Am nächsten Morgen ging Sartaj mit Parulkar joggen. Im Bradford Park, einer Grünanlage am Schnittpunkt von sieben Straßen unweit von Parulkars Haus, drehten sie ihre Runden. Es war halb sechs, das Gras noch ein wenig feucht. Parulkar trug rote Sneakers unter seinen weiten weißen Pajamas467 und lief so schnell, daß er alle anderen Jogger überholte. Sartaj mußte sich ziemlich anstrengen, um mit ihm Schritt zu halten.
»Ich frage mich, was die Kinder in diesen neuen Schulen eigentlich lernen«, sagte Parulkar. »Ajay kann mit seinen fünfeinhalb Jahren immer noch nicht lesen - wie ist das möglich? Und das nennt sich die beste Schule in ganz Mumbai! Wir mußten tausend Beziehungen spielen lassen, um den Jungen da reinzukriegen.«
Ajay war Parulkars Enkel und im zweiten Vorschuljahr an der gerade eröffneten, hypermodernen Dalmia School. »Das ist eine neue Unterrichtsmethode, Sir. Man will die Kinder nicht unter Druck setzen.«
»Ja, ja, aber ›Kuh‹ und ›Rad‹ müßten sie inzwischen doch wenigstens lesen können. Wir beide hatten früher auch Druck, und das hat uns nicht geschadet.«
Sie überholten Parulkars Bodyguards und begannen eine neue Runde. »Mir hat der Druck nicht so gut getan, Sir. Ich hatte eine Heidenangst vor den Prüfungen.«
»Are, so schlecht warst du gar nicht. Du hattest nur ständig andere Dinge im Kopf, Kricket und Kino und später dann Mädchen.« Parulkar grinste. »Weißt du noch, wie ich dich beim Pauken einmal bewachen mußte?«
Sartaj war damals fünfzehn gewesen. Er hatte es sich schon fast zur Gewohnheit gemacht, durch das Fenster auszubüchsen, wenn er zu Hause hätte büffeln sollen, und schließlich hatte Parulkar sich erboten, in der Nacht vor seiner Mathematikprüfung auf ihn aufzupassen. Sie hatten viel Spaß miteinander gehabt, hatten aufgeschäumten Nescafé getrunken und Orangen und kleine Bananen gegessen, und Parulkar hatte sein Talent, komplexe Probleme auf einfache Fragen zu reduzieren, unter Beweis gestellt. Sartaj hatte die Prüfung mit achtundfünfzig von möglichen hundert Punkten bestanden, das beste Ergebnis, das er in Mathematik je erzielt hatte. »Ja, Sir. Und der Chowkidar126 hat geschlafen.«
Sie hatten den schlummernden Chowkidar mit Orangenschalen beworfen, und jetzt mußten sie wieder wie damals lachen.
»Aber nun zum Dienstlichen, Sartaj.«
»Ja, Sir.« Das hieß, daß der Frühsport, der weitgehend von dienstlichen Belangen freigehalten werden sollte, beendet war.
»Ich habe einen Kontakt zur S-Company für dich. Sie heißt Iffat-bibi089, eine Tante mütterlicherseits von Suleiman Isa. Sie gehört seit langem zu seinen wichtigsten Leuten hier in Mumbai. Sie ist alt, aber laß dich dadurch nicht täuschen. Sie ist hochintelligent, äußerst skrupellos und eine seiner Hauptstützen.«
»Ja, Sir.«
»Du erreichst sie unter dieser Nummer hier.« Parulkar gab Sartaj einen zusammengefalteten Zettel. »Nachmittags ist sie immer da. Sie erwartet deinen Anruf.«
»Danke, Sir, das ist großartig.«
Parulkar zuckte die Schultern und wedelte abwehrend mit der Hand. »Und sei vorsichtig. Egal, was für Informationen du von ihr bekommst - umsonst kriegst du sie nicht. Früher oder später wird sie auch etwas von dir wollen. Versprich also nichts, was du nicht liefern kannst.«
»Klar, Sir.«
»Interessante Frau. Es soll mal eine Zeit gegeben haben, da wurden ihretwegen Männer umgebracht. Ich hab sie aber erst kennengelernt, als sie schon alt war. Damals dachte ich, daß sie einmal eine Schönheit gewesen sein muß, aber nie die Trophäe irgendeines Mannes. Wenn einer ihretwegen getötet wurde, dann weil sie es wollte. Das steht für mich fest. Felsenfest.«
»Ich passe schon auf, Sir.«
Parulkars Training war beendet, aber er behielt sein Tempo bis zu seinem Wagen bei. Sartaj schaute ihm nach. Er hatte so viel von ihm bekommen, sich im Grunde aber nie dafür erkenntlich gezeigt. »Man bekommt im Leben nichts geschenkt«, hatte eine von Parulkars ersten Lektionen gelautet, doch Sartaj hatte das Gefühl, sich nie angemessen revanchiert zu haben. Vielleicht würde er irgendwann zur Kasse gebeten werden.
An diesem Vormittag folgten Sartaj und Katekar Manikas Hinweis auf die Glamour-Kavita, die im Pritam getanzt und dann den äußerst seltenen Sprung in die höheren Sphären des Showbusiness geschafft hatte. Ihr richtiger Name lautete Naina Aggarwal, und sie stammte aus Rae Bareilly. Der Manager der Pritam Dance Bar besah sich ihr Bild und nannte ihnen den Titel der Serie, in der sie mitspielte: 47 Breach Candy. Er schaute sich jede Folge an und war sehr stolz auf Kavita, obwohl sie sich, seit sie ein Fernsehstar war, nie mehr bei ihm gemeldet hatte. Der Besitzer von Jazz Films, der Produktionsfirma von 47 Breach Candy, gab Sartaj ihre Telefonnummer und Adresse und meinte, Sartaj müsse sich die Serie unbedingt ansehen, sie laufe sehr gut, hohe Einschaltquoten, beste Kritiken, sie sei sehr spannend und basiere auf einem amerikanischen Vorbild, sei aber ganz auf indische Verhältnisse abgestimmt, der indischen Kultur angepaßt. Naina Aggarwal wohnte nicht mehr in Andheri East, sondern teilte sich mit drei anderen Mädchen, die ebenfalls beim Fernsehen arbeiteten, eine Wohnung in Lokhandwalla. Sie war klein und hübscher als auf dem Bild, und sie fing an zu weinen, als Sartaj sie fragte, woher sie komme, was ihr Vater mache und ob sie Geschwister habe. Ihre Wimperntusche war bereits bis zum Kinn hinab verlaufen, als er sagte: »Wir wissen, daß Sie in eine sehr üble Sache verwickelt sind. Aber wir wollen Ihnen keine Schwierigkeiten machen. Wenn Sie uns helfen.«
Sie nickte heftig, die Hände vor dem Mund ineinander verschlungen. Zusammengekrümmt saß sie auf ihrem Bett und hatte große Angst vor den beiden Polizisten in ihrem Zimmer, das sie sich mühsam erarbeitet hatte. Ein Wandbord über dem Bett stand voll mit Fotos von Leuten aus Rae Bareilly. Die Männer trugen Hemden in leuchtenden Farben, und Sartaj erkannte ihren Vater, den Rektor einer Schule. Sie entstammte einer hochachtbaren Familie und hatte nur zwei Monate in der Bar getanzt. Sie war damals neu in der Stadt gewesen, und das Geld war ihr schneller durch die Finger geronnen, als sie es für möglich gehalten hatte. Sie konnte es offensichtlich kaum erwarten, Sartaj und Katekar loszuwerden, bevor ihre Mitbewohnerinnen und die Nachbarn erfuhren, daß sie mit der Polizei zu tun und einmal in einer schäbigen Bar getanzt hatte.
