Ein weißer Spitz namens Fluffy flog aus einem Fenster im fünften Stock des Panna, eines nagelneuen, noch eingerüsteten Gebäudes. Fluffy schrie mit seinem Schoßhundstimmchen ununterbrochen, während er in die Tiefe stürzte, wie ein kleiner weißer, Dampf ausstoßender Wasserkessel, er prallte an der Motorhaube eines Cielo ab und schlitterte einer Gruppe Schulmädchen, die auf den Bus zum St. Mary's Convent warteten, vor die Füße. Erstaunlich wenig Blut war zu sehen, aber der Anblick von Fluffys Gehirn löste bei den Klosterschülerinnen hysterische Anfälle aus, während hoch oben der Mann, der Fluffy am Bein gepackt, über seinem Kopf herumgeschwenkt und dann ins Leere geschleudert hatte, ein gewisser Mahesh Pandey von Mirage Textiles, sich lachend aus dem Fenster beugte. Mrs. Kamala Pandey, die sich »Mami« zu nennen pflegte, wenn sie mit Fluffy sprach, wankte, rannte in die Küche und riß ein Messer mit zwanzig Zentimeter langer und fünf Zentimeter breiter Klinge von der Magnetleiste. Als Sartaj und Katekar die Tür zu Apartment 502 aufbrachen, stand Mrs. Pandey vor der Schlafzimmertür und starrte auf einen etwa brusthohen Kreis aus dicht beieinanderliegenden, fünf Zentimeter langen Kerben im Holz. Vor Sartajs Augen hob sie die Hand und stieß das Messer von neuem in die Tür. Sie mußte beide Hände zu Hilfe nehmen, um es wieder herauszubekommen.
»Mrs. Pandey«, sagte Sartaj.
Sie drehte sich um, das Messer noch immer hoch erhoben. Ihr Gesicht war bleich und tränenüberströmt, und unter ihrem weißen Nachthemd schauten zwei winzige nackte Füße hervor.
»Mrs. Pandey, ich bin Inspektor Sartaj Singh. Würden Sie bitte das Messer weglegen?« Mit erhobenen Händen und nach vorn gekehrten Handflächen tat Sartaj einen Schritt auf sie zu. »Bitte«, wiederholte er.
Doch Mrs. Pandey sah ihn aus großen, leeren Augen an und rührte sich nicht, nur ihre Unterarme zitterten. Der Flur, in dem sie standen, war schmal, und Sartaj spürte, daß Katekar von hinten an ihm vorbei wollte. Sartaj hielt inne. Noch ein Schritt, und er würde sich in gefährlicher Reichweite des Messers befinden.
»Polizei?« Die Stimme kam durch die geschlossene Tür. »Polizei?«
Mrs. Pandey fuhr zusammen, als erinnerte sie sich an etwas, dann schrie sie: »Du Dreckskerl, du Dreckskerl!« und hieb abermals auf die Tür ein. Doch inzwischen war sie erschöpft, die Klinge rutschte ab und schrammte über das Holz, und Sartaj konnte ihr Handgelenk zurückbiegen und ihr das Messer mühelos abnehmen. Daraufhin schlug sie mit den Händen auf die Tür ein, ihre Armreife zerbrachen, und dieser letzte Wutausbruch war schwer einzudämmen. Schließlich konnten Sartaj und Katekar sie zu dem grünen Sofa im Wohnzimmer führen.
»Erschießen Sie ihn«, sagte sie. »Erschießen Sie ihn!« Dann vergrub sie das Gesicht in den Händen. An ihrer Schulter waren grüne und blaue Flecke zu sehen. Katekar stand wieder an der Schlafzimmertür und redete leise auf Mr. Pandey ein.
»Weswegen haben Sie sich gestritten?« fragte Sartaj.
»Er will, daß ich aufhöre zu fliegen.«
»Wie bitte?«
»Ich bin Stewardeß. Er denkt ...«
»Ja?«
Sie hatte auffallende hellbraune Augen, und Sartajs Fragen ärgerten sie. »Er denkt, nur weil ich Stewardeß bin, fertige ich bei den Zwischenlandungen auch die Piloten ab.« Sie schaute zum Fenster.
Katekar führte den Ehemann ins Zimmer, die Hand in seinem Nacken. Mr. Pandey rückte seine schwarz-rot gestreifte, seidig glänzende Pyjamahose zurecht und lächelte Sartaj vertraulich zu. »Danke«, sagte er. »Danke, daß Sie gekommen sind.«
»Sie schlagen also Ihre Frau, Mr. Pandey?« blaffte Sartaj und beugte sich vor. Katekar setzte den Mann, dem noch immer der Mund offenstand, mit gekonntem Schwung unsanft aufs Sofa. Katekar war ein altgedienter Beamter, ein echter Kollege; seit fast sieben Jahren arbeiteten sie mit gelegentlichen Unterbrechungen zusammen. »Sie schlagen sie, und dann werfen Sie einen armen kleinen Hund aus dem Fenster? Und dann rufen Sie uns, damit wir Sie retten?«
»Sie behauptet, ich hätte sie geschlagen?«
»Das sehe ich selbst, ich habe doch Augen im Kopf.«
»Dann schauen Sie sich das mal an.« Mr. Pandeys Kinn zuckte. »Da, da, schauen Sie sich das an.« Er zog den linken Ärmel seiner Pyjamajacke hoch und entblößte eine silberne Uhr und vier tiefe bläuliche Ritze, die in gleichmäßigen Abständen von der Innenseite des Handgelenks bis nach außen zum Ellbogen liefen. »Und das ist noch nicht alles.« Er bückte sich, senkte den Kopf und schob seinen Kragen zurück. Sartaj stand auf und ging um den Couchtisch herum. Ein gewellter roter Striemen zog sich über Mr. Pandeys Schulterblatt; wie weit er hinabreichte, war nicht zu sehen.
»Woher stammt das?« fragte Sartaj.
»Sie hat einen Spazierstock aus Kaschmir auf meinem Rücken zerschlagen. So dick war der.« Mr. Pandey schloß Daumen und Zeigefinger zu einem Kreis.
Sartaj trat ans Fenster. Jungen in Schuluniform hatten sich um den kleinen weißen Kadaver versammelt und schubsten einander näher heran. Die St.-Mary's-Mädchen hielten sich kreischend die Hand vor den Mund und flehten die Jungen an stehenzubleiben. Im Wohnzimmer sah Mrs. Pandey ihren Mann strahlend an, das Kinn auf die Brust gesenkt.
»Liebe«, sagte Sartaj, »Liebe ist ein mordender Gaandu200. Armer Fluffy.«
»Namaskar443, Sartaj-saab539«, rief PSI499 Kamble durch die ganze Polizeistation. »Parulkar-saab hat nach Ihnen gefragt.«
Vier Polizisten richteten sich ruckartig auf, um gleich darauf wieder in die gewohnte bequeme Haltung zurückzusinken. Der Raum, in dem sie arbeiteten, war etwa sieben Meter breit, und quer darin standen vier Schreibtische. An einer Wand hing ein mannshohes Poster von Sai Baba039 547, unter der Glasplatte auf Kambles Tisch lag ein Ganesha206, und Sartaj hatte sich bemüßigt gefühlt, an der anderen Wand ein Bild von Guru Gobind Singh235 aufzuhängen, eine etwas bemühte Bekundung seiner säkularen Einstellung.
»Wo ist Parulkar-saab?« fragte Sartaj.
»Er läßt einem Rudel Reporter Tee servieren und erzählt ihnen etwas über unsere neue Initiative zur Verbrechensbekämpfung.«
Parulkar war stellvertretender Polizeichef von Bezirk 13, und sein Büro lag in einem separaten Gebäude nebenan, in der Polizeidirektion des Bezirks. Er liebte Reporter und besaß ein besonderes Geschick im Umgang mit ihnen; er begegnete ihnen freundlich, und neuerdings trug er während der Interviews sogar Verse vor. Sartaj fragte sich manchmal, ob er bis spätabends Gedichte las und sie vor dem Spiegel auswendig lernte.
»Gut«, sagte er. »Irgend jemand muß ihnen ja sagen, wie hart unsere Arbeit ist.«
Kamble stieß ein schnaubendes Lachen aus.
Sartaj setzte sich an seinen Schreibtisch und schlug den Indian Express auf. Zwei Mitglieder der Gaitonde-Gang waren bei einem Feuergefecht mit dem Sondereinsatzkommando in Bhayander erschossen worden. Die Polizei hatte auf Informationen reagiert, die ihr zugespielt worden waren, und die beiden Erpresser abgefangen, als sie in das Büro einer Fabrik eindringen wollten. Man hatte sie aufgefordert, stehenzubleiben und sich zu ergeben, doch statt dessen hatten sie sofort auf die Beamten geschossen, die daraufhin zurückgeschossen hatten, und so weiter und so weiter. Auf einem Farbfoto beugten sich Zivilbeamte über zwei längliche rote Flecken auf dem Boden. Außerdem wurde über zwei Einbrüche in Andheri East und einen in Worli berichtet, bei dem ein junges Paar erstochen worden war. Während Sartaj las, redete ein älterer Mann, der nebenan vor Kambles Schreibtisch saß, von langsamem Sterben. Seine achtzigjährige Tante mütterlicherseits sei die Treppe hinuntergefallen und habe sich die Hüfte gebrochen. Man habe sie in die Shivsagar Polyclinic gebracht, wo sie die ständigen Schmerzen in ihren alten Knochen mit gewohntem Gleichmut ertragen habe. Immerhin sei sie '42 mit Gandhi marschiert, ein berittener Polizist habe ihr damals mit seinem Schlagstock das Schlüsselbein gebrochen, und später habe sie im Gefängnis auf dem nackten Boden schlafen müssen. Sie habe eine altmodische Kraft und Stärke besessen und es als ihre Pflicht in dieser Welt betrachtet, sich aufzuopfern. Doch als die Druckgeschwüre zu tiefen roten Wunden an Armen, Schultern und Rücken erblüht seien, habe selbst sie gemeint, es sei vielleicht doch an der Zeit zu sterben. Nie zuvor habe er dergleichen von ihr gehört, jetzt aber habe sie gestöhnt, sie wolle sterben. Und es habe zweiundzwanzig Tage gedauert, bis sie erlöst worden sei, zweiundzwanzig Tage bis zu dem seligen Dunkel.
