Charakterstärken
aufspüren:
Was mir hilft, voranzugehen
So wie jeder Mensch seine ganz eigenen
Werte und Kompetenzen mitbringt, zeichnet er sich auch durch
spezielle Charakterstärken aus. Wenn wir sagen, jemand habe
»Charakter«, meinen wir damit etwas Positives, Starkes und ganz
Typisches für eben diese Person. Neben Werten, Talenten und
Kompetenzen, die wichtig für eine berufliche Neuorientierung sind,
gibt es im Bereich der Persönlichkeit also auch noch die
Charakterstärken eines Menschen. Dabei handelt es sich um die
psychologischen Eigenschaften des Einzelnen, die unabhängig von der
jeweiligen Kultur als Teil eines guten und wünschenswerten
Charakters weltweit geschätzt werden (siehe Kasten). Zu solchen
Charakterstärken gehören zum Beispiel Fairness, Durchhaltevermögen,
aber auch Neugier, der Sinn für das Schöne und Exzellenz und
soziale Intelligenz.
Wenn Sie eine berufliche Änderung planen, die
Ihnen einiges an Mut und Kraft abverlangen wird, lohnt es sich
besonders, sich mit Ihren Charakterstärken zu beschäftigen. Unsere
Top-5–7-Charakterstärken (die Sie anschließend für sich gleich
herausfiltern werden) sind nämlich so etwas wie der Treibstoff für
unseren Veränderungsmotor. So untersuchten wir auch bei Stefanie
sehr genau ihre Charakterstärken, damit sie ihre Kraftquellen
anzapfen konnte, um ihren sicheren Job als Bilanzbuchhalterin
aufzugeben und ihre wirklichen Kompetenzen in den Mittelpunkt ihres
Berufs zu stellen.
Charakterstärken sind einerseits relativ
stabile Faktoren unserer Persönlichkeit, andererseits können sie
sich aber im Laufe des Lebens durch Erfahrungen entwickeln und
verändern – und trainiert werden. Charakterstärken ähneln insofern
den Kompetenzen mehr als anderen unveränderlichen
Persönlichkeitsmerkmalen wie Introvertiertheit oder unseren
angeborenen Motivationsfaktoren. Allerdings liegen sie näher an dem
Kern unserer Persönlichkeit als Kompetenzen, die wir hauptsächlich
nur erlernen. Bei Charakterstärken können wir wohl davon ausgehen,
dass manche uns eher »in die Wiege gelegt« sind als andere.
Die Positive Psychologie
Bei der Entwicklung der KAIROS-Methode
habe ich unter anderem auf die wissenschaftlichen Erkenntnisse der
Positiven Psychologie zurückgegriffen (nicht zu verwechseln mit dem
»positiven Denken«). Ihren Vertretern geht es darum herauszufinden,
welche Faktoren und Prozesse es dem Einzelnen und Gemeinschaften
ermöglichen, ein »gutes« Leben zu führen und diese zu unterstützen.
In einem weltweiten Forschungsprojekt zu individuellen Fähigkeiten
trugen die Experten schließlich 24 Charakterstärken zusammen, die
zu insgesamt sechs »Tugenden« gebündelt werden können: Weisheit und
Wissen, Mut, Menschlichkeit, Gerechtigkeit, Mäßigung sowie
Transzendenz.18 Während die
Tugenden als übergeordnete Kategorien eher abstrakt bleiben, lassen
sich die zugeordneten Charakterstärken hingegen konkret im
Verhalten beobachten.
Der zweite Grund, warum die Beschäftigung
mit Charakterstärken für Ihre berufliche Orientierung wichtig ist,
liegt in den Berufsfeldern selbst. Ganz bestimmte Charakterstärken
sind in bestimmten Berufszweigen häufiger als in anderen vertreten.
