Werte:
Was mir wichtig ist

Bei Fragen der persönlichen Orientierung, wie sie in beruflichen Veränderungsprozessen aufgeworfen werden, ist die Beschäftigung mit den eigenen Werten nicht nur sehr hilfreich, sondern absolut unverzichtbar. Um die eingangs gestellten Fragen »Wer bin ich?«, »Wohin soll ich gehen?« zu beantworten, muss ich mir über meine eigenen Werte klar sein. Ohne bewusste Werteanalyse gehen Sie wie von einem Autopiloten gesteuert durch Ihr Leben. Dieser Autopilot funktioniert im Allgemeinen ganz gut für eine bestimmte Zeit. Doch dann führt er uns in die Irre. Ganz so wie ein Navigationssystem, das nicht die neueste Software aufgespielt hat. Erstellen Sie also ein Update für Ihre Werte!
Werte sind Teil der menschlichen Psyche und damit Teil der Kräfte, die uns lenken und Energie geben. Die Werteanalyse ist in der Karriereorientierung vor allem aufschlussreich, weil sie uns wichtige Anhaltspunkte hinsichtlich unserer beruflichen Motivation gibt. Werte bestimmen das »Wollen«, das, was uns wichtig ist. Unser »Können« bestimmen wir durch die Kompetenzanalyse. »Wollen« und »Können« müssen Hand in Hand gehen, damit wir im Berufsleben erfüllt sind.
Es gibt selbstverständlich immer mehrere Werte im Leben eines Menschen, die aktiv sind, man spricht auch von einem Wertesystem. Jeder Einzelne verfügt über ein solches eigenes Wertesystem, wobei uns die einzelnen Werte in der Regel nicht bewusst sind. Erst wenn wir sie untersuchen, können wir gezielt zur Orientierung auf sie zugreifen. Häufig werden uns Werte erst bewusst, wenn sie verletzt werden. Bei Christina, der Sozialmanagerin, war gerade auch als lesbische Frau schon immer der Wert »Fairness« ausgeprägt. Es war für sie selbstverständlich, fair gegenüber Menschen aller Ethnien und sexuellen Präferenzen zu sein. Fairness war sozusagen das Wasser, in dem sie schwamm, und erschien ihr nicht weiter der Rede wert, ganz normal eben. Aber als dieser Wert bei ihrem Arbeitgeber in Bezug auf Leistungsgerechtigkeit aus ihrer Sicht so eklatant verletzt wurde, kam Christina zu Bewusstsein, dass sie eher gehen würde, als so etwas auszuhalten. Gibt es auch bei Ihnen einen bestehenden Wert, der durch eine Veränderung in Ihrem beruflichen Umfeld verletzt wurde? Und ist es vielleicht diese Werteverletzung, auf die Ihr Wunsch, etwas zu verändern, zurückgeht?
Nicht immer ist das Umfeld Auslöser von Wertekonflikten. Werte verändern sich nämlich auch über die Zeit unserer Lebensspanne. Sie entwickeln sich zwar nicht von heute auf morgen, jedoch haben sich Ihre Werteprioritäten in dem Zeitraum von Ihrem ersten Jobantritt bis heute mit Sicherheit verändert. So kann es auch ein Wertewandel gewesen sein, der Ihre heutige Unzufriedenheit bedingt. Nicht Ihr Umfeld hat sich verändert, sondern Sie haben sich verändert. So ging es einer Klientin von mir, die in einer Werbeagentur arbeitete. Bis zu ihrem 35. Lebensjahr waren die Hektik, der Leistungsdruck und die allgegenwärtigen Intrigen für sie noch »part of the game« gewesen in einem ansonsten spannenden Beruf. Jetzt, als sie sich ihrem 40. Geburtstag näherte, bemerkte sie eine zunehmende Ermüdung bei sich. Außerdem, so sinnierte sie, biete die Agenturwelt wenige Vorbilder dafür, wie man würdevoll älter werde. »Entweder man ist dann Vorstand oder macht sich zunehmend lächerlich, weil man zum alten Eisen gehört, oder man geht eben raus.« Die Klientin war aus dem Wertesystem der Agenturwelt schlichtweg herausgewachsen.
Typisch für ein Wertesystem ist auch, dass es nicht einheitlich sein muss. Manche Werte stehen sich sogar als Pole gegenüber, zum Beispiel »Freiheit« und »Zugehörigkeit«. Werte bilden das gesamte Spektrum der menschlichen »conditio humana«, des menschlichen Lebens, ab. Ein typischer Konflikt im Wertesystem besteht in der heutigen Zeit häufig zwischen Leistungswerten in der Berufswelt und dem Wert, eine Familie zu gründen und Zeit für sie zu haben. Dieser Wertekonflikt ist besonders für Frauen, die Karriere und Familie vereinbaren wollen, nicht einfach zu lösen. Aber auch die Männer der Generationen, die wir Generation X13 und Y nennen, also die 25- bis 45-Jährigen, leiden zunehmend unter der Spaltung des Wertesystems, das die Berufswelt von ihnen verlangt. Einen solchen Wertekonflikt zeigt die Biografie von Thomas, der sich in seiner aktuellen Lebensphase als »Family-Man« identifiziert und diesen Wert zum Anlass für seinen Berufswechsel macht. Und auch für Christina, die Powerfrau im Sozialmanagement, veränderte die Ankunft ihrer Pflegekinder »fast alles«. Bei Christina, die sich in Übereinstimmung mit ihrer Partnerin als Ernährerin der Familie definiert, führte dies dazu, dass sie sich zeitweise im Job »mehr reinhängte«.
Die Wertearbeit in der Karriereorientierung nenne ich häufig »die Stunde der Wahrheit«. Klienten müssen sich an dieser Stelle nicht selten fragen, welchen Preis sie bereit sind für ihre Werte zu zahlen – entweder dafür, dass sie bestimmten Werten treu bleiben wollen oder dass neue Werte Raum in ihrem Leben bekommen sollen. Es ist eine Sache, sich über die Zwänge in einem Konzern zu beschweren. Aber es ist eine andere Sache, in eine schlechter bezahlte Stelle einer kleineren Firma oder die unsichere Freiberuflichkeit zu wechseln und damit den in vieler Hinsicht doch goldenen Käfig zu verlassen.
In der Biografie von Thomas können Sie die klaren Schritte sehen, die der erfolgreiche Serienschauspieler unternommen hat, um seinem Wert des »Familienlebens« und der »Wahrhaftigkeit« treu zu sein. In Übereinstimmung mit unseren Werten zu leben, macht uns zufrieden und trägt zu unserer Gesundheit bei. Wer weiß, warum er etwas aufgibt, wird dies viel klarer und mit Überzeugung tun als derjenige, der nur mit einem vagen Gefühl der Unzufriedenheit auf der gleichen Stelle verharrt oder sich zögernd auf den Weg macht.
