Sartaj wurde von einem Reporter geweckt, der von ihm wissen wollte, was er zu Ganesh Gaitondes Manipulation von Politikern, zum Filz in der Justiz und zu den jüngsten Polizeiskandalen sage. Sartaj unterbrach den Wortschwall mit einem knappen »Kein Kommentar« und knallte den Hörer auf die Gabel. Er drehte sich um und vergrub das Gesicht im Kissen, doch das Licht drang durch seine Lider, und in seinem Kopf arbeitete es. Seufzend setzte er sich auf. Es würde nicht leicht werden, drei Tage in den Schlagzeilen zu sein, soviel war klar. Er ging um das Bett herum, die Augen noch halb geschlossen, und dachte daran, wie gern Gaitonde Interviews gegeben hatte. Der Dreckskerl hat sich gern reden gehört, dachte Sartaj und öffnete die Badezimmertür.
Zum Frühstück verzehrte er drei Scheiben Toast mit Butter, eine matschige Orange und Chai, der zu lange gezogen hatte. Im Indian Express prangte Gaitonde auf der Titelseite, in selbstbewußter Pose auf einem Berggipfel, und der Artikel über ihn nahm drei lange Spalten ein. Sartaj las ihn von Anfang bis Ende, las von Gaitondes plötzlichem Aufstieg, seiner Machtentfaltung, den verworrenen Fehden, den Morden und Überfällen, dem ganzen Spiel. Sartaj Singh als furchtloser Anführer des Polizeitrupps wurde natürlich ebenfalls erwähnt, doch von der toten Frau stand nichts da, kein Wort. Für die Öffentlichkeit war Gaitonde einsam und verlassen gestorben.
Das Telefon klingelte. Sartaj spürte das Schrillen im Nacken, reagierte aber nicht. Es konnte nur ein Journalist sein. Nach einer Weile hob er doch ab.
»Inspektor Singh?«
Es war Sardesai, Parulkars Assistent, mit seiner eigenartigen, stark näselnden und fast flüsternden Sprechweise.
»Sardesai-saab«, sagte Sartaj. »Alles in Ordnung?« Normalerweise wurden Anrufe aus Parulkars Büro vom Telefonisten durchgestellt. Sardesai rief nur an, wenn etwas keinen Aufschub duldete oder vertraulich behandelt werden mußte oder wenn irgendeine Intrige zwischen den Abteilungen im Gange war.
»Ja, alles bestens. Aber Parulkar-saab möchte, daß Sie so schnell wie möglich in sein Büro kommen.«
»Jetzt?«
»Jetzt.«
Mehr würde Sartaj am Telefon nicht erfahren. Sardesai war für seine Verschwiegenheit selbst von Angesicht zu Angesicht bekannt, das Ideal eines persönlichen Assistenten. Sartaj legte auf und duschte rasch. Er kannte Parulkar seit langem; noch nie hatte er einen Untergebenen ohne triftigen Grund von zu Hause herbeordert. Andere Beamte taten das ständig, behandelten ihre jüngeren Kollegen wie Dienstboten. Parulkar aber kannte keine Arroganz, nur den gebührenden Stolz auf das, was seine Leute leisteten. Und deshalb hatte er Erfolg. Wenn Parulkar also rief, kam Sartaj sofort.
Katekars Söhne standen am Fußende seiner Matte. Als er die Augen aufschlug, knieten sie sich hin und zupften ihn kichernd an den Zehen. Beide trugen graue Hosen mit Bügelfalten, ein weißes Hemd und eine blau-rot gestreifte Krawatte, und beide hatten einen schnurgeraden Linksscheitel.
»Wo ist eure Mutter?« murmelte Katekar. Er hatte einen widerwärtigen, beißenden Zwiebelgeschmack im Mund.
»Auf dem Gemüsemarkt«, antwortete Rohit.
»In genau fünf Minuten tretet ihr draußen an.«
Sie ergriffen die Flucht, als er brummend aufstand, sich zum Schein auf sie stürzte und sich dann in der Küche Wasser über Gesicht und Schultern spritzte. Draußen warteten sie auf ihn, an die Wand gelehnt, Beine gespreizt, Hände hinter dem Rücken. Als er erschien, nahmen sie Haltung an, und er inspizierte ihre Schuhe und Hemden und sah nach, ob sie ihre blauen Schultaschen ordentlich gepackt hatten. Dann gab er jedem zehn Rupien, und damit war der Appell beendet. Die beiden Jungen gingen vor ihm die Straße hinunter. Mohit freute sich über seine zehn Rupien, für Rohit aber waren es, wie Katekar wußte, neuerdings »nur« zehn Rupien, und er sehnte sich nach allem, was man für zehn Rupien nicht bekam. Ein Motorroller bog vorsichtig um die Ecke, und die Jungen traten zur Seite, um ihn vorbeizulassen. In der Morgensonne sah Katekar den goldenen Flaum auf Mohits Wange und wandte rasch den Blick ab; Angst vor der Zukunft bedrückte sein Herz.
»Papa?«
»Schnell, schnell«, sagte er, »sonst verpassen wir den Bus.«
Nachdem er sie in den Hundertachtziger-Bus gewinkt und zugeschaut hatte, wie sich das Fahrzeug in den dichter werdenden Verkehr einfädelte, kaufte Katekar ein Exemplar von Loksatta, faltete es zusammen und klemmte es sich unter den Arm. Während er mit einer wassergefüllten Dose zwischen den Füßen an der öffentlichen Toilette Schlange stand, las er darin. Bombenanschlag in Israel, vier Tote. Schußwechsel an der Demarkationslinie, Lage in Srinagar angespannt. Trickbetrügerin erbeutet Schmuck von Hausfrauen in Ghatkopar. Führungsspitze der Kongreßpartei dementiert interne Machtkämpfe. Ein Beitrag auf der Titelseite berichtete, wie Gaitonde in seiner langen Laufbahn immer wieder haarscharf entkommen war. Warum er sich umgebracht hatte, fragte der Verfasser, ohne eine Theorie dazu aufstellen zu können. Um Katekar herum wurde geschwatzt und gelacht, aber alle wußten, daß man ihn bei seiner Zeitungslektüre nicht stören durfte. Wenn die Schlange vorrückte, schob er die Dose weiter, ohne von seinen Neuigkeiten aufzuschauen.
Als er aus der Toilette kam, schritt er entspannt und lässig die Schlange entlang und begrüßte jeden der Wartenden ausführlich, ohne jedoch auf einen Plausch stehenzubleiben. Zielstrebig ging er nach Hause, wo er genau zur rechten Zeit ankam. Shalini war gerade dabei, das große stählerne Vorhängeschloß zu öffnen, als er um die Ecke bog. Er machte die Tür hinter sich zu und schob den Riegel vor. Dann zog er seine Kurta aus und hängte sie an ihren angestammten Platz am linken äußeren Haken.
»Es ist genug Wasser zum Waschen da«, ließ sich Shalini aus der Küche vernehmen. Sie brachte ihm ein grünes Handtuch, doch als sie in die Küche zurück wollte, berührte er sie in der Halsbeuge. Sie erschauerte. »Nicht«, kicherte sie, aber als er sich auf seine Chatai legte, schmiegte sie sich eng an ihn. Unter dem Klirren ihrer Armreife führte er ihre Hand zwischen seine Beine. Sie drückte den Kopf an seine Brust. Nach all den Jahren sah sie ihn noch immer nicht an, und er wußte, daß sie ihm auch nicht gestatten würde, ihr Gesicht zu sich herzudrehen - noch nicht. Er begann leise zu stöhnen, als sich das gläserne Klimpern beschleunigte und zu einem sanften Geläut wurde. Shalini schob mit einer schnellen Bewegung ihren Sari hoch, sie bewegten sich aneinander, tasteten, und schließlich fand Shalini ihn. Er umfaßte ihre Hüften und schloß die Augen. Dann spürte er ihre Lippen schmal und warm und lebendig an seinem Kinn.
Mit einer Handvoll Prasad aus dem Devi160-Padmavati-Tempel schickte Shalini ihn auf den Weg. Katekar verzehrte die zarten Kokosstückchen mit besonderem Genuß. Religion war Frauensache und auch der Fluch der Nation, aber das milchige Kokosfleisch war gleichwohl eine sinnliche Gabe, und seine Schultern kribbelten davon.
Die Gasse war schmal, an manchen Stellen so schmal, daß er die Hauswände links und rechts hätte berühren können. Die meisten Türen standen offen, damit Luft ins Haus kam. Eine Großmutter saß mit ihrem nackten, dunkel glänzend eingeölten Enkel im Schoß auf der Stufe und lachte sein zahnloses Lächeln an. Katekar bog um eine Ecke, passierte einen winzigen Laden, in dem es Zigaretten, Shampoopäckchen, Betelnüsse und Batterien gab, und trat dann zur Seite, um eine Reihe junger Frauen vorbeizulassen, die vorsichtig über den Rinnstein hinwegstiegen, gepudert und im Salvar550-kamiz310 korrekt für Läden und Büros zurechtgemacht. Roter und gelber Stoff schwirrte an ihm vorüber. Er stand mit dem Fuß auf ein Rohr gestützt, das unten an der Hauswand entlanglief. Für diese Leitung hatte der Mohalla-Ausschuß425 letztes Jahr Geld gesammelt, aber sie lieferte nur dann Wasser, wenn der Druck in der städtischen Hauptleitung an der Hauptstraße stark genug war. Jetzt wurde für eine Pumpe gesammelt.
In der Maganchand Road hatten die Thelavaalas bereits hohe Obstpyramiden aufgebaut, und die Fischverkäufer legten Bangda055, Bombil095 und Paaplet462 auf ihren Platten aus. Es war Rush-hour, und die Autos fuhren Stoßstange an Stoßstange. An der Bushaltestelle postierte sich Katekar neben einem Grüppchen Wartender. Er schlug seine Zeitung auf und las den Leitartikel über das Scheitern der Zivilregierung in Pakistan. Als der Doppeldecker kam, ließ er andere vor. Nach einer Weile läutete der Schaffner die Glocke, und niemand durfte mehr einsteigen. Der Bus fuhr ruckend an, Katekar hob die Hand, und der Schaffner machte ihm mit einem kurzen, respektvollen Nicken auf dem Trittbrett Platz. Katekar fuhr seit acht Jahren mit diesem Bus, seit er das Kholi gekauft hatte, und alle Schaffner der Linie wußten, daß er Polizist war. Dieser hieß Pawle. Er schob sich an Katekar vorbei in den hinteren Teil des Busses, knipste die Fahrkarten und kam dann wieder nach vorn. Katekar horchte auf das Klimpern der Münzen. Die Bewohner der Stadt klagten gern über die Schrecken des morgendlichen Verkehrs, der von Jahr zu Jahr schlimmer wurde, aber Katekar liebte das ungeheure Gewühl von Millionen Menschen, die dahinrasenden Regionalzüge, an deren Türen ganze Menschentrauben hingen, das hallende Fußgetrappel und das Stimmengewirr in der riesigen Churchgate Station. Er fühlte sich dann lebendig. Das ungeduldige Hupen der Autos sandte eine Gänsehaut seine Arme hinauf. Er hielt sich an der Metallstange fest und lehnte sich weit hinaus. Ein paar Collegemädchen rannten und hüpften lachend und rufend zwischen den Autos durch. Katekar klopfte mit den Fingern den Takt an die Buswand und sang leise: »Lat pat lat pat tujha chalana mothia nakhriyacha ...369«
Vor Parulkars Schreibtisch saß eine Frau, neben ihr Makand, der CBI-Mann, der in Gaitondes Bunker die Führung übernommen hatte, sein Kopf glatt wie grauer Stahl. Sartaj nahm Haltung an und wartete schweigend, bis Parulkar ihn aufforderte, Platz zu nehmen.
»Sie brauchen deine Hilfe, Sartaj«, sagte Parulkar, »im Fall Gaitonde.«
»Sir.« Sartaj saß kerzengerade auf seinem Stuhl.
»Sie werden dir selbst sagen, worum es geht.«
Sartaj nickte. »Ja, Sir.« Er neigte sich mit einer Miene, die, wie er hoffte, genau das richtige Maß an wachem Eifer ausdrückte, zu Makand hin. Doch es war die Frau, die das Wort ergriff.
»Wir wollten mit Ihnen über Gaitondes Tod reden.« Es klang streng und nüchtern. Sie hatte genau registriert, daß er sich automatisch Makand zugewandt hatte.
»Ja«, sagte Sartaj. »Ja, äh, Madam.«
»Das ist DCP153 Mathur«, sagte Parulkar. »DCP Anjali Mathur. Sie leitet die Ermittlungen.« Sartaj merkte, daß Parulkar sich über sie und ihn amüsierte, über sie alle und die Ironie der neuen Welt, in der sie lebten.
Anjali Mathur nickte und sagte, ohne Parulkar anzusehen: »Sie haben gestern einen Anruf erhalten und erfahren, wo sich Gaitonde aufhält?«
»Ja, Madam.«
»Warum Sie, Inspektor?«
»Madam?«
»Was glauben Sie, warum Sie den Anruf erhalten haben?«
»Ich weiß es nicht, Madam.«
»Kannten Sie Gaitonde von früher?«
»Nein, Madam.«
»Sie haben ihn nie gesehen?«
»Nein, Madam.«
»Haben Sie die Stimme am Telefon erkannt?«
»Nein, Madam.«
»Sie haben lange mit Gaitonde geredet, bevor sie in das Haus eingedrungen sind.«
»Wir haben auf den Bulldozer gewartet, Madam.«
»Worüber haben Sie geredet?«
»Er hat geredet, Madam. Er hat mir eine lange Geschichte erzählt, von den Anfängen seiner Laufbahn.«
»Ja, seine Laufbahn. Ich habe Ihren Bericht gelesen. Hat er gesagt, warum er in Mumbai ist?«
»Nein, Madam.«
»Sind Sie sicher?«
»Ja, Madam.«
»Hat er irgend etwas darüber gesagt, was er vorhat, etwas über das Haus? Überhaupt irgend etwas?«
»Nein, Madam. Ich bin mir ganz sicher.«
DCP Anjali Mathur wollte Details, aber Sartaj konnte ihr keine liefern. Er sah sie ausdruckslos an und wartete.