Beispielsweise schreibt man Lehrern oft andere typische Merkmale zu
als Ärzten, diesen wiederum andere als Vertriebsmitarbeitern und so
weiter. Vergleichbar ist das mit Positionen und Titeln, die jemand
im Laufe seines Lebens erreicht und erwirbt: Je nach Beruf und
Branche muss man einfach etwas Bestimmtes mitbringen.
Übung 16: Charakterstärken
»sichten«
Es hat sich herausgestellt, dass von den
24 Charakterstärken bei jedem von uns etwa fünf bis sieben
besonders stark ausgeprägt sind. Man spricht auch von den
»Signaturstärken« einer Person, also einer Art »persönlicher
Unterschrift«. In der ersten Übung lade ich Sie ähnlich wie bei den
Kompetenzen ein, zunächst ganz intuitiv nach Ihren persönlichen
Stärken Ausschau zu halten. Die folgenden kurzen Beschreibungen
aller 24 Charakterstärken sind jeweils einer sogenannten »Tugend«
zugeordnet. In der Überschrift ist für jede Tugend zunächst in
einem Satz beschrieben, was sie als Gesamtes umfasst. Die Zuordnung
wurde statistisch ermittelt, es spielt für diese Übung also keine
Rolle, ob Sie gegebenenfalls eine Stärke unter einer anderen
Überschrift einordnen würden. Entscheidend ist allein, ob Sie sich
in den kurzen Beschreibungen wiederfinden. Markieren Sie in dieser
Liste fünf bis sieben Stärken, die auf Sie besonders zutreffen oder
notieren Sie sie auf einem separaten Blatt.19
1.
Weisheit und Wissen: Kognitive Stärken, die den
Erwerb und den Gebrauch von Wissen beinhalten
-
Kreativität: neue und effektive Wege finden, Dinge zu tun
-
Neugier: Interesse an der Umwelt haben
-
Urteilsvermögen: Dinge durchdenken und von allen Seiten betrachten
-
Liebe zum Lernen: sich neue Techniken und Wissen aneignen
-
Weisheit: in der Lage sein, guten Rat zu geben
2.
Mut: Emotionale Stärken, die mittels der Ausübung
von Willensleistung internale und externale Barrieren zur
Erreichung eines Ziels überwinden
-
Tapferkeit: sich nicht Bedrohung oder Schmerz beugen, Herausforderungen annehmen
-
Ausdauer: das zu Ende führen, was man begonnen hat
-
Authentizität: die Wahrheit sagen und sich natürlich geben
-
Enthusiasmus: der Welt mit Begeisterung und Energie begegnen
3.Menschlichkeit: Interpersonale
Stärken, die liebevolle menschliche Interaktion ermöglichen
-
Bindungsfähigkeit: Nähe unter- und zueinander herstellen können
-
Freundlichkeit: anderen einen Gefallen tun und gute Taten vollbringen
-
Soziale Intelligenz: sich der eigenen Motive und Gefühle sowie der anderer bewusst sein
4.Gerechtigkeit: Stärken, die
das Gemeinwesen fördern
-
Teamwork: als Mitglied eines Teams gute Arbeit leisten
-
Fairness: alle Menschen nach dem Gleichheits- und Gerechtigkeitsprinzip behandeln
-
Führungsvermögen: Gruppenaktivitäten organisieren und ermöglichen
5.Mäßigung: Stärken, die
Exzessen entgegenwirken
-
Vergebungsbereitschaft: denen verzeihen, die einem Unrecht getan haben
-
Bescheidenheit: Erreichtes für sich sprechen lassen
-
Vorsicht: nichts tun oder sagen, was später bereut werden könnte
-
Selbstregulation: das eigene Handeln und Fühlen steuern
6.Transzendenz: Stärken, die uns
einer höheren Macht näher bringen und Sinn stiften
-
Sinn für das Schöne: Schönheit (und Exzellenz20) in allen Lebensbereichen erkennen und schätzen
-
Dankbarkeit: sich der guten Dinge im Leben bewusst sein und sie wertschätzen
-
Hoffnung: das Beste erwarten und alles dafür tun, es auch zu erreichen
-
Humor: Lachen und humorvoll sein, andere gerne zum Lachen bringen
-
Spiritualität: sinngebende, zusammenhängende Überzeugungen über einen höheren Sinn des Lebens haben21
Was denken Sie, nachdem Sie diese
Liste von Charakterstärken angeschaut haben? Welche sind typisch
für Sie? Kamen Ihnen bestimmte Situationen in den Sinn? Fielen
Ihnen Momente ein – vielleicht sogar ein im Datenchart
festgehaltenes Ereignis –, in denen Sie diese Charakterstärken
eingesetzt haben? Wenn es wirklich Stärken von Ihnen sind: Sollte
dies so sein?