Weil Werte so eine enorme Bedeutung für unser Wohlbefinden haben, sind sie auch gesellschaftlich, in Unternehmen und beim Thema Führung seit einigen Jahren en vogue. Ob es die Diskussion der Kardinaltugenden und Werte im Business ist, das »Führen nach St. Benedikt« oder der Ruf nach einer Begrenzung der Erreichbarkeit während der Arbeitszeit als Teil der Burnoutprävention: Noch nie wurde so viel über Wertefragen diskutiert wie heute.
Sicher ist Ihnen schon einmal die Bezeichnung »shared values« begegnet. Darunter versteht man die gemeinsamen, kollektiven, geteilten Werte einer Gemeinschaft, die dieser Sinn und Orientierung bieten. Diese sind Teil der Unternehmenskultur. Insbesondere in Veränderungsprozessen in Unternehmen – beispielsweise bei einem Generationenwechsel oder wenn sich Geschäftspartner in unterschiedliche Richtungen entwickeln – spielen die vorhandenen Werte eine entscheidende Rolle. Manchmal wird ein Wechsel zu neuen Werten direkt gefordert, weil die Zeit »reif« ist. Andererseits kann ein neuer CEO einen neuen »Wind« in einen Konzern bringen, der einen großen Einschnitt bedeutet, falls er gegen die persönlichen Werte des Einzelnen oder gegen Gruppen weht. Mit den Werten der Mitarbeiter und Gruppierungen der gesamten Organisation zu arbeiten ist dann umso sinnvoller, wenn nicht sogar notwendig.
Werte
  • Werte repräsentieren Vorstellungen richtiger, sinnvoller Lebensprinzipien und anzustrebender Lebensumstände in allen Lebensbereichen.
  • Sie sind über längere Lebenszeitspannen beziehungsweise -phasen relativ konstant und entwickeln sich mit der Veränderung der Lebensbedingungen innerhalb der persönlichen Entwicklungsabschnitte.
  • Werte unterscheiden sich hinsichtlich Wichtigkeit, es besteht eine Wertehierarchie – auch diese verändert sich über die Zeit.
  • Werte beeinflussen alle Lebensbereiche, Entscheidungen und Handlungen direkt – egal ob das bewusst geschieht oder unbewusst.
  • Damit die eigenen Werte in ihrem Leben erfüllt sind, investieren Menschen Zeit, Kraft und Ressourcen.
  • Es stellt sich ein Gefühl des Mangels, der Beeinträchtigung ein, wenn Werte nicht erfüllt oder nicht erfüllbar sind. Das kann mitunter zu Frustration führen.
  • Die Motivation für ein Ziel ist umso höher, wenn es mit persönlichen Werten verbunden ist.
  • Solange man sich seiner Werte nicht bewusst ist, sind strategische Entscheidungsprozesse, egal ob beruflicher oder privater Natur, von Unsicherheit geprägt.
Etliche Konflikte, die Klienten zu mir kommen lassen, sind im Kern Wertekonflikte. Daher ist die Wertearbeit von so zentraler Bedeutung und neben der Kompetenzanalyse eine zentrale Auswertungsdimension der KAIROS-Methodik oder anderer Formen des Karrierecoachings.

Werte erkennen

Nun zu Ihnen. Anlass für Ihre Arbeit mit diesem Buch ist eine konkrete Frage, die sich Ihnen für Ihren beruflichen Weg stellt und die Sie beantworten möchten. Es kann auch eine Entscheidung sein, die Sie treffen müssen. Oder Sie tragen ganz allgemein den Wunsch nach einer Veränderung in sich. Im Coaching stellt die Identifikation der eigenen Werte einen wesentlichen Schritt zu mehr Selbstbewusstheit und Selbsterkenntnis dar. Dazu habe ich ein spezielles Werteinterview entwickelt,14 das Sie mit den Fragen in Übung 9 durchlaufen können. Dabei werden Faktoren sichtbar, die in Vergangenheit und Gegenwart die eigene Wahrnehmung und somit Entscheidungsprozesse wesentlich beeinflusst haben. Insofern werden Sie Ihre Werte natürlich auch in den Szenen Ihres KAIROS-Datencharts wiederfinden. Sich Entscheidungssituationen im Leben anzuschauen, ist eine der Methoden, wie Sie Ihre Werte explorieren können (siehe Übung 9). Jedoch können Sie Ihre Wertearbeit im ersten Schritt auch frei, das heißt ohne Ihr Datenchart durchführen. Sie folgen dann einfach den Fragen des Werteinterviews und notieren Ihre eigenen Antworten.
Viele Coachs und Karriereberater arbeiten mit vorgegebenen Wertelisten zur Auswahl. Ich tue dies nicht. Die Kraft der Wertearbeit entfaltet sich nach meiner Erfahrung und der Erfahrung meiner Kollegen gerade daraus, dass Klienten die Werte aus der eigenen Biografie, aus dem eigenen Erleben heraus formulieren. Zwar werden dann auch Werte benannt, die auf herkömmlichen Wertelisten zu finden sind, zum Beispiel »Harmonie« oder »Gelassenheit«. Aber der Prozess, diese Werte zunächst in eigener Sprache selbst zu formulieren, macht nach meiner Erfahrung einen entscheidenden Unterschied, wie kraftvoll Sie sich mit Ihren eigenen Werten verbinden. In der Übung zu essenziellen Werten gebe ich Ihnen dennoch eine Auswahl an die Hand. Und Sie können am Ende des Kapitels auch die zentralen Werte unserer Protagonisten Stefanie, Christina und Thomas nachlesen.
Zu Beginn Ihres eigenen Werteprozesses gebe ich Ihnen auch kurz einen Überblick über die folgenden Übungen. Sie müssen nicht alle Vertiefungsschritte machen. Manchmal ergeben sich auch direkt zwei Schritte in einem. Bei einem Face-to-Face-Coaching würde der Coach den Prozess steuern. Mit einem Überblick über alle Schritte können Sie dies selbst tun.
  • Werte explorieren
  • Werte einordnen und vervollständigen
  • Werte vertiefen – essenzielle Werte finden
  • Erstellen einer Wertehierarchie
  • Werteerfüllung visualisieren mit dem Werterad
Das Ziel der Wertearbeit im KAIROS-Biografie-Coaching ist, dass Sie am Ende ein gutes Gefühl für Ihr gesamtes Wertesystem haben (Übung 9 »Werte explorieren«), dies vollständig alle Lebensbereiche abdeckt (Zuordnen und Vervollständigen der Werte) sowie dass Sie die zentralen, wichtigen Werte kennen (Werte vertiefen – essenzielle Werte) und ausgewählt haben (Erstellen einer Wertehierarchie). Außerdem sollten Sie wissen, welche Werte derzeit so wenig erfüllt sind, dass ein Handlungsbedarf in Bezug auf Ihren Beruf besteht. Daher lege ich Ihnen die Übung 13 »Werteerfüllung visualisieren mit dem Werterad« ganz besonders ans Herz. Es ist auch möglich, nach dem ersten Schritt der Werteexploration intuitiv die zehn wichtigsten Werte auszuwählen und sofort an die Werterad-Übung zu gehen. Schauen Sie, was für Sie am besten funktioniert.