»Und die Tote?« fragte sie schließlich. »Kennen Sie sie?«
»Nein, Madam. Ich weiß nicht, wer sie ist, das steht auch in meinem Bericht. Unbekannte weibliche Person.«
»Haben Sie irgendeine Idee?«
Katekar hatte sofort an Filmi-Randis gedacht, ohne seine Theorie jedoch auf etwas anderes stützen zu können als die Kleidung der Toten. Doch solche Kleider hatte Sartaj auch in sündhaft teuren Clubs in der City gesehen. Es gab keinen Grund zu der Annahme, daß die Frau eine Prostituierte gewesen war. »Nein, Madam.«
»Sind Sie sicher?«
»Ja, Madam.« Sie war skeptisch, versuchte unentwegt, ihn einzuschätzen, und er ließ die Prüfung gleichmütig über sich ergehen. Sie schien zu einem Entschluß zu kommen.
»Sie müssen etwas für uns tun, Inspektor. Aber zunächst sollten Sie wissen, daß wir nicht vom CBI sind. Wir sind vom RAW530. Diese Information ist allerdings nur für Sie bestimmt. Niemand sonst braucht das zu wissen. Klar?«
Es war alles andere als klar, weshalb der RAW der berühmte Research and Analysis Wing mit seinem Ruf des Geheimnisumwitterten und Exotischen, hier in Parulkars Büro saß. Ganesh Gaitonde war ein großer Verbrecher gewesen, also hätte es nahegelegen, daß das CBI die Ermittlungen führte. Der RAW aber war für ausländische Staatsfeinde zuständig. Weshalb waren die beiden hier, weshalb interessierten sie sich für Kailashpada? Diese Anjali Mathur wirkte auch gar nicht wie eine internationale Geheimagentin. Doch vielleicht war das gerade der Zweck der Übung. Sie hatte ein rundes Gesicht und glatte, helle Haut. Sie trug kein Sindur, aber die Frauen taten ihren Verheiratetenstatus heute auch nicht mehr kund - Sartajs Ex-Frau hatte es nie getan. Sartaj hatte das unbehagliche Gefühl, durch einen reißenden Fluß zu waten, von gänzlich unbekannten Strömungen herumgewirbelt zu werden, und so wandte er Parulkars Prinzip höflich-formeller Unterwürfigkeit an.
»Ja, Madam«, sagte er. »Vollkommen klar.«
»Gut. Finden Sie's heraus. Finden Sie heraus, wer die Frau war.«
»Ja, Madam.«
»Sie kennen sich in der Gegend ja sicher aus, also finden Sie's heraus. Wir legen allerdings Wert auf strikte Vertraulichkeit. Wir möchten, daß Sie in dieser Sache für uns tätig werden, Sie und dieser Polizist, Katekar. Nur Sie beide. Und nur Sie beide wissen von diesem Auftrag. Niemand sonst auf dem Revier darf davon erfahren. Es sind hier Sicherheitsaspekte der höchsten Stufe im Spiel. Ist das klar?«
»Ja, Madam.«
»Ermitteln Sie so unauffällig wie möglich. Vorrangig ist, daß Sie herausfinden, wer die Frau war, in welcher Beziehung sie zu Gaitonde stand, was sie in dem Haus gemacht hat. Zweitens müssen wir wissen, was Gaitonde in Mumbai wollte, warum er hier war, seit wann er hier war und was er in dieser Zeit getan hat.«
»Ja, Madam.«
»Spüren Sie möglichst viele Leute auf, die mit ihm zusammengearbeitet haben. Aber gehen Sie diskret vor. Wir können es uns nicht leisten, daß viel Lärm um die Sache gemacht wird. Egal, was Sie tun: Tun Sie's unauffällig. Daß Sie sich für Gaitonde interessieren, nachdem Sie ihn gefunden haben, ist nur natürlich. Wenn Sie also gefragt werden, sagen Sie einfach, es seien noch ein paar Detailfragen zu klären. Verstanden?«
»Ja, Madam.«
Sie schob einen dicken Umschlag über den Tisch. Er war weiß, und in der Mitte stand mit schwarzer Tinte eine Telefonnummer. »Sie melden sich mit Ihren Ergebnissen bei mir, und zwar nur bei mir. In diesem Kuvert befinden sich Kopien der Fotos aus dem Album, das wir in Gaitondes Schreibtisch gefunden haben. Und Fotos der Toten. In der Tasche der Toten haben wir außerdem die Schlüssel hier gefunden. Einer sieht aus wie ein Türschlüssel, der andere wie ein Autoschlüssel. Wozu der dritte gehört, weiß ich nicht.« Die Schlüssel hingen an einem Metallring.
»Ja, Madam.«
»Noch Unklarheiten? Noch Fragen?«
»Nein, Madam.«
»Rufen Sie mich unter der Nummer auf dem Umschlag an, wenn Sie Fragen haben oder mir etwas mitteilen wollen. Parulkar-saab hat mir gesagt, daß Sie einer seiner zuverlässigsten Beamten sind. Ich bin sicher, Sie werden Ihre Sache gut machen.«
»Sehr freundlich von Parulkar-saab. Ich werde mein Bestes tun.«
»Shabash«576, sagte Parulkar mit undurchdringlicher Miene. »Du kannst gehen.«
Sartaj erhob sich, nahm den Umschlag und ging schnell hinaus. Draußen blinzelte er in das strahlende Morgenlicht, blieb einen Moment am Geländer stehen und wog den Umschlag in der Hand. Der Fall Gaitonde war also noch nicht abgeschlossen. Vielleicht waren noch Punkte zu sammeln und Lorbeeren zu ernten. Vielleicht hielt der große Ganesh Gaitonde noch ein paar Geschenke für ihn bereit. Das alles sah sehr gut aus, es ehrte ihn, daß man ihn ausersehen hatte, diese geheimen Ermittlungen im Interesse der nationalen Sicherheit zu führen, aber wohl war ihm dabei nicht. Anjali Mathurs dringlicher Ton hatte irgendwie nach Angst gerochen. Gaitonde war tot, doch der Schrecken, den er verbreitete, lebte weiter.
Sartaj reckte sich, drehte die Schultern hin und her und verscheuchte eine Fliege, die um sein Gesicht summte. Er lief die Treppe hinunter und machte sich an die Arbeit.
In Majid Khans Büro drängten sich Vertreter des örtlichen Einzelhandelsverbandes. Sie protestierten gegen die empörende Untätigkeit der Polizei angesichts der Flut von Erpresseranrufen, die in den letzten Monaten bei den Mitgliedern eingegangen waren. Sartaj setzte sich hinten im Raum auf einen Stuhl und hörte zu, wie Majid beschwichtigte und beruhigte und die Anwesenden seinerseits um Hilfe bat. »Wir können nichts tun, wenn Sie sich, statt uns zu rufen, darauf einlassen und zahlen«, sagte er. »Verständigen Sie uns beizeiten, und wir werden unser Bestes tun.« Nach einer Viertelstunde standen die Händler alle gleichzeitig auf, rückten ihre Bäuche zurecht und zogen ab, jedoch nicht ohne daß ihr Präsident, ein besonders feister, Paan kauender Mensch, zuvor noch erwähnte, er habe zusätzlich zu der Belastung durch die ständige Angst auch noch die beträchtlichen Kosten für die Heirat seiner Tochter im nächsten Monat zu tragen. So eine Hochzeit müsse ja selbst in diesen schwierigen Zeiten angemessen teuer sein, die Leute erwarteten heutzutage so viel, und schließlich komme auch ein MLA-saab423, ja, und Ranade-saab ebenfalls. Er beugte sich beim Abschied tief über Majids Hand, hinterließ jedoch die Gewißheit seiner engen Beziehung zu dem MLA-saab und somit der realen Möglichkeit, die Strafversetzung eines Polizisten bewirken zu können.
»Mistkerle«, sagte Majid ruhig, nachdem die Händler hinausgegangen waren.
»Mistkerle«, wiederholte Sartaj, stand auf und nahm auf einem Stuhl vor Majids Schreibtisch Platz. Die Sitzfläche war noch warm, und er rutschte unbehaglich darauf hin und her.
»Sie hatten heute früh eine sehr wichtige Besprechung mit sehr wichtigen CBI-Leuten, wie ich höre?«
»Ja, ja.« Daß Majid von dem Treffen wußte, wunderte Sartaj nicht; was ihn manchmal aber noch immer überraschte, war die Geschwindigkeit, mit der Neuigkeiten im Revier herumgingen. »Deswegen wollte ich Sie sprechen, Boß. Hier.« Sartaj breitete die Fotos aus Gaitondes Album auf Majids Schreibtisch aus. »Kennen Sie welche von diesen Frauen?«
Majid strich mit beiden Händen mehrmals prüfend über seinen Schnauzbart. »Schauspielerinnen? Models?«
»Ja. Oder so ähnlich.«
Majid blätterte die Fotos durch. »Irgendeine Verbindung zu Gaitonde?«
»Ja. Aber ich bin nur neugierig.«
»Diskretion, verstehe, mein Freund. Sagen Sie mir nichts. Ich will nichts wissen.« Majid schüttelte den Kopf. »Ein paar kommen mir bekannt vor, aber ich könnte Ihnen keine Namen nennen. In Bombay wimmelt es von solchen Mädchen, da sieht eine aus wie die andere. Die kommen und gehen.«
»Und die hier?« Die hier war die Tote, in Nahaufnahme. Man sah sofort, daß sie tot war, an den blauen Lippen, den schlaffen nackten Schultern und der völligen Neutralität des Blicks vor der nahen Kamera.
»Ist das die Frau in Gaitondes Haus?« fragte Majid leise. »Die sie vor den Zeitungen verstecken?«
»Ja.«
Majid sammelte die Bilder ein und schob sie Sartaj wieder zu. Er lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. »Nein, Baba, ich weiß nichts. Ich weiß nichts. Und seien Sie vorsichtig, Sardar-ji. Riskieren Sie nicht zuviel. Parulkar-saab wird versuchen, Sie zu schützen, aber er ist selbst in Schwierigkeiten. Der Arme, als Hindu ist er den Rakshaks nicht gut genug.«
»Und was heißt das für Sie und mich?« fragte Sartaj. »Ich bin auch kein guter Hindu.«
Majid lächelte und entblößte dabei zwei breite weiße Zahnreihen, so daß er trotz seines majestätischen Schnauzbarts wie ein kleiner Junge aussah. »Sartaj«, sagte er, »Sie sind nicht mal ein guter Sikh.«
Sartaj erhob sich. »In irgendwas muß ich gut sein. Ich weiß nur noch nicht, in was.«
Majid stieß sein langes, gurgelndes Lachen aus. »Are, Sartaj, Sie waren doch immer gut in puncto Frauen. Wenn Sie also was über die Frauen hier wissen wollen, fragen Sie andere Frauen.«
Sartaj hob abwehrend die Hand und ging. Aber er mußte zugeben, daß Majid, dieser schwerfällige, großfüßige Paschtune, recht hatte: Wenn es um Frauen ging, mußte man Frauen fragen. Doch es war noch früh am Tag, und die Frauen wie auch die nationale Sicherheit würden warten müssen. Zuvor wollte er in dem Navnagar-Mordfall weiterermitteln.
»Die ganze Gegend hier stinkt«, sagte Katekar, als er den Gypsy in einer engen Lücke zwischen zwei Lastern parkte.
Er und Sartaj mußten in der Tat einen durchdringenden Geruch ertragen, als sie die Straße entlanggingen, aber Sartaj fand es ein wenig unfair von Katekar, die Gegend als besonders übelriechend zu brandmarken. Ab und an stank es in der ganzen Stadt, und irgendwo mußten die Einwohner von Navnagar ihren Müll schließlich abladen. Sie konnten nichts dafür, daß die Müllabfuhr nur alle vierzehn Tage kam, um ein Loch in die Hügelkette aus Abfällen zu reißen.
»Geduld, Maharaj«, sagte Sartaj, »gleich sind wir aus dem Gestank raus.«
Doch Katekar hielt an seinem Mißmut fest. Sartaj wußte, daß ihn nicht der Gestank verdroß, sondern der Umstand, daß er sich überhaupt in Navnagar aufhalten mußte. Ein junger Bangladeshi war von seinen Yaars ermordet worden -na und? Es war ein unbedeutender Fall mit wenig Möglichkeiten, und man konnte ihn ohne weiteres auf dem Papier untersuchen, genauso wie die Müllabfuhr auf dem Papier pünktlich jeden Morgen kam. Kein Hahn würde danach krähen, ob der Mord aufgeklärt wurde oder nicht, und deshalb war es idiotisch, sich diesen üblen Gerüchen und den schrecklichen Leuten hier auszusetzen. Sartaj aber wollte ermitteln. Als Polizist, so sagte er sich, müsse er nun einmal den Ehrgeiz haben, Fälle zu lösen und - wenn auch noch so langsam - weiterzukommen, dennoch war er sich bewußt, daß dabei auch Sturheit im Spiel war. Er mochte es nicht, wenn in seinem Bezirk Menschen umgebracht wurden, und er haßte es, wenn Mörder ungestraft davonkamen. Auch Katekar wußte, daß Sartaj bestimmte Fälle nicht aus reinem Idealismus durchzog. Es war einfach Verbohrtheit. Sie hatten das schon mehrmals durchexerziert: Sartaj verfolgte hartnäckig eine Spur, und Katekar blieb ihm, wenn auch grollend, dicht auf den Fersen. Manchmal fragte er sich, warum Katekar sich nicht auf einen ruhigeren Posten versetzen ließ. Wahrscheinlich brauchte er das Geld. Er spulte jedesmal dasselbe Ritual ab und kam dann doch mit. Sartaj bog von der Straße ab und begann den Hügel hinaufzusteigen, und er wußte, daß Katekar dicht hinter ihm folgte.