Vielleicht haben Sie auch Bezugspunkte zu
Ihren Kompetenzen gefunden. Tatsächlich fördern und verstärken sich
Charakterstärken und Kompetenzen. Charakterstärken sind oft ein
Teil unserer personalen Kompetenzen. Haben Sie die Charakterstärke
Ausdauer ausgeprägt, weisen Sie wahrscheinlich eine personale
Kompetenz auf, die man als Zähigkeit oder Hartnäckigkeit bezeichnen
könnte.
Falls Sie jetzt nach Ihrer Selbsteinschätzung
bereits das Gefühl haben, dass Sie Ihre Top-5–7-Charakterstärken
herausgefunden haben, können Sie sofort zu den beiden letzten
Übungen in diesem Kapitel übergehen. Dort werden Sie Anregungen
finden, wie Sie Ihre Charakterstärken in Ihrer beruflichen
Orientierungsphase nutzen können.
Übung 17: Charakterstärken
per Fragebogen ermitteln
Wenn Sie Ihre persönlichen
Charakterstärken neben einer Selbsteinschätzung noch präziser
ermitteln wollen, hat sich der Fragebogen VIA-IS (»Values-In-Action
– Inventory of Strengths«) bewährt, der vom amerikanischen
Values-In-Action (VIA) Institute entwickelt wurde. Die deutsche
Version setze ich regelmäßig im Coaching ein. Sie können das VIA-IS
ganz einfach online bearbeiten. Dazu nutzen Sie das
Fragebogenportal des Psychologischen Instituts der Universität
Zürich (www.charakterstaerken.org). Zunächst müssen Sie sich dort
anmelden, dann einloggen und das VIA-IS auswählen. Der Zugang ist
kostenfrei, demografische Daten wie Alter und Geschlecht dienen
dazu, dass Ihre Ergebnisse in eine vergleichbare Stichprobe
eingeordnet werden. Ihre Angaben bleiben anonym, und die Auswertung
der anonymisierten Daten dient ausschließlich
Forschungszwecken.
Zur Fragebogen-Durchführung: Der
VIA-IS-Test umfasst in der ursprünglichen Langversion 240 Fragen,
zehn für jede Charakterstärke. Eine kürzere Version wird demnächst
ebenfalls auf Deutsch zur Verfügung stehen.22 Die Fragen sind
fast ausschließlich positiv formuliert, da sie ja positive
Eigenschaften erfassen. Außerdem ist jeweils die volle Ausprägung
angegeben, zum Beispiel »Ich helfe immer, wenn ich kann …«, wie
dies jemandem entspräche, der diese Charakterstärken voll
entwickelt hat. Sie können jeweils auf der Zahlenskala Ihre
individuelle Ausprägung ankreuzen. Zögern Sie jedoch nicht, einer
Formulierung auch ganz zuzustimmen, wenn eine Stärke bei Ihnen ganz
ausgeprägt ist! Besonders wenn bei Ihnen die Charakterstärke
Bescheidenheit in hohem Maß vertreten ist, wird es Ihnen vielleicht
nicht leichtfallen, sich selbst so positiv einzuschätzen!