»Hier«, sagte Sartaj. Er legte das Foto der Toten neben sie auf das Bett. »Kennen Sie diese Person?« Sie zitterte vor Angst, konnte aber den Blick nicht von dem Bild abwenden. »Schon gut. Sagen Sie uns nur den Namen.«
Sie mußte mehrmals schlucken und dreimal zum Sprechen ansetzen, ehe sie antworten konnte: »Jojo.«
»Jojo? J-o-j-o?«
»Ja. Was ist mit ihr?«
»Sie ist tot.«
Naina zog die Beine aufs Bett; sie sah jetzt sehr jung aus. Die Serie, in der sie mitspielte, war gespickt mit Intrigen, Ehebruch und Mord, trotzdem brachte sie es nicht über sich, ihn zu fragen, wie Jojo gestorben war.
»Keine Sorge«, sagte Sartaj. »Wir werden Sie nicht in irgend etwas hineinziehen, vorausgesetzt, Sie sind ehrlich mit uns. Wie hieß sie mit Familiennamen?«
»Mascarenas.«
»Jojo Mascarenas. Und Sie haben für sie gearbeitet?«
»Ja.«
»Wie?«
Naina zuckte leicht die Schultern, ohne den Kopf von den Knien zu heben. »Sie ist Model-Agentin und Produzentin. Sie hat mich an Agenturen weiterempfohlen und mir Rollen in Videos verschafft.«
Sartaj sprach sehr sanft und leise. »Aber das war noch nicht alles, nicht wahr?«
Katekar lehnte an der Tür und überließ das Verhör Sartaj. Sie hatten über die Jahre herausgefunden, daß in bestimmten Situationen Sartajs zuvorkommende Art und seine Behutsamkeit Frauen gegenüber besser wirkten als die direkteren Mittel der Einschüchterung und Lautstärke.
»Naina-ji«, sagte Sartaj, »die Sache ist ernst. Es geht um Mord. Und ich kann Sie nicht schützen, wenn Sie nicht absolut offen und ehrlich mit uns sind. Haben Sie keine Angst. Ich verspreche Ihnen, daß ich Sie in keiner Weise in die Sache hineinziehen werde, Ihr Name wird nirgendwo auftauchen. Ich versuche nur, etwas über diese Jojo zu erfahren, Sie selbst interessieren mich gar nicht. Für Sie besteht keine Gefahr. Also bitte, reden Sie.«
»Sie - sie hat mir Kunden besorgt.«
»Kunden.«
Naina saß zitternd vornübergebeugt und weinte laut. Zehn Minuten später gingen Sartaj und Katekar wieder - mit Jojo Mascarenas Telefonnummer, ihrer Büroadresse und einigen Fakten: Jojo war Model-Agentin gewesen, sie besaß eine TV-Produktionsfirma, und wenn gerade keine Produktion im Gange, keine Rolle zu besetzen und keine Werbekampagne zu führen war, wußte sie Nachfrage und Angebot anderweitig zusammenzubringen. Dann schickte sie die Jungen, Schönen und Bedürftigen zu den Reichen und Anspruchsvollen; ein paar Hochglanzfotos und einige Telefonate genügten, es war einfach, es war effizient, und jeder bekam, was er wollte.
Sartaj und Katekar warteten in dem dunklen Treppenhaus auf den Lift. »Die weinende Naina hat also die Rolle in der Serie bekommen«, sagte Katekar. »Nach ihrer Tanzerei.«
»Ja. Aber was ist, wenn die Serie floppt?«
»Dann geht's zurück nach Rae Bareilly.«
Der unbeleuchtete Lift kam, sie stiegen ein, und nachdem Katekar das Scherengitter dreimal rasselnd zugezogen hatte, fuhren sie durch vorbeihuschende Lichtstreifen abwärts. »Niemand geht nach Rae Bareilly zurück«, sagte Sartaj. Selbst wenn sie es wollte, dachte er, würde Rae Bareilly sie überhaupt wieder aufnehmen? Sie hatte es bis nach Lokhandwalla geschafft, in eine Fernsehserie und zu Jojo, und Jojo hatte sie weitergereicht.
»Zeit die Dilli-vaali175 anzurufen?« fragte Katekar. Lange schwarze Balken glitten über sein Gesicht.
»Noch nicht. Erst möchte ich wissen, wer diese Jojo war.«
Jojo Mascarenas war eine ordentliche Frau gewesen. Sie war seit fünf Tagen tot, aber ihre Wohnung war sauber, blitzblank geschrubbt und poliert. In der Küche hingen glänzende Metallkellen der Größe nach an Metallhaken aufgereiht. Die beiden Telefone und der Anrufbeantworter auf der Theke neben dem Eßtisch waren akkurat ausgerichtet, die Kacheln im Badezimmer schimmerten tiefblau.
»Die Frau hat Geld gemacht«, sagte Katekar.
Aber sie war sorgsam damit umgegangen. Die Büroadresse, die Sartaj und Katekar bekommen hatten, war identisch mit der ihrer Privatwohnung im dritten Stock des Nazara451 in der Yari Road. Das erste kleine Zimmer rechts war ihr Produktionsbüro, zahlreiche Aktenordner, drei Schreibtische, ein Computer, zwei Telefone und ein Faxgerät füllten den Raum bis auf den letzten Millimeter, aber: alles schön geordnet, alles nötig für ihre Arbeit. Selbst ihr Schlafzimmer hatte nichts Extravagantes - eine Doppelmatratze auf einem niedrigen Rahmen, kein Kopfteil. Vor einem hohen Wandspiegel stand ein Tisch mit Kosmetika, davor ein schwarzer Hocker. Es gab keine Ledersofas, keine Kronleuchter, keine goldenen Statuen, nichts von dem Luxus, den Sartaj bei Leuten, die mit Bildern und Körpern handelten, aus Erfahrung erwartete. Als er den Schlüssel aus seiner Hosentasche gezogen und in das Schloß gesteckt hatte, das sich mühelos öffnen ließ, war er auf ein Filmi-Bordell mit viel rotem Satin gefaßt gewesen oder auf das Chaos einer Schlampe, nicht aber auf diesen bescheidenen Zufluchtsort, dieses stille Zuhause, diesen ruhigen Arbeitsplatz. Das Ganze kam ihm äußerst rätselhaft vor.
»Okay«, sagte er, »durchsuchen wir die Wohnung.«
»Und wonach suchen wir?« fragte Katekar.
»Nach einer Antwort auf die Frage, wer diese Frau war.«
Katekar machte sich an die Arbeit, aber er tat es ungeduldig, schnell, mißbilligend. Sartaj wußte, daß ihm der glasklare, geradlinige Verlauf eines durchschnittlichen Mordfalles lieber war: Da hatte man eine Leiche und einen oder mehrere unbekannte Täter, und man suchte nach einem Motiv. Hier aber waren zwei Menschen tot, von denen einer offensichtlich den anderen umgebracht hatte - was spielte es da noch für eine Rolle, in welcher Beziehung sie zueinander gestanden hatten? Wie sollte man das herausfinden? Und wieso sollte man sich überhaupt damit befassen? Wen kümmerten schon ein Gangster und eine Zuhälterin? Katekar sagte nichts, aber Sartaj wußte, daß er insgeheim fluchte. Ein beschissener Fall war das in seinen Augen und eine beschissene Frau aus Delhi. Es fiel ihm nur ein Wort für das alles ein: jhav293.