In Navnagar war es vormittags nicht ganz so voll, doch Sartaj spürte die Enge zwischen den Kholis, während er sich seinen Weg durch die Gassen bahnte. Die Leute traten beim Anblick seiner Uniform zwar zur Seite und drückten sich an die Hauswände, aber er mußte dennoch den Oberkörper drehen, um sie nicht zu streifen. In dieser Stadt gab es Raum für die Reichen, wenig Raum für die Mittelschicht und gar keinen für die Armen. Das war der Grund, weshalb Papa-ji nach seiner Pensionierung nach Pune gezogen war. Er wolle beim Aufwachen weit schauen können, hatte er erklärt, wolle spüren, daß es auf der Welt noch leeren Raum gebe. Er hatte sein kleines Rasenstück und den Gemüsegarten hinter dem Haus bekommen, doch Sartaj hegte den Verdacht, daß er die tunnelartigen Straßen in den Slums von Bombay manchmal vermißt hatte, diese Hütten, die Jahr für Jahr weiter vorwärts krochen, die mit jedem kleinen Anbau Terrain eroberten und sich darauf behaupteten. Bestimmt hatte er oft daran zurückgedacht.
Papa-ji hatte nie speziell von Navnagar erzählt, vielleicht weil dort nichts Spektakuläres passiert war. Aber er hatte Sartaj oft gesagt, daß der Weg zu einem Apradhi024 über dessen Familie führe. Finde die Mutter und den Vater, hatte er gesagt, und du findest den Dieb, den Mörder, den Fälscher. Und so machten sich Sartaj und Katekar in Navnagar auf die Suche nach den Verwandten von Bazil Chaudhary und Faraj Ali, die ihren Freund Shamsul Shah getötet hatten. Wie nicht anders zu erwarten, waren die nächsten Angehörigen der Mörder geflüchtet. Noch am Tag des Mordes hatten sie alle Habseligkeiten zusammengepackt, die sie mitnehmen konnten, hatten ihre Kholis abgeschlossen und sich davongemacht. Sartaj und Katekar brachen die Schlösser auf und fanden im Innern alte Matratzen, leere Jutesäcke und ein altes Farbfoto von Bazil Chaudharys Familie. Bazil war auf dem Bild ungefähr zehn, ein Junge in einem leuchtend roten Hemd, aber wenigstens wußte Sartaj jetzt, wie seine Eltern aussahen. Er zweifelte nicht daran, daß er sie finden würde, früher oder später. Sie waren arm, sie würden das Kholi verkaufen müssen, sie würden auf ihre Beziehungen in Navnagar angewiesen sein, um zu überleben. Zu verschwinden war weit schwieriger, als die Menschen gemeinhin annahmen. Aufgabe des Polizisten war es, die Fäden ihres Lebens aufzunehmen und sich daran entlangzuhangeln.
Die Verhöre an diesem Vormittag in Navnagar erbrachten einiges an Erkenntnissen, nichts Bahnbrechendes zwar, aber alles in irgendeiner Weise von Belang. Die Bangladeshi-Nachbarn des Opfers und der Apradhis zeigten sich mürrisch und verschlossen und behaupteten, von nichts zu wissen. Nachdem Katekar sich drohend vor ihnen aufgebaut und Sartaj mit einer Fahrt aufs Revier und sofortiger Ausweisung gedroht hatte, gaben sie zu, möglicherweise doch etwas zu wissen, ein ganz klein wenig zumindest. Shamsul - der Tote - und Bazil hätten als Kuriere gearbeitet, und Faraj habe von Gelegenheitsjobs gelebt. In den letzten Monaten hätten allerdings alle drei reichlich Geld gehabt, und niemand wisse, woher.
Die leeren Kholis, die Sartaj und Katekar durchsuchten, hatten nicht eben nach Geld ausgesehen; die Familien der Apradhis hatten ihre Luxusgüter mitgenommen. Im Haus des toten Jungen aber stand ein nagelneuer Farbfernseher, und die Küchenecke zierten eine großer Gasherd und blinkende Edelstahltöpfe. Der Vater gestand nun, daß sein verstorbener Sohn vor einigen Tagen ein neues Kholi gekauft hatte.
»Er war ein guter Junge«, sagte Nurul Shah.
Das Kholi war winzig, ein einziger, mit einem ausgebleichten roten Tuch unterteilter Raum. Hinter dem Vorhang hörte man einige Frauen tuscheln und rascheln. Die Familie brauchte mehr Platz, und der gute Junge hatte dafür gesorgt, daß sie ihn bekam. Sie wollten gerade in das neue Kholi umziehen, als ihnen der Sohn auf grausame Weise entrissen wurde.
»Aber«, sagte Sartaj, »ein großes neues Haus, das muß doch eine Menge Geld gekostet haben.«
Nurul Shah sah zu Boden. Er hatte schütteres weißes Haar und durch lebenslange schwere Arbeit gebeugte Schultern.
»Die Nachbarn sagen, Ihre Familie sei plötzlich reich«, sagte Sartaj. »Sie sagen, Ihr Sohn habe seinen Schwestern einiges spendiert. Sie sagen, er habe seiner Mutter eine neue Brille gekauft.«
Nurul Shah hatte die Hände ineinander verschlungen, die Fingerspitzen weiß von dem Druck. Er begann lautlos zu weinen.
»Wenn ich hinter den Vorhang schaue«, sagte Sartaj, »finde ich bestimmt noch mehr teure Sachen. Woher hatte Ihr Sohn das ganze Geld?«
»He«, knurrte Katekar, »der Inspektor-saab hat dich was gefragt. Antworte!«
Sartaj legte Nurul Shah die Hand auf die Schulter und ließ sie dort liegen, obwohl der Mann bei der Berührung in Panik geriet. »Hören Sie zu«, sagte er ganz leise. »Ihnen und Ihrer Familie wird nichts geschehen. Ich bin nicht daran interessiert, Ihnen Schwierigkeiten zu machen. Aber Ihr Sohn ist tot. Wenn Sie mir nicht alles sagen, kann ich Ihnen nicht helfen. Dann kann ich die Dreckskerle, die das getan haben, nicht finden.«
Der Mann hatte Angst vor den Polizisten in seinem Haus, Angst vor allem, was passiert war und noch passieren konnte, aber er versuchte Mut zu fassen.
»Ihr Sohn hat zwielichtige Geschäfte gemacht. Wenn Sie mir alles sagen, werde ich die Kerle finden, wenn nicht, kommen sie ungestraft davon.« Sartaj zuckte die Schultern und straffte sich.
»Ich weiß nichts, Saab«, sagte Nurul Shah. »Ich weiß nichts.« Er beugte sich zitternd vor. »Ich habe Shamsul gefragt, was er macht, aber er hat mir nichts gesagt.«
»Er und diese beiden, Bazil und Faraj, haben sie zusammengearbeitet?«
»Ja, Saab.«
»War sonst noch jemand dabei?«
»Ja, Reyaz Bhai.«
»Ein Freund von den dreien?«
»Er war älter.«
»Der volle Name?«
»Ich weiß nur Reyaz Bhai.«
»Wie sieht er aus?«
»Ich bin ihm nie begegnet.«
»Wo wohnt er?«
»Vier Gassen weiter, Saab. Zur Hauptstraße hin.«
»Er wohnt hier in Navnagar, im Bengali Bura, und Sie sind ihm nie begegnet?«
»Nein, Saab. Er geht selten aus dem Haus.«
»Warum?«
»Er kommt aus Bihar, Saab«, antwortete Nurul Shah, als sei das eine Erklärung.
Doch auch der Bihari hatte sein Kholi verlassen; eine neue Familie wohnte bereits darin. Sartaj und Katekar suchten den Vermieter auf, einen beleibten Tamilen, der am anderen Ende von Navnagar wohnte. Er hatte den Raum am Tag des Mordes leer vorgefunden und ihn sofort ausgeräumt und weitervermietet. Nein, er wisse nichts über diesen Reyaz, außer daß er im voraus bezahlt und keine Schwierigkeiten gemacht hat. Wie er aussehe? Groß, dünn, junges Gesicht, aber volles weißes Haar. Ja, schneeweiße Haare. Vierzig oder fünfzig, schwer zu sagen. Geschliffene Sprache, eindeutig gebildet. Er habe nichts in dem Kholi zurückgelassen außer ein paar Büchern, die er, der Vermieter, noch am selben Nachmittag an eine Papier- und Schrotthandlung in der Hauptstraße verkauft habe. Was für Bücher? Das wisse er nicht.
Dann standen Sartaj und Katekar am Rand von Navnagar, dieser kleinen Welt für sich. »Okay«, sagte Sartaj und schaute zu dem ansteigenden Gewirr rostiger Blechdächer auf. »Dieser Bihari ist also der Boß.«
»Er plant alles, und die drei sind seine Jungs.« Katekar wischte sich mit einem riesigen blauen Taschentuch über Gesicht, Nacken und Unterarme. »Die machen Geld.«
»Womit? Betrügereien? Raubüberfälle? Oder sind sie Killer in einer Gang?«
»Kann sein. Aber Bangladeshis in einer Gang? Das hab ich noch nie gehört.«
»Die sind hier aufgewachsen, also sind sie vielleicht mehr Inder als irgendwas sonst. Der Schlüssel zum Ganzen ist dieser Bihari. Er ist älter, er arbeitet professionell. Er lebt zurückgezogen, prahlt nicht mit seinem Geld, und wenn es brenzlig wird, verschwindet er. Wo der ist, da sind bestimmt auch die beiden Jungen.«
»Ja, Saab.« Katekar steckte sein Taschentuch weg. »Wir suchen also den Bihari.«
»Wir suchen den Bihari, genau.«
Doch die Suche nach dem Bihari mußte warten, bis Sartaj gewisse andere Pflichten erledigt hatte. In der Polizeiarbeit mußte man oft eine Sache zurückstellen und sich zunächst um eine andere kümmern. Was Sartaj jetzt zu tun hatte, war ganz und gar inoffiziell, es stand in keinerlei Zusammenhang mit irgendeinem Fall, und er mußte es allein tun. Er setzte Katekar am Revier ab und fuhr nach Santa Cruz, wo er in einem funkelnagelneuen Gebäude in einer Seitenstraße der Linking Road, unweit der Swaraj-Eisdiele, mit Parulkar verabredet war. Er parkte hinter dem Haus und bestaunte den grünen Marmor in der Eingangshalle und den schicken stählernen Aufzug. Die Wohnung, in der Parulkar ihn erwartete, gehörte angeblich seiner Nichte. Sie arbeitete bei einer Bank, und ihr Mann war im Import und Export tätig, aber die beiden waren kaum älter als dreißig und die Wohnung sehr groß und sehr teuer. »Namjoshi« stand in goldenen Lettern auf dem Türschild, doch Sartaj war überzeugt, daß die Vierzimmerwohnung in Wirklichkeit Parulkar gehörte. Wie er so mit gekreuzten Beinen auf einem riesigen Sofa im Wohnzimmer saß, ein beleibter Weiser in Khaki, vermittelte er jedenfalls den Eindruck eines Mannes, der sich in seiner eigenen erstklassigen Immobilie aufhält und sein Leben im Griff hat.
»Komm, komm, Sartaj«, sagte er. »Wir müssen uns beeilen.«
»Tut mir leid, Sir. Der Verkehr ist furchtbar.«
»Der Verkehr ist immer furchtbar.« Es klang jedoch nicht tadelnd, sondern väterlich und geduldig; Parulkar dachte nur an seinen vollen Terminkalender. Er zeigte auf ein beschlagenes Glas Wasser, das auf dem Tisch stand. Sartaj nahm den silbernen Deckel ab und trank, dann folgte er Parulkar durch die dämmrige Weite des Wohnzimmers in ein Schlafzimmer.
Parulkar schloß die Tür und tappte um das hohe weiße Bett herum auf die andere Seite des Raumes. Er öffnete einen Schrank und hob eine schwarze Segeltuchtasche heraus. »Vierzig sind es diesmal.«
»Ja, Sir.«
Vierzig Lakhs meinte Parulkar, seine jüngsten inoffiziellen Einnahmen, die Sartaj nach Worli bringen und Parulkars Finanzberater Homi Mehta übergeben würde, der sie gegen eine sehr maßvolle Provision wiederum auf ein Schweizer Konto schleusen würde. Sartaj brachte ihm alle paar Wochen Geld von Parulkar und wunderte sich längst nicht mehr über die Summen. Parulkar war stellvertretender Polizeichef eines sehr reichen Bezirks. Es war ein äußerst lukrativer Posten, und Parulkar schöpfte tief aus dem sprudelnden Quell. Geldverdienen war seine Leidenschaft, aber er war nicht gierig, und er ging sehr vorsichtig mit seinem Geld um. Sein persönlicher Assistent Sardesai sammelte es ein, wußte aber nicht, was weiter damit geschah, nachdem er es bei Parulkar abgeliefert hatte. Parulkar übergab es Sartaj, und der brachte es zu Mehta, dem Finanzberater. Sartaj wußte nur, daß es danach irgendwie aus Indien verschwand und im Ausland wieder auftauchte, wo es sicher angelegt wurde und Zinsen in harter Währung brachte.
Parulkar leerte die Tasche auf dem Bettüberwurf aus und gab sie Sartaj. »Achtzig Bündel Fünfhundert-Rupien-Scheine«, sagte er. Sie vertrauten einander vollkommen, vollzogen dieses Ritual aber jedesmal, ehe das Geld an Mehta ging. Sartaj nahm eines der gewichtigen Bündel und legte es in die Tasche. Achtzigmal würde er das vor Parulkars Augen tun, und sie würden beide mitzählen.