Am Ende einer oder mehrerer Werteübungen sollen Sie einen genauen Überblick darüber haben, was Ihnen wichtig ist und was Sie in Ihrem beruflichen Umfeld ändern müssen, damit Sie sich selbst treu werden oder bleiben.
Übung 9: Werte explorieren
Ich rufe Ihnen noch einmal die Kurzdefinitionen von Werten in Erinnerung: »Werte repräsentieren Vorstellungen richtiger, sinnvoller Lebensprinzipien und anzustrebender Lebensumstände in allen Lebensbereichen.« Wird gegen unsere Werte verstoßen, »stellt sich ein Gefühl des Mangels, der Beeinträchtigung ein«. Hingegen sind wir motiviert, »Zeit, Kraft und Ressourcen zu investieren, damit unsere Werte im Leben erfüllt sind«.
Für die Exploration von Werten ist also im Grunde nicht so wichtig, inwieweit diese derzeit in Ihrem Leben bereits erfüllt sind. Manchmal äußern Klienten: »Na ja, Harmonie im Team und meine eigene Gelassenheit sind mir schon wichtig, aber das brauchen Sie gar nicht aufzuschreiben, das ist ja derzeit überhaupt nicht der Fall.« Falsch! Gerade deshalb sollten Sie es aufschreiben!
Was Sie brauchen:
  • Ausreichend Haftnotizen oder Pinnkarten
  • Packpapier oder Pinnwandpapier (bevorzugt an einer Pinnwand oder mit Kreppband an einer Rauminnenwand angebracht; Werte auf dem Fußboden auszulegen ist psychologisch nicht gut – dort werden die Werte symbolisch »mit den Füßen getreten«)
Formulieren Sie alle Werte positiv. Also nicht: »Kein Vertrauensbruch in Beziehungen«, sondern: »Vertrauen in Beziehungen«. Lassen Sie sich von den folgenden Fragen inspirieren, die Sie spontan am meisten ansprechen, sie müssen aber nicht alle beantworten. Die kursiv gesetzten Fragen sind jeweils Varianten einer davorstehenden Frage und dienen insofern nur der Anregung. Finden Sie Antworten zumindest auf jede der nicht kursiven Fragen. Diese decken annähernd alle Lebensbereiche ab. Schreiben Sie jeweils nur einen Wert auf je eine Karte oder eine Haftnotiz. So können Sie Ihre Werte später besser clustern, zuordnen und in eine Hierarchie bringen.
  • Was ist Ihnen wichtig im Leben?
  • Wenn Sie an wichtige Entscheidungssituationen in Ihrem (beruflichen) Leben denken, was waren die ausschlaggebenden Faktoren für die jeweilige Entscheidung? Welche Werte haben Sie dadurch erfüllt? (Dazu können Sie auch Ihr KAIROS-Datenchart hinzunehmen und Situationen auswählen.)
  • Worauf achten Sie in Ihrem Leben besonders?
  • Was macht im Leben Sinn?
  • Wofür würden Sie sich erheben, wenn andere Menschen es angreifen?
  • Was könnte Sie nachts nicht schlafen lassen?
  • Wenn Sie sich drei Dinge wünschen könnten, welche Werte verkörpern diese Dinge/Menschen?
  • Was schätzen nahestehende Menschen an Ihnen besonders? Welche Werte verkörpern Sie selbst darin?
  • Welche Werte fallen Ihnen in Bezug auf Körper, Physis, Gesundheit, Aussehen und Ihre Lebensenergie ein?
  • Welche Qualitäten wünschen Sie sich generell in Beziehungen?
  • Was schätzen Sie gerade nicht an anderen? (Welche Werte werden verletzt, wenn Sie etwas an anderen nicht mögen, welche Werte sollten also erfüllt sein?)
  • Welche Qualitäten haben sehr gute Beziehungen im beruflichen Umfeld für Sie?
  • Was ist Ihnen wichtig in Ihrem beruflichen Umfeld an »harten Fakten« (Gehalt, Inhalte, Vertragsform, Ort, Größe und Ansehen der Firma etc.)
  • Was machen Sie mit Ihrem Geld, Ihren Ressourcen – welche Werte zeigen sich hinter Ihren Entscheidungen?
  • In was investieren Sie Ihre Energie?
  • Nach welchen Kriterien verplanen Sie Ihre Zeit?
  • An welchen Orten halten Sie sich am häufigsten auf?
Halten Sie nun einen Moment inne.
  • Wie wirkt es auf Sie, sich Ihre gesammelten Werte anzuschauen?
  • Welche Szenen aus Ihrer Biografie fallen Ihnen spontan ein, wo diese Werte lebendig waren?
  • Welche Werte liegen derzeit »am Boden«, sind also nicht oder zu wenig erfüllt?
  • Wie stehen diese Erkenntnisse für Sie im Zusammenhang mit Ihrer beruflichen Fragestellung?
Wenn Sie wollen, können Sie jetzt direkt zur Wertehierarchie und danach zum Werterad weitergehen. Um zu überprüfen, ob Ihr Wertesystem auch vollständig ist, empfehle ich Ihnen jedoch die folgende Übung. Ziel des nächsten Schritts ist, dass Sie sich einen Überblick darüber verschaffen, wie vollständig Ihre Werteexploration schon alle Lebensbereiche abdeckt.
Übung 10: Werte einordnen und vervollständigen
Unterstützend biete ich Ihnen dazu ein Vier-Quadranten-Modell an, das auf einer integralen Systematik basiert.15 Sie sehen untenstehend ein Vier-Felder-Schema mit den Achsen und inneren Beschriftungen. Darin erkennbar sind die wichtigsten Dimensionen der Lebenswirklichkeit und damit auch eines Wertesystems. Die Achsen sind von links nach rechts beschriftet mit links »Innerlich« und rechts »Äußerlich« sowie von oben nach unten mit oben »Individuell« und unten »Kollektiv/System«. Daraus ergeben sich vier Quadranten, die jeweils eine spezifische Dimension der Wirklichkeit beleuchten. Auf der rechten Seite stehen dabei die Lebensbereiche, die »anfassbar« sind, objektiv und sich faktisch beschreiben lassen. Im »Individuellen« sind das Aspekte von Verhalten und Physis, in der kollektiven Dimension sind dies alle Ressourcen, Systeme und Strukturen, also die materiellen Aspekte des sozialen Umfelds. Im linken Bereich des Vier-Felder-Schemas, dem Bereich der Innerlichkeit, individuell und kollektiv, befinden sich Begriffe, die das Immaterielle abbilden. Gerade hier ergeben sich ja oft Wertekonflikte: Kommunikation, gemeinsame Normen und Werte, Werte zur Entfaltung der Persönlichkeit etc.