»Jhav-jhav-jhav«, sang Sartaj leise vor sich hin. Als erstes nahm er sich das Schlafzimmer vor, weil es das einfachste war. Verwertbares würde man eher im Büro finden, aber das Schlafzimmer mußte ebenfalls gefilzt werden. In einem tiefen Einbauschrank, der sich über die ganze Länge des Raumes zog, hingen dicht an dicht Saris, Blusen, Ghagras219, Hosen, Jeans, T-Shirts und Hemden. Das Ganze hatte System, eine weibliche und sehr persönliche Logik, die Sartaj nicht ganz durchschaute, die ihn aber stark an die Anordnung seiner eigenen Hemden nach Farbtönen von rot bis blau erinnerte. Der Schrank machte ihm Jojo sympathisch. Ihr Faible für Schuhe gefiel ihm, ihre Vorliebe für Leder, ihr Sinn für die verschiedenen Funktionen von Schuhen - man mußte drei Paar Sneakers besitzen, von schlicht bis hightech, und es gefiel ihm, daß sie ganz rechts in der untersten von drei stufenförmig angeordneten Reihen mit Sandalen und Stiefeln, Chappals und Stilettos standen. Die Wohnung war einfach, fast kahl, die Kleider hingegen extravagant. Auch das gefiel Sartaj.
Doch wie erwartet, fand sich im Schlafzimmer nichts, was von besonderem Interesse gewesen wäre. Weitere Fächer über dem Kleiderschrank enthielten noch mehr Kleidung, alte Lampen und Geschirr, in den Schubladen des Toilettentischs fanden sich Kosmetika und Nähzeug, und neben dem Bett stapelten sich Ausgaben von Femina, Cosmopolitan, Stardust und Elle. Das war alles.
Katekar war mit dem Wohnzimmer fast fertig, als Sartaj in den Flur trat. »Ihre große Handtasche lag hinter der Arbeitsplatte in der Küche«, sagte er. »Auf dem Boden. Einfach so.«
»Irgendwas drin?«
»Ein Lippenstift. Kein Führerschein, dafür aber eine Wahlkarte und eine PAN-Card470.«
Er hielt Sartaj die Karten hin. Auf beiden stand der Name Juliet Mascarenas. Zum ersten Mal sah Sartaj ihr Lächeln. Sie wirkte überaus lebendig auf den Fotos und sah mit blitzenden Augen in die Kamera, als wüßte sie etwas über den Betrachter.
»Sonst noch was?« fragte Sartaj.
»Nein. Komisch nur, daß es nirgends Fotos gibt.«
»Fotos?«
»Fotos. Kein einziges, in der ganzen Wohnung. Ich kenne keine Frau, bei der es nicht von Fotos wimmelt.«
Katekar hatte recht. Megha hatte bei ihrem Auszug eine Menge Fotos mitgenommen, und trotzdem hatte Sartaj noch einen Sonntagnachmittag damit zugebracht, Bilder von den Wänden zu nehmen und in einen Schuhkarton zu packen. Und auch bei Ma war die Wohnung damit gepflastert - Stationen der Familie und ihrer diversen Zweige, mit allen Querverbindungen und Verlusten.
»Vielleicht bewahrt Jojo sie ja in ihren Aktenordnern auf«, sagte Sartaj. Sie gingen in das Büro. Die Ordner standen in einem schwarzen Regal und waren säuberlich beschriftet: »D'Souza Schuhwerbung«, »Sharmila Restaurant Kampagne«. Das unterste Brett war so voll, daß sie sich kaum herausnehmen ließen.
»Schauspieler?« fragte Katekar.
»Ja, und Schauspielerinnen.« Die Ordner für die Männer standen rechts, die für die Frauen links, in alphabetischer Reihenfolge, jeweils mit Foto und einer Kurzinformation auf dem Rücken: Anupama, Anuradha, Aparna. Noch keine gestandenen Schauspielerinnen, aber jung und hoffnungsvoll. Voller Hoffnung. Und es waren viele, zu viele. Den meisten würde der Erfolg versagt bleiben, und dennoch strömten immer mehr von diesen jungen Dingern in die Stadt aus Gold. Auf diesem Überschuß und diesem Hunger, auf dieser simplen Gleichung fußte Jojos Geschäft. Sartaj und Katekar suchten und suchten, zogen Schubladen auf, griffen nach weiteren Ordnern. Der dritte Schlüssel an Jojos Schlüsselbund gehörte zu einem halbhohen Metallschrank, der ihre Sparbücher, Scheckhefte und Kontoauszüge enthielt, außerdem eine Kassette mit Schmuck: zwei Goldketten, drei Paar unterschiedlich gemusterte Armreife, eine Perlenkette, Brillantohrringe und ein Gewirr aus Silberschmuck.
»Wo ist das Bargeld?« fragte Katekar. »Wo bewahrt sie ihr Bargeld auf?«
In Jojos legalem Fernsehbusiness wurde das meiste wahrscheinlich mit einwandfreien Schecks abgewickelt. In ihrer kleinen Prostitutions-Zweigstelle dagegen floß ausschließlich Bargeld, soviel war sicher, und nicht zu knapp. Doch in dem Metallschrank war es nicht. Auf die Bank konnte man es auch nicht bringen. Wo war es also? Sartaj ging in den Flur hinaus, sah sich in der Küche und dann im Wohnzimmer um. Er nahm einen gerahmten Druck von der Wand. Das Bild zeigte eine sattgrüne Waldlichtung, doch dahinter war nur die Wand. Im Bad stieg Sartaj auf den Rand der Wanne und klopfte die Kacheln an der Decke ab. Alles fest, keine versteckten Hohlräume, keine Geheimfächer hinter dem Wassertank über der Tür. Als er in den Flur zurückging, sah er, daß Katekar die Schränke und Tische im Büro von den Wänden gerückt hatte und auf Knien die Fußbodenleisten untersuchte. In dieser Stadt verstand man etwas vom Geldverstecken: Die Kunst, Regale und Kopfteile von Betten zu bauen, die zur Seite glitten, wenn man auf einen geheimen Knopf drückte, war hier zur Perfektion entwickelt worden. Einmal hatten sie Goldbarren im gebauschten Saum üppiger roter Brokatvorhänge gefunden. Es nannte sich Schwarzgeld, doch für Sartaj war es grau: Es war illegal und eine Pest, aber die Steuern waren auch eine Pest und dabei legal, deswegen empfand er keinerlei Verachtung für Leute, die ihr Geld heimlich horteten. Jojo allerdings hatte ihres damit verdient, daß sie junge Frauen an Männer mit schmierigen Gelüsten verkaufte, und deshalb war ihr Geld schwärzer als das meiste andere, trotz ihrer sonstigen Reinlichkeit. Wo war es, dieses stinkende Geld, dieser Haufen Papier, der nach verkrusteten Hotel-Bettlaken und getrocknetem Schweiß roch? Nicht in dem rosa Badezimmer und auch nicht in ihrer Matratze. Sartaj nahm die Kleider aus ihrem Schrank und warf sie zu einem Haufen verschwenderischer purpurroter, weißer und tiefgrüner Seide aufs Bett. Er untersuchte die Wände des Schrankes, klopfte und drückte und atmete Jojos Duft ein, den Hauch ihres Körpers und ihrer Parfüms. Er hielt inne, die Handflächen an der Decke des Schrankes, dann setzte er sich aufs Bett, ließ sich auf Kaskaden von Blusen und Röcken nieder. Wo hast du's versteckt? Wo? Am wahrscheinlichsten war das Bad, denn hinter Kacheln konnte man leicht etwas einbauen, andererseits war das ein allzu abgenutztes Klischee. Bei Hema Malini, Meena Kumari und einem halben Dutzend anderer Filmstars hatte man die Scheine in der Toilette gefunden. Jojo war raffinierter, davon war Sartaj überzeugt.