»Was wirst du im Fall Gaitonde unternehmen?« fragte Parulkar, den Blick auf Sartajs Hände gerichtet.
»Das wollte ich Sie fragen, Sir.«
Parulkar zog die Beine aufs Bett und nahm wieder seine Meditationshaltung ein. »Ich weiß nicht viel über die Gaitonde-Company. Ein gewisser Bunty hat ihre Geschäfte in Bombay geführt. Cleverer Bursche. Er ist von Suleiman Isas Leuten angeschossen worden und sitzt im Rollstuhl, aber er war Gaitondes Vertrauensmann und hat vom Rollstuhl aus weitergemacht. Früher konnte man einfach nach Gopalmath239 fahren und sich mit ihm treffen, aber seit seiner Verwundung hält er sich versteckt. Frag Mehta nach seiner Nummer, der hat sie bestimmt.«
Als Finanzberater blieb Mehta im Hinblick auf die Bandenkriege strikt neutral. Alle Seiten nutzten völlig unbefangen seine Dienste und schätzen ihn gleichermaßen.
»Ja, Sir.«
»Aber die besten Informationen über Gaitonde wirst du natürlich von seinen Feinden bekommen. Ich kann ein paar Leute anrufen und einen Kontakt herstellen. Mit jemand sehr, sagen wir mal, Sachkundigem.«
»Danke, Sir.« Parulkar meinte damit, daß er seine Verbindungen zur Suleiman-Isa-Company spielen lassen würde, um Sartaj einen Ansprechpartner zu besorgen. Parulkars Beziehungen zu der Company reichten Jahre zurück, Jahrzehnte sogar, und der Informant, mit dem er Sartaj zusammenbringen würde, hatte dort zweifellos eine führende Position inne. Er tat ihm damit einen großen Gefallen -eine weitere in einer langen Reihe von Gefälligkeiten, die er Sartaj erwiesen hatte. »Vierzig, Sir.« Sartaj legte das letzte Bündel in die Tasche. »Was soll das eigentlich alles, Sir? Gaitonde ist tot - wozu wollen die jetzt noch was über ihn wissen?«
»Ich weiß es nicht, Sartaj. Aber sei vorsichtig. Soweit ich weiß, interessiert sich auch das IB für diese Gaitonde-Sache.«
»Das Intelligence Bureau, Sir? Wieso denn das?«
»Wer weiß? Aber es scheint sich bei diesen ganzen Ermittlungen um eine Gemeinschaftsaktion zu handeln. Das IB überläßt die Details dem RAW Ansprechpartner für uns beide ist also der RAW Wenn solche großen Organisationen mit einem Fall zu tun haben, müssen einfache Polizisten auf der Hut sein. Mach deine Arbeit, aber versuch nicht, den Helden zu spielen.«
Sartaj zog den Reißverschluß der Tasche zu. Also interessierten sich nicht nur internationale Agenten für Gaitondes Ableben. Auch der für die Spionageabwehr zuständige Geheimdienst war neugierig. »Natürlich nicht, Sir. Ich bin alles andere als ein Held. Dafür bin ich nicht groß genug.«
Parulkar wiegte sich hin und her und lachte glucksend. »Heutzutage werden auch kleine Leute Helden, Sartaj. Die Welt hat sich verändert, mein Freund.«
Einen Moment lang glaubte Sartaj, Parulkar würde nun ein Gedicht vortragen, doch Parulkar war in Eile, er ließ es bei dem »Freund« bewenden und schickte Sartaj mit seinem Geld auf den Weg. »Grüß Bhabhi-ji von mir«, sagte er noch, winkte ihm zu, und das war alles.
Auf der Fahrt nach Worli dachte Sartaj an Papa-ji. Die meisten hatten Sartajs Vater als einen hochgewachsenen Mann in Erinnerung, dabei war er nur einsvierundsiebzig groß gewesen. Seine kerzengerade Haltung, die muskulösen Arme, der imposante Schnurrbart und vor allem sein stets perfekter Turban ließen ihn im Rückblick größer erscheinen, als er gewesen war. Sein Sohn maß volle zweieinhalb Zentimeter mehr, aber Sartaj wußte, daß er keine auch nur annähernd so beeindruckende Erscheinung war wie Papa-ji, weder von der Körpergröße noch von seinem Ruf her. Papa-ji war ehrlich gewesen. Er hatte Wert darauf gelegt, stets den frischesten Turban und den feinsten Anzug zu tragen, aber er hatte es geschafft, diesen Stil seinem Gehalt entsprechend zu pflegen; zehn Jahre lang hatte er bei Hochzeiten und offiziellen Anlässen ein und denselben zweireihigen blauen Blazer getragen. Nach seinem Tod hatte Sartaj den Blazer in einer Truhe gefunden, sorgfältig eingemottet und in Seidenpapier gehüllt. Heute, lange nach Papa-jis Tod, sagten die Leute noch immer: »Ach, Sie sind Sardar-saabs Sohn? Er war ein guter Mensch.« Vor einem Jahr hatte ihm ein Diamantenhändler auf dem Crawford Market traurig auf die Schulter geklopft und gesagt: »Beta, Ihr Vater war der ehrlichste Polizist, den ich je kennengelernt habe.« Sartaj hatte genickt und gemurmelt: »Ja, er war ein guter Mensch.« Und er war mit steifen Schultern davongegangen.
Sartaj bog nach rechts in Richtung Meer ab, machte vor einem Bus ein schnelles Wendemanöver und fuhr dann rückwärts an den Bürgersteig heran. Das Lebensmittelgeschäft rechts von ihm war voll von Kindern in Schuluniform, die sich dort ein Eis kauften. Dem Aussehen nach mußten sie in der dritten oder vierten Klasse sein, aber ihre Schultaschen waren riesig und schwer. Sie waren noch zu jung, um zu wissen, daß Positionen an der medizinischen Fakultät ge- und verkauft wurden, daß Zulassungen zu Managementschulen Leuten zugeschanzt wurden, die das Geld dafür hatten. Sartaj zog Parulkars Tasche hinter dem Fahrersitz vor und ging langsam zwischen den Kindern durch. In ihrem Alter hatte er Parulkar bereits seit über einem Jahr gekannt. Parulkar war damals ein schlanker junger Unterinspektor gewesen, einer von Papa-jis Lieblingsschülern. Papa-ji hatte Parulkar gemocht, hatte ihn für einen intelligenten, fleißigen und engagierten Beamten gehalten. Er hatte ihn oft zum Essen mitgebracht und gesagt: »Der Junge ist unverheiratet, da braucht er ab und zu gute Hausmannskost.« Doch Ma hatte sich nie recht für Parulkar erwärmen können. Sie war höflich zu ihm gewesen, hatte ihm aber von Anfang an mißtraut. »Nur weil er sich endlos deine Geschichten anhört, denkst du, er ist dein ergebener Jünger«, hatte sie zu Papa-ji gesagt. »Aber diese Marathen sind raffiniert, das laß dir von mir gesagt sein.« Es war zwecklos gewesen, sie darauf hinzuweisen, daß Parulkar kein Marathe, sondern Brahmane war. »Was auch immer - er ist ein gerissener Bursche.« Ihre Abneigung gegen Parulkar hatte sich mit seinem stetigen beruflichen Aufstieg noch verstärkt, und als er Papa-ji überholt und noch weiter die Karriereleiter hinaufgeklettert war, hatte sie überhaupt nicht mehr von ihm geredet. Sie hatte ihn nur noch »dieser Mensch« genannt und nicht einmal mehr Einspruch erhoben, wenn Papa-ji von Schicksal sprach und meinte, jeder solle dankbar sein für das, was Vaheguru651 ihm beschieden habe.
Sartaj stieg die schmale Wendeltreppe zu Mehtas winzigem Büro neben dem Lebensmittelladen hinauf. Mehta hatte sein Leben lang in diesen vier kleinen Kabinen gearbeitet, und er wohnte auch in der Nähe, in einer großen, aber einfachen Wohnung mit Blick aufs Meer. Er war ein Herr, gepflegt, diskret, ein stets ganz in Weiß gekleideter Parse481. »Are, Sartaj, kommen Sie, kommen Sie«, sagte er, reichte Sartaj über den Schreibtisch hinweg eine zerbrechliche Hand und begrüßte ihn mit einem kurzen, schlaffen Händedruck. Er war dünn, aber elegant, und Sartaj bewunderte jedesmal den Schnitt seines feinen grauen Haars. Homi Mehta erinnerte ihn vage an die Schwarzweißfilme, die sonntagnachmittags im Fernsehen liefen; man konnte sich gut vorstellen, wie er in einem schwarzen Victoria die Uferstraße entlangbrauste.
»Von Saab«, sagte Sartaj und stellte die Tasche auf den Tisch.
»Ja, ja, aber wann bringen Sie mir endlich Ihr eigenes Geld, junger Mann? Sie sollten für die Zukunft sparen.«
»Ich bin ein armer Mann, Onkel«, sagte Sartaj. »Wie soll man sparen, wenn man kaum genug zum Leben hat?«
Dieses Gespräch fand bei jedem von Sartajs Besuchen statt, doch diesmal gab Mehta nicht so schnell auf. »Are, was sagen Sie da? Der Mann, der Ganesh Gaitonde geschnappt hat, soll nicht wenigstens ein bißchen Geld haben?«
»Es war keine Belohnung ausgesetzt.«
»Manche sagen, Sie hätten ein nettes Sümmchen aus Dubai dafür bekommen, daß Sie ihm eine Kugel in den Kopf gejagt haben.«
»Ich habe Gaitonde nicht getötet, Onkel. Er hat sich selbst erschossen. Und niemand hat mich bezahlt.«
»Schon gut, Baba, ich hab nichts gesagt. Sie wissen ja, wie die Leute reden.« Mehta zählte Parulkars Geld und stapelte die Bündel auf der rechten Seite seines Schreibtischs ordentlich auf. Er war ein penibler Mensch, der seine Bücher gewissenhaft führte. Vor langer Zeit, bei einer ihrer ersten Begegnungen, hatte er einmal erklärt: »Ich bin in dieser unehrlichen Welt ein durch und durch ehrlicher Mensch.« Er hatte es ohne Stolz gesagt, als eine schlichte Tatsachenfeststellung. Geldtransfers ins Ausland und aus dem Ausland nach Indien, so hatte er Sartaj erklärt, liefen durchweg über Finanzverwalter. Manager nenne man sie auch oder - in Delhi - Direktoren, aber wie auch immer sie genannt würden: Alles hänge von ihrer Ehrlichkeit ab. Das Geld stamme aus geheimen Deals und Mauscheleien, aus Bestechung und Unterschlagung, Erpressung und Mord, doch die Manager verwalteten es mit Diskretion und Integrität. Sie ließen es verschwinden und wieder auftauchen, sie seien die geheimen Zauberer, ohne die im Geschäftsleben nichts gehe, und daher seien sie mit Gott und der Welt bekannt.
»Ich brauche Ihre Hilfe, Onkel«, sagte Sartaj.
»Ja?«
»Parulkar-saab meinte, Sie wüßten, wie ich mit einem von Gaitondes Leuten in Kontakt kommen kann.«
»Mit wem?«
»Bunty.«
Der alte Mann verzog keine Miene. Er wischte sich mit einem Papiertaschentuch die Finger und nahm einen neuen Stapel in Angriff. »Ich muß ihn fragen«, sagte er. »Was soll ich ihm sagen?«
»Ich möchte einfach mit ihm reden. Ich möchte ihm ein paar Fragen über Gaitonde stellen.«
»Sie möchten ihm ein paar Fragen über Gaitonde stellen.« Mehta nickte und verstaute den letzten Stapel. »Okay. Sie haben jetzt ein Handy - schreiben Sie mir Ihre Nummer auf.«
Sartaj grinste und notierte die Nummer auf einem Block. Dem alten Mehta entging nichts, nicht einmal die kleine Wölbung seiner Brusttasche. Sartaj hatte sich schließlich doch ein Handy zugelegt, nachdem er jahrelang erklärt hatte, die Geräte seien zu teuer und die Gebühren zu hoch. Am Ende hatte er viel zuviel Geld für ein winziges Motorola ausgegeben, weil es so schick war und so silbern glänzte. Es glänzte noch immer und war noch immer unbenutzt, und er hatte die Nummer noch niemandem gegeben. Homi Mehta aber war alt und weise, und er hatte Argusaugen.
»Hier, Onkel«, sagte Sartaj. »Danke.«
»Okay. Vierzig insgesamt.« Mehta klopfte auf die Stapel.
Sartaj erhob sich. »Gut. Bis nächstes Mal dann.«
»Nächstes Mal bringen Sie mir etwas, das ich für Sie anlegen kann. Denken Sie ans Alter.«
Sartaj winkte Mehta zu und verließ ihn und das Geld. Während seiner Ehe mit Megha hatte Mehta immer gemeint, er solle für seine künftigen Kinder sparen. Nach der Scheidung hatte er statt dessen angefangen, ihn an das Alter und das Verrinnen der Zeit zu erinnern. Anscheinend sehe ich allmählich richtig alt aus, dachte Sartaj.
Andere Kinder waren jetzt in dem Laden, zwölf- bis dreizehnjährige, die mehr Zurückhaltung an den Tag legten. Sie tranken Pepsi und Coca Cola und tuschelten miteinander. Auf halbem Weg zu seinem Wagen kehrte Sartaj noch einmal um und kaufte sich ein Chocobar. Es gab inzwischen andere, ausgefallenere Eiscremesorten, aber Sartaj mochte den vertrauten, leicht öligen Kwality-Schokoladengeschmack mit Vanille, den Geschmack seiner Kindheit. Die Teenager stießen einander an: Seht mal den komischen Sardar-Polizisten, der mampft ein Chocobar. Sartaj ging lächelnd weiter, und bis er beim Jeep angelangt war, leckte er schon an dem hölzernen Stiel. Er zerbiß ihn, wie er es als Kind getan hatte, schnippte ihn fort und fuhr los.
