in Schutt und Asche und zu Erinnerungen zerfallen?«
»Ich weiß es nicht, Earl. Ich kann nicht mehr denken.«
Earl schüttelte den Kopf. »Die Griechen nennen so was Hybris, Louis?«
»Hybris?«
»Ja, Hybris. Wenn der Mensch seinen Kopf zu hoch hält, er seine Leistungen und Bestrebungen zu einem gottähnlichen Level anhebt, werden die Götter bedroht. Und weil sie bedroht werden, werden sie entsprechend reagieren, indem sie ihn zerstören. Und wir – alle von uns – haben uns wie Götter benommen, oder? Wir töten uns gegenseitig, führen Krieg, vergewaltigen den Planeten, rotten andere Gattungen aus, vernichten alles, was uns im Weg steht … ja, die Vorsehung Gottes ist nicht die Menschheit. Und jetzt weist uns die Natur oder Gott oder woran du sonst glaubst in die Schranken. Wenn das kein Karma ist, dann weiß ich auch nicht.«
Louis war nach Heulen zumute, weil er sich an der Schwelle zum Weltuntergang befand – am düsteren Marmorgrab der Zivilisation und Menschheit. Herrgott, das ist der absolute Horror!
Earl seufzte. »Ich habe Kopfschmerzen. Oh Herr, habe ich Kopfschmerzen. Ich muss mal das Badezimmer benutzen, Louis. Ich muss mir das Gesicht waschen. Und pinkeln. Ja, in eine Toilette pinkeln wie ein Mensch und nicht gegen einen Baum, um meine Fährte zu markieren.«
Er stand auf, ging aus dem Wohnzimmer und kam dann zurück. »Du warst ein guter Nachbar, Louis. Der allerbeste. Ich habe immer schon gedacht, dass du etwas Besonderes bist, und jetzt weiß ich es.«
Aber Louis schüttelte den Kopf. »Das bin ich nicht. Ich bin nichts Besonderes.«
»Doch, das bist du wohl«, sagte der alte Mann. »Du bist nicht durchgedreht wie der Rest von uns. Nicht einmal für einen Moment. Es war nicht in der Lage dich zu schnappen und das macht dich zu etwas Besonderem, Louis. Zu etwas sehr Besonderem. Du könntest der letzte der vernünftigen Menschen sein. Eine Gattung, die sich dem Aussterben nähert. Der letzte Mensch, der andere Menschen erforscht, anstatt sie zu töten. Was für eine Verschwendung! Die Natur des Menschen ist es, die Natur des Menschen zu erforschen, habe ich immer gedacht. Aber ich hatte unrecht. Die Natur des Menschen ist es zu töten. Der territoriale Imperativ, Louis.«
»Ich weiß nicht, was du meinst, Earl. Ich verstehe es nicht.«
»Erlernte Reaktion, kultureller Instinkt, mein Freund. Diese Dinge bilden die Grundlage des Verhaltens jeder Kreatur. Man muss einem beibringen, einen Papierflieger zu bauen, aber keiner muss einem zeigen, wie man eine Waffe herstellt. Du weißt schon. Es ist instinktiv. Genau wie die Mordlust.
»Sie bauen Waffen, Earl … Speere, Keulen, alles Mögliche. Und weißt du was? Sie funktionieren. Ich hätte gedacht, dass es eine gewisse Kunst ist, einen Speer herzustellen, der geworfen werden kann und sogar sein Ziel trifft. Das ist mit Technik verbunden. Man kann kaum glauben, dass diese Wilden das so schnell durchschauen konnten.«
»Das mussten sie nicht, Louis. Sie wussten es instinktiv.« Earl gab ihm ein kleines Beispiel: »In Frankreich im Rhone-Tal bauten Biber jahrhundertelang ihre Dämme und Bauten, bis zur Antike, genauso, wie es Biber überall taten. Aber dann wurden die Biber aufgrund des Aufkommens des europäischen Fellhandels beinahe bis zum Aussterben gejagt. Nur ein paar blieben übrig. Mehrere Jahrhunderte lang keine Dämme, keine Bauten. Dann weitete die französische Regierung den Schutz für eine kleine Biberpopulation im Rhone-Tal aus. Ihre Anzahl wuchs über die Jahrzehnte. Dann begannen die Biber zum ersten Mal in mehreren Hundert Jahren Dämme und Bauten in Nebenflüssen der Rhone zu bauen. Dämme und Bauten bauen erfordert eine sehr komplexe Gemeinschaftsleistung … dennoch musste keiner den Bibern beibringen, wie es ging – sie wussten es. Und diese Dämme in der Rhone waren vollkommen identisch mit denen, die von den amerikanischen und kanadischen Bibern gebaut wurden. Kultureller Instinkt bei der Arbeit.