Er lehnte sich zurück, und allmählich wurde ihm klar, was es mit Jojos Schuhen auf sich hatte. Das Schuhregal unten in ihrem Schrank war aus demselben Holz wie der Schrank und nahm fast dessen ganze Breite ein. Auf dem untersten Regal standen die Freizeitschuhe, ganz rechts die Sneakers, daneben bunte Bata-Gummichappals, dann kam eine ganze Kollektion Kolhapuri-Chappals. Das mittlere Fach enthielt bequeme Schuhe, praktische und robuste, solche, die man zur Arbeit trug und den ganzen Tag anbehalten konnte. Nach links ging die Reihe in Stiefel über, klobige mit dicken, langen Schnürsenkeln und allerlei Schnickschnack, und das oberste Fach fing rechts mit einem Paar weicher schwarzer Stiefel an, die Jojo bis in die Mitte der Oberschenkel gereicht haben mußten. Dann wurden die Stöckelschuhe immer zierlicher und gefährlicher, Obermaterial und Riemchen immer dünner, und in dem Paar ganz links, einem flammend bernsteinfarbenen Nichts mit spitz zulaufenden Pfennigabsätzen und einem einzigen diagonal verlaufenden Riemen, mußten Jojos Füße nackter gewirkt haben als ohne alles. »Toll, Jojo«, sagte Sartaj. »Das nenne ich Schuhe, Jojo.«
Er stand auf, räumte das mittlere Brett frei und zog daran. Es saß fest. Er neigte den Kopf und betrachtete den Schrankboden unter dem Regal und die Rückwand. Die obere Reihe lief von den Stiefeln zu den Stilettos hinab, und Sartaj sagte: »Du bewegst dich von rechts nach links, Jojo.« Er beugte sich vor, breitete die Arme weit aus, faßte das oberste Brett an den Seiten und zog auch daran. Wieder rührte sich nichts. Doch dann rutschten seine Finger ab, und er fühlte eine Rille, zwei Rillen, auf jeder Seite eine, fingertief, sieben oder acht Zentimeter lang: Griffe. Sartaj berührte mit der Nasenspitze einen von Jojos schwarzen Stilettos, und sein Puls ging schneller. Jetzt hab ich dich. Er faßte in die Griffe, zog und zerrte - nichts. Das Brett rührte sich nicht. Doch dann gab unter seinen Fingern etwas kaum merklich nach. Er preßte den Handballen gegen die Oberseite des Bords und drückte, als betätigte er eine schwergängige Motorradbremse, und plötzlich öffnete sich eine Verriegelung. Er drückte auf beiden Seiten und zog, schließlich löste sich das ganze Gestell von der Rückwand des Schranks. Die Chappals, Stiefel und Riemchensandalen ergossen sich auf den Boden. »He, Katekar«, rief er. »Katekar!«
Erfreut spähten sie in das sechzig Zentimeter tiefe Fach, in dem Jojo ihre Geheimnisse versteckt hatte. Natürlich war Bargeld darin: Bündel von Hundert- und Fünfhundert-Rupien-Scheinen, links an der Rückwand ordentlich gestapelt. Routiniert maß Katekar sie zwischen Daumen und kleinem Finger der linken Hand. »Nicht viel«, sagte er. »Fünf oder sechs Lakhs. Sehen aus wie die von Gaitonde.« Die Fünfhunderterbündel waren ganz neu, noch mit den Banderolen der Central Bank of India, übereinandergeschichtet und in die gleiche Schrumpffolie verpackt wie bei Gaitonde.
»Gaitonde muß sie bezahlt haben«, sagte Sartaj.
»Für ihre Randi-Dienste.«
Rechts, ebenfalls an der Rückwand, lagen drei schwarze Fotoalben aufeinander. Doch Sartaj hatte es nicht eilig, sich in Jojos geheimes Leben zu vertiefen. Er war noch bei dem Geld, und Katekar ebenso, das verriet sein langsames, durch die unbequeme Hockstellung leicht gepreßtes Atmen. Das Geld war höchst problematisch: Schwarzgeld, das in der Wohnung einer Toten gefunden wurde, war normalerweise ein Geschenk für den tüchtigen Polizisten. Nicht die ganze Summe - etwa fünf von den sechs Lakhs würden das Überraschungsgeschenk sein, ein Lakh würde im Protokoll erwähnt werden und damit im Rachen des Staates verschwinden, mehr nicht. Niemand würde unangenehme Fragen zum Schwarzgeld einer toten Puffmutter stellen. Der Betrag war so gering, daß man sein Fehlen gar nicht bemerken und Katekars Grundsatz der Vorsicht nicht verletzt werden würde. Niemand würde etwas merken, es sei denn, Jojo hatte Buch geführt oder jemandem von dem Versteck erzählt. Unwahrscheinlich, aber möglich. Doch in einem brisanten Fall, für den sich Delhi und der RAW interessierten, war das Risiko zu groß. Sartaj und Katekar wechselten einen Blick, und die Entscheidung war gefallen.
»Die Alben«, sagte Sartaj energisch und nahm sie heraus. Das erste Foto im ersten Album zeigte eine jüngere Jojo, eine um viele Jahre und viel Erfahrung jüngere. Sie trug ein rotes Kleid, ein Kinderkleid fast noch, mit eckigem Ausschnitt und hoher Taille. Sie mußte ungefähr sechzehn sein und saß auf einem schwarzen Sofa, untergehakt bei einer jungen Frau mit dem gleichen breiten Lächeln. Auch auf den nächsten Seiten waren die beiden zu sehen, lachend auf einem Bett, am Strand, auf einem Balkon vor der Skyline von Mumbai.
»Schwestern«, sagte Katekar.
»Stimmt. Aber wer hat die Fotos gemacht?« Sartaj blätterte weiter durch die Seiten voller Liebe und Glück. Dann kam ein leeres Blatt, ganz weiß, aber ein Abdruck verriet, daß einmal ein Bild unter der Folie gewesen war. Das nächste Blatt zeigte die beiden Schwestern wieder, diesmal in den Hängenden Gärten, danach fehlte alle zwei, drei Seiten ein Foto. In der Mitte des Albums feierten die Schwestern Geburtstag. Es war keine richtige Party, man sah nur die beiden, einen Eßtisch mit Geschenken und eine rosa Torte mit dickem Guß.
»Der siebzehnte«, sagte Katekar. Er war ein schneller Rechner und hatte die Anzahl der Kerzenflammen sofort erfaßt.
Sartaj blätterte weiter: Die restlichen Seiten des Albums waren leer. Das Fotografieren hatte abrupt aufgehört. Sartaj legte das Album beiseite und schlug das nächste auf. Es enthielt Kinderfotos. Die Schwestern in weißen Schulblusen und dunklen Röcken, auf einem anderen Bild barfuß und mit Zöpfen, die wie Flügel vom Kopf abstanden, fröhlich lachend vor einem Haus mit einem mächtigen steinernen Türsturz, einer dicken Holztür und einem sonnenbeschienenen Hof. »Ein Dorf«, sagte Sartaj. »Aber wo?«
»Im Süden«, meinte Katekar. »Irgendwo im Süden. In Konkan.«
Dann standen sie mit ihrer Mutter in einem Fotoatelier, beide Mädchen in genau den gleichen blauen Kleidern mit Puffärmeln und Spitze um den Halsausschnitt. Die Mutter trug Schwarz, ein schlichtes, langärmeliges Kleid, in ihrem Haar schimmerten graue Strähnen, und in dem Kreuz an ihrem Hals fing sich das Licht. Sie lächelte, wenn auch zaghaft. »Kein Vater«, sagte Sartaj.
»Kein Vater weit und breit. Was ist das, eine Farm?«
Die Schwestern spielten unter Bäumen, in einem von grünem Licht durchfluteten Wäldchen, sie liefen zwischen langen Reihen von Pflanzen hindurch, deren Blätter sich an den Rändern aufrollten. »Ich weiß nicht.« Sartaj verstand weder etwas von Bäumen oder sonstigen Pflanzen noch von Farmen. Es war eine andere Welt.