Inzwischen wand sich der abendliche Stoßverkehr durch die Straßen und gerann zu einer festen Masse. Sartaj richtete sich auf eine lange Fahrt ein. Die Luft flimmerte über den Autodächern, und plötzlich trat Stille ein: Die Motoren wurden abgestellt, bis der Verkehr wieder in Gang kam. Sartaj löste seinen schweißnassen Rücken von der Lehne, stützte die Arme auf die Knie, ließ den Kopf hängen und betrachtete seine staubigen schwarzen Schuhe. Die Sonne stach ihm auf Schulter und Nacken, aber es gab kein Entrinnen. Ein Busfahrer beobachtete ihn ruhig von seinem hohen Sitz herab, doch als Sartaj zu ihm aufsah, wandte er den Blick ab. Jenseits des Busses stand eine Schaufensterpuppe mit vorgeschobener Hüfte hinter der Scheibe. Sartajs Blick folgte den Auslagen der Geschäfte, bis sie mit dem gleißenden Himmel verschmolzen, und er stellte sich die Insel in ihrer ganzen endlosen Länge vor, stellte sich vor, wie dort im abendlichen Gewühl alles zum Stillstand kam, die Blechlawine alles verstopfte, um sich dann ruckweise wieder in Bewegung zu setzen. Er seufzte, nahm sein Handy aus der Brusttasche und wählte.
»Ma?« sagte er.
»Sartaj!«
»Peri pauna487, Ma.«
»Jite raho298, Beta. Ich hab in der Zeitung über dich gelesen.«
»Ja, Ma.« Das Geräusch anspringender Motoren lief die Straße entlang, und Sartaj drehte den Zündschlüssel.
»Warum war kein Foto von dir dabei, wo du doch so einen Schwerverbrecher geschnappt hast?«
»Auf die Arbeit kommt es an, Ma«, erwiderte Sartaj, belustigt über sie und seine eigene Prahlerei. »Nicht auf irgendwelche Fotos in der Zeitung.« Er wartete gespannt auf eine scharfe Antwort, aber sie wechselte das Thema.
»Von wo aus rufst du an?«
»Von wo? Aus Mumbai, Ma.«
»Nein, ich meine, von wo in Bombay.« Der Polizistenfrau entging nichts.
»Ich fahre gerade von Worli zurück.«
»Ah, also hast du jetzt endlich ein Handy?«
»Ja, Ma.« Sie interessierte sich zwar nicht für technische Neuerungen, und einen Videorecorder wollte sie nicht, weil sie ihn nicht hätte bedienen können, aber daß Sartaj sich ein Handy zulegte, hatte sie sich schon lange gewünscht.
»Und die Nummer?«
Sartaj gab sie ihr und fügte hinzu: »Aber denk dran: Keine Anrufe während der Dienstzeit.«
Sie lachte. »Ich hab auch mal gearbeitet, bevor du auf die Welt gekommen bist. Und du rufst mich doch selbst immer von der Arbeit aus an. Jetzt zum Beispiel.«
»Ja, ja.« Bestimmt saß sie in dem kleinen Wohnzimmer mit hochgezogenen Beinen auf dem Sofa und hielt sich mit ihrer kleinen Hand den schwarzen Hörer ans Ohr. Er hörte sie lächeln. Sie hatte abgenommen im letzten Jahr, doch trotz der feinen Falten und des weißen Haars sah sie manchmal noch immer aus wie das schlanke junge Mädchen, das Sartaj von Fotos kannte. »Im Moment arbeite ich aber nicht. Ich stecke im Stau.«
»Das ist kein Leben mehr heutzutage in Bombay. Zu teuer. Und zu viele Menschen.«
Sie hatte recht, aber wo sollte man sonst hin? In vielen Jahren würde Sartaj vielleicht irgendwo anders ein kleines Haus haben. Im Moment aber konnte er sich kaum vorstellen, einmal nicht mehr in dieser chaotischen, unmöglichen Stadt zu leben. Einen kurzen Urlaub von Zeit zu Zeit, mehr brauchte er nicht.
»Am Samstag komme ich nach Pune, Ma.«
»Sehr schön. Wir haben uns Monate nicht mehr gesehen.«
Sartaj war vor genau vier Wochen zuletzt in Pune gewesen, aber er hütete sich, mit ihr darüber zu streiten. »Brauchst du irgendwas von hier?«
Für sich selbst wollte sie nichts, aber sie hatte eine ganze Liste für Tanten und Onkel und Neffen und Nichten. Es war zwecklos, ihr zu sagen, daß es diese Dinge in einer großen Stadt wie Pune inzwischen genauso geben mußte; sie war Stammkundin in bestimmten Läden in Mumbai und hatte spezielle Anweisungen für Händler, die sie seit Jahrzehnten kannte. Sartaj kam jedesmal mit einer Tasche für sich und einem Koffer voller Kinderkleider, Süßigkeiten, Salzgebäck und Shampoos in Pune an, Geschenke für die vielen, die Ma lieb und teuer waren. Verwandte von ihr wohnten in der Nähe, und Sartaj konnte sich darauf verlassen, daß sie ihn über das Netz der Verwandten, das bis nach Punjab und noch darüber hinaus reichte, stets auf dem neuesten Stand hielt. Sie war unlösbar in dieser Familie verwurzelt, während er selbst Distanz hielt, nicht ganz getrennt war, aber doch irgendwie außerhalb stand, wie ein Planet, der sich auf seiner Umlaufbahn zu weit von seiner Sonne entfernt hat. Er hörte gern zu, wenn sie von Familienfehden und lange zurückliegenden Tragödien erzählte, wollte aber nicht in den fatalen Sog ihrer Schwerkraft geraten und zum Mitspieler gemacht werden. Sie nahm ein Buch mit Kinderreimen, das Sartaj mitbringen sollte, zum Anlaß, von ihrem Chacha104 zu erzählen, der immer steif und fest behauptet hatte, er könne Englisch. Sartaj hatte die Geschichte schon viele Male gehört, aber jetzt tat er es gern und lachte an den richtigen Stellen.
Am Siddhi-Vinayak594 verabschiedete er sich von Ma und lehnte sich lächelnd zurück. Er freute sich auf die Fahrt nach Pune. Am Eingang des Tempels drängten sich die Menschen, Gläubige, die dem Gott ihre flehentlichen Bitten und ihren Dank darbrachten. Von seiner goldenen Turmspitze gekrönt, schwang sich der Bau riesig und ebenmäßig zum Himmel empor. Sartaj fragte sich, ob es auch für Ganesh Gaitonde einen Ort gegeben hatte, den er von Bombay aus aufgesucht hatte, eine Kleinstadt oder ein Dorf, seinen Geburtsort. Er würde Katekar fragen.
Ganz am Schluß hatte Ganesh Gaitonde etwas von Gott und Glauben gesagt. Nun wußte er, ob es einen Gott gab, an den man glauben konnte, oder nicht. Gaitondes Seele interessierte Sartaj nicht übermäßig, aber es wurde Zeit, sich seinen Körper anzusehen, seinen und den der toten Frau. Es ließ sich nicht mehr länger hinausschieben. Sartaj verfluchte Gaitonde und fuhr weiter.
Als Sartaj am nächsten Morgen in die Leichenhalle wollte, protestierte Katekar wie erwartet. Der Mann sei tot, erklärte Katekar, er und die Frau würden tot bleiben, es bestehe also keine Notwendigkeit, jetzt noch hinzufahren, absolut keine.
»Sie können ja draußen bleiben«, sagte Sartaj. »Aber allmählich müßten Sie Leichen doch gewohnt sein.«
Die Leichenhalle war ein altes Sandsteingebäude, narbig und fleckig, aber noch immer schön mit seinen hohen Bögen und den steinernen Blumenornamenten. Sie stand im grünen Schatten eines riesigen Banyan-Baums058 hinter dem K. D. Hospital. Sartaj setzte Katekar am Eingang des Krankenhauses ab, fuhr um das Gebäude herum und parkte an einer paanfleckigen Mauer. Bei aller Rationalität hatte Katekar einen Horror vor der Leichenhalle, dem Arzt dort und seinen Gehilfen, dem smaragdgrünen Licht unter dem Banyan-Baum. Es stinke dort, sagte er, man rieche es auf dem ganzen Klinikgelände, ein gelber Pesthauch dringe einem in die Kleider, sinke in die Taschen und bleibe dort haften. Sartaj freute sich über solch überraschend abergläubische Anwandlungen bei dem sonst so stabilen Ganpatrao Popat Katekar, diesem Mann der Wissenschaft. So konnte er wenigstens auch mit dem Finger auf etwas zeigen, wenn Katekar angesichts seiner, Sartajs, diversen romantischen Seiten ein spöttisch-überlegenes Grinsen aufsetzte.
Sartaj ging am Auskunftsschalter vorbei, an dem sich ein Grüppchen besorgter Männer nach verschollenen Freunden oder Verwandten erkundigte, dann einen dunklen Flur entlang und durch eine Glastür mit der Aufschrift »Kein Zutritt«. Unter trüben Neonröhren saß ein Gehilfe in Hemd und braunen Shorts an einem zerkratzten Metallschreibtisch. Er grüßte, und Sartaj holte tief Luft, zwinkerte und passierte eine grün gestrichene hölzerne Schwingtür. Der Raum, in den sie führte, hatte die Ausmaße eines großen Hochzeitssaals und war von zwei rechteckigen Oberlichtern und zwei Reihen Neonröhren hell erleuchtet. Der glatte braune Steinboden fiel zu einem quadratischen Abfluß in der Mitte hin ab. Auf den Steintischen zur Linken lagen zwei braune Leichen, nackt, beides Männer. Bei einem von ihnen war mit einem präzisen Rundumschnitt die Schädeldecke entfernt worden, so daß er wie die Karikatur eines Menschen mit abgeschraubtem Kopf aussah. Sein Gehirn lag als ordentliches graues Häufchen in einer Schale dicht neben ihm. Und rechts stand Dr. Chopra, Gerichtsmediziner am Rande des Abgrunds, in seine Arbeit vertieft. Er schaufelte Eingeweide in eine große, flache Schale. Sartaj wandte den Kopf ab.
»Dr. Chopra?«
»Ah, Sartaj. Moment, Moment.«
Sartaj betrachtete die Wand, folgte den Sprüngen in dem grauen Verputz zur Decke hinauf und wieder hinab. Dann zählte er die rostigen Gitterstäbe an den geschlossenen Fenstern und schätzte ihre Stärke. Von rechts kamen leise saugende Geräusche und ein nasses Knirschen. Anfangs hatte sich Sartaj, wenn er in Dr. Chopras Sektionssaal kam, viele Male gezwungen hinzuschauen, gemäß dem Grundsatz, daß ein Polizist sich unerschütterlich und unerschrocken alles ansehen müsse, woraus die Welt wahrhaft besteht, daß er alles registrieren müsse, ohne Abscheu oder perverse Faszination. Und er hatte gesehen, was Dr. Chopra freilegte, hatte es fertiggebracht hinzuschauen, und es war gar nicht so grauenvoll gewesen, nur das komplizierte Uhrwerk des Körpers, ein wäßriger Mechanismus von strenger, verschlungener Harmonie. Doch die Leichen hatten ihn bis in den Schlaf hinein verfolgt, der helle Streifen am Ringfinger einer zur Faust geballten Hand, die Stammestätowierung am Kinn einer Frau, die purpurroten Lippenstiftspuren an einer Unterlippe, schwach, aber deutlich sichtbar. Er hatte Fragmente der Toten angesammelt, kleine Erinnerungen an ihr Leben, bis sie zur Last wurden, und schließlich hatte er eingesehen, daß er nicht mehr den Stolz des jungen Mannes besaß, daß er sich seine Willensstärke besser für seine Arbeit, für seine eigenen Fälle aufhob. Jetzt schaute er nicht mehr hin.
»Fertig«, sagte Dr. Chopra.
Sartaj hörte Gummihandschuhe schnalzen und drehte sich mit schräg hochgerecktem Kopf um. Sein Blick fiel auf das Gesicht des Toten, und er betrachtete es einen Moment. Dann sah er Dr. Chopras dichte Mähne. Der Doktor war der haarigste Mensch, dem er je begegnet war. Seine Wangen zeigten schon jetzt, kurz nach zwölf, dunkle Schatten, und von seiner Brust zog sich ein dichtes, dunkles Gekräusel den halben Hals hinauf. Er wusch sich an einem Waschbecken die Hände.
»Doktor-saab«, sagte Sartaj, »ich muß mir Ganesh Gaitonde und seine Freundin ansehen.«
»Kein Problem. Die sind im Kühlraum.«
»Schon obduziert?«
»Are, Gaitonde war immerhin ein großer Bhai, nicht wahr? Er und seine Freundin kamen ganz oben auf die Warteliste.« Dr. Chopra lachte, ein echtes, fröhliches Lachen. »Soll ich sie holen lassen? Schneller geht's allerdings, wenn wir rübergehen.«
Seine Haltung und die Art, wie er die buschigen Brauen hochzog, hatten etwas Herausforderndes: wenn Sie das aushalten, Herr Polizist. Katekar haßte den Kühlraum. Er hatte ihn nur ein einziges Mal betreten, als er und Sartaj die Leiche eines Informanten suchten. Er hatte sich die Hand vor den Mund gehalten, hatte auf dem Absatz kehrtgemacht und war wieder gegangen, hinaus zu dem Banyan-Baum. Sartaj war geblieben und hatte die gesuchte Leiche gefunden. Er war also nicht zum ersten Mal hier, und er würde es auch diesmal schaffen. Er zuckte die Schultern. »Kein Problem.«
Ein schattiger Weg führte durch das verblassende Nachmittagslicht zum Kühlraum. Sartaj blinzelte. Im Weitergehen wurde der Geruch immer stärker, und als sie durch eine Tür in einen langen Korridor kamen, preßte er sich förmlich an seine Wangen. Die Fenster waren der sengenden Sonne wegen geschlossen, die Luft am Eingang gesättigt mit den Ausdünstungen der in Tücher gehüllten Leichen, die sich in Doppelreihen an den Wänden stapelten. Die Tücher waren feucht, der Boden unter den Regalen glitschig.