»Wenn Sie sie gesehen hätten«, sagte der ältere Mann, »Sie hätten auch geweint.«
Kamble blätterte in einem Register. Sartaj glaubte dem älteren Mann aufs Wort, und er wußte auch, was sein Problem war: Ohne die Unbedenklichkeitsbescheinigung der Polizei würde die Shivsagar Polyclinic den Leichnam nicht freigeben - ein handgeschriebener Text mit dem Briefkopf der Brihanmumbai Municipal Corporation, der besagte, daß die Frau nach Überzeugung der Polizei eines natürlichen Todes gestorben und ein Verbrechen ausgeschlossen sei, die Leiche könne den Verwandten übergeben werden. Man wollte auf diese Weise verhindern, daß Morde - Mitgiftmorde und dergleichen - als Unfälle durchgingen, und Unterinspektor Kamble sollte das Papier im Namen der allzeit wachsamen khakiuniformierten Wächter Mumbais unterzeichnen. Es lag griffbereit auf seinem Schreibtisch, doch er war vollauf damit beschäftigt, etwas in sein Register einzutragen. Der ältere Mann hielt die Hände gefaltet, das weiße Haar fiel ihm in die Stirn, und er sah den ungerührten Kamble aus feuchten Augen an. »Bitte, Sir«, sagte er.
Alles in allem eine wohldurchdachte Vorstellung, fand Sartaj, die Trauer war echt, nur das mit Gandhi und dem gebrochenen Schlüsselbein hatte stark übertrieben und melodramatisch vorwurfsvoll geklungen. Der alte Mann wußte so gut wie Kamble, daß eine Zahlung erfolgen mußte, ehe das Papier unterzeichnet wurde. Kamble würde wahrscheinlich auf achthundert Rupien bestehen, der Mann aber nur fünfhundert geben wollen; die Opfer der älteren Generation waren jedoch in etlichen Filmen bis zum Überdruß strapaziert worden, und eine Strategie, die mit der Degeneration Indiens argumentierte, ließ Kamble kalt. Er klappte sein Register zu, griff nach einem anderen, grünen, und begann aufmerksam darin zu lesen. Der alte Mann fing seine Geschichte noch einmal von vorn an, beim Treppensturz seiner Tante. Sartaj stand auf, reckte sich und ging in den Hof hinaus. Im Schatten der Galerie, die sich über die ganze Vorderfront des Gebäudes zog, und unter dem blechernen Vordach am Eingang hatte sich die übliche Menge versammelt: Schwarzhändler und Schmarotzer, Verwandte derer, die gefesselt im Verhörraum saßen, Boten und Abgesandte von Geschäftsleuten der Gegend, Bittsteller und der eine oder andere von Unglück oder plötzlicher Not Gezeichnete, der in einer Mischung aus Hoffnung und Schmerz zu Sartaj aufsah.
Sartaj ging an ihnen allen vorbei. Eine zweieinhalb Meter hohe Mauer aus demselben rötlichbraunen Backstein wie das Revier und die Bezirksdirektion umgab den ganzen Komplex. Beide Gebäude hatten zwei Stockwerke und die gleichen roten Ziegeldächer, die gleichen Bogenfenster. Ein Versprechen lag in den strengen Bögen, den dicken Mauern und den trutzigen Fassaden, sie vermittelten den beruhigenden Eindruck wuchtiger Macht, der Macht von Recht und Ordnung. Ein Wachposten nahm Haltung an, als Sartaj die Treppe hinaufstieg. Er hörte Parulkar schon von weitem lachen, noch während er sich durch das Labyrinth der Arbeitskabinen mit ihren Papierstapeln schlängelte. Er klopfte kräftig an das glänzende Holz von Parulkars Tür und trat ein. Lachende Gesichter wandten sich ihm zu; sogar Reporter der überregionalen Abendzeitungen waren gekommen, um etwas über Parulkars Initiative zu erfahren oder wenigstens ein Gedicht zu hören. Parulkar brachte Auflage.
»Meine Herren«, sagte Parulkar und wies stolz auf Sartaj, »mein wagemutigster Mitarbeiter, Sartaj Singh.« Die Korrespondenten setzten unter längerem Geklapper ihre Teetassen ab und sahen Sartaj skeptisch an. Parulkar kam um den Schreibtisch herum und rückte seinen Gürtel zurecht. »Einen Moment, bitte. Wir müssen draußen kurz etwas besprechen, dann berichtet er Ihnen von unserer Initiative.«
Parulkar schloß die Tür und führte Sartaj in eine winzige Küche an der Rückseite seiner Kabine. An der Wand prangte ein nagelneuer Brittex-Wasserfilter. Parulkar drückte ein paar Knöpfe, und ein glitzernder Wasserstrahl schoß in das Glas, das er darunterhielt.
»Schmeckt sehr rein«, sagte Sartaj. »Wirklich ausgezeichnet.«
Parulkar trank in tiefen Zügen aus einem Metallbecher. »Ich habe das beste Modell bestellt«, sagte er. »Sauberes Wasser ist das A und O.«
»Ja, Sir.« Sartaj nahm einen Schluck. »Wagemutig, meinen Sie also, Sir?«
»Das mögen sie. Und wagemutig mußt du auch sein, wenn du deinen Posten behalten willst.«
Parulkar hatte abfallende Schultern und einen birnenförmigen Rumpf, vor dem selbst die besten Schneider kapitulierten. Seine Uniform war schon jetzt zerknittert, aber das war nichts Ungewöhnliches. Seine Stimme klang matt, und in seinem Blick lag eine Resignation, die Sartaj nicht an ihm kannte.
»Stimmt was nicht, Sir? Gibt es Probleme mit der Initiative?«
»Nein, nein, keine Probleme mit der Initiative, damit hat es nichts zu tun. Es ist etwas anderes.«
»Nämlich, Sir?«
»Sie wollen mir an den Kragen.«
»Wer, Sir?«
»Wer schon?« Es klang ungewohnt schroff. »Die Regierung. Die wollen mich loswerden. Sie finden, ich bin weit genug aufgestiegen.«
Parulkar hatte als einfacher Unterinspektor angefangen und war jetzt stellvertretender Polizeichef. Er war bei der Polizei von Maharashtra die Karriereleiter hochgeklettert und hatte dann den schier unmöglichen Sprung in den erhabenen indischen Polizeidienst geschafft, und zwar aus eigener Kraft, durch gute Arbeit, mit Humor und endlosen Überstunden - eine erstaunliche, beispiellose Karriere. Und jetzt war Parulkar Sartajs Mentor. Er leerte sein Glas und schenkte sich aus dem neuen Brittex-Filter nach.
»Aber warum, Sir?« fragte Sartaj. »Warum?«
»Ich habe der letzten Regierung zu nahe gestanden. Sie glauben, ich bin Anhänger der Kongreßpartei.«
»Dann will man Sie wohl wirklich loswerden. Aber das heißt ja noch nichts. Bis zu Ihrer Pensionierung haben Sie noch viele Jahre vor sich.«
»Erinnerst du dich an Dharmesh Mathija?«
»Ja, der Mann, der unsere Mauer gebaut hat.« Mathija war Bauunternehmer, einer der auffallend erfolgreichen in den nördlichen Vororten, ein Mann, dem der Ehrgeiz wie Fieberschweiß auf der Stirn stand. Er hatte die Mauer um das Revier in Rekordzeit nach hinten hinaus verlängert, rings um die kürzlich aufgeschüttete Niederung. Es gab dort jetzt einen Hanuman-Tempel260, eine kleine Rasenfläche und junge Bäume, die man aus den rückwärtigen Fenstern des Reviers sah. Parulkars Leidenschaft war Verbesserung. Er wiederholte es oft: Wir müssen besser werden. Mathija und Söhne hatten den Sportplatz verbessert, natürlich kostenlos. »Was ist mit Mathija, Sir?« fragte Sartaj.