Das letzte war ein altmodisches Album mit dicken schwarzen Seiten, wie es heute nicht mehr hergestellt wurde. Das erste Bild steckte in schwarzen Fotoecken. Er und Katekar sagten gleichzeitig: »Der Vater.« Der Vater saß in der steifen Haltung da, die Männer und Frauen einer früheren Generation vor der Kamera einzunehmen pflegten, förmlich, wie sie es einem seltenen Ereignis zu schulden glaubten. Er trug eine weiße Uniform und hielt sich sehr gerade, die rechte Faust in die Seite gestemmt.
»Marine«, sagte Katekar.
»Handelsmarine.«
Der Vater hatte die Augen der Töchter, groß und direkt. Auf den nächsten Seiten war nur ein Kind zu sehen, das die Eltern zwischen sich an den Händen hielten. Dann plötzlich das zweite Kind, ein zahnloses Lachen im runden Gesicht, feines Haar, Hände und Füße der Kamera entgegengestreckt. Über dem Bild der Name, in verschnörkelter weißer Schrift auf die schwarze Pappe gemalt: Juliet.
»Ju-li-et?« sagte Katekar
»Ja. Wie die von Romeo.«
Katekar lachte herzhaft. »Dann ist aus Juliet Jojo geworden? Und Gaitonde war ihr Romeo?« Rom-jo, sagte er, und Sartaj fand seine Belustigung unfair und häßlich, sein schallendes Gelächter tat ihm in den Ohren weh. Katekar erschien ihm in diesem Moment sehr grob, proletarisch wie ein Ganwar, und er verbesserte ihn gar nicht erst. Er hatte das Gefühl, die Juliet von einst, die Juliet einer Zeit, bevor es eine Jojo gab, schützen zu müssen. Auf den folgenden Seiten wuchs sie in der Obhut von Mutter und Schwester heran. Bald nachdem sie laufen gelernt hatte, begann die Mutter ihre Töchter wie Zwillinge anzuziehen, gleiche Kleider, gleiche Frisur, gleiche Haarschleifen. Das erste Bild aus dieser Zeit war in einem Fotoatelier aufgenommen worden. Hand in Hand standen sie vor dem Eiffelturm, der sich im Hintergrund elegant in einen roten Himmel emporschwang, darunter fanden sich zwei Namen in weißer Tinte: »Mary« und »Juliet«, mit einem Schnörkel dazwischen.
»Mary Mascarenas«, sagte Sartaj. Die Schwester.
Als Juliet zehn oder elf war, endete der Zwillingslook. Auf einem Geburtstagsbild hatte sie kurze Haare, viel kürzere als Mary, einen frechen Bubikopf, und um den Hals eine leuchtend bunte Perlenkette. Ihr Kleid war das gleiche wie das ihrer Schwester und doch irgendwie anders. Sie trug es anders. Juliet hatte gelernt, sich zu behaupten, sie war selbstbewußter geworden und bot ihrer Mutter die Stirn. Sartaj gefielen die kecke, lebensfrohe Haltung, der herausfordernde Blick. Mary wirkte viel ernster.
In Jojos dickem Adreßbuch stand unter M »Mary«, mit privater und dienstlicher Telefonnummer und einer Adresse in Colaba. Doch die Nummer war nicht mehr aktuell. Sartaj wußte, daß das Telefonnetz in Colaba vor mindestens sieben, acht Jahren auf digital umgestellt und die Vermittlung automatisiert worden war. Hatte Jojo acht Jahre nicht mehr mit Mary telefoniert? Sie brachten die Wohnung wieder in Ordnung, stellten alles an seinen Platz zurück und ließen nur den Schrank im Schlafzimmer so, wie er war. Dann rief Sartaj die Delhi-vaali an.
Sie warteten in Jojos Büro auf sie. Sartaj drehte sich auf dem Schreibtischstuhl langsam hin und her und sann über Schwestern und ihre Streitigkeiten nach. Ma erzählte oft von Mani, ihrer älteren Schwester, und deren Sturheit, ihrer törichten kommunistischen Weigerung, sich Hilfe ins Haus zu holen, obwohl sie schon so lange krank und schwach war -was ist, wenn sie wieder einen Schwächeanfall hat und die Treppe runterfällt oder so, wie oft hab ich ihr gesagt, sie soll hierherkommen und bei mir wohnen, aber sie ist ja dermaßen stur. Sartaj brachte es nicht über sich, seiner Mutter klarzumachen, daß sie, Ma, die jüngere Schwester, genauso dickköpfig war, genauso auf ihre kratzbürstige Unabhängigkeit bedacht, daß sie genauso an dem Haus hing, das sie gebaut hatte, an den hohen Wänden, den schimmernden Fußböden und dem vertrauten Licht, den stillen Fluren.
Auch Jojo hatte sich ein Heim geschaffen, und sie hatte es sich hart erarbeitet. Neben dem Spülbecken in der Küche hatten Sartaj und Katekar in einem kleinen Unterschrank einen Werkzeugkasten und zwei Reihen Wandfarbe in verschiedenen Tönen gefunden. Jojo hatte die Zimmer selbst gestrichen. Im Kühlschrank standen Plastikdosen mit Essensresten. Jojo hatte nichts weggeworfen. Sie war sparsam gewesen, trotz ihrer extravaganten Schuhkollektion. Und energisch war sie, dachte Sartaj. Das sah man auf den Fotos. Sie mußte gute Arbeit geleistet haben.
Die Delhi-vaali kam schnell. Es waren keine zwanzig Minuten vergangen. Aus Jojos Wohnzimmerfenster sahen Sartaj und Katekar sie in einem schwarzen Ambassador rasch auf das Gelände des Hauses einbiegen. Autotüren wurden zugeschlagen, und kaum zwei Minuten später klopfte es an der Tür.
Ganz außer Atem führte Anjali Mathur ihre Leute in die Wohnung. Diesmal trug sie ein dunkelbraunes Salvar-kamiz. Der Mann direkt hinter ihr war Makand, der Sartaj aus Gaitondes Bunker geschickt hatte. »Das Schlafzimmer?« fragte Anjali Mathur.
Sartaj deutete auf eine Tür. Am Telefon hatte er ihr bereits Jojos richtigen Namen genannt, sie über ihre Berufe und ihre Schwester informiert sowie auf das Geheimfach in dem Kleiderschrank hingewiesen. Er hatte eine Festnetznummer gewählt; der Anruf mußte auf das Handy umgeleitet worden sein, das sie in der linken Hand hielt.
»Könnten Sie draußen warten?« sagte sie über die Schulter, während sie das Zimmer durchquerte. Einer ihrer kurzgeschorenen Lakaien hatte bereits die Hand am Türgriff, und kaum war Katekar draußen, wurde die Tür energisch geschlossen. Sartaj und Katekar blieben im Flur stehen, zu verblüfft, um sich zu ärgern.
Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als zu warten. »Diese Chutiyas, die sie dabei hat«, sagte Katekar, »das sind dieselben wie bei Gaitonde.«
Sartaj nickte. Die Männer - alle drei hatten den gleichen Haarschnitt und trugen die gleichen Schuhe - waren auch in Gaitondes Bunker gewesen. Was für Schuhe trug Anjali Mathur zu ihrem braunen Salvar-kamiz? Er hatte nicht darauf geachtet, es war alles zu schnell gegangen. Wahrscheinlich ungeheuer vernünftige, flache, robuste. Sie war der Typ dafür mit ihrem straff zurückgekämmten Haar, dem gekonnt über die Schulter geworfenen Dupatta185 und der viereckigen braunen Ledertasche mit den dicken Griffen, groß genug für alles, was eine internationale Agentin bei ihren Missionen benötigte. Die Luft vor dem Aufzug war abgestanden und sehr heiß, und Sartaj spürte, wie sich an seinen Unterarmen der Schweiß sammelte. Er begann tief zu atmen, in einem Rhythmus, den er sich bei tausend Observierungen antrainiert hatte. Wenn er es richtig hinbekam, schwanden Hitze und Schweiß, und die Zeit zog sich in sich selbst zurück, bis sie wirbelnd zum Stillstand kam. Dann war er von der Welt befreit und doch noch immer in ihr. Aber er mußte es richtig machen. Er atmete, und auf der anderen Seite der Tür hörte er Katekar, der sich in der drückenden Stille ebenfalls zu entspannen suchte. Sie schwitzten gemeinsam, und nach einer Weile atmeten sie auch gemeinsam. Sartaj schwebte empor und entschwand in Räume seiner Kindheit, in denen er mit Feuereifer seine Turnschuhe für den morgendlichen Sportunterricht weißte und sie dann Papa-ji zeigte, der es mit dem perfekten Weiß sehr genau nahm, viel genauer als irgendein Lehrer in der Schule. Er hatte seinem Sohn eingebleut, daß schlampige Schuhe die Wirkung selbst der besten Kleidung zunichte machen konnten und daß, umgekehrt, ganz alltägliche Kleidung durch weiche, spiegelblank polierte dunkelbraune Halbschuhe zu etwas Prächtigem werden konnte. Wo waren Papa-jis Schuhe geblieben, diese akkurat ausgerichteten schwarzen und braunen Reihen in dem schmalen Schrank links neben dem Kleiderschrank? Und was war aus seinen Anzügen geworden, aus jenem Wollgeruch regenschwerer Berghänge mit einem Hauch Mottenpulver? Weggepackt und weggegeben. Verschwunden, selbst das weiße Hemd, das ihm ein Freund aus Manila mitgebracht und das seinen aufgezwirbelten Schnauzer und den nach vorn geschwungenen Bart so schön zur Geltung gebracht hatte, dieses Hemd, das er an seinem siebenundsechzigsten Geburtstag hinreißend extravagant zu einer grauen Twillhose und einem pechschwarzen Turban getragen hatte. Sartaj hatte lachen müssen vor Bewunderung, als er ihn den Kiesweg vor dem Haus entlangkommen sah. Am Abend aber, als sie auf dem Rückweg vom Restaurant die drei Stockwerke zu einem neuen Einkaufszentrum emporstiegen, hatte Papa-ji auf dem zweiten Treppenabsatz verschnaufen müssen, und Sartaj hatte sich abgewandt, hatte den Blick starr auf die Leuchtreklamen draußen gerichtet und auf das leise, an- und abschwellende, flatternde Atmen gelauscht, das Leben, das sich wiederfand und weiterging, und er hatte sich gefürchtet.
»Inspektor Singh?« Makand streckte seinen grauen Rundkopf in den Flur. »Kommen Sie bitte herein.« Die Aufforderung galt nur Sartaj.
Anjali Mathur saß am Eßtisch. Sie zeigte auf eine Flasche mit kaltem Wasser und einige Gläser. »Tut mir leid, daß Sie draußen warten mußten. Der Fall ist so gelagert, daß wir sehr vorsichtig sein müssen.«
Ihre kleine Armee war nicht im Raum; vielleicht durchsuchten sie das Schlafzimmer. Sartaj schenkte sich ein Glas ein, trank und wartete ab. Das Wasser war herrlich kalt. Er war es zufrieden, einfach nur zu trinken und zu schweigen, weil er keine Ahnung hatte, um was für eine Art von Fall es sich handelte. Anjali Mathur hatte sehr helle Augen und einen sehr direkten Blick, und sie wartete ihrerseits darauf, daß er etwas sagte. Er schenkte sich noch einmal ein und trank, langsam jetzt, Schluck für Schluck. Da der Fall so gelagert war - wie auch immer -, hatte er nichts zu gewinnen, wenn er sprach. Er erwiderte ihren Blick, nicht herausfordernd, eher lässig, immer wieder trinkend, doch ohne wegzuschauen.
Sie bewegte sich leicht, und auf ihrem Gesicht erschien die Andeutung eines Lächelns. »Wollen Sie wissen, mit was für einem Fall wir es zu tun haben?«
»Sie werden mir sagen, was ich wissen muß.«
»Viel kann ich Ihnen nicht sagen, außer daß es um eine größere Sache geht. Eine sehr große.«
»Ja.«
»Was sagen Sie dazu?«
»Es macht mir angst.«
»Freuen Sie sich nicht, daß man Sie ausersehen hat, bei einem so großen Fall mitzuarbeiten?«
Sartaj warf den Kopf zurück und lachte. »Das ist die eine Seite. Große Fälle können kleine Inspektoren aber auch auffressen.«
Ihr Lächeln wurde breiter. »Aber Sie werden mitarbeiten?«
»Ich tue, was man von mir erwartet.«
»Gut. Tut mir leid, daß ich Ihnen nicht viel mehr sagen kann. Nur soviel: Es geht um die nationale Sicherheit, um eine große Gefahr für die nationale Sicherheit.« Wieder wartete sie darauf, daß er etwas erwiderte. »Verstehen Sie mich?«
Sartaj zuckte die Schultern. »Das alles kommt mir wie in einem Film vor. Das Aufregendste, was ich normalerweise mache, ist, daß ich einen Tapori wegen Erpressung verhafte. Ab und zu geht's auch mal um Mord.«
»Das hier ist ganz und gar real.«
»Okay.«
»Und sehr groß.«
»Ich verstehe.« Sartaj verstand keineswegs, aber wenn es ein großer Fall von der richtigen Sorte war, dann war es vielleicht nicht so schlecht, damit befaßt zu sein. Vielleicht brachten kleine Dienste in einem großen Fall Lob und Anerkennung.
»Wir müssen mehr darüber wissen, was Jojo und Gaitonde miteinander zu tun hatten. Was für Geschäfte sie zusammen gemacht haben.«
»Ja.«
»Sie haben diese Jojo sehr schnell gefunden. Shabash. Aber wir müssen mehr wissen. Konzentrieren Sie die Ermittlungen auf Gaitonde. Nehmen Sie sich seine Partner vor, seine Angestellten, jeden, den Sie finden können. Hören Sie sich an, was sie zu sagen haben.«
»In Ordnung.«
»Die Telefonnummer der Schwester lasse ich auf dem Revier in Colaba überprüfen, und wenn wir sie ausfindig machen, reden Sie mit ihr und versuchen soviel wie möglich über Jojo zu erfahren.«
»Ich soll mit der Schwester reden?«
»Ja.« Anjali Mathur hatte ein gutes Ermittlergesicht, fand Sartaj, neugierig und doch neutral, ein Gesicht, das nichts preisgab. »Gut«, sagte er. »Kann ich ihr sagen, wo ihre Schwester gestorben ist?«
»Ja. Finden Sie heraus, ob sie etwas über Jojos Geschäfte mit Gaitonde weiß. Und berichten Sie mir dann sofort. Nur mir. Wieder unter derselben Telefonnummer.«
Das war alles, was Sartaj an Aufklärung und Instruktionen von Anjali Mathur bekam. Er nahm die Wasserflasche und ein Glas vom Tisch und brachte es Katekar in den Flur hinaus. Katekars Hemd war inzwischen völlig durchgeschwitzt. Die Sommerhitze machte ihm weit weniger zu schaffen als Sartaj, er konnte ohne weiteres meilenweit durch einen Mainachmittag laufen, aber er schwitzte viel stärker. Sartaj führte seine Hitzebeständigkeit auf lebenslange Konditionierung zurück - Katekar war ohne Ventilatoren aufgewachsen und überstand jede Hitzewelle, ohne mit der Wimper zu zucken. Es kam ganz darauf an, was man gewöhnt war. Katekar trank ein Glas Wasser.