Erlernt oder wirklich »meins«? Signaturstärken versus erlernte Stärken
Nun kennen Sie also laut Testergebnis
(oder Selbsteinschätzung) Ihre Charakterstärken. Schauen Sie auf
die ersten fünf bis sieben Stärken. Finden Sie sich darin wirklich
wieder? Wie schon bei der Analyse Ihrer Kompetenzen ist es nun
wichtig, diejenigen Stärken herauszufiltern, die wirklich ein
typischer Teil von Ihnen sind. Daneben gibt es auch Stärken, die
wir nur »erlernt« haben, wenn zum Beispiel in unserer Familie
Mäßigung gefordert war, wir selbst aber eher der Draufgängertyp
sind. Oder Sie haben einen Beruf, der ständig eine bestimmte
Charakterstärke erfordert. Wenn jemand zum Beispiel an der
Hotelrezeption arbeitet, wo Gäste Freundlichkeit erwarten, heißt
dies noch lange nicht, dass die Person tatsächlich ein freundliches
Gemüt hat. Es kann sich auch um eine rein erlernte Stärke handeln.
Sind Ihnen nicht auch schon solche Servicekräfte begegnet, denen
man deutlich anmerkt, dass sie ihre Freundlichkeit nur einsetzen,
weil ihr Beruf es erfordert? In Wahrheit ermüdet es solche Menschen
jedoch, immer nett, höflich und zuvorkommend zu sein. Andere jedoch
scheinen im Servicegedanken völlig aufzugehen, sie brennen
regelrecht darauf, ihre Freundlichkeit zu demonstrieren, und ziehen
Energie daraus.
Die wirklichen Kernstärken eines Menschen
nennen wir auch Signaturstärken. Sie sind vergleichbar mit der
persönlichen Unterschrift. Signaturstärken äußern sich im Handeln
und werden nicht nur angestrebt wie etwa Werte. Auch andere
Personen nehmen diese Stärken an uns wahr. Und umgekehrt können wir
bei anderen Menschen solche Stärken als »typisch« wahrnehmen. »Mir
anzubieten, einen Kaffee aus der Kantine mitzubringen, ist typisch
Susanne. Nie würde sie in die Cafeteria gehen, ohne mich vorher
gefragt zu haben. Wie aufmerksam!«, – so oder ähnlich haben Sie
vermutlich auch schon einmal von einer Kollegin oder einer Freundin
gedacht.
Dieses Beispiel zeigt, dass Stärken nicht nur
gut, sondern auch gern eingesetzt werden. Zudem sind sie
situationsübergreifend, werden oft quasi automatisch angewendet.
Und das an manchen Abenden unbefriedigende Gefühl, der Tag sei
einfach so verstrichen, ist darauf zurückzuführen, dass man seine
Stärken nicht zum Einsatz gebracht hat. So ein Tag ist dann »ein
verlorener Tag«, man hat das Gefühl, dass man nicht richtig gelebt
hat. Es mag sein, dass Sie genau dieses Gefühl in Ihrer aktuellen
beruflichen Situation verspüren. Letztlich möchten Sie die Weiche
im Beruf neu stellen, weil Ihre Stärken derzeit zu kurz kommen.
Denken Sie an Stefanie, die über soziale Intelligenz, Enthusiasmus
und Neugier verfügt, aber diese Stärken zählen wenig in ihrem
Hauptberuf oder werden bestenfalls als »nice to have« wahrgenommen.
»Typisch Stefanie«, schmunzelt ihr Chef, wenn die
Bilanzbuchhalterin ein Meeting einberuft, um Begeisterung für die
neueste Prozessänderung im Team anzufachen.
Es ist natürlich schade, wenn unser derzeitiger
Beruf unseren Charakterstärken wenig Raum einzuräumen scheint.
Andererseits können Sie durch die konsequente und bewusste Nutzung
Ihrer Charakterstärken Ihre Zufriedenheit jeden Tag auch jetzt
schon steigern. Dazu bieten Ihnen die Übungen 19 und 20 noch einige
Anregungen.