Konkrete Auflistungen für jeden Quadranten finden Sie in der folgenden Darstellung des Vier-Felder-Schemas. Falls Sie bereits mit Packpapier zur Werteexploration gearbeitet haben:
  • Zeichnen Sie auf dem Papier die Dimensionen der vier Quadranten ein.
  • Ordnen Sie Ihre Werte so gut Sie können den vier Feldern zu.
  • Alternativ bietet es sich an, vier separate Bögen Papier zu verwenden, die Sie nach dem Ausfüllen entsprechend aneinanderlegen.
Ordnen Sie jeweils Werte, die Sie bereits aufgeschrieben haben, den vier Quadranten zu. Die Fragen der Werteexplorierung haben dazu beigetragen, dass Sie Werte in allen vier Quadranten aufgeschrieben haben (können). Hier können Sie dies noch einmal überprüfen.
Besonders für die Dimension der »hard facts«, der Werte zu äußerlichen Rahmenbedingungen Ihrer Arbeit, möchte ich Ihnen noch einige weitere Anregungen geben.
Was ist Ihnen wichtig in Bezug auf:
  • Lage des Arbeitsorts (zentral und gut angebunden oder schön gelegen, Provinz oder Metropole – oder ist dies egal?)
  • Konzern oder Mittelstand
  • Inhabergeführt oder von neutralen Managern
  • Ansehen der Firma – weltweit bekannt oder geheimer Marktführer
  • Phase des Unternehmens: Start-up erste Phase, etabliertes Start-up, fest etabliert im Markt, Traditionsunternehmen
  • Hierarchische, klare Struktur oder informelle Berichtswege und Kultur
  • Größe des Teams
  • Freie und flexible Zeiteinteilung oder geregelte Arbeitszeiten
  • Kontakt zu Kunden
  • Geschäftsreisen
  • Angemessenes oder überdurchschnittliches Gehalt
  • … (Führen Sie die für Sie wichtigen Punkte hier auf.)
Lassen Sie nun das Ergebnis auf sich wirken:
  • Was sagt die Verteilung in den Quadranten über Ihr Wertesystem und Ihre derzeitige berufliche Situation aus?
  • Was fällt Ihnen sonst noch auf?
Eine Klientin von mir hatte im Werteinterview sofort sehr viele Werte der Zusammenarbeit benannt – hier lag einiges im Argen, sodass ihr viel zu diesem Aspekt einfiel. Auf Nachfragen konnten wir auch explorieren, was es an objektiven Fakten Ihres Arbeitsplatzes gab, die ihr wertvoll waren, was wiederum die kollektive Dimension betrifft. Dann schauten wir auf die Pinnwand mit den »kahlen« beiden oberen Quadranten, den individuellen Dimensionen. »Typisch«, meinte sie, »ich komme mal wieder gar nicht vor.« Ihr Wertechart spiegelte einen Mangel, den sie bereits oft gespürt hatte, nämlich dass sie ihre eigenen Bedürfnisse und Werte wenig artikulierte.
Eine andere Klientin blickte auf nur wenige Wertekarten in der Dimension »Körper, Physis, Verhalten«. »Und alle diese Werte sind fast überhaupt nicht erfüllt«, seufzte sie. »Wenn sich in meinem beruflichen Leben etwas ändern soll, muss ich zuerst daran etwas ändern.« Ihre beruflichen Ziele änderte sie nicht, dagegen hatten kurzfristige Maßnahmen, die ihre physische Gesundheit, Fitness und Erholung zum Ziel hatten, nach der Wertearbeit Vorrang.
Christina, die Sozialmanagerin, steht für alle diejenigen meiner Klienten, die feststellen mussten, dass sie und ihr Arbeitgeber einfach zu unterschiedliche Wertesysteme aufweisen. Manchmal entwickelt sich dies auch erst im Laufe der Zeit. »Wir sind geschiedene Leute«, sagen manche dann. Andere brechen beinahe in Tränen aus, wenn ihnen die Wertediskrepanz bewusst wird. Eine Klientin von mir kommentierte: »Am schlimmsten finde ich zu erkennen, dass mein Arbeitgeber meine Werte nicht nur nicht erfüllt, sondern diese vermutlich überhaupt nicht anstrebt.«
Spätestens an dieser Stelle besteht dann Handlungsbedarf. Eine Übersicht über die Verteilung unserer Werte (oder deren Nichterfüllung) erzeugt bei vielen Klienten die notwendige Motivation, sich in Bewegung zu setzen. Zu berücksichtigen ist immer, dass der »Füllstand« von Werten variabel ist und sich verändert. Nachdem wir einen Marathon gelaufen sind, wird der Wert »Erholung« sicher ganz oben stehen und temporär nicht erfüllt sein. Direkt nach einem Urlaub ist das anders.
Wie geht es Ihnen? Bemerken Sie eine große Wertediskrepanz zwischen Ihren Werten und den gelebten Werten Ihres Arbeitgebers? Wenn Sie sich nicht in einer existenziellen Notlage befinden, die einen Wechsel (vorerst) unmöglich macht, sollten Sie über die notwendigen Schritte nachdenken, die in ein gesünderes Umfeld führen.
Nach diesem Überblick über alle Werte geht es nun darum, Ihre Werte zu reduzieren und zu priorisieren. Dazu gibt es zwei weitere Übungen; Sie können eine von beiden oder beide durchlaufen.
Die Anzahl der Werte variiert von Mensch zu Mensch. Ich habe im Coaching erlebt, dass wir mit dem Platz nur schwerlich hinkamen und auf eine zweite Tafel ausweichen mussten. Hingegen gab es andere Klienten, deren Werte sich auf vier, fünf pro Quadrant beschränkten. Neben der Person selbst kommt es auch auf die aktuelle Fragestellung an, die sie zur beruflichen Neuorientierung bewogen hat, ebenso die Komplexität der derzeitigen Situation. Es macht nun einmal einen Unterschied, ob Sie mit ein paar kleinen Korrekturen Ihrem bisherigen Weg eine neue Richtung geben oder ob es in Ihrem Leben zu einer grundlegenden Veränderung kommt, indem Sie Ihr Abitur nachholen und studieren, die Branche wechseln oder sich selbstständig machen.

Werte auf ihren Kern überprüfen – essenzielle Werte

Besonders wenn Sie sehr viele Werte notiert haben, empfehle ich Ihnen die folgende kurze Übung zu den essenziellen Werten. Sie dient dazu, dass Sie Ihre Werte noch einmal auf die wesentlichen Punkte reduzieren. Mit anderen Worten: Sie hinterfragen jeden einzelnen Wert daraufhin, was das Wesentliche oder, wie ich es nenne, das Essenzielle an ihm ist.