Sartaj nickte den Gehilfen zu, die am Ende des Korridors an einem Schreibtisch saßen. Ein Schluckaufwand sich seinen Hals hinauf, aber er wollte den Mund nicht öffnen.
»Inspektor-saab«, sagte einer der Gehilfen. »Lange nicht gesehen.« Er hatte in einem Hindi-Roman gelesen, und sein Kollege schrieb einen Brief. Beide erhoben sich.
»Es riecht schlimmer hier als letztes Mal«, sagte Sartaj, als er an ihnen vorbeiging. Er sprach vorsichtig und sehr deutlich.
»Are, Saab«, erwiderte der Mann mit dem Roman. »Richtig schlimm riecht es erst, wenn die Klimaanlagen wieder mal ausfallen.«
»Oder wenn es regnet und das Wasser durch die Wand kommt«, sagte der andere voller Genugtuung. »Dann wird's hier erst richtig lustig.«
Irgendwie, dachte Sartaj, befriedigt uns die Vorstellung, wie schlimm etwas werden kann und daß es zwangsläufig noch schlimmer kommen wird. Und doch überleben wir, und die Stadt stolpert weiter voran. Vielleicht bricht irgendwann einmal alles zusammen. Auch in diesem Gedanken lag eine gewisse Befriedigung. Soll der ganze Scheiß doch in die Luft fliegen.
Dr. Chopra nickte seinen Gehilfen zu. Die schimmernde neue Edelstahltür zum Kühlraum versprach Hightech und Sterilität. Der Romanleser berührte erst den mächtigen Türgriff, dann seine Kehle und sprach ein stummes Mantra. Er umfaßte den Griff, lehnte sich zurück, und die Tür schwang auf.
»Kommen Sie«, sagte Dr. Chopra.
Drinnen lagen die Leichen, wie Sartaj sie in Erinnerung hatte, in wirren Reihen, dicht an dicht, Schulter an Schulter, Schulter über Schulter, von einem Ende des langgestreckten Raumes bis zum anderen, für die Autopsie vorn der Länge nach aufgeschnitten und mit schwarzem Faden und groben Stichen wieder zugenäht. Dunkle rostfarbene Haut, trüb wie Schlamm, starres, stacheliges Schamhaar. Es ist gar nicht richtig kalt hier drin, dachte Sartaj. Kühlraum nennt sich das, dabei ist es in manchen Restaurants kühler als hier, im ersten Stock der Delite Dance Bar zum Beispiel. Die Klimaanlage gab ein dumpfes, stotterndes Rauschen von sich.
»Die Damen sind da drüben«, sagte Dr. Chopra.
Selbst im Sektionssaal, jenseits aller Fleischeslust, wurde die Form gewahrt. Die Damen lagen hinter einer Metalltür in einer Art Kabine aufgestapelt. Die Gehilfen griffen zu, schichteten die Leichen um, zogen und zerrten, und irgend etwas stieß gegen die Tür und ließ einen fröhlichen Gongschlag ertönen. Sie arbeiteten ohne Handschuhe, und Sartaj hoffte nur, sie würden sich danach die Hände waschen.
»Saab«, sagte der Briefschreiber. Er hatte sie gefunden.
Sartaj trat zurück. Seine Schuhe klebten am Boden.
Die Vorderseite der Toten wies den üblichen langen Schnitt auf. Die Lippen hatten das Blaßblau brüchiger alter Kerzen und traten von den oberen Zähnen zurück. Das Autopsiefoto in der Akte hatte die Wangenknochen abgeflacht und die scharfe Nase unsichtbar gemacht. Eine kleine Vertiefung ließ jedoch darauf schließen, daß das Nasenbein einmal gebrochen war. Im Tod wirkte die Frau unscheinbar, aber sie hatte muskulöse Schultern, und Sartaj sah sie in der kessen Haltung einer Tänzerin vor sich, strahlend und stolz auf ihre Figur.
»Unbekannte Tote«, las Dr. Chopra von einem langen Blatt Papier ab. »1,64 m, 55 kg, schulterlanges schwarzes Haar, Augen schwarz, 10 cm lange Narbe am linken Knie, letzte Nahrungsaufnahme ca. 8 Stunden vor Todeseintritt, Todesursache einzelnes Schußtrauma am Sternum, Eintrittswinkel schräg nach oben, Austritt 4. Thoraxwirbel, massive Schädigung von Lunge und Rückenmark. Tod trat sofort ein.«
Sofortiger Tod. Sartaj fragte sich, ob sie ihn hatte kommen sehen, ob sie den erhobenen Lauf und darüber Gaitondes gerötetes Auge gesehen hatte. »Keine besonderen Merkmale außer der Narbe?«
»Nein.«
»Gut.« Manchmal verriet der Körper eines Verstorbenen Dinge, die man vorher nicht gewußt hatte. Doch die Vergangenheit der Frau war kurz gewesen, das Leben hatte sie noch kaum gezeichnet.
»Und jetzt Gaitonde.« Dr. Chopra wandte sich ab.
»Gaitonde, ja.«
Sartaj folgte Dr. Chopra den schmalen Durchgang zwischen den Leichen entlang. Flüssigkeiten liefen über den Boden, helles Eiweiß und dicke schwärzliche Absonderungen. Vorsichtig setzte Sartaj einen Fuß vor den anderen. Gaitonde lag in der Mitte einer Reihe, nur durch seinen zerschmetterten Kopf von den anderen zu unterscheiden. Das freiliegende Fleisch hatte sich schwarz verfärbt.
»1,75 m, 68 kg, hat zwei Schußverletzungen überlebt.« Dr. Chopra zeigte sie Sartaj. »Eine interessanterweise am Gesäß. Der große Gaitonde muß davongerannt sein, als ihn die Kugel erwischt hat. Die andere an der linken Schulter, hier.«
Sartaj beugte sich über Gaitonde und sah dessen feines Profil, die edle Stirn. Ein geborener König, dachte er, oder auch ein Weiser. Er mußte in den Spiegel geschaut und sich gefragt haben, was einmal aus ihm werden würde.
Dr. Chopra strich sich über seinen behaarten rechten Handrücken. Eine Klimaanlage sprang mit tiefem Grollen an, und der Gestank stieg von Gaitonde und den anderen zur Decke auf.
»Vielen Dank, Doktor-saab«, sagte Sartaj. Er hatte genug gesehen. Er straffte sich, ging mit schnellen Schritten zurück und schob sich seitlich an den Gehilfen vorbei, die die weiblichen Leichen wieder in die Kabine schichteten. In dem hellen Licht, das durch die Ritzen der Haupttür drang, lag ein schwarzer Fleischfetzen am Boden, ein Stück Kiefer mit drei Zähnen daran. Sartaj stieg darüber hinweg und flüchtete in die Sonne hinaus.
»Ist Ihnen nicht gut?« fragte Dr. Chopra.
Sartaj stand schwer atmend neben dem Banyan-Baum, die Hand an der rauhen Rinde. »Warum können Sie diesen beschissenen Saal nicht kühl halten? Warum nicht?«
»Die Klimaanlagen fallen immer wieder aus, der Strom kommt und geht, und die Bevölkerung ist zu zahlreich. Die Leichenhalle ist zu klein.«
Ja, es war unfair, dem guten Dr. Chopra die Schuld zu geben. Er konnte nun wirklich nichts dafür, daß nicht genug Geld da war, zuwenig Strom, zuwenig Platz und viel zu viele Tote. »Tut mir leid, Doc«, sagte Sartaj. Er machte eine ausgreifende Geste, eine unbeholfene Bewegung, die alles ringsum einschloß. Dr. Chopra nickte lächelnd. »Danke«, sagte Sartaj.
»Ich hoffe, Sie sind weitergekommen.«
»Ja. Ja, ganz entschieden«, antwortete Sartaj, doch als er zum Jeep ging, war er sich nicht mehr so sicher. Sein kurz zuvor noch so naheliegender Wunsch, die Leichen zu sehen, erschien ihm jetzt absurd. Was hatte er erfahren? Er wußte es nicht. Das Ganze war Zeitverschwendung gewesen. Er wollte schnell weg, zurück aufs Revier, doch als er am Jeep anlangte, konnte er nicht einsteigen. Er kletterte über ein Mäuerchen aus bunten Ziegelsteinen in einen verwilderten Garten, suchte sich ein Fleckchen Gras und streifte seine Schuhsohlen daran ab, rieb sie hin und her, bis die Halme knisternd brachen und sein hämmerndes Herz sich beruhigte.
Shalini kochte, als Katekar nach Hause kam. Sie arbeitete als Putzfrau bei einem Arzt in Saat Bungla543 und hatte nur diese eine Stelle, nicht, wie andere Frauen, drei oder vier. Sie konnten das Geld zwar gut gebrauchen, hatten aber entschieden, daß sie zu Hause sein sollte, wenn Mohit und Rohit von der Schule kamen, damit die Jungen nachmittags und am frühen Abend ihre Gegenwart spürten und sie ein Auge auf die beiden haben konnte. Das zusätzliche Geld war hochwillkommen, und es war gut, einen Arzt zu kennen, der eine Klinik hatte, für Notfälle. Katekar legte seine Matte und das Kissen auf den Boden. Er mochte es, wenn Shalini kochte, ihre Bewegungen lullten ihn ein, das Klappern der Kochlöffel, das hektische Hin und Her des Messers, das Fauchen der Gasflammen, das Zischen, wenn sie eine Handvoll gemischter zerstoßener Kräuter in die Pfanne warf. Er fühlte sich behaglich, wenn dann auch noch der langsam laufende Tischventilator sacht die Luft bewegte. Katekar konnte gut tagsüber schlafen, er speicherte den Schlaf wie ein Kamel das Wasser. Ein Polizist mußte das können. Er atmete tief ein.
Als er aufwachte, war es dunkel im Kholi, und draußen herrschte der abendliche Betrieb. Er drehte sein Handgelenk - es war halb sieben. »Wo sind die Jungen?« fragte er. Auch ohne hinzuschauen, wußte er, daß Shalini in der Tür saß.
»Sie spielen.«
Er setzte sich auf und rieb sich die Augen. Der Kocher ratterte, als sie die Pumpe betätigte, und ihr Gesicht leuchtete bronzefarben auf. »Sie streiten«, sagte Katekar, und es war offenkundig, daß er nicht die Jungen meinte.
»Ja.« Amritrao Pawar und seine Frau Arpana wohnten zwei Kholis weiter und stritten sich, soweit ihre Nachbarn es mitbekamen, seit elf Jahren ununterbrochen. Vier Jahre nach ihrer Heirat hatte sich Pawar eine zweite Frau genommen. Arpana hatte ihn verlassen und war zu ihren Eltern zurückgegangen. Einige Zeit später hatte man ihr versichert, die Sache sei nicht von Dauer gewesen, Pawar habe die andere verlassen, und alles sei vorbei. Arpana war zurückgekehrt, doch dann hatte die andere ein Kind bekommen, und jetzt unterhielt Pawar zwei Haushalte. Er und Arpana wollten sich nicht trennen, wollten weder aufeinander zu- noch auseinandergehen, und so stritten sie immer weiter. Für die Nachbarn war die andere nach wie vor die andere, Arpana hatte sie in elf Jahren nicht ein einziges Mal beim Namen genannt, und Pawar redete nie von ihr.
Katekar und Shalini setzten sich einander gegenüber und tranken Tee. Zwischen ihnen stand ein Teller mit den Kaandepohe, den scharf gewürzten Keksen aus Reisflocken mit Zwiebeln, die Katekar so mochte.
»Ich habe gestern mit Bharti gesprochen.«
Bharti war Shalinis jüngere Schwester. Sie war mit einem Schrotthändler in Kurla verheiratet. Schrott brachte offenbar viel Geld, denn Bharti trug bei jedem ihrer Besuche einen neuen Sari. Letztes Jahr war sie am Tag vor Gudi-Padwa246 mit neuen, besonders dicken goldenen Armreifen erschienen und hatte nicht nur Batasha-Girlanden065 und frisches Chutney mitgebracht, sondern auch große, duftende Schachteln mit Puranpoli und Chirote120 für die Jungen. Katekar hatte seine Söhne beobachtet, wie sie sich die klebrig-süßen Finger leckten, und er hatte das Gesicht seiner Frau beobachtet, als sie die Schachteln und den Sari, den Bharti ihr mitgebracht hatte, wegräumte. Er hatte gestaunt, was für eine subtile Waffe Großzügigkeit sein konnte, besonders unter Schwestern. Er nahm einen großen Schluck Tee.
»Ja?« sagte er.
»Sie kaufen das Kholi neben ihrem dazu«, sagte Shalini.
»Im Chawl114?«
»Wo sonst?« Die Antwort kam schnell und scharf, und Shalini hielt seinem fragenden Blick stand. Ihre Schwester und ihr Schwager würden nun also Wände einreißen, Räume verbinden, eine Wohnung haben, die groß genug war für ihr Selbstgefühl.