Parulkar trank in kleinen Schlucken, die er im Mund herumschwenkte. »Man hat mich gestern früh ins Büro des DG161 bestellt.«
»Und, Sir?«
»Der DG hat einen Anruf vom Innenminister bekommen. Mathija hat damit gedroht, Klage einzureichen. Er sagt, ich hätte ihn gezwungen, für mich zu arbeiten. Bauarbeiten.«
»Das ist ja absurd, Sir. Er ist doch von sich aus gekommen. Wie oft war er hier bei Ihnen! Das haben wir alle gesehen. Er hat die Arbeit doch gern gemacht.«
»Nicht die Mauer hier. Bei mir zu Hause.«
»Bei Ihnen?«
»Das Dach mußte dringend repariert werden. Es ist ein sehr altes Haus, du kennst es ja. Der Stammsitz meiner Familie sozusagen. Ein neues Badezimmer war auch fällig. Mamta395 und meine Enkelinnen sind wieder bei uns eingezogen, wie du weißt. Deshalb.«
»Und?«
»Mathija hat die Arbeiten ausgeführt, und zwar sehr ordentlich. Aber jetzt behauptet er, ich hätte ihm gedroht, und er hätte eine Bandaufnahme davon.«
»Sir?«
»Ich habe ihn einmal angerufen und ihm gesagt, er soll sich beeilen, damit er vor dem Monsunregen fertig wird. Vielleicht war ich etwas ungehalten.«
»Was soll's, Sir? Soll er doch vor Gericht gehen. Soll er tun, was er nicht lassen kann. Er wird schon sehen, was wir dann mit ihm machen. Auf seinen Baustellen, in seinen Büros ...«
»Das Ganze ist nur ein Vorwand, Sartaj. Die wollen mich damit unter Druck setzen und mir klarmachen, daß ich unerwünscht bin. Sie begnügen sich nicht damit, mich zu versetzen, sie wollen mich ganz loswerden.«
»Sie werden sich zu wehren wissen, Sir.«
»Ja.« Niemand beherrschte das politische Spiel so wie Parulkar, zumindest niemand, den Sartaj kannte. Er war ein Meister der Kunst, vielseitige Beziehungen zu knüpfen, Hintertüren zu benutzen, Kontakte zu Staatsdienern und Wirtschaftsführern zu pflegen und sie bei Laune zu halten, Firmen ihre Profite zu lassen und ihnen zum beiderseitigen Nutzen einen vertrauten Umgang mit Polizeibeamten zu ermöglichen, fein abgewogene Gefälligkeiten zu erweisen und im Gedächtnis zu behalten, Absprachen zu treffen und sie wieder zu vergessen. Er liebte diesen subtilen Sport, er war einfach der Beste. Unfaßbar, wie müde er wirkte. Sein Kragen war schlaff, und sein Bauch wirkte nicht mehr munter und fröhlich, sondern nur noch schwer von Bedauern. Er stürzte ein weiteres Glas Wasser hinunter. »Du solltest reingehen, Sartaj. Die warten auf dich.«
»Tut mir leid, Sir.«
»Ich weiß.«
»Sir.« Er hätte noch etwas sagen sollen, etwas Dankbares und irgendwie Abschließendes darüber, was Parulkar ihm bedeutete, etwas über die gemeinsamen Jahre, die Fälle, die sie gelöst, und andere, die sie aufgegeben hatten, die Tricks, die er von ihm gelernt hatte, die Kunst, als Polizist in der Stadt zu überleben, aber er brachte nichts heraus und konnte nur Haltung annehmen. Parulkar nickte. Sartaj war sich sicher, daß er verstand.
Bevor er den Raum betrat, überprüfte Sartaj den straffen Sitz seines Hemdes und strich sich über den Turban. Dann ging er hinein und erzählte den Reportern etwas über mehr Polizeipräsenz auf mehr Straßen, über kommunale Interaktion, über strenge Überwachung und Transparenz, darüber, wie alles besser werden würde.
Zum Mittagessen ließ sich Sartaj einen Uttapam aus dem Restaurant Udipi645 nebenan bringen. Die scharfen Chilis wirkten belebend, doch als er aufgegessen hatte, kam er nicht mehr von seinem Stuhl hoch. Es war eine ganz leichte Mahlzeit gewesen, aber er war fix und fertig, fühlte sich wie gelähmt. Er schaffte es kaum noch, die Bank von der Wand herunterzuklappen, seine Schuhe auszuziehen und sich auf dem Holz auszustrecken. Er verschränkte die Arme. Ein tiefer Atemzug, dann noch einer, und die Kante, die ihm in den Schenkel schnitt, wurde weich, er versank in einer schwebenden Schläfrigkeit, in der er Einzelheiten vergessen konnte, und die Welt löste sich in einem weißen Nebel auf. Doch dann riß ihn eine starke Unterströmung mit, er wurde plötzlich wütend und wußte wieder, was der Grund seiner Unruhe war. Alle Triumphe Parulkars würden ausgelöscht werden, würden sinnlos werden, wenn er aufgrund einer Intrige in Ungnade fiel. Und wenn Parulkar nicht mehr da war, was geschah dann mit ihm, Sartaj? Was würde aus ihm werden? Er hatte schon seit einiger Zeit das Gefühl, im Leben nichts erreicht zu haben. Er war über Vierzig, ein geschiedener Polizei-Inspektor mit mittelmäßigen beruflichen Perspektiven. Andere aus seinem Jahrgang hatten ihn überholt, während er selbst sich abstrampelte und auf der Stelle trat. Er blickte in die Zukunft und sah, daß er es nicht so weit bringen würde wie sein Vater und schon gar nicht so weit wie der gefürchtete Parulkar. Mit mir ist nichts mehr los, dachte er trübselig. Er setzte sich auf, rieb sich das Gesicht, schüttelte heftig den Kopf und zog seine Schuhe wieder an. Dann marschierte er in den vorderen Raum, wo sich PSI Kamble mit kreisender Bewegung den Bauch rieb. Er schien hochzufrieden.
»Hat's geschmeckt?« fragte Sartaj.
»Ein absolut erstklassiges Biryani aus dem Laziz, diesem neuen Restaurant in der S. T. Road«, sagte Kamble. »Kommt in einem schicken Tontopf. Wir werden immer vornehmer hier in Kailashpada.« Kamble straffte sich und beugte sich vor. »Hören Sie: Sie wissen doch von dem Zusammenstoß zwischen diesen beiden Gaandus und dem Sondereinsatzkommando gestern in Bhayander?«
»Gaitonde-Gang, ja?«
»Und Sie wissen auch, daß der Krieg zwischen der Gaitonde-Gang und der Suleiman-Isa-Gang wieder eskaliert? Die S-Company133 hat Supari608 dafür gezahlt, daß die beiden umgelegt werden, hab ich gehört. Zwanzig Lakhs360 sollen die Jungs vom Sondereinsatzkommando bekommen haben.«
»Dann sollten Sie zu denen gehen.«
»Was glauben Sie, worauf ich spare, Boß? Da reinzukommen kostet, soviel ich weiß, fünfundzwanzig Lakhs.«
»Ganz schön teuer.«
»Allerdings.« Kambles Gesicht glühte. »Aber mit Geld erreicht man alles, mein Freund, und um Geld zu machen, muß man Geld ausgeben.«
Sartaj nickte, und Kamble vertiefte sich wieder in sein Register. Sartaj hatte es einst von einem wegen Mordes verurteilten Slumlord gehört, das bittere Geheimnis des Lebens in der Metropole: Paisa phek, tamasha615 dekh466. Sie waren einmal buchstäblich aufeinandergeprallt, der Slumlord und er, als sie in einem Basti063 in Andheri um die Ecke bogen. Sie hatten einander sofort erkannt, obwohl Sartaj Zivilkleidung trug und der Slumlord jetzt einen Bauch hatte. »Are028, Bahzad Hussain«, hatte Sartaj gesagt, »sollten Sie nicht fünfzehn Jahre dafür absitzen, daß Sie Anwar Yeda674 kaltgemacht haben?« Bahzad Hussain hatte nervös gelacht und gesagt: »Sie wissen ja, wie das ist, Inspektor-saab, ich hatte Hafturlaub, und jetzt steht in meiner Akte, daß ich mich nach Bahrain abgesetzt habe, paisa phek, tamasha dekh.« Genauso war es - wenn man Geld hinauszuwerfen hatte, konnte man sich das Spektakel ansehen, die fröhlich am Trapez schwingenden Richter, die durch Reifen springenden Politiker, die lustigen Polizisten mit ihren roten Pappnasen. Bahzad Hussain war so vernünftig gewesen, anstandslos mit aufs Revier zu kommen. Er wirkte äußerst selbstbewußt und wollte nichts weiter als eine Tasse Tee und die Möglichkeit, ein paar Anrufe zu tätigen. Er machte Witze und lachte viel. Ja, er hatte sein Geld hinausgeworfen und sich das Spektakel angesehen. Diese ganzen Unannehmlichkeiten mit der Polizei waren für ihn nichts weiter als ein bißchen verlorene Zeit. Paisa phek, tamasha dekh.
Vor Kambles Schreibtisch stand inzwischen eine Familie, Mutter, Vater und ein Sohn in kurzer blauer Uniformhose. Der Vater, ein Schneider, war am frühen Nachmittag noch einmal aus seinem Laden nach Hause gegangen, um einen vergessenen Anzugstoff zu holen. Er hatte eine Abkürzung genommen und gesehen, wie sein Sohn, der um diese Zeit in der Schule hätte sein sollen, mit einigen nichtsnutzigen Straßenkindern an der Fabrikmauer Murmeln spielte.
Die Mutter führte das Wort. »Ich schlage ihn, Saab, sein Vater schreit ihn an, aber nichts hilft. Die Lehrer haben's aufgegeben. Er schreit zurück, unser Sohn. Er hält sich für besonders schlau. Er glaubt, er braucht keine Schule. Ich hab's satt, Saab. Behalten Sie ihn hier, stecken Sie ihn ins Gefängnis.« Sie machte eine Geste, als wollte sie ihre Hände leeren, und tupfte sich mit dem Ende ihres blauen Pallu469 die Augen. Beim Anblick ihrer Hände und der muskulösen Arme war sich Sartaj sicher, daß sie als Dienstmädchen für die Angestelltenfrauen in der Shiva-Wohnsiedlung Geschirr und Wäsche wusch. Der Sohn hielt den Kopf gesenkt und rieb einen Schuh am anderen.
Sartaj krümmte den Finger. »Komm mal her.« Der Junge trottete zu ihm. »Wie heißt du?«
»Sailesh.« Er war ungefähr dreizehn, wirkte recht gescheit und hatte eine modisch-lässige Frisur und blitzend schwarze Augen.
»Hallo, Sailesh.«
»Hallo.«
Sartaj schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, daß es knallte. Sailesh zuckte zusammen und wich zurück. Sartaj packte ihn am Kragen und zerrte ihn um den Schreibtisch herum.