»Sind wir hier fertig?« fragte er mit einer Kopfbewegung zu Jojos Wohnung und Anjali Mathur.
»Noch nicht.«
Katekar schwieg.
»Trinken Sie aus.« Sartaj grinste. »Es gibt viel zu tun. Die nationale Sicherheit hängt von uns ab.«
Und noch jemand wollte mit Sartaj über die nationale Sicherheit reden. Er hieß Wasim Zafar Ali Ahmad und wartete vor der Polizeiwache auf ihn. Sein Name prangte in Hindi, Urdu und Englisch auf der Visitenkarte, die er Sartaj überreichte. Darunter stand »Sozialarbeiter«, gefolgt von zwei Telefonnummern.
»Ich war überrascht, Inspektor-saab«, sagte er, »als ich hörte, daß Sie zweimal in Navnagar waren, ohne Kontakt mit mir aufzunehmen. Aber vielleicht haben Sie mich ja nicht angetroffen. Ich bin selten zu Hause, bin beruflich viel unterwegs.«
Sartaj hielt die Karte zwischen den Fingerspitzen, drehte sie um und legte sie weg. »Ich war im Bengali Bura.« Sie saßen einander an Sartajs Schreibtisch gegenüber.
»Das liegt ja mehr oder weniger in Navnagar. Ich habe oft dort zu tun.« Er war um die Dreißig, dieser Ahmad mit dem langen Namen, ein wenig füllig, ein wenig groß und sehr selbstbewußt. Er war Sartaj mit gezückter Visitenkarte ins Büro gefolgt. Er trug ein schwarzes Hemd mit einer schmalen weißen Stickereiborte an den Manschetten und eine makellos weiße Hose, und seine Miene verriet Entschlossenheit.
»Kannten Sie den Jungen, der dort umgebracht wurde?« fragte Sartaj.
»Ja, ich habe ihn ein paarmal gesehen.«
Sartaj wiederum war überzeugt, Ahmad schon einmal gesehen zu haben. Er kam ihm bekannt vor; zweifellos ging er im Revier ein und aus, wie Sozialarbeiter das häufig taten. »Wohnen Sie in Navnagar?«
»Ja, in dem Teil an der Schnellstraße. Meine Familie war eine der ersten in Navnagar. Damals wohnten dort fast nur Leute aus UP und Tamil Nadu. Diese Bangladeshis kamen erst später. Und zwar viel zu viele, aber was soll man machen? Jetzt habe ich eben auch mit denen zu tun.«
»Kannten Sie auch die Apradhis? Und diesen Bihari, ihren Boß?«
»Nur vom Sehen, Inspektor-saab. Nicht so gut, daß man sich gegrüßt hätte, aber ich kenne Leute, die sie kennen. Und jetzt dieser Mord. Schlimme Sache. Die kommen von weiß Gott woher und tun schlimme Dinge in unserem Land. Und ziehen den Namen anständiger Leute, die hier geboren sind, in den Schmutz.«
Er meinte die indischen Muslime; die Hindu-Fundamentalisten verfolgten sie mit ihrem Haß und setzten grobe Verleumdungen über sie in Umlauf. Sartaj lehnte sich zurück und strich sich über den Bart. Interessant, dieser Wasim Zafar Ali Ahmad. Wie die meisten sogenannten Sozialarbeiter wollte er es zu etwas bringen, wollte in seinem Revier ein großer Mann werden, ein Mann mit Beziehungen, die ihm eine gewisse Klientel zuführen würden, ein Mann, auf den die Parteien aufmerksam würden, weil er in seinem Umfeld Dinge in Bewegung setzte und ehrenamtlich tätig war und irgendwann für ein politisches Amt in Frage kam. Man hatte Sozialarbeiter sogar schon in die gesetzgebende Versammlung und ins Parlament gewählt. Ahmad besaß das Politikertalent, Klischees von sich zu geben, ohne lächerlich zu wirken. Er machte einen intelligenten Eindruck und verfügte möglicherweise auch über die nötige Energie und Skrupellosigkeit. »Sie möchten mir also im Interesse des Landes und der anständigen Bürger bei der Aufklärung des Falles behilflich sein?« fragte Sartaj.
»Selbstverständlich, Inspektor-saab, selbstverständlich.« Ahmads Freude darüber, verstanden zu werden, kam aus dem Bauch, aus seinem tiefsten Innern. Er stützte die Ellbogen auf Sartajs Schreibtisch und beugte sich zu ihm vor. »Ich kenne Gott und die Welt in Navnagar, und auch im Bengali Bura habe ich jede Menge Kontakte. Ich habe beruflich dort zu tun, ich kenne die Leute und kann unauffällig Fragen stellen, verstehen Sie? Mich umhören, was die Leute sagen, was die Leute wissen.«
»Und was wissen Sie selbst bis jetzt? Wissen Sie überhaupt irgend etwas?«
Ahmad lachte in sich hinein. »Are, nein, Inspektor-saab, nein, aber ich kann mit Sicherheit die eine oder andere Kleinigkeit in Erfahrung bringen.« Er lehnte sich wieder zurück, rund und selbstzufrieden.
Sartaj gab auf. Ahmad war nicht so dumm, einen guten Tip gratis abzugeben oder seine Informanten zu nennen. »Gut«, sagte er. »Ich bin Ihnen für jede Unterstützung dankbar. Gibt es irgend etwas, was ich für Sie tun kann?«
Jetzt verstanden sie einander. »Ja, Saab, da gibt es tatsächlich etwas.« Ahmad schob seinen Charme beiseite und sprach ruhig und ohne Umschweife. »In Navnagar wohnen zwei Brüder, junge Kerle, der eine neunzehn, der andere zwanzig. Sie belästigen die Mädchen, wenn sie zur Arbeit gehen, werfen ihnen alles mögliche an den Kopf. Als ich sie aufgefordert habe, das zu unterlassen, haben sie mich bedroht. Sie haben öffentlich erklärt, sie würden mir Arme und Beine brechen. Ich könnte selbst gegen sie vorgehen, aber ich halte mich zurück. Wenn einem allerdings das Wasser bis zum Hals steht, Inspektor-saab ...«
»Namen? Alter? Wo finde ich sie?«
Ahmad hatte die Details bereits fein säuberlich notiert und riß die entsprechende Seite mit übertriebener Vorsicht aus seinem Notizbuch heraus. Er lieferte noch weitere Beschreibungen und Einzelheiten über die Familie und empfahl sich dann. »Ich habe Ihre Zeit lange genug in Anspruch genommen, Saab«, sagte er. »Aber rufen Sie mich bitte jederzeit an, wenn Sie etwas brauchen, Tag und Nacht.«
»Ich melde mich, wenn ich mir die beiden vorgenommen habe.«
»Die Einwohner von Navnagar wären überglücklich, wenn Sie ihre Schwestern und Töchter von diesem täglichen Ärgernis befreien würden, Saab.«
Damit legte Wasim Zafar Ali Ahmad die Hand auf seine Brust und entfernte sich. Er hatte von den Menschen in Navnagar gesprochen, aber Sartaj wußte so gut wie er, daß die beiden Brüder deshalb zur Räson gebracht werden sollten, weil Ahmad es so wollte. Mit dieser ersten Leistung in dem Deal sollten Vertrauen und guter Wille auf die Probe gestellt werden. Sartaj würde sich die beiden Straßenromeos vorknöpfen, deren Vergehen zweifellos nicht in erster Linie das Belästigen vorbeigehender Frauen war, sondern mangelnder Respekt vor Ahmad. Sartaj würde sich um die Sache kümmern, und Ahmad würde ihm Informationen liefern. Dann würde er in seinem Basti als ein Mann mit Beziehungen zur Polizei gelten, er würde von sich reden machen, mehr Menschen würden zu ihm kommen, um Schutz und Hilfe von ihm zu erbitten, und sein Einfluß würde wachsen. Wenn alles gut ging, würde es in einigen Jahren vielleicht Sartaj sein, der ihn mit Saab anredete. Doch das lag vorerst noch in weiter Ferne; erst einmal mußten die frauenbelästigenden Brüder in ihre Schranken gewiesen werden. Alle großen Karrieren begannen mit solch kleinen gegenseitigen Gefälligkeiten und wurden von ihnen getragen. Der beiderseitige Nutzen war das Schmieröl, das die großen und kleinen Maschinerien der Welt am Laufen hielt, und Sartaj nutzte es dazu, Verbrecher hinter Schloß und Riegel zu bringen. Er spürte ein Prickeln im Nacken und in den Unterarmen, die alte Erregung, die ihn jedesmal erfaßte, wenn ein Fall ins Rollen kam. Gut, sehr gut. Es war töricht, mit einem Erfolg zu rechnen, doch Sartaj konnte es sich nicht versagen, die Vorfreude auszukosten. Er würde die Mörder finden, er würde sie hinter Schloß und Riegel bringen, er würde siegen. Der Gedanke an den Sieg entfachte ein kleines Feuer in seiner Brust, das ihn für den Rest des Tages mit Energie versorgte.