»Sie haben drei Kinder«, sagte Katekar. »Sie brauchen Platz.«
Shalini schnaubte und nahm den Teller mit den Keksen. »Wieso? Müssen diese kleinen Taporis denn in einem Palast wohnen?« Sie stand auf, sammelte die Löffel ein und klapperte mit der Teekanne. »Bharti war schon als Kind eine Verschwenderin. Die beiden denken nie an die Zukunft. Es wird kein gutes Ende nehmen mit den Kindern, du wirst sehen.«
Sie liebte ihre Nichten und Neffen, das wußte Katekar, sie überschüttete sie mit Liebkosungen und ging lockerer mit ihnen um als mit ihren eigenen Söhnen. Bis Katekar Hemd und Hose angezogen hatte, war die Teekanne schon gespült und aufgehängt. Er grinste Shalini an. »Ich hab gestern einen Witz gehört«, sagte er.
»Was für einen?«
»Laalo Prasad Yadav358 669 trifft ein paar japanische Geschäftsleute, die nach Bihar gekommen sind. Die japanischen Geschäftsleute sagen zu ihm: ›Ministerpräsident-ji, Ihr Staat hat wertvolle Ressourcen. Lassen Sie uns drei Jahre freie Hand, und wir machen aus Bihar das neue Japan.‹ Laalo schaut ganz verwundert drein und sagt: ›Und ihr Japaner wollt so effizient sein! Drei Jahre? Laßt mir drei Tage freie Hand, und ich mache aus Japan das neue Bihar.‹«
»Nicht sehr komisch.« Aber Shalini lächelte.
»Are«, sagte Katekar, »deine Familie hatte noch nie Sinn für Humor.«
Das war ein Thema, das sie seit Jahren beschäftigte: Katekars Familie war verschwenderisch, aber lebenslustig, Shalinis sparsam, aber langweilig. Varianten dieser Theorie verkörperten die Jungen: Rohit kam mehr nach Katekar, Mohit nach seiner Mutter. Shalini dachte an ihre Söhne. »Wirst du früh genug fertig, um noch bei Patil vorbeizuschauen?«
Patil war der Schneider zwei Straßen weiter. Er hatte seine Werkstatt, einen langen, schmalen Raum, auf den Resten einer Mauer über einem stillgelegten Abflußkanal errichtet. Er hatte den Kanal aufgefüllt, eine Rückwand eingezogen und ein Dach daraufgesetzt, und jetzt saßen dort zwei Vollzeitschneider an ihren Nähmaschinen. Er nähte Schuluniformen für die Jungen, gute Uniformen, so haltbar, daß Mohit sie noch tragen konnte, wenn Rohit herausgewachsen war.
»Heute nicht«, sagte Katekar. »Ich hol sie morgen ab. Shorts und ein Hemd, ja?«
»Ja.« Shalinis Ärger war verflogen. Sie freute sich, daß er es noch wußte, das sah er ihr an.
Die Wolken bildeten üppige orangefarbene Schichten. Es war noch zu früh für den Regen, aber Katekar spürte ihn schon, als er zur Bushaltestelle ging. Der Himmel bot ein grandioses Schauspiel, doch kaum jemand blieb stehen, um es zu betrachten. Katekar ging schnell und nahm eine Abkürzung über den Spielplatz. Er dachte an Sex. In den ersten Jahren nach seiner Heirat, vor Rohits Geburt, war er viele Male untreu gewesen. Rückblickend erschien ihm diese Zeit wie ein Fieberwahn, diese Besuche in Tanzbars, das Geld, das er für Mädchen ausgegeben hatte, für schmutzige Zimmer, nächtliche Taxifahrten. Shalini war selbst noch kaum mehr als ein Mädchen gewesen, und nachts hatte er den Kopf in ihre Halsbeuge gesenkt und in ihren Händen, die seine Schultern umklammerten, einen ähnlichen Hunger gespürt wie seinen, vorsichtiger und stiller, aber ebenso beharrlich, ebenso heftig. Und trotzdem war er zu anderen Frauen gegangen, zu Randis. Es hatte keinen anderen Grund dafür gegeben als den Drang, den er verspürte, wenn sich ihm fremde, anonyme Haut unter billigem, durchsichtigem Nylon darbot. Es war eine Art allgemeiner Wahn, von den Männern der Welt akzeptiert, doch wenigstens war er - selbst in jenen längst vergangenen Tagen, als seine Vorsicht die Mädchen noch erstaunte - vernünftig und kundig genug gewesen, um stets Kondome zu benutzen. Nach Rohits Geburt, nachdem er den winzigen Körper seines Sohnes in den Armen gehalten und das mächtige, unausweichliche Gewicht seiner eigenen Liebe gespürt hatte, war es ihm nahezu unmöglich geworden, sein schwer verdientes Geld anderswo auszugeben. Es gab neue Zwänge, hinter denen die Wünsche zurücktraten: Schuluniformen, Bücher, Schuhe, Haaröl, Kricketschläger, Abende am Chowpatty127. Aber selbst als er schon wußte, welch kindliches Glück ein Zwanzig-Rupien-Schein oder zwei Kulfis350 bei Sonnenuntergang am ruhigen Meer bedeuten konnten, war er noch zu anderen Frauen gegangen, trotz seiner beiden Söhne, dieser zweifachen Zukunft, die er schuf. Doch es geschah nur noch selten, an den Fingern einer Hand in doppelt so vielen Jahren abzuzählen. Männer, sagte Shalini manchmal, in Männern steckt Wahnsinn. Er schwieg dazu, hätte aber gern gesagt, daß der Wahnsinn in ihren Knochen stecke, nicht im Herzen, nicht im Kopf. Logik versagt nicht, sie ermüdet nur manchmal ein wenig und möchte sich niederlegen. Aber ich gebe mir Mühe für dich.
Auf dem Maidan388 waren ein Dutzend Kricketmatches im Gange. Die Pitches lagen im rechten Winkel zueinander dicht beisammen. Feldspieler verschiedener Mannschaften liefen aneinander vorbei und hintereinanderher. Es mußten mehrere hundert Jungen sein, die auf diesem schmalen Streifen aus festgestampfter gelber Erde zwischen einem schlammigen Flußbett und der Rückwand eines öffentlichen Verbrennungsplatzes herumrannten. Katekar ging an der Mauer entlang und streifte mit der Schulter verschlungene Graffiti und zerrissene Plakate. Manchmal beunruhigte es ihn, daß nur eine Wand die spielenden Kinder von den brennenden Leichen trennte, daß der in Schwaden aufsteigende Rauch unreine Asche auf die Pitches streute. Aber irgendwo mußten die Toten nun einmal verbrannt werden, und die einzige Alternative wäre ein Gelände am Rand des Basti gewesen, direkt neben dem vorbeifließenden Verkehr. Heute brannten keine Feuer, kein Rauch stieg auf. Keine Toten mehr an diesem Tag. Mohit saß neben einem Haufen Chappals107 auf einem kleinen Hügel. Er schaute aufs Meer hinaus, verträumt und glücklich, und Katekar spürte, wie sich in seiner Brust etwas zusammenzog und wieder löste. Rohit war ganz der Sohn seines Vaters, selbstbewußt, praktisch und oft lustig; der nachdenkliche, in sich gekehrte Mohit aber machte Katekar hilflos vor Sorge. Rohit mit seinem Ehrgeiz und seinem aufbrausenden Temperament mochte sich Schwierigkeiten einhandeln, aber was würde aus dem sensiblen kleinen Mohit werden? Wohin würde ihn sein sanftes Wesen führen? Katekar kauerte sich neben ihm nieder.
»Du spielst nicht mit?« fragte er.
»Papa.« Mohit wandte den Blick ab und begann an seiner Unterlippe zu nagen, wie immer, wenn er verlegen war.
»Schon gut.« Katekar klopfte ihm auf die Schulter. Er hatte seinen Söhnen oft gesagt, daß Sport den Charakter bilde. »Hattest du keine Lust?«
Mohit schüttelte heftig den Kopf. Woran hast du eben gedacht, hätte Katekar ihn gern gefragt. Was hast du gesehen in dem Stückchen Horizont über dem Meer zwischen den Häusern? Doch er lächelte nur und strich ihm über den Kopf. »Wo ist dein Bruder?«
»Da.«
Rohit bowlte. Es war ein schneller Ball, etwas wild, aber mit gutem Tempo. Der Batsman verfehlte ihn, sah ihn kaum, und der Wicket-Keeper schickte ihn im selben Schwung zu Rohit zurück. Rohit lief zum Wicket, leichtfüßig und in Gedanken schon beim nächsten Wurf. Er war ein guter Spieler, das sah Katekar an der Leichtigkeit, mit der er sich bewegte, seiner Selbstsicherheit und der systematischen Präzision, mit der er seine Feldspieler heranwinkte, du links, ein bißchen weiter, ja, da. Als er seinen Vater bemerkte, hielt er inne, und Katekar sah ihn zusammenzucken, sah, wie sein Gesicht sich ärgerlich verzog, weil er gestört wurde, weil sein schwerfälliger Vater hier eindrang. Doch dann lächelte er und lief wieder los. Katekar winkte ihn mit der Bewegung eines Wurfs mit gestrecktem Arm ins Spiel zurück: Mach weiter. Rohit lief zu seiner Crease, nahm Anlauf, und jetzt war sein Abwurf gut, aber es war ein hoher Ball. Der nächste war kurz.
Katekar stand auf. »Mohit«, sagte er, »geh nicht zu spät nach Hause. Lern schön. Bis morgen.«
»Ja, Papa.«
Katekar drückte ihm die Schulter und ging schnell davon. Er war versucht, noch einmal zurückzuschauen, um Rohit spielen zu sehen, aber er tat es nicht.
PSI Kamble kam mit zu der Razzia in der Delite Dance Bar. »Ich bin Ihr Undercovermann«, sagte er und lachte laut über seinen eigenen Witz, denn man kannte ihn im Delite besser als manche der Tänzerinnen. Er saß dort stets auf einem der besten Plätze in der Mitte, und auf seiner Rechnung fand sich immer ein Sonderpreis. Er war glänzender Stimmung und erzählte auf der Fahrt zum Delite Witze. »Wie bringt man dreißig Marvaris in einen Maruti 800? Man wirft einen Hundert-Rupien-Schein rein.« Die Polizisten hinten in dem Transporter, unter ihnen zwei Frauen, lachten.
»Warum so vergnügt?« fragte Sartaj. »War heute was Besonderes los?«
Kamble schüttelte den Kopf, schwieg süffisant und lachte dann wieder. Sie parkten vor dem Delite und warteten bis zur vereinbarten Zeit. Kamble kam mit einem Whisky Soda aus dem Lokal. Er zog Sartaj von den Polizisten weg und ging mit ihm ein Stück die Straße hinunter. Sein Rasierwasser duftete betäubend nach Moschus, und er trug ein in seine Bluejeans gestecktes weißes Benetton-T-Shirt mit grün gestreiften Ärmeln. Er beugte sich zurück und hob erst den einen, dann den anderen Fuß, um Sartaj seine beeindruckend aufwendigen, mehrfarbigen Laufschuhe zu zeigen. »Schick, was?« sagte er.
»Sehr. Importware?«
»Ja, Boß. Nike.«
»Sündhaft teuer.«
»Teuer ist relativ. Wenn man Geld in der Tasche hat, sind die Ausgaben klein. Hat man keins, werden sie groß.«
»Und Sie haben Geld in der Tasche?«
Kamble musterte Sartaj einen Moment, den Kopf über sein Glas gesenkt. »Sieht ganz so aus«, sagte er. »Sieht ganz so aus, als hätte ein gescheiter junger Polizeibeamter einen Khabari, einen sehr brauchbaren, der zwar nur gelegentlich Informationen für ihn hat, dann aber absolut zuverlässige.«
»Und was ist das für ein Khabari?«
»Egal. Unwichtig. Wichtig ist, daß der intelligente junge Polizeibeamte heute morgen einen Tip bekommen hat: Ein kleiner Gauner namens Ajay Mota hat einen ganzen Vorrat gestohlener Handys in seinem Kholi. Nagelneue, wohlgemerkt, aus einem Einbruch in einem Laden in Kurla vor drei Tagen.«
»Sehr gut. Und der Beamte geht hin und verhaftet Ajay Mota?«
»Das wäre zu einfach, Boß. Nein, der Khabari weiß, wo dieser Ajay Mota wohnt, aber der Polizist buchtet den Kerl nicht gleich ein. Er investiert mehr Zeit. Er zieht sich Zivilkleidung an, nimmt den Khabari mit, wartet am Rand von Ajay Motas Basti, und der Khabari zeigt ihm den Kerl, als er mit einer Tasche über der Schulter auftaucht. Das ist natürlich riskant, Ajay Mota hätte ja auch einen anderen Weg einschlagen können. Aber er tut es nicht. Der Polizist läßt den Khabari stehen und folgt Ajay Mota. Auch wieder riskant, in dem dichten Verkehr. Und nicht einfach, aber der Polizist hat ein Motorrad, und Ajay Mota sitzt in einem Auto. Nach zehn Minuten steigt der Apradhi aus und geht in einen Laden. Zwanzig Minuten später kommt er mit der Tasche über der Schulter wieder heraus. Jetzt schnappt ihn sich der Polizist, hoppla hopp, packt ihn am Kragen, zeigt ihm seinen Revolver, eine Ohrfeige links und rechts, du bist verhaftet, Bhenchod, willst du kooperieren? Dann schleppt der Polizist ihn in den Laden zurück, schiebt ihn nach hinten, und da sitzt ein Typ mit den gestohlenen Handys. Es gibt also gleich zwei Verhaftungen, das Diebesgut wird sichergestellt, und in Ajay Motas Tasche finden sich vierzigtausend Rupien.«
»Vierzigtausend nur? Wie viele Handys waren es denn?«
Kamble lachte, trank sein Glas leer und fing mit der Zungenspitze die letzten Tropfen auf. Er schien hocherfreut. »Wie viele es waren, spielt keine Rolle, Sartaj-saab«, sagte er und richtete sich kerzengerade auf. »Hauptsache, die Bösen sind geschnappt worden.« Er drohte mit dem Finger. »Ich muß mir noch ein Gläschen holen, Boß.« Und summend ging er davon.