»Du hältst dich wohl für einen harten Burschen, was, Sailesh? So hart, daß du vor niemandem Angst hast, was, Sailesh? Dann werd ich dir mal zeigen, was wir hier mit Taporis621 wie dir machen, Sailesh.« Sartaj führte ihn aus dem Zimmer und durch eine Tür in den Verhörraum und riß ihn bei jedem Schritt hoch. Hinten in dem Raum saß Katekar mit einem anderen Polizisten neben einer Reihe am Boden kauernder, gefesselter Männer.
»Katekar!« rief Sartaj.
»Sir?«
»Welcher ist der härteste Bursche von denen da?«
»Der hier, Sir, jedenfalls hält er sich dafür. Narain Swami, ein Taschendieb.«
Sartaj schüttelte Sailesh durch, daß sein Kopf hin und her schlenkerte. »Der große Mann hier glaubt, er ist härter als wir alle zusammen. Zeigen Sie's ihm. Geben Sie Narain Swami Dum184, und zeigen Sie's dem großen Mann.«
Narain Swami duckte sich, aber Katekar zog ihn hoch und bog ihn nach vorn. Swami sträubte sich, und seine Ketten klirrten, doch als der erste Schlag mit flacher Hand auf seinen Rücken klatschte, begriff er. Beim zweiten heulte er sehr überzeugend auf, und nach dem dritten und vierten schluchzte er: »Bitte, Saab, bitte, hören Sie auf!« Nach dem sechsten weinte Sailesh dicke Tränen. Er wandte das Gesicht ab, doch Sartaj faßte ihn am Kinn und drehte es wieder herum.
»Willst du noch mehr sehen, Sailesh? Weißt du, was wir als nächstes machen?« Sartaj zeigte auf die dicke weiße Stange, die knapp unter der Decke von Wand zu Wand lief. »Wir hängen Swami an die Ghori228. Wir binden ihn an Händen und Füßen an der Stange fest und geben's ihm mit dem Patta486. Zeigen Sie ihm den Patta, Katekar.«
Beim Anblick des dicken Riemens flüsterte Sailesh: »Nein, nicht.«
»Wie?«
»Bitte nicht.«
»Willst du hier landen, Sailesh? Wie Narain Swami?«
»Nein.«
»Wie war das?«
»Nein, Saab. Bitte nicht.«
»Du wirst aber hier landen, wenn du so weitermachst.«
Sartaj drehte ihn an den Schultern herum und führte ihn zur Tür. Narain Swami stand noch immer vorgebeugt da und schickte ein Grinsen von unten herauf. Draußen saß Sailesh dann mit einer Colaflasche zwischen den Knien auf einem Metallstuhl und hörte Sartaj schweigend zu. Er nahm ab und zu einen Schluck, und Sartaj erzählte ihm, wie Leute vom Schlage Narain Swamis endeten: verprügelt, ausgebrannt, drogenabhängig, immer wieder im Gefängnis, erschöpft, kaputt und schließlich tot. Und alles nur, weil sie nicht in die Schule gegangen seien und ihrer Mutter nicht gehorcht hätten.
»Ich geh wieder in die Schule«, sagte Sailesh.
»Versprochen?«
»Versprochen.« Sailesh faßte sich an den Hals.
»Halte dein Versprechen, sonst komm ich dich holen«, sagte Sartaj. »Ich hasse Leute, die ihre Versprechen nicht halten.«
Sailesh nickte, und Sartaj führte ihn zu seinen Eltern hinaus. Am Tor hielt die Mutter inne. Sie trat nahe an Sartaj heran, hob die geschlossenen Fäuste und öffnete sie. In der rechten Hand hielt sie das zerknitterte Ende ihres Pallu, in der linken einen sauber gefalteten Hundert-Rupien-Schein.
»Saab«, sagte sie.
»Nein«, sagte Sartaj. »Nein.«
Sie hatte geöltes Haar und gerötete Augen. Sie lächelte kaum merklich, hob die Hände noch höher und öffnete sie noch weiter.
»Nein.« Sartaj drehte sich um und ging davon.
Katekar fuhr mit müheloser Eleganz und nutzte geschickt jede Lücke im Verkehr. Sartaj schob seinen Sitz zurück und schaute schläfrig zu, wie er schaltete und mit dem Gypsy zentimetergenau zwischen Lastwagen und Autos schlüpfte. Sartaj regte das längst nicht mehr auf. Er rechnete zwar noch immer jeden Augenblick mit einem Unfall, aber von Katekar hatte er gelernt, sich nicht darum zu kümmern. Vertrauen war alles. Man fuhr, und immer bremste jemand plötzlich, und immer war der andere der Gaandu. Katekar kratzte sich zwischen den Beinen, knurrte »He, Bhenchod084« und zwang den Fahrer eines Doppeldeckerbusses mit gebieterischem Blick anzuhalten. Sie bogen nach links ab, und Sartaj mußte grinsen, als Katekar mit großspurigem Schwung in die Kurve fuhr.
»Sagen Sie, Katekar«, fragte er, »wer ist Ihr Lieblingsschauspieler?«
»Ein Filmschauspieler?«
»Was sonst?«
Katekar wurde verlegen. »Wenn ich mir überhaupt mal einen Film anschaue ...« Er spielte mit dem Schalthebel und wischte ein Stäubchen von der Windschutzscheibe. »Wenn im Fernsehen mal ein Film kommt ...« Im Fernsehen liefen eigentlich ständig Filme. »Dev Anand156 sehe ich gern.«
»Dev Anand? Im Ernst?«
»Ja, Sir.«
»Der ist auch mein Favorit.« Sartaj mochte die alten Schwarzweißfilme, in denen Dev Anand in einem unmöglichen Winkel über die Leinwand krängte, unglaublich schneidig und weltmännisch. In seiner lässigen Vollkommenheit lag ein seltsamer Trost, die Sehnsucht nach einer Einfachheit, die Sartaj nie gekannt hatte. Er hatte Katekar eher für einen begeisterten Amithab-Bachchan-Anhänger gehalten, einen Fan der Muskelpakete Sunil Shetty607 oder Akshay Kumar, die überdimensional von ihren Plakaten herabschauten wie Exemplare einer gigantischen, aufgeblähten neuen Spezies. »Welcher Dev-Anand-Film gefällt Ihnen am besten, Katekar?«
Katekar legte lächelnd den Kopf schräg, die perfekte Dev-Anand-Imitation. »Na ja, Sir, Guide247, Sir. Natürlich.«
Sartaj nickte. »Natürlich.« Guide war ein Film in grellen Sechzigerjahrefarben, in denen man Devs tiefe, schwärmerische Liebe zu Waheeda666 und die Bitterkeit seines tragischen Endes so richtig auskosten konnte. Sartaj hatte die lange Todesszene immer kaum ertragen, die Einsamkeit des Helden und seine verblühte Liebe. Doch nun saß Katekar mit seinen überraschenden Dev-Sympathien neben ihm, und Sartaj lachte und sang: »Gata rahe mera dil ...215« Katekar wippte mit dem Kopf, und als Sartaj nach »Tu hi meri manzil« nicht mehr weiterwußte, sang er die ganze nächste Strophe bis zum Antra023. Sie grinsten einander an.
»Solche Filme werden heute gar nicht mehr gemacht«, sagte Sartaj.
»Nein, Sir.« Die Straße war bis zur Kreuzung am Karanth Chowk124 frei. Sie beschleunigten und fuhren an Gruppen von Wohnblöcken vorbei, die sich rechts hinter einer langen grauen Mauer versteckten. Links öffneten sich die verwahrlosten Hütten eines Basti direkt auf die Straße. An der Ampel kam Katekar nach rasanter Fahrt geschmeidig zum Stehen.
»Es gibt Gerüchte über Parulkar-saab«, sagte er und strich mit dem Zeigefinger über die Innenseite des Lenkrads.
»Was für Gerüchte?«
»Daß er krank ist und daran denkt, in den Ruhestand zu gehen.«
»Was hat er denn?«
»Das Herz.«
Ein gutes Gerücht, dachte Sartaj, verglichen mit anderen Gerüchten. Vielleicht hatte Parulkar es selbst in die Welt gesetzt, gemäß dem Grundprinzip, daß ein Geheimnis unmöglich zu hüten war, daß über kurz oder lang jeder irgend etwas wissen würde und es besser war, die wilden Spekulationen, zu denen es kommen würde, zu steuern, sie zu formen und zum eigenen Vorteil zu nutzen.
»Daß er geht, davon weiß ich nichts«, sagte Sartaj, »aber er prüft seine Möglichkeiten.«
»Für sein Herz?«
»So ähnlich.«
Katekar nickte. Er schien nicht allzu besorgt. Sartaj wußte, daß er nicht gerade ein Fan von Parulkar-saab war, obwohl er ihm, Sartaj, gegenüber nie schlecht über ihn geredet hätte. Nur einmal hatte er gesagt, er traue Parulkar nicht. Er hatte das nicht begründet, und Sartaj hatte seine Zweifel einem hartnäckigen Antibrahmanismus zugeschrieben. Katekar traute den Brahmanen096 nicht, und die Marathen mochte er wegen ihrer Gier und ihrer Kshatriya-Arroganz349 nicht. Sartaj begriff, daß Katekars Vorurteile aus seiner OBC-Sicht459 durchaus gerechtfertigt waren. Schauen Sie sich doch die Geschichte an, hatte er mehr als einmal gesagt. Sartaj hatte nie bestritten, daß die niederen Kasten jahrhundertelang grausam behandelt worden waren. Er diskutierte mit Katekar über die Kastenpolitik der Vergangenheit und der Gegenwart, zog die Schlußfolgerungen seines Kollegen jedoch in Zweifel. Solche Gespräche waren stets freundlich verlaufen, und Sartaj war froh, daß Katekars Geschichte nicht unmittelbar etwas mit hochnäsigen Jatt Sikhs287 595 zu tun hatte. Sie kannten sich schon sehr lange, und Sartaj konnte sich auf ihn verlassen.