Und was unsere Freunde da draußen angeht, Louis, niemand muss ihnen beibringen, was ihre Vorfahren gewusst haben. Es ist die Erinnerung der Menschheit. Sie wissen, wie man überlebt. Wie man tötet, Waffen herstellt, einen Kadaver ausweidet und enthäutet. Kultureller Instinkt.«
Während Earl im Bad verschwand, fand Louis Mike Sonderbergs Waffenschrank. Er zerbrach das Glas mit seinem Hammer und sortierte die Waffen im Mondschein. Er selbst war kein wirklicher Schütze, also schnappte er sich eine Waffe, mit der er vertraut war. Eine Kammerverschluss-Winchester-Federgewicht .30-06. Sein Vater hatte so eine besessen. Er hatte damit als Junge sehr oft geschossen. Er lud das Magazin mit Springfield-Patronen und stopfte noch mehrere davon in seine Taschen.
»Wir sehen lieber zu, dass wir hier wegkommen, Earl«, sagte er, als der alte Mann zurückkam.
»Wohin?«
»Erst mal einfach raus hier.«
Sie gingen zusammen auf die Veranda. In den Straßen war es ruhig. Aber sofort überfiel Louis in der Magengegend ein ungutes Gefühl und es reagierte nicht auf so unbedeutende Dinge wie Vernunft oder Logik. Das war ein Ur-Gefühl. Es spürte den bevorstehenden Untergang.
»Ich glaube, wir sind hier draußen nicht alleine«, sagte Earl.
In den Hecken bewegte sich etwas. Louis zögerte nicht einmal: Er nahm sein Gewehr, zog den Bolzen zurück und schoss. Außer dem Echo seines Schusses tat sich nichts. Keine Bewegung.
»Lass uns von hier verschwinden«, sagte er.
Louis hielt das Gewehr hoch und führte Earl auf den Gehsteig. Er wusste, dass es nicht sicher war, im Haus zu bleiben, und hier draußen war es auch nicht sicherer. Sie befanden sich in der Nähe und er konnte sie riechen: der Gestank von öligen Tierhäuten und nassen Hunden.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite regte sich etwas. Louis zögerte noch. Hinter einem geparkten Auto bewegte sich etwas. Er schoss und traf die Windschutzscheibe.
Earl drehte sich zu ihm um, machte den Mund auf, um etwas zu sagen … aber dann grunzte er nur und stolperte nach vorne. Ein angespitzter Lanzenschaft ragte aus seinem Rücken. Sein Mund füllte sich mit Blut. Er stieß ein gluckerndes Geräusch aus und ging in die Knie.
Louis feuerte einen weiteren Schuss ab.
Er hörte ein Zischen.
Er drehte sich um, machte sich schussbereit und dann sah er nur noch Sternchen. Das Gewehr fiel aus seiner Hand. Als er die Augen öffnete, lag er flach auf dem Rücken auf dem Gehsteig. Er hörte Earl röcheln. Aber das beachtete er nicht. Denn jemand stand über ihm. Er roch nach Urin, nach Fleisch und nach Scheiße.
Zuerst dachte er, dass es ein Monster ist. Irgendein schrecklicher, laufender Kadaver, der sich seinen Weg aus einem schlammigen Grab freigekämpft hatte. Aber das war es nicht. Es war eine Frau … oder etwas Ähnliches, mit riesigen Brüsten und einer Axt in ihrer Hand. Ihr Fleisch war verklebt, voller Klumpen, ganz blass und glänzte. Da wusste er, dass sie sich mit schleimigem, weißem Ton oder vielleicht mit Asche eingerieben hatte. Sie hatte sich damit angemalt und ihre Haare geglättet, wodurch sie wie ein blutloses Gespenst aussah. Hellrote, diagonale Streifen an Mund und Augen betonten dies. Er konnte ihre gelben Zähne sehen, die scharf gespitzt worden waren, und ihre leuchtenden Augäpfel. Sie trug eine Halskette aus Fell – bald merkte er, dass es sich dabei um vielleicht ein Dutzend menschlicher Skalps handelte, die zu einem Kleidungsstück genäht worden waren.
Der Gestank von ihr.
Absolut widerlich.
Er versuchte sich zu bewegen, aber ihm war schwindelig. Zwei andere Frauen – jünger, dünner, mit Brüsten wie kleine Zapfen – traten aus der Dunkelheit hervor. Auch sie hatten sich mit geisterhafter, weißer Asche beschmiert. Die eine trug eine Steinschleuder; sie hatte offenbar den Stein gegen Louis’ Kopf geschleudert. Die andere ging zu Earl hinüber, stellte ihren Fuß auf die Mitte seines Rückens und zog den Speer heraus. Earl schrie und sie stach ihm dreimal in den Hals.
Ich bin der Nächste … sie werden mich als Nächstes umbringen.
Genau das dachte Louis, als er am Rande der Bewusstlosigkeit schwebte. Sie versammelten sich um ihn herum zum Töten. Die ältere Frau hockte sich neben ihn und fuhr mit ihren Händen an ihm entlang. Als eine der jüngeren Mädchen an seinem Schritt herumfummelte, schlug sie ihre Hand weg und zischte wie eine Schlange.
»Meiner«, sagte sie. »Meiner …«