Ist die Anzahl Ihrer Werte bereits übersichtlich und Sie sind der Meinung, dass Ihr Wertesystem für Ihre berufliche Entscheidungssituation komplett ist, können Sie auch sofort zu Übung 12 »Erstellen einer Wertehierarchie« oder Übung 13 »Werteefüllung visualisieren mit dem Werterad« springen.
Im Coaching unterscheide ich zwischen essenziellen Werten, die durch nichts zu ersetzen sind, und mittelbaren Werten, die jeweils mit einem essenziellen Wert verbunden sind.
Essenzielle Werte sind grundsätzliche, durch keinen anderen Wert ersetzbare Vorstellungen. Sie sind unabhängig voneinander und stellen im Sinne von Priorität und Gewicht die fundamentalste Werteebene dar.
Mittelbare Werte beziehen sich auf diese essenziellen Werte und sind stärker durch die Lebensphase, Entwicklungsstufe sowie das soziale und kulturelle Umfeld geprägt als die essenziellen Werte. Sie sind in der Regel durch andere mittelbare Werte ersetzbar, beziehen sich auf einzelne Lebensaspekte und können mindestens einem essenziellen Wert zugeordnet werden.
Beispiele für den essenziellen Wert »Sicherheit« in Form der mittelbaren Werte sind »hohes Einkommen«, »eheliche Lebensgemeinschaft«, »Vermögen«, »Zugehörigkeit zu einer stabilen Organisation«, »Beamtenstatus«.
Im Coaching benannte ein Klient als einen wichtigen Wert »Hohes Einkommen«. Es stellte sich heraus, dass sich für ihn dahinter die Werte »Unabhängigkeit« und »Anerkennung« (des Chefs/der Firma) verbargen. Weitere Nachfragen ergaben, dass Anerkennung für »Beachtung« und »Wahrgenommen werden« stand und hinter diesen der Wert »Angenommen sein«. Dieses Beispiel zeigt typisch eine Hierarchie und Verknüpfung von essenziellen und mittelbaren Werten untereinander.
Essenzielle Werte sind typischerweise durch einfache Worte zu beschreiben und Teil der Werte der »conditio humana«. Zu solchen Werten zählen unter anderem:
  • Liebe
  • Freiheit
  • Sicherheit
  • Wertschätzung als Mensch
  • Frieden
  • Entwicklung (Lernen)
  • autonom handeln können
  • verbunden sein
  • Sinn erleben
Übung 11: Werte vertiefen – essenzielle Werte finden
Überlegen Sie jetzt für jeden Wert, den Sie aufgeschrieben haben, was er bedeutet, was möglicherweise hinter ihm steht.
  • Warum ist Ihnen beispielsweise ein bestimmtes Gehalt oder die Position im Kreis Ihrer Kollegen wichtig?
  • Weshalb achten Sie darauf, ausreichend Muße zu haben?
Diese Übung hilft Ihnen bei einer Unterscheidung von Mittel und Zweck. Wenn ein bestimmtes Einkommen für Sie hauptsächlich dazu dient, sichtbare Anerkennung zu erhalten, dann könnten Sie in ein anderes Berufsfeld mit etwas weniger Gehalt wechseln, wenn die Anerkennung dort in anderer Weise, aber sichtbar ausgedrückt wird. Sollte das Gehalt für Sie »Sicherheit« bedeuten, könnten Sie immer noch differenzieren, in welcher Weise genau, ab welcher Höhe und so weiter.
Lassen Sie Ihre »nicht essenziellen Werte« ruhig stehen, schreiben Sie aber jeweils den essenziellen Kernwert dazu und gruppieren Sie so Ihre Werte.
Manche Ihrer Werte sind vielleicht bereits auf der essenziellen Ebene formuliert, das heißt nicht ersetzbar. In diesem Fall können Sie überlegen, wie sich diese essenziellen Werte in den anderen Quadranten der Lebensrealität ausdrücken würden (siehe Übung 10). Wie übersetzt sich der individuelle Wert »Freiheit« eigentlich in der Kommunikation im Team? Und was bedeutet »Sicherheit« in Bezug auf Ihre objektiven Lebensbedingungen? Durch solche Fragen können Sie Ihr Wertesystem umfassend und gleichzeitig zentral auf die wesentlichen Aspekte beschränkt erheben.
Nun haben Sie Ihre Werte kennen gelernt. Haben Sie den Eindruck, dass Ihnen so manches klarer geworden ist? Ob beispielsweise ein Wertekonflikt mit der neuen Kollegin die eigentliche Ursache darstellt, auf die Ihr vages Unwohlsein der letzten Wochen zurückzuführen ist? Oder ob der Wunsch Ihres Partners, bald eine Familie gründen zu wollen, Sie Ihre weitere berufliche Laufbahn hat überdenken lassen – bei allem spielen Werte mit hinein.
Nun kommen wir zum vorletzten Punkt in der Wertearbeit, der Wertehierarchie. Und damit zur Auswahl von Werten.
Übung 12: Erstellen einer Wertehierarchie
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, um Ihre Werte hierarchisch zu ordnen. Nicht alle Werte sind von gleicher Gewichtigkeit und je nach Coachingkontext von unterschiedlicher Relevanz. Spätestens wenn man die im Datenchart gemachten Angaben noch einmal Revue passieren lässt, tritt dieser Aspekt zutage. Das wird in Gesprächen mit Klienten immer wieder deutlich: »Stimmt, damals war mir nichts wichtiger als Verlässlichkeit. An deren Stelle ist Verbindlichkeit getreten und inzwischen kann ich gut damit leben, wenn jemand nicht ganz pünktlich ist oder eine Deadline knapp verpasst wird.«
Vielleicht haben Sie schon eine grobe Vorahnung, welcher Wert im Moment für Sie Priorität hat. Folgende Methoden gibt es, um eine Rangordnung zu erstellen:
  • Markieren Sie mit roten Punkten (Klebepunkte oder roter Stift) die wichtigsten Werte in Ihrer Gesamtübersicht – insgesamt zehn oder wenn Sie in der Vier-Quadranten-Methodik gearbeitet haben (siehe Übung 10), fünf pro Quadrant, das heißt in Summe 20.
  • Gehen Sie innerhalb der vier Quadranten durch die Werte: Welche können Sie noch clustern? Welcher Wert beinhaltet einen anderen? Belassen Sie etwa fünf Werte pro Quadrant.
  • Oder: Erstellen Sie eine Rangliste durch Vergleiche.
Notieren Sie Ihre Werte auf Metaplan-Karten oder wahlweise großen Haftnotizen. Diese pinnen Sie entweder an die Wand oder legen sie gut sichtbar vor sich. Mehr als 20 sollten Sie nicht auswählen. Gehen Sie bitte intuitiv vor, wenn Sie diese Wertekarten nun in eine erste Reihenfolge bringen.