Während der Razzia mußte Sartaj wieder an Kambles Triumph denken. Kamble hatte recht, die Bösen waren geschnappt worden. Er hatte einen guten Teil des Geldes aus der Tasche für sich abgezweigt, etwa die Hälfte vermutlich, und dazu ein paar Handys. Das Geld war die Belohnung für seine hervorragende Polizeiarbeit, seine Wachsamkeit und Risikobereitschaft. Er hatte gute Arbeit geleistet, und jetzt feierte er. Er hatte es verdient.
Die Razzia im Delite verlief sehr geordnet. Die fünf Mädchen, die verhaftet werden sollten, saßen abwartend in Shambhus Büro. Sie aßen Paya und rissen Witze über Polizisten und deren Schlagstöcke, und die anderen gingen nach draußen, um mit ihren üblichen Taxis nach Hause zu fahren. Es war ein grelles, glitzerndes Grüppchen, die meisten jung, einige sehr hübsch in ihrer Großleinwand-Aufmachung, voll Stolz auf ihre schlanken, geschmeidigen Taillen.
Shambhu steuerte auf Sartaj zu, in ein paar Metern Abstand folgte Kamble. Die beiden waren Freunde, etwa gleich alt, beide Bodybuilder, doch wo Shambhu schlank war, mit feinen Zügen, hatte Kamble Polster, Rundungen und Wülste.
»Okay, Saab«, sagte Shambhu, »es kann losgehen.«
Eine der beiden Polizistinnen stand neben dem Transporter, die andere öffnete die Eingangstür des Delite und rief etwas hinein. Die Festgenommenen kamen herausmarschiert, schwangen sich hinten in den Transporter, ihre schicken Stöckelschuhe glitzerten im roten Neonlicht des Delite-Schildes.
»Was ist mit Ihrem Spaziergang?« wandte sich Katekar an Shambhu.
»Sie meinen die Expedition. Einen Spaziergang macht man zum Paan-Laden an der Ecke.«
»Die Expedition, ja, wann geht's los?«
»Morgen.«
»Fallen Sie nur nicht von den Bergen runter.«
»Da oben ist man sicherer als hier, Yaar.«
Sartaj beobachtete Kamble. Er stand mit abgespreizten Ellbogen aufrecht da und summte vor sich hin. Sartaj ging um ihn herum. »Sagen Sie dem jungen Polizisten, er hat seine Sache gut gemacht.«
Kamble grinste. »Mach ich, Boß.« Er summte weiter, und Sartaj erkannte den Song: Kya se kya ho gaya, dekhte dekhte. Kamble reckte die Arme hoch und machte mit eingezogenem Kopf ein paar Tanzschritte. Tum pe dil aa gaya, dekhte dekhte.
»Wir fahren los«, sagte Sartaj. »Kommen Sie mit?«
»Nein.« Kamble wies mit dem Kopf auf das Delite. »Ich hab eine Verabredung.«
Nicht alle Mädchen im Delite waren verhaftet worden oder nach Hause gefahren. »Viel Spaß«, sagte Sartaj.
»Hab ich immer, Boß.«
Sartaj klopfte an die Wand des Transporters, und sie fuhren los.
»Sartaj-saab«, rief Shambhu ihnen nach. »Sie könnten auch Ihren Spaß haben. Sie sollten sich ab und zu mal amüsieren. Spaß tut gut.«
Sartaj hörte Kamble lachen.
Erst auf dem Revier merkten sie, daß sie nicht fünf, sondern sechs Tänzerinnen festgenommen hatten. Die Mädchen saßen nebeneinander auf einer Bank im Verhörraum, die sechste war Manika. Sie schaute Sartaj mit gesenktem Kopf unter ihrem Chunni130 hervor schüchtern an, ein scheues Reh mit riesigen schwarzen Augen, und die anderen Mädchen platzten los. Sartaj holte tief Luft und ging hinaus.
»Das scheint Kambles und Shambhus Vorstellung von Spaß zu sein«, sagte er zu Katekar.
»Ich hatte nichts damit zu tun, Sir.«
Katekars Miene war völlig ernst, und Sartaj glaubte ihm. »Schicken Sie die Mädchen eine nach der anderen rein. Ich setze mich hierhin.«
»Jawohl, Sir, eine nach der anderen.«
Katekar stellte sich an die Tür, und die Polizistinnen führten die Mädchen nacheinander herein und zogen sich dann ebenfalls an die Tür zurück. Sartaj notierte ihre Namen: Sunita Singh, Anita Pawar, Rekha Kumar, Neena Sanu, Shilpa Chawla. Sie hatten die Namen sofort parat und waren locker und entspannt, nicht im geringsten eingeschüchtert. Erst als er die Fotos aus Gaitondes Album hervorholte und sie ihnen eines nach dem anderen zeigte, zögerten sie und schüttelten die Köpfe, entschieden und mit ausdrucksloser Miene. »Nein, nein, nein«, sagte Shilpa Chawla, als er ihr die Bilder der jungen Frauen zeigte, ihre verführerischen Posen im weichen Licht.
»Schauen Sie die Fotos erst mal an, bevor Sie nein sagen.« Sartaj tippte mit dem Zeigefinger auf eine Frau mit einem blauen Hut. »Schauen Sie sich die an.«
»Die kenne ich nicht«, sagte Shilpa verkniffen. Als er ihr die Tote zeigte, die er bis zum Schluß aufgehoben hatte, lehnte sie sich zurück und verschränkte die Arme. »Wieso fragen Sie mich überhaupt? Wieso zeigen Sie mir die ganzen Bilder? Ich weiß nicht, wer das ist.« Shilpa Chawla war angewidert und verärgert, sie hatte Angst, und Sartaj hatte keinen Beweis dafür, daß sie log.
»Gut«, sagte er zu Katekar. »Schicken Sie Manika rein.«
Sie war älter als die anderen, Anfang Dreißig vielleicht, aber man mußte schon sehr genau hinschauen, um das zu sehen, und auch dann erkannte man es vor allem an ihrem etwas müden Selbstbewußtsein und ihrem unverhohlenen Interesse an Sartaj. Katekar und die Polizistinnen an der Tür grinsten sich an, und Sartaj war froh, daß sie Manika auf die Entfernung nicht hören konnten.
»Wie geht es Ihnen?« fragte sie auf Englisch.
»Ich habe einige Fragen an Sie, Madam«, sagte Sartaj in knappem Hindi.
»Fragen Sie.« Sie war dunkel, schlank, sehr groß, einssiebzig vielleicht, und nicht unbedingt hübsch, aber sie hatte Grübchen, sie reckte das Kinn vor, ihre Augen waren ungeheuer lebendig, und sie verunsicherte Sartaj.
»Kennen Sie diese Frauen?«
Sie sah sich jedes der Bilder genau an. »Du lieber Himmel«, sagte sie beim dritten, »was für eine häßliche Bluse! Schauen Sie sich die Rüschen an den Ärmeln an - die sieht ja aus wie ein Clown! Aber sonst ein hübsches Mädchen. Der müßte nur mal jemand sagen, wie sie sich anziehen soll.«
»Kennen Sie sie?«
»Nein.« Manika nahm ihm die übrigen Fotos aus der Hand und lehnte sich zurück. Sie trug eine schwarze Bluse, rundum silberverziert, vorn so dick, daß das Silber wie ein Panzer auf dem dünnen Stoff lag. Sie war als einzige in ihrem Tanzdreß gekommen. »Wer sind die alle, Inspektor-saab?« Jetzt wirkte sie wieder schüchtern. »Mädchen, mit denen Sie anbandeln wollen?«
»Kennen Sie eine von ihnen?«
Sie schwieg, und ihre Hände kamen zur Ruhe. Sie betrachtete die Tote.
»Kennen Sie die?« fragte Sartaj. Sie schüttelte den Kopf. »Es ist sehr wichtig, daß Sie's mir sagen, wenn Sie sie kennen.«
»Nein, ich kenne sie nicht. Was ist mit ihr?«
»Sie ist ermordet worden.«
»Ermordet?«
»Erschossen.«
»Von einem Mann?«
»Ja, von einem Mann.«
Sie legte die Fotos mit dem Bild nach unten auf den Tisch zurück. »Natürlich von einem Mann. Manchmal frage ich mich, warum wir uns überhaupt mit euch abgeben. Ich weiß es einfach nicht.«
Sartaj hörte die Neonröhren im Flur summen. Draußen gingen Schritte vorbei. »Sie haben recht«, sagte er. »Ich weiß es, ehrlich gesagt, auch nicht.«
Ihre hochgezogenen Brauen verrieten abschätzende Skepsis, nichts Feindseliges, nur erschöpfte Ungläubigkeit. »Kann ich jetzt gehen?« fragte sie leise.
»Ja. Welchen Namen soll ich aufschreiben?«
»Welchen Sie wollen.«
Er setzte zum Schreiben an, hielt jedoch inne, als sie aufstand. Der Chunni glitt ihr von der Schulter, während sie sich zum Gehen wandte, und er sah, daß ihre Choli hinten von Schnüren zusammengehalten wurde, die die feinen Linien ihrer Schulterblätter und das lange braune Rückgrat freigaben. Wahrscheinlich dreht sie auf der Bühne Pirouetten, dachte Sartaj, und wirft den Männern in den Nischen feurige Blicke zu, Männern, die sie aus dem Dunkel anstarren.
»Ich sag's Ihnen.« Während der vier Schritte zur Tür hatte sie ihr Grinsen, ihre kecke Ironie wiedergefunden.
»Was?«
Sie kam noch einmal zurück, drehte die Fotos auf seinem Schreibtisch mit dem Bild nach oben, ließ die Tote links liegen, schnippte andere mit einem langen roten Fingernagel beiseite und hielt mit der anderen Hand ihren Chunni fest. »Die hier«, sagte sie schließlich.
»Was ist mit der?«
»Aber nur, wenn Sie nett zu mir sind... Sie heißt Kavita, so hat sie sich jedenfalls genannt, als sie im Pritam getanzt hat. Später hat sie Rollen in ein paar Videos bekommen und die Tanzerei an den Nagel gehängt. Dann hab ich gehört, daß sie in einer Fernsehserie mitspielt. Seitdem wohnt sie zur Untermiete in Andheri East. Die hat immer ein unheimliches Glück gehabt, diese Kavita. Nicht viele Mädchen bringen es so weit. Nicht mal eine von tausend. Von zehntausend.«
»Kavita. Sind Sie sicher, daß sie es ist? Ist das ihr richtiger Name?«
»Klar bin ich mir sicher. Und ob das ihr richtiger Name ist, müssen Sie sie selbst fragen. Werden Sie nett zu mir sein?«
»Natürlich.«
»Sie lügen, aber Sie sind ein Mann, deshalb verzeihe ich Ihnen. Wissen Sie, warum ich Ihnen das gesagt habe?«
»Nein.«
»Der Mann, der das getan hat, ist ein Rakshasa519. Bilden Sie sich bloß nichts ein, Sie sind selbst ein Rakshasa. Aber vielleicht schnappen Sie diesen Rakshasa. Und bestrafen ihn.«
»Vielleicht.« Der Rakshasa, der das getan hatte, war geschnappt worden und doch entkommen, und was Strafen anbelangte, hatte Sartaj seine Zweifel - sie schienen immer zu hoch oder zu gering. Ich schnappe die Leute, weil das mein Job ist, und sie flüchten, weil das ihr Job ist, und die Welt dreht sich weiter. Aber das konnte er Manika nicht erklären, und so sagte er nur: »Danke.«
Nachdem sie gegangen war, nachdem die Mädchen in einen Transporter gepackt und nach Hause geschickt worden waren, setzte Sartaj Katekar an der Ecke der Sriram Road ab. Von dort kam er bequem zu Fuß nach Hause. Er hob grüßend die Hand und wandte sich zum Gehen, doch da fragte Sartaj: »Wie sieht eigentlich ein Rakshasa aus?«
Katekar beugte sich zum Fenster herab. »Ich weiß nicht, Sir. Im Fernsehen haben sie lange schwarze Haare und Hörner. Und manchmal spitze Zähne.«
»Und sie laufen herum und fressen Menschen?«
»Das ist wohl ihre Hauptaufgabe, Sir.«
Sie mußten lachen. Sie hatten den ganzen Tag gearbeitet, sie waren mit ihren Ermittlungen ein kleines Stück weitergekommen, und sie waren zufrieden. »So was könnte man bei den Verhören manchmal gut gebrauchen«, sagte Sartaj. »Hörner und Zähne wie ein Wolf.«
Doch die meisten Leute, die er verhörte, so überlegte er auf der Heimfahrt, hatten solche Angst, daß es schien, als habe er schon Reißzähne, und zwar riesige. Es war die Uniform, die ihnen Angst einjagte, die sie an all die über Generationen angesammelten Geschichten von brutaler Polizeigewalt erinnerte. Selbst wer Hilfe suchte, war Polizisten gegenüber auf der Hut, und wer keine Hilfe brauchte, war übertrieben freundlich, für den Fall, daß er sie doch einmal brauchen sollte. Polizisten waren Monster, eine Spezies für sich. Doch Parulkar hatte einmal zu Sartaj gesagt: »Wir sind die Guten, die böse sein müssen, um die ganz Bösen unter Kontrolle zu halten. Ohne uns gäbe es gar nichts mehr, nur noch einen Dschungel.«
Ein gelber Schein huschte hinter den Häusern über den Himmel. Es war still in den Straßen. Sartaj stellte sich die Millionen schlafender Menschen vor, wieder für eine Nacht geborgen. Das Bild verschaffte ihm eine gewisse Genugtuung, wenn auch nicht annähernd so wie früher. Er wußte nicht, ob das daran lag, weil er einem Rakshasa ähnlicher oder unähnlicher geworden war. Jetzt brauchte er vor allem Schlaf. Er fuhr nach Hause.