Übung 18: Signaturstärken
ermitteln
Mithilfe des Fragebogens (oder in der
Selbsteinschätzung) haben Sie bereits Ihre Stärken ermittelt. Jetzt
geht es um die Unterscheidung zwischen wirklichen und rein
erlernten Charakterstärken. Darum, herauszufinden, welche Ihnen
wirklich entsprechen, also Ihre Charakterstärken sind, und welche
Sie erlernt haben.
Sie brauchen:
-
Die Rangfolge Ihrer Charakterstärken
-
Ihr KAIROS-Datenchart
Gehen Sie die Top-5–7-Stärken, also
die potenziellen Signaturstärken, einzeln durch. Wenn nötig, können
Sie hier auf die Kurzbeschreibung der Stichwortliste
zurückgreifen.23 Untersuchen Sie
nun, inwieweit Sie diese Stärke in Ihren Handlungen erkennen. Dabei
helfen Ihnen folgende Fragen:
-
Wie genau setzen Sie die Stärke in unterschiedlichen Situationen ein?
-
Setzen Sie diese Stärke gern ein?
-
Schöpfen Sie regelrecht Kraft daraus, diese Stärke einzusetzen?
-
Setzen Sie diese Stärke situationsübergreifend, oft, quasi »unvermeidlich« ein?
-
Würden auch andere Personen diese Stärke als typisch für Sie bezeichnen?
-
Könnten Sie die Stärke eher »gelernt« haben?
-
Ist diese Stärke sehr geschätzt/wenig geschätzt in Ihrem Umfeld?
Die beiden letzten Fragen sind besonders
bei Stärken des Tugendclusters »Mäßigung« wichtig. Denn solche
Stärken werden zum Teil durch das Umfeld entweder besonders
gefördert, sind dann eher erlernte Stärken oder im Gegenteil auch
zensiert. Ich erinnere mich an eine Klientin, die »Vorsicht« als
eine ihrer Signaturstärken wenig akzeptieren konnte, weil dieser
Charakterzug in ihrem gesamten Umfeld als »uncool« galt. »Aber
irgendwie bin ich nun einmal eine eher vorsichtige Person«, gestand
sie zögernd ein. Stehen Sie dazu, wenn Sie über solche wenig »sexy«
erscheinenden Charakterstärken verfügen. Charakterstärken müssen
nicht unbedingt immer gut ankommen – und sind dennoch anerkannte
Tugenden! Stärken lassen einen Menschen nicht in jedem Umfeld
unbedingt attraktiv erscheinen, können aber trotzdem zur
Persönlichkeit gehören.
Übernutzung und Unternutzung von Charakterstärken
Manchmal ist es aber auch einfach »zu viel
des Guten«. Es ist tatsächlich nicht auszuschließen, dass Sie eine
Ihrer Stärken zu einseitig oder nicht im Kontext adäquat nutzen.
Humor ist eine Stärke, doch Humor ausgerechnet bei der Beerdigung
von Onkel Otto offen anzubringen vielleicht eine andere Sache.
Zeichnen Sie sich beispielsweise durch Authentizität (Ehrlichkeit)
aus, so kann es im Job dennoch unangemessen sein, dem Chef direkt
auf den Kopf zuzusagen, was Sie von seiner Micky-Maus-Krawatte oder
von dem neuen Projekt wirklich halten. Man spricht dann von
Übernutzung einer Stärke. Es fehlt dann häufig auch an der
notwendigen Balance zwischen zwei komplementären Charakterstärken.
Christina war ein gutes Gegenbeispiel dafür, wie man durch die
Kombination von Stärken solche Einseitigkeiten vermeidet. So wird
ihre »Authentizität« balanciert durch »soziale Intelligenz« und
»Urteilsvermögen«. »Ich habe keine Scheu, offen meine Meinung zu
sagen«, meint Christina, »aber im beruflichen Kontext ist es
einfach oft besser, auf die langfristige Beziehung zu schauen und
dem Gegenüber nicht sofort jeden Eindruck gleich eins zu eins ins
Gesicht zu schleudern.«
Umgekehrt gibt es die Unternutzung von
Charakterstärken. Sie ist gegeben, wenn Umfeldbedingungen dazu
führen, dass ein Mensch einige seiner Stärken nicht voll nutzen
kann. Da Sie vermutlich derzeit beruflich unzufrieden sind, könnte
dies bei Ihnen der Fall sein. In diesem Fall habe ich einen Tipp
für Sie: Nutzen Sie zumindest Ihre drei ausgeprägtesten Stärken
jeden Tag ganz bewusst. Dies wird für Sie bereits Ihre jetzige
Aufgabe wieder attraktiver machen.