Sie bogen in einen schmalen Parkplatz vor dem Restaurant Sindur596 ein, »Fine Indian and Continental Dining«. Sartaj nahm eine weiße Air-India-Tasche vom Rücksitz. Er zwängte sich an einem Peugeot und dann an einem Betelverkäufer am Eingang des Restaurants vorbei und ließ einer Reihe leitender Angestellter in weißen Hemden den Vortritt. Schräg gegenüber auf der anderen Straßenseite sah er ein großes weißes Schild, auf dem in roten Lettern »Delite Dance Bar and Restaurant« stand. Sein schweißnasses Hemd klebte ihm von den Schultern bis zum Gürtel hinab am Rücken. Das Sindur war wie ein Hochzeits-Shamiana581 dekoriert, bis hin zu den Instrumenten der Kapelle hinter dem Kassenschalter und der von Ornamenten umrahmten Speisekarte. Katekar nahm in einer Vierernische Sartaj gegenüber Platz, und beide senkten unter dem kühlen Luftstrom des Deckenventilators dankbar den Kopf. Ein Kellner brachte zwei Pepsi, und sie tranken gierig, doch noch ehe ihre Gläser halb leer waren, kam Shambhu Shetty an ihren Tisch. Proper wie immer in seinen Bluejeans und dem blauen Jeanshemd, glitt er neben Sartaj auf die Bank.
»Hallo, Saab.«
»Alles in Ordnung, Shambhu?«
»Ja, Saab.« Shambhu gab beiden die Hand. Wie immer beneidete Sartaj ihn einen Moment lang um seinen eisernen Griff, seine straffen Schultern und sein glattes vierundzwanzigjähriges Gesicht. Letztes Jahr hatte er sich einmal zurückgelehnt, sein Hemd hochgezogen und ihnen seinen gebräunten Bauch gezeigt, die kleinen Muskeldreiecke, die bis zur Brust hinaufreichten. Der Kellner brachte Shambhu frischen Ananassaft. Getränke mit Kohlensäure oder Zucker lehnte er ab.
»Waren Sie wieder bergsteigen, Shambhu?« fragte Katekar.
»Anfang nächster Woche gehe ich, mein Freund. Auf den Pindari-Gletscher.« Zwischen Sartaj und Shambhu lag ein dicker brauner Umschlag auf dem roten Plastiksitz. Sartaj zog ihn auf seinen Schoß und schaute hinein. Er enthielt die üblichen Hundert-Rupien-Scheine, auf der Bank mit Gummiband zu zehn kleinen Zehntausend-Rupien-Stapeln gebündelt.
»Den Pindari-Gletscher?« fragte Katekar.
»Kommen Sie nie aus Bombay raus, Yaar667?« fragte Shambhu erstaunt. »Der liegt im Himalaja. Oberhalb von Nainital.«
»Ah. Und wie lange bleiben Sie?«
»Zehn Tage. Keine Angst, bis zum nächsten Mal bin ich wieder da.«
Sartaj holte die Air-India-Tasche zwischen seinen Füßen hervor, zog den Reißverschluß auf und steckte den Umschlag hinein. Das Revier und die Delite Dance Bar hatten ein monatliches Abkommen. Shambhu und er vertraten die beiden Stellen nur, der eine zahlte, der andere kassierte. Es war nichts Persönliches dabei, sie trafen sich seit einem Jahr und einigen Monaten, seit Shambhu das Delite übernommen hatte, und sie mochten sich. Shambhu war ein guter Kerl, effizient, zurückhaltend und äußerst fit. Er versuchte immer wieder, Katekar zum Bergsteigen zu überreden.
»Das macht den Kopf frei«, sagte er. »Was meinen Sie, warum die großen Yogis676 ihre Tapasya620 immer hoch in den Bergen gemacht haben? Wegen der Luft. Sie fördert die Meditation und bringt Frieden. Sie tut gut.«
Katekar hob sein leeres Pepsiglas. »Meine Tapasya ist hier, Bruder. Nur hier finde ich jeden Abend Erleuchtung.«
Shambhu lachte und stieß mit Katekar an. »Verbrennt uns nicht mit dem Feuer Eurer Askese, o Meister. Sonst muß ich Euch ein paar Apsaras025 schicken, auf daß sie Euch ablenken.«
Die beiden kicherten, und Sartaj mußte lächeln bei der Vorstellung, wie Katekar mit gekreuzten Beinen auf einem Hirschfell saß, schier berstend vor angestauter Energie. Er zog den Reißverschluß der Tasche wieder zu und stieß Shambhu mit dem Ellbogen an. »Hören Sie, Shambhu-rishi533«, sagte er. »Wir müssen eine Razzia machen.«
»Was, schon wieder? Seit der letzten sind doch noch keine fünf Wochen vergangen.«
»Sieben ungefähr, glaube ich. Fast zwei Monate. Aber jetzt haben wir eine neue Regierung, Shambhu, da hat sich einiges geändert.« In der Tat. Die Rakshaks518 stellten die neue Regierung im Land. Die stramme rechtsgerichtete Organisation von einst, die immer stolz auf ihre disziplinierten, aufstrebenden Kader gewesen war, versuchte sich nun zu einer Partei von Staatsmännern zu mausern. Als Minister und Staatssekretäre hatten sie ihren blindwütigen Nationalismus gemäßigt, aber ihren Kampf gegen kulturellen Niedergang und westliche Korruption würden sie nicht aufgeben. »Sie haben versprochen, die Stadt zu reformieren.«
»Ja«, sagte Shambhu. »Bipin Bhonsle, der Schweinehund. Diese ganzen Reden, seit er Minister ist, daß er mit der Korruption aufräumen will. Und was sollen die markigen Sprüche, mit denen er neuerdings um sich schmeißt, von wegen man müßte die indische Kultur schützen? Sind wir denn keine Inder? Schützen wir unsere Kultur nicht? Führen die Mädchen denn keine indischen Tänze auf?«
Genau das taten sie, drehten sich unter Diskolampen zu Filmi-Musik, züchtig in Choli123 und Sari559 , und die Männer hielten Fächer aus Zwanzig- und Fünfzig-Rupien-Scheinen hoch, von denen sie sich bedienen konnten. Aber die Delite Dance Bar als einen Tempel der Kultur hinzustellen, das war denn doch eine Kühnheit, die Sartaj und Katekar die Sprache verschlug. Sie sagten beide gleichzeitig »Shambhu«, und Shambhu hob die Hände. »Okay, okay. Wann?«
»Nächste Woche«, antwortete Sartaj.
»Machen Sie's, bevor ich fahre. Am Montag.«
»Gut. Um Mitternacht.« Es gab eine neue Verordnung, wonach die Bars um halb zwölf schließen mußten.
»Ach, kommen Sie, Saab, Sie nehmen den armen Mädchen ja den Roti535 aus dem Mund. Das ist viel zu früh.«
»Halb eins.«
»Frühestens eins, bitte. Seien Sie gnädig. Da sind dann immer noch die halben Nachteinnahmen hin.«
»Gut, um eins. Aber sorgen Sie dafür, daß noch ein paar Mädchen da sind, wenn wir kommen. Wir müssen welche verhaften.«
»Dieser Schweinehund Bhonsle. Bars zumachen, na gut, aber was soll dieser neue Shosha591, daß Mädchen verhaftet werden? Warum? Wozu? Sie versuchen doch nur, ihren Lebensunterhalt zu verdienen.«
»Der neue Shosha, Shambhu, das ist unbarmherzige Disziplin und Ehrlichkeit. Fünf Mädchen in den Transporter. Nehmen Sie fünf Freiwillige. Welche Namen sie angeben, bleibt ihnen überlassen. Und es wird nicht lange dauern. Um drei, halb vier sind sie zu Hause. Wir setzen sie ab.«
Shambhu nickte. Er schien seine Mädchen wirklich zu mögen und sie ihn, und soviel Sartaj gehört hatte, versuchte er nie, ihnen mehr als die üblichen sechzig Prozent von ihren Trinkgeldern abzunehmen. Von den besonders beliebten nahm er nur vierzig. Ein zufriedenes Mädchen bringt mehr Geld, hatte er einmal zu Sartaj gesagt. Er war ein guter Geschäftsmann. Sartaj setzte große Hoffnungen auf ihn.
»Okay, Boß, kein Problem. Wir richten uns drauf ein.« Draußen ging Shambhu vor dem Gypsy her, als sie sich rückwärts in den dichter werdenden Verkehr einfädelten, und grinste übers ganze Gesicht.
»Was ist?« fragte Sartaj.
»Wissen Sie, Saab, wenn ich den Mädchen sage, daß Sie die Razzia machen, Sie höchstpersönlich, dann melden sich zehn Freiwillige.«
»Hören Sie mal, Chutiya132«, sagte Sartaj.
»Zwölf sogar, wenn Sie im Transporter mitfahren«, fuhr Shambhu fort. »Manika fragt dauernd nach Ihnen. So ein mutiger Mann, sagt sie. Und sieht so gut aus.«
»Die kenne ich«, sagte Katekar ganz ernst. »Ein nettes, häusliches Mädchen.«
»Und hellhäutig«, fiel Shambhu ein. »Kann gut kochen und sticken.«
»Idioten«, sagte Sartaj. »Bhenchods. Fahren Sie los, Katekar. Wir sind spät dran.«
Katekar fuhr an und versuchte gar nicht erst, ein Lächeln, so breit wie Shambhus, zu verbergen. Ein Schwärm Spatzen schwirrte wild flatternd vom Himmel herab und streifte die Kühlerhaube des Gypsy. Es war fast Abend.