  • Schauen Sie sich jetzt die beiden untersten Werte an und fragen Sie sich, welcher von beiden Ihnen in Ihrer jetzigen Situation (im Beruf) wichtiger ist. Der wichtigere Wert wandert anschließend eine Position nach oben und wird nach demselben Prinzip mit dem darüberliegenden verglichen.
  • Gelangt ein Wert nach dem Vergleich eine Position weiter nach unten, muss er entsprechend mit dem darunterliegenden verglichen werden.
  • Das führen Sie so lange fort, bis jeder Wert mit den benachbarten Werten verglichen wurde und einen endgültigen Platz erhalten hat.
  • Davon nehmen Sie dann die ersten zehn Werte als Ihre »Top Ten«.
Sind Sie überrascht, was Ihnen im Leben beziehungsweise in Ihrer jetzigen Situation am wichtigsten ist? So wurde mir selbst einmal an der Entscheidungssituation, mich wieder selbstständig zu machen, bewusst, wie groß der Wert »Unabhängig meine Arbeitsumstände gestalten zu können« für mich ist. Er wurde zur Haupttriebfeder für mich, schließlich gemeinsam mit meinem Geschäftspartner ein Unternehmen vollständig zu verantworten. Dies ist für mich die beste Garantie, dass ich meine Arbeitsumstände wirklich selbst beeinflussen kann. Natürlich muss nicht jede Person, die den Wert »Unabhängigkeit« für sich ausgeprägt hat, Unternehmer/-in werden, aber bei vielen stellt dies eine Triebfeder dar. So auch bei Christina, die ihr eigenes Sozialunternehmen gründete, als ihr alter Arbeitgeber gegen ihre zentralen Werte verstieß.
Das Erarbeiten einer Rankingliste macht Werte nicht nur bewusster, sondern erleichtert das Treffen von Entscheidungen und erhöht die Wahrscheinlichkeit, die Weichen in die richtige Richtung zu stellen. Sollten Sie herausgefunden haben, dass ein bestehender Konflikt oder Ihr Wunsch zur Veränderung darauf zurückzuführen ist, dass Ihre persönlichen Werte wahrscheinlich von denen Ihres Arbeitgebers, Geschäftspartners oder Teams abweichen, müssen Sie diese eindeutig benennen. Vages Wissen reicht nicht, damit Sie in Ihrem Prozess weiterkommen und zur richtigen Entscheidung gelangen. Sie müssen den Dingen klar ins Auge sehen.
Die letzte Werteübung wird dies ganz deutlich machen: der Erfüllungsgrad Ihrer zentralen Werte.

Die Werteerfüllung

Abschließend finden Sie heraus, inwieweit sich die einzelnen Werte in Ihrer aktuellen Lebenssituation erfüllen. Man könnte auch sagen, wie diese Werte gelebt werden können. Bei vielen meiner Klienten stellt sich im gemeinsamen Gespräch heraus, dass das nicht in ausreichendem Maße geschieht oder »früher anders war«. Auslöser dafür können äußere Ereignisse sein, etwa der Umzug in eine andere Stadt oder weil es einen Wechsel im Unternehmen und dem direkten Arbeitsumfeld gegeben hat.
Mit der Methode der »Werteerfüllung« erfassen Sie für Ihre zentralen Werte den Grad der Abweichung des aktuellen Erfüllungsmaßes zum angestrebten. Denn daraus lässt sich eine ganze Reihe von Schlüssen ziehen. Wie viel »Zeit für Sport« haben Sie, wie viel brauchen Sie oder wünschen Sie sich? Was definieren Sie als »hundertprozentige Erfüllung«? Welchen Anteil machen »fachlich interessante Projekte« an Ihrem derzeitigen Arbeitsalltag aus, und wie viel müsste es sein, um Sie aus Ihrem Dornröschenschlaf bei der Arbeit wach zu küssen?
Übung 13: Werteerfüllung visualisieren mit dem Werterad
Zur Visualisierung der Werteerfüllung nutze ich das »Werterad«.16
Was Sie brauchen:
  • eine Kopie des Werterades in DIN-A4- oder DIN-A3-Größe, wahlweise auch die Zeichnung des Werterades auf einem Flipchartpapier17
  • eine überschaubare Anzahl von Werten
Für die Arbeit mit dem Erfüllungsgrad von Werten ist es notwendig, eine überschaubare Zahl von Werten auszuwählen; es sollten maximal fünf bis acht Werte pro Quadrant sein, wenn Sie die Vier-Quadranten-Wertearbeit gemacht haben. Bewährt haben sich insgesamt 25 bis maximal 30 Werte. Die Auswahl kann intuitiv erfolgt sein oder mit einer der oben geschilderten Rankingmethoden wie der Wertehierarchie.
Das Werterad besteht zunächst einfach aus einem gezeichneten Kreis auf einem DIN-A4-Blatt. Innerhalb des Kreises sind die zwei Dimensionsachsen des Vier-Quadranten-Modells eingezeichnet (siehe Wertearbeit mit dem Vier-Quadranten-Wertechart). So wird der gesamte Kreis in vier gleich große »Tortenstücke« visuell aufgeteilt und markiert so die vier Quadranten der Lebensrealität aus der Wertearbeit. Wenn Sie nicht mit dem Vier-Quadranten-Modell gearbeitet haben, können Sie Ihre Werte einfach in beliebiger Reihenfolge in den Kreis einzeichnen.
In das Werterad tragen Sie die ausgewählten Werte ein. Dazu unterteilen Sie den Kreis in die notwendige Anzahl von »Tortenstücken«. In jedes »Tortenstück« schreiben Sie den Wert, entweder in die Fläche oder oben an den Rand des Kreises. Jetzt schauen Sie sich jeden Wert einzeln an und fragen sich: Zu wie viel Prozent ist dieser Wert derzeit in meinem Leben erfüllt?
  • Bleiben Sie bei Ihrem subjektiven Empfinden – es gibt hier kein »objektives« Maß.
  • Tragen Sie den Istzustand der Erfüllung als Prozentmarkierung in das »Tortenstück« ein.
  • Nutzen Sie als Orientierung die eingezeichneten Hilfslinien im Werterad, die als zwei Innenkreise jeweils den Erfüllungsgrad ein Drittel (33 %) und zwei Drittel (66 %) markieren.
  • Malen Sie den Füllstand aus. Bei 100 % wäre das gesamte Tortenstück vom Mittelpunkt bis zum Kreisrand ausgefüllt, bei 50 % nur zur Hälfte usw.
  • Fragen Sie sich nun: Welchen Erfüllungsgrad wünsche ich mir für diesen Wert? (Das muss nicht 100 % sein!)
  • Tragen Sie mit einer gestrichelten Linie (oder einer anderen Schattierung der Farbe) diesen Wunsch- oder Sollwert ein.