Abschließend möchte ich Ihnen zwei weitere
Übungen für die Nutzung ihrer Charakterstärken mitgeben. Erinnern
Sie sich daran, dass ich eingangs in diesem Kapitel gesagt habe,
dass Charakterstärken besonders für die Phase der beruflichen
Orientierung selbst wichtig sind, weil sie in Phasen der
Veränderung unseren Treibstoff darstellen.
Übung 19: Nutzung von
Signaturstärken in der beruflichen Orientierung
Im Coaching führe ich eine
Abschlussreflexion der VIA-Charakterstärken beziehungsweise
Signaturstärken durch; danach erstellen meine Klienten für sich
einen konkreten To-do-Plan. Sie können diese Schritte hingegen
allein machen. Auch hier bietet es sich an, die gewonnenen
Erkenntnisse schriftlich festzuhalten.
Mit den folgenden Fragen fokussieren
Sie zunächst darauf, wie Sie Ihre Signaturstärken noch
wirkungsvoller nutzen können:
-
Wie kann ich meine Stärken auf neue, andere Weise als bisher noch nutzen (in neuen Situationen und Kontexten, auf andere Art und Weise, zum Beispiel schriftlich statt verbal, in Gruppen statt allein oder zu zweit etc.)?
-
Welche Kombinationen von Stärken kann ich nutzen, um meine Schritte bei der beruflichen Orientierung voranzutreiben?
-
Welche neuen Stärken habe ich kennen gelernt? Welche sind/waren mir ganz fremd (zum Beispiel wenn ich sie bei anderen Personen erlebe)? Besteht bei mir eine Neugier auf diese Stärken?
Die letzten beiden Fragen waren besonders
für Christina interessant. Sie gab zu, manche »weichen«
Charakterstärken bei anderen Menschen nicht so gut würdigen zu
können. »Ich neige dazu, Menschen schnell als ›Weicheier‹ oder
›Schöngeister‹ abzutun. Meine Frau macht mich öfter mal kritisch
darauf aufmerksam.« Christinas Top-5-Charakterstärken: Mut,
Authentizität, soziale Intelligenz, Urteilsvermögen und
Durchhaltevermögen.
Zunächst erbrachte für Christina die
Charakterstärkenanalyse eine ähnliche Bestätigung wie die
Kompetenzanalyse: In puncto Selbstständigkeit war sie gut
ausgerüstet. Allerdings wurde ihr auch bewusst, dass sie zur
Übernutzung der eher »härteren« Charakterstärken Mut, Authentizität
und Durchhaltevermögen neigte. »Ich bin halt eine Hockey-Frau, die
weiß, wie man abräumt, was kann ich sagen?«, lachte sie. Aber als
zukünftige Unternehmerin würde sie wesentlich mehr Führungsaufgaben
übernehmen müssen und Mitarbeiter auswählen, motivieren und halten
müssen. Christina wurde klar, dass ihr ein sofortiges
Trainingsprogramm in »sozialer Intelligenz« nicht schaden konnte.
Kombiniert mit ihrem »Urteilsvermögen« konnte sie zu ausgewogenen
Entscheidungen in Beziehungen kommen, die nichts mit »Weichheit« zu
tun hatten – ein Aspekt, der ihr einfach nicht lag. Christina
beschloss, vom nächsten Tag an alle Übungssituationen in »sozialer
Intelligenz« mit Kollegen und Geschäftspartner zu nutzen. »Warum
erst darauf warten, bis ich Mitarbeiter habe?«, sagte sie zu
Recht.