Auf dem Revier wartete ein Mord auf sie. Majid Khan, der diensthabende Oberinspektor, sagte, der Anruf sei vor einer halben Stunde aus Navnagar448 gekommen, aus dem Bengali Bura. »Es ist niemand sonst da, der das übernehmen könnte. Die Sache bleibt an Ihnen hängen, Sartaj.«
Sartaj nickte. Einen Mordfall drei Stunden vor Schichtende würden sich die anderen Beamten mit Freuden entgehen lassen, es sei denn, er war besonders interessant. Das Bengali Bura in Navnagar war sehr arm, und Leichen waren dort einfach nur tot, ohne jede Möglichkeit, in ehrenden Worten eines Arbeitgebers, in der Presse oder durch ihr Geld weiterzuleben.
»Wie wär's mit einer Tasse Tee, Sartaj?« fragte Majid. Er ließ die Bündel Delite-Geld durch die Finger gleiten und legte sie dann in seine rechte Schreibtischschublade. Später würde er sie in das Schließfach des Godrej-Schranks237 hinter dem Schreibtisch sperren, wo das Revier den größeren Teil seiner Betriebsmittel aufbewahrte. Es war durchweg Bargeld, und nichts davon stammte aus staatlichen Mitteln, die weder für das Papier reichten, auf das die Ermittlungsbeamten ihre Durchsuchungsprotokolle schrieben, noch für die Fahrzeuge, die sie fuhren, oder das Benzin, nicht einmal für den Tee, den sie und ihre zahllosen Besucher tranken. Einiges von dem Delite-Geld behielt Majid, als Teil der Vergünstigungen eines Oberinspektors, der Rest wurde nach oben weitergereicht.
»Nein, lieber nicht«, sagte Sartaj. »Wir fahren besser gleich los. Je früher wir dort sind, desto früher kommen wir ins Bett.«
Majid strich sich über seinen Schnurrbart, einen prachtvollen Schnauzer mit aufgezwirbelten Enden, ähnlich dem seines Vaters, der bei der Armee gewesen war. Er pflegte ihn mit gläubiger Leidenschaft, importierten Cremes und behutsamem Stutzen, allen Spötteleien zum Trotz. »Ihre Bhabhi070 hat nach Ihnen gefragt«, sagte er. »Wann kommen Sie zum Essen?«
Sartaj erhob sich. »Sagen Sie ihr vielen Dank, Majid. Nächste Woche, ja? Mittwoch? Khima?« Majids Frau war keine sehr gute Köchin, aber ihr Khima war nicht schlecht, und Sartaj bekundete eine große Leidenschaft dafür. Seit seiner Scheidung verköstigten ihn die Frauen der Kollegen regelmäßig, und er hatte den Verdacht, daß sie auch noch anderes im Schilde führten. »Ich fahr dann mal los.«
»Gut«, sagte Majid. »Mittwoch also. Ich kläre das mit meinem General und gebe Ihnen Bescheid.«
Im Jeep dachte Sartaj an Majid und Rehana, ein glückliches Paar. Wenn er bei ihnen am Tisch saß, mit ihnen zusammen aß, nahm er die unmerklichen Gesten zwischen ihnen wahr, spürte, wie noch der einfachste Satz Jahre gemeinsamen Erlebens enthielt, beobachtete die sechzehnjährige Farah, wie sie entnervt den vierzehnjährigen, ungeduldigen und selbstbewußten Imtiaz neckte, und nachher saßen sie alle zusammen gemütlich auf dem Teppich und sahen sich ihre Lieblingsquizsendung im Fernsehen an. Sie hatten ihn gern bei sich, und doch war es meist so, daß er die ganze Zeit am liebsten wieder gegangen wäre. Jedesmal konnte er es kaum erwarten, zu ihnen zu kommen, freute sich darauf, in einer Familie, mit Verwandten zusammen zu sein, aber ihr Glück schmerzte ihn. Er merkte, daß er sich allmählich ans Alleinsein gewöhnte, zumindest schien es so, aber er wußte, daß es auch wieder nicht so war. Ich bin unmöglich, dachte er, nicht Fisch, nicht Fleisch, und er drehte sich schuldbewußt zu den vier Polizisten um, die in identischer Haltung auf der Rückbank des Gypsy saßen, die zwei Gewehre und die zwei Lathis372 an die Brust gedrückt. Alle vier hielten den Blick auf den schmutzigen Metallboden gerichtet und schwankten leicht hin und her. Der Himmel hinter ihnen war gelb mit einzelnen blauen Rinnsalen.
Der Vater des Toten erwartete sie am Rand von Navnagar, am Fuß des leicht ansteigenden, vom Flußbett bis zur Straße mit armseligen Hütten bestandenen Geländes. Er war klein und unscheinbar, ein Mann, der sich sein Leben lang im Hintergrund gehalten hatte. Sartaj folgte ihm durch die holprigen Gassen. Sie gingen bergauf, aber Sartaj kam es wie eine Abwärtsbewegung vor. Alles hier war kleiner, enger, die Pfade schmal zwischen den schiefen Wänden aus Pappe, Stoff und Holz, die schräg abfallenden Dächer plastikgedeckt. Sie befanden sich mitten im Bengali Bura, dem ärmsten Teil Navnagars. Die meisten Hütten waren nicht einmal mannshoch, und ihre Bewohner saßen in den Türen, zerlumpt und abgerissen, die Kinder rannten barfuß vor dem Polizeitrupp her. Katekars Gesicht verriet eine wütende Verachtung für diese Leute, die es zuließen, daß sich direkt vor ihrer Tür Dreck und Unrat türmten, die ihre kleinen Töchter genau dort ihr Geschäft machen ließen, wo ihre Söhne spielten. Das sind die Leute, die Mumbai ruinieren, sagte er oft zu Sartaj, diese Ganwars210, die aus Bihar oder Andhra oder maderchod382 Bangladesh kommen und hier wie die Tiere leben. Aus maderchod Bangladesh, dachte Sartaj, allerdings - obwohl ihre Papiere sie garantiert alle als Bengalen und indische Staatsbürger auswiesen. Aber es gab in ihrem wasserreichen Delta nichts, wohin man sie hätte zurückschicken können, kein halbes Bigha091 Land, das ihnen gehörte, das sie hätte aufnehmen können. Sie kamen zu Tausenden, um als Dienstboten, im Straßenbau oder auf Baustellen zu arbeiten. Und einer von ihnen war hier gestorben.
Er war in den Eingang einer Hütte gestürzt, der Oberkörper im Innern, die Beine nach draußen ausgestreckt. Er war jung, noch keine Zwanzig, und er trug teure Sneakers, gute Jeans und ein kragenloses blaues Hemd. Seine Unterarme wiesen tiefe Wunden auf, bis auf den Knochen, typisch für einen Angriff mit dem Hackmesser, den das Opfer abzuwehren suchte. Es waren saubere Schnitte, an einem Ende tiefer als am anderen. Die linke Hand hatte an Stelle des Zeigefingers nur noch einen triefenden Stumpf, und Sartaj wußte, daß es zwecklos war, nach dem Finger zu suchen. Es gab hier Ratten. Im Innern der Hütte war in dem summenden Dunkel kaum etwas zu erkennen. Katekar machte seine Eveready-Taschenlampe an, und Sartaj wedelte in ihrem Schein die Fliegen weg. Auch an Brust und Stirn des Toten waren Schnitte, und ein besonders tiefer hatte den Hals nahezu durchtrennt. Vielleicht hatten schon die anderen Hiebe den Jungen fast getötet, dieser aber hatte ihn endgültig gefällt. Der Boden war von dunklem, nassem Matsch bedeckt.
»Name?« sagte Sartaj.
»Seiner, Saab?« fragte der Vater. Er stand von der Tür abgewandt, versuchte, nicht zu seinem Sohn hinzusehen.
»Ja.«
»Shamsul Shah.«
»Und Ihrer?«
»Nurul, Saab.«
»Hatten die Angreifer Hackmesser?«
»Ja, Saab.«
»Wie viele waren es?«
»Zwei, Saab.«
»Kennen Sie sie?«
»Bazil Chaudhary und Faraj Ali, Saab. Sie wohnen in der Nähe. Es sind Freunde von meinem Sohn.«
Katekar schrieb in ein Notizbuch und bewegte bei den ungewohnten Namen seine zusammengepreßten Lippen.
»Woher kommen Sie?« fragte Sartaj.
»Dorf Duipara, Block Chapra, Distrikt Nadia, Westbengalen, Saab.« Es kam in einem Atemzug heraus, und Sartaj wußte, daß er es viele Male geübt hatte, es studiert hatte in den Papieren, die er sofort nach seiner Ankunft in Bombay gekauft hatte. Ein Mordfall unter Bengalen war ungewöhnlich, denn normalerweise zogen die Bengalen den Kopf ein, arbeiteten, versuchten ihren Lebensunterhalt zu verdienen und gaben sich alle Mühe, nicht aufzufallen.
»Und die anderen? Auch von dort?«
»Ihre Eltern kommen auch aus Chapra.«
»Selbes Dorf?«
»Ja, Saab.« Er hatte jene mit Urdu-Wörtern647 durchsetzte Redeweise, die Sartaj im Lauf der Zeit einzuordnen gelernt hatte. Er log, was das Land betraf, in dem das Dorf lag, mehr nicht. Alles andere entsprach der Wahrheit. Vermutlich waren die Väter der Mörder und des Opfers zusammen aufgewachsen, hatten in denselben Bächen geplanscht.