Wiederholen Sie diesen Vorgang für alle ausgewählten Werte. Zum Abschluss lassen Sie das ausgemalte Werterad auf sich wirken:
  • Welche spontanen Gefühle und Gedanken haben Sie?
  • Erlauben Sie sich, einen Wunscherfüllungsgrad zu definieren?
  • Definieren Sie zunächst, wie Ihr Wunschgrad sein soll – Kompromisse können und werden Sie eventuell nachher ohnehin noch machen.
  • Gibt es eine innere Stimme: »Aber das Leben ist doch kein Wunschkonzert?« Untersuchen Sie solche und andere Überzeugungen im Kapitel Innere Mentoren und Saboteure.

Auswertung Erfüllungsgrad von Werten – nächste Ziele

Eine erste Grundregel bei der Werteerfüllung ist, dass die Werte mit dem niedrigsten Erfüllungsgrad in der Regel die größte Beachtung und Aufmerksamkeit verdienen. Je nach Persönlichkeit und Situation besteht hier die höchste Spannung, die sich entweder als Motivation für Veränderung oder in Form von Frustration und Resignation äußert. Weiterhin können sich aus nicht oder wenig erfüllten Werten neue Coachingziele ergeben oder klare nächste Schritte. So wie bei meiner Klientin, die sich das Ziel setzte, zunächst ihre körperliche Fitness und Energie zu stärken, bevor sie sich ernsthaft auf die Suche nach einem neuen Job machte.
Die zweite Grundregel bei der Werteerfüllung ist noch wesentlicher: Nicht alle Werte müssen zu 100 Prozent erfüllt sein, damit wir zufrieden sind! Leicht abgewandelt formuliert: Nicht alle Werte können zu jeder Zeit hundertprozentig erfüllt sein. Unsere Werte haben ja auch unterschiedliche, zum Teil widersprüchliche Strebungen. Wer von Ihnen an die Babyphase der Kinder denkt, weiß, dass der Wert »ausreichend Schlaf« in dieser Zeit definitiv zu kurz kommt. Das Gegenteil gilt in diesem Beispiel für solche Werte, die mit der Erfüllung eines Kinderwunsches einhergehen. Diese Balance aus dem Erfüllungsgrad unterschiedlicher Werte sollte insgesamt stimmig sein für Sie und Ihr Umfeld, damit Sie zufrieden in Beruf und Privatleben sind.
Und es gibt Werte, die einen gewissen Erfüllungsgrad nicht unterschreiten dürfen, damit Sie sich in Balance fühlen und gesund bleiben. Ein gewisses Maß an Erholung und Regenerationszeit braucht jeder Mensch, um leistungsfähig zu bleiben, auch wenn sich der individuelle Erfüllungsgrad unterscheiden mag, den muss jeder für sich selbst festlegen. Zeit für soziale Kontakte gehört ebenso zu den Grundwerten und Grundbedürfnissen des Menschen wie das Streben, seinen Lebensunterhalt mit anständiger Arbeit zu verdienen. Niemand möchte von sich sagen müssen, dass er in einer Branche arbeitet, die auf schlechten Geschäftspraktiken beruht. In der Finanzkrise hat der Ansehensverlust des Bankengewerbes viele der dort arbeitenden Menschen auf der Werteebene sehr negativ berührt – und das wurde nicht dadurch aufgehoben, dass das Gehalt befriedigend geblieben ist. Wenn berufliche Verpflichtungen Grundwerte verletzen, kann es wirklich Zeit sein, etwas zu verändern.
Manchmal braucht es allerdings auch ein wenig Detektivarbeit, um herauszufinden, was sich hinter einem Wertedefizit eigentlich genau verbirgt. Bei einer meiner Klientinnen tauchte als zentraler individueller Wert »Entwicklung« auf. Diesen Wert empfand sie außerdem als zu wenig erfüllt. In Ihrem KAIROS-Datenchart wurde klar, dass sich die Klientin immer – oft unbewusst – berufliche Stationen gewählt hatte, die eine menschliche, fachliche oder führungsrelevante Entwicklung beinhalteten. Nun war sie auf einem Karriereplateau angekommen. Was genau sich aber jetzt noch in ihrem Leben »entwickeln« sollte, mussten wir erst noch bestimmen. In immer neuen Erkenntnisschritten konnten wir schließlich herausfiltern, dass es um nicht gelebte Kompetenzen ging, die schon eine längere Zeit brachlagen. Und nun war der Zeitpunkt, wo offensichtlich wurde: Entweder ich mache jetzt so weiter, dann wird dieser Teil von mir weiter brachliegen, oder ich ändere etwas. Die Problemlösung hätte auch die menschliche oder soziale Dimension betreffen können, zum Beispiel durch eine ehrenamtliche Tätigkeit. »Das mache ich, wenn ich mal in Rente bin«, war die Klientin zuversichtlich, denn auch dieser Aspekt von »Entwicklung« war für sie attraktiv. Der nächste Schritt von Entwicklung in ihrem Leben war jedoch fachlicher Natur und lag im Lebensstrang des Berufslebens.

Resümee aus der Wertearbeit: Die Stunde der Wahrheit …

Jetzt kennen Sie Ihr persönliches Wertesystem. Sie können Ihre Top-Ten-Werte benennen und für insgesamt etwa 20 Werte aus allen Lebensbereichen (Individuell und Kollektiv/Innerlich und Äußerlich) den Erfüllungsgrad benennen. Mit anderen Worten: Sie haben ein Gefühl für Ihre Werte entwickelt und sie in Beziehung zueinander gesetzt, sodass am Ende eine Wertehierarchie und die Werteerfüllung beziehungsweise -abweichung stehen. Daraus können Sie auch die nächsten Ziele für Ihre berufliche Weichenstellung ableiten. Damit die Schritte klar bleiben und fokussiert, rege ich für Ihr KAIROS-Biografie-Coaching an, dass Sie am Ende nur vier Ihrer Topwerte herausfiltern und zwar zwei für die »innerliche« Dimension und zwei für die »äußerliche«, die harten Fakten. Übertragen Sie diese in die dafür vorgesehenen Felder in der KAIROS-Gesamtauswertung. Am linken Rand finden Sie dort zwei Felder für die innerlichen Werte, am rechten Rand zwei Felder für die Werte, die sich auf die äußerlichen, objektiven Lebensbedingungen beziehen. Es ist absolut wichtig, dass Sie diese Werte auch mit einbeziehen. Denn nur so wird Ihre berufliche Veränderung real und bodenständig sein. Schließlich wollen Sie nicht in ein Wolkenkuckucksheim einziehen.