Zum Abschluss der Arbeit mit Ihren
Charakterstärken lade ich jetzt auch Sie ein, konkrete Commitments,
das sind Handlungsaufforderung an sich selbst, aufzustellen.
Übung 20: Einen
Stärkenplan aufstellen
Der folgende Entwurf Ihres Stärkenplans
setzt sich aus mehreren kurzen Einzelübungen zusammen. Die
Umsetzung kann auf einen mittelfristigen Zeitraum bezogen sein, zum
Beispiel die kommenden drei Wochen. Allerdings sollten Sie konkret
notieren, womit Sie in den nächsten 48 Stunden als erste Aktion
starten möchten. Aus der Verhaltenspsychologie wissen wir, dass die
ersten 48 Stunden nach einem »guten Vorsatz« darüber entscheiden,
ob wir einen Vorsatz überhaupt umsetzen oder er im Sande verläuft.
Schreiben Sie also Ihre Schritte auf. Insbesondere wenn am Ende
eines Prozesses wie diesem ein Vorsatz oder fester Plan steht, wird
er dadurch verbindlicher. Ich persönlich finde es immer schön und
befriedigend, ein konkretes Ergebnis vorliegen zu haben.
Überlegen Sie bitte als Erstes, in
welchen Situationen Ihre Signaturstärken in den kommenden Tagen
oder der nächsten Woche hilfreich sein könnten und notieren Sie
sich das. Notieren Sie sich dann, wie Sie die Signaturstärke nutzen
werden.
Übung 21: Übungen aus der
Positiven Psychologie
Die folgenden beiden Übungen sind
Klassiker aus der Forschung der Positiven Psychologie, die eine
allgemein gute Wirkung auf Ihre Effektivität und auf Ihr
Wohlbefinden haben werden.
1. Nutzung von
Neugier in einer nicht angenehmen Aufgabe, Situation oder
gegenüber einer für uns unangenehmen Person. Anmerkung:
Stärke »Neugier«. Interesse an der Umwelt zu haben hilft besonders,
unangenehme Aufgaben besser und schneller zu erledigen und dabei
noch zu lernen. Diese Übung war besonders für Christina hilfreich,
um Interesse an Personen zu finden oder zu behalten, die sie
eigentlich schnell ablehnte. Ideen: Notieren Sie im ersten
Schritt, worauf Sie Ihre Neugier richten können. Was ich tun
werde: Notieren Sie eine Aktion in den kommenden 48
Stunden.
2. »Three good
things«: drei gute Dinge des Tages aufschreiben, über drei
Wochen. Anmerkung: Stärke »Dankbarkeit«. Diese Übung erhöht
das Wohlbefinden für drei Wochen dauerhaft.
Übung 22: Sich von
Bildern, Filmen und Romanen inspirieren lassen
Eine weitere sehr wirksame Übung, weil sie
bildhafte Methoden mit unseren Stärken verbindet: Lassen Sie sich
auch von Bildern, Filmen und Romanen inspirieren. Eine meiner
Klientinnen assoziierte spontan im Coaching Charakterstärken mit
den Eigenschaften von Filmfiguren oder Fantasyromanen. Tatsächlich
hat ein Vertreter der Positiven Psychologie Filme daraufhin
untersucht, welche Charakterstärken die Filmhelden
verkörpern.24
Überlegen Sie: Welche Filme oder Romane
könnte ich mir zur Inspiration in den nächsten drei Wochen
ansehen?
Fallbeispiele: Die Charakterstärken von Stefanie und Thomas
Zum Abschluss präsentiere ich Ihnen noch,
was unsere Protagonisten Thomas und Stefanie nach der Analyse ihrer
Charakterstärken umsetzten.