»Sind die beiden mit Ihnen verwandt?« »Nein, Saab.«
»Haben Sie es gesehen?«
»Nein, Saab. Man hat mich gerufen.«
»Wer?«
»Ich weiß nicht, Saab.« Ein Stück die Gasse hinunter war Gemurmel zu hören, ein An- und Abschwellen von Stimmen, aber es war niemand zu sehen. Keiner der Nachbarn wollte etwas mit der Polizei zu tun haben.
»Wem gehört das Haus hier?«
»Ahsan Naeem, Saab. Aber er war nicht da. Nur seine Mutter war im Haus. Jetzt ist sie bei den Nachbarn.«
»Hat sie es gesehen?«
Nurul Shah zuckte die Schultern. Niemand wollte Zeuge sein, aber die alte Dame würde nicht darum herumkommen. Vielleicht würde sie sich auf Kurzsichtigkeit herausreden.
»Ist Ihr Sohn gerannt?«
»Ja, Saab, er kam von da drüben. Sie waren bei Faraj.«
Der tote Junge hatte also noch versucht, nach Hause zu kommen. Vermutlich war er bereits geschwächt gewesen und hatte Schutz gesucht. Die Tür war nur ein Stück Blech, mit drei Drähten an einem Bambusstab befestigt. Sartaj trat von der Leiche zurück, weg von dem schweren Geruch nach Blut und nassem Lehm.
»Warum haben sie das getan? Was ist passiert?«
»Sie haben zusammen getrunken, Saab. Es gab Streit.«
»Worüber?«
»Ich weiß nicht. Werden Sie sie schnappen, Saab?«
»Wir halten alles fest«, sagte Sartaj.
Um elf Uhr stand Sartaj mit emporgewandtem Gesicht unter einem prasselnden Strom kalten Wassers. Der Druck in der Leitung war gut, und er ließ sich Zeit, schob bald die eine, bald die andere Schulter unter den Duschstrahl. Ohne es zu wollen und trotz des Rauschens in seinen Ohren dachte er an Kamble und an Geld. Während der Zeit seiner Ehe war er ein wenig stolz darauf gewesen, daß er niemals Geld nahm, doch nach der Scheidung hatte er gemerkt, wie sehr Meghas Geld ihn vor der Welt, vor den Zwängen der Straßen, in denen er lebte, geschützt hatte. Die neunhundert Rupien Fahrtkostenzuschuß reichten kaum für drei Tage auf der Bullet098, und von den vielen Scheinen, die er Tag für Tag Informanten zusteckte, stammten höchstens zwei oder drei aus seiner minimalen Zulage für solche Zwecke. Für Ermittlungen im Fall eines toten jungen Mannes in Navnagar blieb nichts übrig. Jetzt nahm Sartaj Geld, und er war dankbar dafür. Der Saala541 Sardar558 gehört nicht mehr zu den reichen Säcken, er ist aufgewacht: Sartaj wußte, daß seine Kollegen so redeten, und zwar mit Genugtuung, und sie hatten recht. Er war aufgewacht. Er holte tief Luft und drehte den Kopf so, daß ihm der harte Strahl zwischen die Augen trommelte. Das Prasseln füllte seinen Kopf vollständig aus.
Im Wohnzimmer war es still. Schlafen konnte er noch nicht, das wußte er, so müde er auch war und sosehr er sich danach sehnte. Er lag auf dem Sofa, eine Flasche Royal-Challenge-Whisky und eine Wasserflasche neben sich auf dem Tisch. In gleichmäßigen Abständen nahm er genau bemessene kleine Schlucke. Zwei große Gläser gönnte er sich am Ende eines Arbeitstages, und neuerdings mußte er gegen das Verlangen ankämpfen, drei zu trinken. Er lag so, daß er aus dem Fenster schauen und den von den Lichtern der Stadt erhellten Himmel betrachten konnte. Links war ein langer grauer Streifen zu sehen, das zinnengekrönte Nachbarhaus, vom Fensterrahmen in etwas Abstraktes verwandelt, rechts die sogenannte Dunkelheit, die sich vor seinen Augen sanft in ein amorphes, stetiges gelbes Leuchten auflöste. Sartaj wußte, woher es kam, wie es entstand, aber wie immer staunte er darüber. Er dachte daran, wie er auf einer Straße in Dadar Kricket gespielt hatte, dachte an das schnelle »tock« des Tennisballs und die Gesichter der Freunde, an das Gefühl, die ganze Stadt mit seinem Herzen umfangen zu können, von Colaba bis Bandra. Doch inzwischen war sie zu groß geworden, sie entglitt ihm, Familie reihte sich an Familie, und es entstand dieser kühle, endlose Schein, den man unmöglich mehr kennen und dem man nirgends entgehen konnte. Hatte es sie wirklich gegeben, die leere kleine Straße, auf der die Kinder Kricket spielen konnten und Dabba-ispies140 und Tikkar-billa634, oder hatte er sie aus irgendeinem grobkörnigen Schwarzweißfilm gestohlen? Hatte sie sich zum Geschenk gemacht, diese Erinnerung an einen glücklicheren Ort?
Er stand auf. Am Fenster lehnend, trank er seinen Whisky aus, kippte das Glas so weit, daß er noch den letzten Tropfen erhaschen konnte. Er beugte sich hinaus, suchte nach einem Windhauch. Der Horizont war fern und verschwommen, mit grellen Lichtern darunter. Sartaj schaute hinab und sah tief unten auf dem Parkplatz etwas glitzern, Glimmer oder einen Glassplitter. Plötzlich dachte er, wie einfach es wäre, sich immer weiter hinauszulehnen, bis sein Gewicht ihn mitzog. Er sah sich stürzen, seine weiße Kurta354 wild flatternd, Brust und Bauch entblößt, die wehende Nada440 , einen abwärts segelnden blau-weißen Gummischlappen, seine Füße, die einen Kreis beschrieben, und, noch ehe er vollendet war, hörte er das kurze Krachen des Schädels und dann - Stille.
Sartaj trat vom Fenster zurück. Sehr behutsam stellte er das Glas auf den Couchtisch. Was war das eben? Er sagte es laut: »Was war das eben?« Er setzte sich auf den Boden. Seine Knie schmerzten beim Abwinkein, und auch seine Schenkel taten weh. Er legte die Hände mit den Handflächen nach unten auf den Tisch und betrachtete die weiße Wand. Er war still.
Katekar verzehrte die Reste des Sonntagsessens. Rechts unten an seinem Rücken zuckte ein Muskel, doch das schlichte, aber reichliche Mahl - Hammelfleisch mit Reis und Kartoffeln - bot dicken, heißen Trost, und von dem scharfen Genuß der grünen Chili-Pickles brannten ihm die Lippen, so daß er die Krämpfe vergessen oder zumindest ignorieren konnte.
»Noch mehr?« fragte Shalini.
Er schüttelte den Kopf, lehnte sich zurück und rülpste. »Nimm du dir doch«, sagte er.
Shalini schüttelte ihrerseits den Kopf. »Ich hab schon gegessen.« Sie schaffte es, einem Hammelfleischgericht spätabends zu widerstehen, doch nicht nur davon blieben ihre Arme so dünn wie am Tag ihrer Hochzeit vor fast genau neunzehn Jahren. Katekar beobachtete sie, wie sie den Herdschalter mit einer knappen Bewegung nach links drehte, von der höchsten Stufe auf Null. Ihre Gesten hatten etwas angenehm Präzises, als sie die Küchengeräte für den Abwasch am nächsten Morgen aufeinanderstapelte, eine saubere Effizienz, ganz und gar funktional in dem wenigen Raum, den sie einnahm. Sie war sparsam, und sie stillte seine Begierden.
»Komm, Shalu«, sagte er und wischte sich entschlossen über den Mund. »Es ist spät. Gehen wir schlafen.«
Er schaute zu, wie sie die Arbeitsfläche scheuerte, gründlich, mit klirrenden gläsernen Armreifen. Das Kholi338 war klein, aber blitzsauber. Als sie fertig war, löste er die Beine des Klapptischs und schwang ihn zur Wand hoch. Die beiden Stühle kamen in die Ecken. Während sie die Küche aufräumte, rollte er dort, wo der Tisch gestanden hatte, zwei Chatais111 aus. Er legte eine Matratze und ein Kissen auf ihre Matte, auf seine eigene nur ein Kissen, denn sein Rücken ertrug nur den harten Boden, dann waren die Betten fertig. Er goß aus dem Tonkrug Wasser in ein Glas, nahm eine Schachtel Monkey-Zahnpulver und ging nach draußen, die Gasse hinunter, setzte vorsichtig Fuß vor Fuß. Die Kholis, meist massiv, aus Ziegelsteinen und Zement gebaut, drängten sich dicht zusammen; über die Dächer und durch die Türen verliefen Stromkabel. Der öffentliche Wasserhahn war um diese Zeit natürlich trocken, aber am Fuß der Backsteinmauer dahinter war eine Pfütze. Katekar lehnte sich an die Mauer, gab etwas Zahnpulver auf seinen Zeigefinger und putzte sich die Zähne, wobei er das Wasser in seinem Glas genau einteilte, und nachdem er ein letztes Mal ausgespuckt hatte, war sein Mund sauber gespült.