Die Auswahl Ihrer vier Werte hängt von Ihrer Fragestellung ab. Sie können auswählen:
  • Vier Werte mit der größten Abweichung – als Motivation, dies zu verändern
  • Vier Werte, die auf jeden Fall auch in Ihrer nächsten beruflichen Situation erfüllt sein müssen
  • Vier Werte, die in Ihrer jetzigen Lebensphase eine neue, stärkere Rolle spielen sollen
Als abschließende Reflexion Ihrer Wertearbeit schauen Sie nun, was eine Erfüllung beziehungsweise Nichterfüllung eines Werts beeinflusst und verursacht. Gibt es einen konkreten Auslöser? Sehen Sie sich die Lebensstränge Ihres KAIROS-Datencharts an, das Ihre Gesamtsituation in dieser Lebensphase abbildet. Oder ziehen Sie Menschen aus Ihrem Umfeld hinzu, die Sie und die jeweilige Situation entweder gut kennen oder in irgendeiner Form involviert waren/sind. Diese Menschen sollten die Situation beurteilen können, dürfen allerdings in keinem Fall Teil oder Auslöser des Konflikts sein.
Horchen Sie also genau in sich hinein: Wie haben Sie sich gefühlt, als Sie zu diesem Buch gegriffen haben? Welcher Wertekonflikt steckte möglicherweise dahinter? Hatten Sie Lust auf etwas Neues? Vielleicht hatten Sie ja auch schon eine vage Vorstellung, wohin die Reise in Zukunft gehen könnte. Oder waren Sie genervt und ratlos, hatten das Gefühl, nicht weiterzukommen, gekoppelt mit latenter Unzufriedenheit und Ärger?
Wenn es einen Wertekonflikt mit anderen Personen gibt, machen Sie sich ruhig einmal die Werte anderer bewusst. Dabei können Sie ähnlich vorgehen wie bei der Ermittlung Ihrer eigenen Werte. Sie können dadurch beispielsweise Ihr Wertesystem mit dem Ihres Arbeitgebers vergleichen und mögliche Abweichungen ausmachen. Aus dem Ergebnis lassen sich für Sie wiederum konkrete Handlungsschritte ableiten, die Sie weiterbringen.
Erinnern Sie sich daran, dass ich zu Anfang dieses Kapitels die Wertearbeit auch als »Stunde der Wahrheit« bezeichnet habe? Nachdem wir uns einmal den Spiegel vorgehalten und Klarheit im Wertesystem geschaffen haben, ist das »vage Bauchgefühl« der Unzufriedenheit einer Klarheit gewichen: Ja, ich möchte wirklich wieder direkter mit Kunden arbeiten. Nein, ich will einfach nicht mehr 70 Stunden nur noch für die Firma da sein. Ja, ich will meinen MBA oder Doktortitel machen und ein Jahr Auszeit nehmen. Nein, ich werde die Raubritter-Firmenpolitik der neuen Geschäftsführung nicht mittragen. Lieber verdiene ich bei der Konkurrenz etwas weniger. Die aus der Wertearbeit folgenden Veränderungen liegen oft auf der Hand. Aber nicht immer ist es der richtige Zeitpunkt – der Kairos –, um diese Veränderungen jetzt sofort auch schon umzusetzen. Dies werden Sie für sich im Auswertungsschritt der KAIROS-Rhythmusanalyse herausfinden. Und schließlich kann es auch generell in Ordnung sein, nach der Werteanalyse alles beim Alten zu lassen. Vielleicht fällt Ihnen bei der Abwägung der Werte auf, dass Ihre Lebenssituation in Summe gar nicht so schlecht ist. Es ist Ihr Leben, niemand drängt Sie, sich zu verändern.
Aus eigener Erfahrung weiß ich allerdings, wie belebend es sein kann, wenn man wieder Eigenverantwortung für seine volle berufliche Zufriedenheit übernimmt, aktiv handelt und motiviert mit den Vorbereitungen für den ersten Schritt beginnt. In Umbruchsituationen in meinem beruflichen Leben wurden auch mir selbst durch eine intensive Wertearbeit jeweils die notwendigen Ansatzpunkte offenkundig. Und es war eine regelrechte Wohltat, sinnvolle Ziele anzusteuern und mein eigentliches Potenzial auszuschöpfen.

Fallbeispiele: Die Werte von Christina, Stefanie und Thomas

Stefanie
Innerliche Werte:
  1. »Anerkennung«. Derzeit ausreichend erfüllt – aber für die »falschen« fachlichen Tätigkeiten (Bilanzbuchhalterin statt Kommunikationstrainerin).
  2. »Kommunikation in Gruppen verbessern helfen« – derzeit nur indirekt und wenig erfüllt.
Äußerliche Werte:
  1. »Projekte mit dem Fachinhalt Kommunikation und Kultur umsetzen« – derzeit überhaupt nicht erfüllt!
  2. »Materielle Sicherheit durch Festanstellung«. Derzeit erfüllt, soll auch im neuen Jobprofil Bestandteil sein. »Ich will keine freiberufliche oder selbstständige Trainerin sein«, weiß Stefanie ganz klar.
Thomas
Innerliche Werte:
  1. »Wahrhaftigkeit« – Wahres nach außen bringen. War als Schauspieler eine Zeit lang erfüllt, jetzt aber stark untererfüllt (30%, soll auf 70%). »Im Filmbusiness geht es nicht mehr um die Charaktere, die man darstellt. Es geht nur um den Profit, den man damit machen kann.«
  2. »Familienleben«. »Ich bin einfach ein »Family-Man«, sagt Thomas von sich. »Meine Arbeit muss sich da einpassen.« Ein Wert, der in Zukunft zu mindestens 80 Prozent erfüllt sein soll.
Äußerliche Werte:
  1. »Sein Auskommen haben«. Das ist derzeit erfüllt und soll auch so bleiben. »Ich brauche keine Millionen auf dem Konto, aber ich möchte auch kein Hungerleider in idealistischen Theaterprojekten sein. Das mache ich dann lieber ehrenamtlich. Wenn ich etwas beruflich verändere, muss das auch meine Familie ernähren können.«
  2. »Nachhaltig leben«. Für Thomas ist dieser Wert durch seine Lebensweise weitgehend erfüllt. Er würde allerdings auch jede berufliche Entscheidung daraufhin überprüfen, ob es hier zu unvereinbaren Gegensätzen kommen würde.
Christina
Innerliche Werte:
  1. »Anerkennung für Leistung«
  2. »Fairness«. Beide Werte sind durch den Konflikt bei ihrem Arbeitgeber unter die »tolerierbare Grenze« gefallen, so Christina.
Äußerliche Werte:
  1. »Unabhängigkeit« (Entscheidungsspielräume durch die Position in der Organisation).
  2. »Familie ernähren können«. Christina definiert sich ähnlich wie Thomas als Ernährerin der Familie. Ihr Hauptaugenmerk bei dem Gedanken, sich selbstständig zu machen, lag ganz klar auf einem »robusten Businessplan«. Daher engagierte sich Christina auch bei einem offiziellen Businessplan-Wettbewerb. »Ich will wissen, ob das, was mir vorschwebt, Hand und Fuß hat«, sagt die Sozialmanagerin.