Thomas half die Analyse dabei, mehr
Frieden mit seinem Abschied von der Schauspielwelt zu finden. Seine
Top-3-Stärken: Authentizität und soziale Intelligenz (zwei Stärken,
die er mit Christina gemeinsam hat) sowie Dankbarkeit. Bei seiner
dritten Stärke machte es »klick«. »Statt damit zu hadern, dass ich
von einem ›Traumberuf‹ Abschied nehmen muss, liegt es mir
eigentlich viel mehr, dankbar für alles zu sein, was ich erleben
durfte, und dann weiterzugehen.« Mit Blick auf sein
KAIROS-Datenchart fuhr er fort: »So habe ich das beim Abschied von
der DDR gemacht und beim Abschied von zu Hause und tatsächlich auch
bei jedem Abschied in einer Beziehung, bis ich meine Frau traf.
Hinterherweinen ist gar nicht mein Ding«, erkannte Thomas, lächelte
und führte mit Begeisterung die Übung »Three good things« für drei
Wochen durch.
Stefanie machte nach der Analyse ihrer
Charakterstärken ganz bewusst Gebrauch davon, um ihr potenzielles
Arbeitsfeld zu explorieren. Sie fühlte sich bestärkt darin, dass
die Charakterstärken Enthusiasmus, Neugier und soziale Intelligenz
wirklich nicht nur »typisch« für sie waren, sondern sehr nützlich
für den Trainerberuf. Und nicht nur geduldete »Eigenheiten«, wie
ihr jetziger Chef das wohl sah. In der Orientierungsphase setzte
Stefanie ihre Charakterstärken konkret dazu ein, mit viel Neugier
sich über alle Aspekte des Trainerberufs zu informieren; dazu
setzte sie sich jede Woche einen festen Recherchetermin. Ihr
Enthusiasmus befeuerte sie derart, dass sie meist viel mehr Zeit
als geplant damit verbrachte.
Mit viel Fingerspitzengefühl – ihrer sozialen
Intelligenz – ging Stefanie vor, um den Kontakt mit dem
Trainingsinstitut aufrechtzuerhalten, bei dem sie als interne
Co-Trainerin mitgearbeitet hatte. Über zwei soziale Netzwerke blieb
sie in Kontakt, chattete über alle möglichen Themen und gab immer
wieder selbst auch gute Tipps in Bezug auf Ihre Branche oder
»Finanzer« als Zielgruppe von Trainings. Sie machte Essenstermine
mit den Trainern, wann immer diese in ihrer Gegend waren. Langsam
und ohne aufdringlich zu wirken, brachte sie in Erfahrung, wie die
Bedingungen für eine Aufnahme in die Firma waren. Zunächst war sie
erschrocken über manche Hürden, zum Beispiel den eigentlich
notwendigen Studienabschluss, der ihr fehlte. Ihre Neugier ließ sie
nach Ausnahmen von der Regel forschen, und tatsächlich fand sie
heraus, dass Branchenerfahrung mindestens ebenso viel wie ein
Studienabschluss zählte. Kaum ein Trainer konnte in ihrer Branche
so viel Kenntnisse aus erster Hand mitbringen wie sie, noch dazu
mit Führungserfahrung. »Solche Leute sind bei uns Gold wert«,
verriet ihr eine Beraterin bei einem Mittagessen, »die meisten von
uns sind doch richtige Inzuchtgewächse und haben außer Beratung und
Training wenig andere Erfahrung.« Stefanie fasste sich ein Herz und
eröffnete einer Trainerin, der sie vertraute (erinnern Sie sich an
Stefanies Kompetenz der Menschenkenntnis), dass sie sich vorstellen
könnte, auch einmal Vollzeit als Trainerin zu arbeiten. »Dann komm
doch mal vorbei und führ ein Gespräch mit meiner Vorgesetzten«, war
die prompte Antwort, »ich glaube, wir suchen gerade wieder
jemanden.« Stefanie wurde ein wenig blass. So schnell?
Womit wir beim letzten Schritt der
KAIROS-Biografie-Analyse angelangt wären: der Frage nach dem
eigenen Rhythmus.