Shalini lag auf der Seite, als er in das Kholi zurückkam. »Warst du?« fragte sie, das Gesicht noch abgewandt. Er stellte das Glas auf ein Bord. »Geh«, sagte Shalini, »sonst bist du in einer Stunde wieder wach.«
Die Gasse machte am anderen Ende eine Biegung, dann noch eine, dann öffnete sie sich unvermittelt auf ein Gelände, das zur Schnellstraße hin abfiel. Ein durchdringender Geruch stieg davon auf, und Katekar hockte sich in ihn hinein, sandte zu seiner Überraschung einen wilden Strom abwärts und schaute seufzend zu, wie die Lichter unten näher kamen und wieder verschwanden. Er kehrte in das Kholi zurück, löschte die Glühbirne, zog Hemd und Hose aus und legte sich auf seine Matte, flach auf den Rücken, das rechte Bein weit abgespreizt, den linken Arm und den Schenkel an Shalinis Matratze. Nach einer Weile drehte sie sich um und schmiegte sich langsam an ihn. Er spürte ihr Schulterblatt an seiner Brust, ihre Hüfte an seinem Bauch. Sie sank in ihn hinein, und er regte sich nicht mehr. In der Stille und seinem eigenen Schweigen hörte er hinter dem schwarzen Tuch, das den Raum teilte, das zweifache Atmen seiner Söhne. Sie waren neun und fünfzehn, Mohit und Rohit. Katekar lauschte auf seine Familie, und nach einer Weile sah er trotz der Dunkelheit die Umrisse seines Zuhauses. Auf einem Bord stand ein kleiner Farbfernseher, daneben Fotos von seinen und Shalinis Eltern, alle mit Girlanden geschmückt, und ein großes, goldgerahmtes Bild der Jungen im Zoo. Ein Kalender mit Werbung für Lux-Seife zeigte das Juniblatt mit Madhubala383. Darunter ein grünes Telefon mit einem Schloß auf der Wählscheibe. Am Fuß der Betten ein surrender Tischventilator. Hinter seinem Kopf wußte er einen Radiorecorder und seine Kassettensammlung mit Liedern aus alten Marathi-Filmen. Zwei aufeinandergestapelte schwarze Koffer. An Haken hängende Kleider, sein Hemd und seine Hose auf einem Bügel. Shalinis Wandbord mit Messingfiguren von Ambabai014 und Bhavani080 und ein girlandengeschmücktes Bild von Sai Baba. Dann die Küche, mit Regalen bis zum Dach und Reihen metallisch schimmernder Geräte. Und auf der anderen Seite des schwarzen Tuchs die Regale mit Schulbüchern, zwei Poster von Sachin Tendulkar beim Kricket, ein kleiner Schreibtisch voller Stifte, Schulhefte und Stapel alter Zeitschriften. Ein Metallschrank mit zwei gleichen Abteilungen. Katekar lächelte. Er liebte es, nachts seine Besitztümer zu inspizieren, sie real und stabil vor seinen schläfrigen Augen zu spüren. Er verharrte auf einer Dämmergrenze, noch weit vom Schlaf entfernt, das Zucken lief seinen Rücken auf und ab, ohne durch die Masse seines Körpers bis zu Shalini zu gelangen, die Dinge, die er sich im Leben erarbeitet hatte, umgaben ihn, und er wußte, wie brüchig diese Festung war. Aber sie war behaglich, und er kam hier zur Ruhe. Er fühlte die Schwere aus seinen Armen und Beinen weichen, und er schwebte im Luftstrom, die Augen geschlossen. Er schlief ein.
Mit der schnittigen kleinen Fernbedienung in der Hand zappte Sartaj rasch von einem Autorennen in Detroit zu einer synchronisierten amerikanischen Sendung über weibliche Kriminalbeamte, dann zu einer glitschigen braunen Nacktschnecke in einem mächtigen, mäandernden Fluß und weiter zu einer Filmi-Countdown-Show. Zwei lächelnde, kurvenreiche Mädchen in roten Miniröcken, beide kaum älter als achtzehn, tanzten auf den Bögen einer weinüberwachsenen Palastruine. Sartaj zappte weiter. Vor dem flackernden Hintergrund schnell wechselnder Nachrichtenclips plauderte eine blonde VJ temporeich über einen Bhangra-Sänger078 aus London und sein neues Album. Die VJ war Inderin, hieß aber Kit, und ihr blondes Haar fiel schimmernd auf ihre nackten Schultern herab. Ihre Hand schnellte zur Kamera hin, und plötzlich stand sie lachend in einem Spiegelsaal voller ausgelassener Tänzer. Die Kamera holte ihr Gesicht nahe heran, Sartaj sah dessen schöne Züge, und ihre schlanken Beine erfüllten ihn mit tiefer Befriedigung. Er schaltete den Fernseher aus und stand auf.
Steif trat er ans Fenster. Jenseits der zischenden gelben Laternen auf dem Gelände des Nachbarhauses lag dunkel das Meer, und weit entfernt, hellblau und orange gesprenkelt, Bandra. Mit einem guten Fernglas konnte man sogar Nariman Point sehen, übers Wasser nicht weit, auf leeren nächtlichen Straßen aber mindestens eine Stunde entfernt. Plötzlich spürte Sartaj einen Schmerz in der Brust. Es war, als rieben zwei stumpfe Steine aneinander und erzeugten nicht Feuer, sondern ein stetes trübes Glühen, ein beharrliches, unruhiges Verlangen. Es stieg in seinen Hals auf, und sein Entschluß war gefaßt.
Zwölf Minuten rasanter Fahrt brachten ihn durch die Unterführung auf die Schnellstraße. Die leeren Fahrbahnen und das Steuer, das so lässig an seinen Fingern entlangglitt, berauschten ihn, und er fuhr so schnell, daß er lachen mußte. Doch zwischen den hell erleuchteten Geschäften in Mahim staute sich der Verkehr, und plötzlich ärgerte sich Sartaj über sich selbst und wäre am liebsten umgekehrt. Die Frage kam mit dem Trommeln seiner Finger auf dem Armaturenbrett: Was tust du? Was tust du? Wohin fährst du mit dem Wagen deiner Ex-Frau, den sie dir freundlicherweise gelassen hat und der auf dieser grauenhaften Schlaglochpiste unter deinem Gaand199 auseinanderfallen könnte? Aber es war zu spät, er hatte schon die halbe Strecke hinter sich, und obwohl der erste freudige Elan verflogen war, fuhr er weiter. Bis er geparkt hatte, war es fast eins, und inzwischen war er todmüde. Aber er war nun einmal da, und als er auf das Cave zusteuerte, sah er, daß sich an der Hintertür, dem einzigen nach der Sperrstunde um halb zwölf noch geöffneten Eingang, Leute drängten.
Sie traten zurück, um ihn durchzulassen. Er war zwar älter als sie, viel älter vielleicht sogar, aber für ihre neugierigen Blicke und ihr Schweigen gab es keinen Grund. Sie trugen glänzende weite Hemden und kürzere Röcke, als er sie je gesehen hatte, und sie machten ihn ganz nervös. Als er die Tür nicht gleich aufbekam, hielt sie ihm ein Mädchen mit einem silbernen Ring in der Unterlippe auf. Bis er daran dachte, ihr zu danken, war er schon drin, und die Tür schloß sich wieder. Er straffte sich und fand eine freie Ecke an der Bar. Mit einem frisch gezapften Bier in der Hand hatte er etwas zu tun, und so drehte er sich dem Raum zu. Er war so eingekeilt, daß er nicht viel mehr sehen konnte als ein paar Füße. Überall waren angeregte Gespräche im Gange, man neigte sich einander zu und schrie gegen die Musik an. Er trank schnell, als hätte er ein Interesse an dem Bier. Als das Glas leer war, bestellte er ein zweites. Er betrachtete die Frauen ringsum, eine nach der anderen, versuchte sich vorzustellen, wie es mit jeder von ihnen sein würde. Nein, das war zu weit vorausgedacht, und so überlegte er nur, was er sagen würde. Hallo. Nein: Hi. Hi, ich bin Sartaj. Er würde nach Möglichkeit nur Englisch sprechen. Und lächeln. Und dann? Er versuchte der Unterhaltung links neben ihm zu folgen. Es ging um Musik, eine amerikanische Gruppe, von der er noch nie gehört hatte - was kein Wunder war. Ein Mädchen, das mit dem Rücken zu ihm stand, sagte: »Die letzte Nummer war zu langsam.« Die Antwort des Jungen mit dem Pferdeschwanz, der ihr gegenüberstand, konnte Sartaj nicht verstehen, aber ein anderes Mädchen mit einer Stupsnase sagte: »Mensch, das war doch cool, Alte.« Sartaj trank sein Glas aus und wischte sich den Mund ab. Das Verlangen, das ihn durch die ganze Stadt hierhergeführt hatte, war plötzlich erloschen und hatte einen bitteren, dunklen Bodensatz hinterlassen. Es war sehr spät, und er war fix und fertig.
Er zahlte schnell und ging. Andere Leute standen jetzt an der Tür, doch das Schweigen und die Blicke, die Halsketten, Piercings und kunstvoll zerzausten Haare waren die gleichen wie zuvor, und er begriff, daß ihn seine elegante blaue Hose hoffnungslos zum Außenseiter stempelte. Bis er am Ende der Gasse angelangt war, traute er auch seinem weißen Button-down-Hemd nicht mehr. Er bog vorsichtig nach rechts zur Hauptstraße ab, stieg über zwei auf dem Bürgersteig schlafende Jungen und ging zur Crossroads Mall, wo er geparkt hatte. Seine Füße senkten sich lautlos auf den mit Abfällen übersäten Asphalt, und links und rechts ragten die herabgelassenen Rolläden der Geschäfte auf. So betrunken kann ich von zwei Bier doch nicht sein, dachte er, aber die Laternenpfähle schienen weit weg, und er verspürte das dringende Bedürfnis, die Augen zu schließen.
Sartaj fuhr nach Hause. Er fiel ins Bett. Jetzt kam der Schlaf, glitt wie ein schwarzer Erdrutsch schwer über seine Schultern herab. Und gleich darauf war Morgen, und das Schrillen des Telefons drang an sein Ohr. Er tastete nach dem Hörer.
»Sartaj Singh?« Eine herrische Männerstimme.
»Ja?«
»Wollen Sie Ganesh Gaitonde?«