Am Abend erzählte Sartaj Majid Khan bei einem Glas Scotch von seinem neuen Informanten mit dem langen Namen. Majid trank keinen Alkohol, hatte aber stets eine Flasche Johnny Walker für Sartaj im Haus. Diesmal stürzte der Inspektor den Whisky besonders gierig hinunter. Während er Majid von Wasim Zafar Ali Ahmad erzählte, stellten Majids Kinder die Teller auf den Tisch, und ihre Mutter klapperte in der Küche mit dem Besteck.
»Ja, ich kenne ihn, diesen Ahmad«, sagte Majid. »Das heißt, ich kenne seinen Vater.«
»Woher?«
»Ich habe ihn während der Unruhen aufgelesen, in Bandra, direkt neben der Schnellstraße. Ich war mit vier Mann unterwegs nach Mahim, da sahen wir von weitem drei Kerle, die sich über etwas beugten. Die Straßen waren gähnend leer, verstehen Sie, man sah weit und breit nur die drei. Ich sagte zum Fahrer, los, schnell, und wir gaben Gas, aber kaum sahen die Chutiyas den Jeep, rannten sie weg. Ein Mann lag auf der Straße. Grauer Bart, saubere weiße Kurta, weiße Topi641 - ein alter Herr, ein Muslim. Er hatte vor ihnen weglaufen wollen, und sie hatten ihn eingeholt und niedergerissen. Er war total verängstigt, aber nicht verletzt.«
»Das wäre er aber gewesen, wenn Sie ihn nicht gerettet hätten. Tot sogar.«
»Are, ich hab ihn nicht gerettet. Wir kamen zufällig vorbei.« Majid sagte das nicht aus falscher Bescheidenheit; es war eine nüchterne Tatsachenfeststellung. Er kratzte sich die Brust und trank von seinem Nimbu pani. »Wir haben ihn hinten in den Jeep gesetzt und mitgenommen. Eine volle Stunde konnte er nicht sprechen. Seitdem kommt er jedes Bakr'id050 zu mir ins Büro und bringt mir Gosht241, ich berühre es und schicke ihn wieder nach Hause damit. Und im Jahr darauf kommt er garantiert wieder. Netter alter Mann.«
Sie standen auf dem Balkon von Majids Wohnung im achten Stock, an die Brüstung gelehnt. Ein kugelrunder Mond hing tief über den gestaffelten Rechtecken der Dächer. Sartaj konnte sich nicht erinnern, wann er den Mond zuletzt so voll gesehen hatte. Vielleicht, dachte er, muß man dazu so hoch oben sein wie hier. »Ist der Sohn nie mitgekommen? Um sich zu bedanken und Sie in irgendeiner Sache um Hilfe zu bitten?«
»Nein.«
»Schlauer Bursche.« Es zeugte von Ahmads Intelligenz, daß er sich nicht auf die Dankbarkeit berief, die seinen Vater mit Majid verband, sie nicht strapazierte. Er verhielt sich korrekt, ging den Weg über Sartaj, den Inspektor des Bezirks. Wenn er Sartaj und die Polizisten zufriedenstellte, würden sie ihn Majid empfehlen, und dank Majid würde er möglicherweise seinen Einfluß ausweiten.
»Ja«, sagte Majid. »Der ist nicht so unbedarft wie sein Vater.«
»Unbedarfte Menschen haben manchmal großes Glück, stimmt's?«
»Manchmal. Ein Verwandter der Familie ist bei den Unruhen ums Leben gekommen. Ein Cousin.«
»Ein direkter Cousin?«
»Nein, wohl eher ein entfernter. Der alte Mann hat sich schrecklich darüber aufgeregt, als er das erste Mal bei mir war. Dabei konnte er von Glück sagen, daß es nur ein entfernter Cousin war. In diesem Land findet man bei näherem Hinsehen in jeder Familie einen entfernten Cousin, den es erwischt hat. Wenn nicht bei diesen Unruhen, dann bei irgendwelchen anderen.«
Das stimmte. Sartaj kannte auch aus seiner eigenen Familie Geschichten von Verwandten, die mitten in der Nacht von zu Hause hatten fliehen müssen.
»Zu Tisch, ihr beiden!« rief Rehana von drinnen. Sie hatte in der Küche noch Rotis gemacht und hielt die vertraute Plastikschüssel mit dem roten Rosenmuster und dem luftdicht schließenden Deckel in den Händen. Das Khima hatte sie zusammen mit ihrem Dienstmädchen für alles vermutlich schon am Spätnachmittag zubereitet. Die beiden konnten Segen oder Fluch produzieren, es war jedesmal ein Lotteriespiel, und als Sartaj seinen Stuhl an den Tisch rückte, war er froh um den Whisky, den er getrunken hatte. Imtiaz und Farah nahmen schubsend und drängelnd Platz. Sartaj hatte sie schon als Kleinkinder gekannt, und jetzt, da sie fast erwachsen waren, wirkte die Wohnung kleiner als früher.
Imtiaz reichte ihm eine Schale. »Hast du dir mal die CIA-Website angeschaut, Onkel?« fragte er.
»CIA - die Amerikaner?«
»Ja, die haben eine Site, da kann man in ihre Geheimdokumente reinschauen.«
Farah füllte Raita511 in eine Schale. »Wenn die einen das lesen lassen, dann ist es doch nicht geheim, du Idiot«, sagte sie. »Du bist bestimmt wieder stundenlang auf irgendwelchen bescheuerten Internetseiten rumgesurft und hast mit Mädchen gechattet.«
»Halt die Klappe«, sagte Imtiaz. »Wer redet denn mit dir?«
Majid lächelte. »Aha, ich gebe also Tausende und Abertausende von Rupien aus, damit mein Sohn sich mit Mädchen in Amerika unterhalten kann?«
»In Europa«, sagte Farah. »Er hat eine Freundin in Belgien und eine in Frankreich.«
»Du hast Freundinnen?« fragte Sartaj. »Wie alt bist du eigentlich?«
»Fünfzehn.«
»Vierzehn«, sagte Farah. Sie lächelte. »Denen hat er bestimmt gesagt, er ist achtzehn.«
»Wenigstens wirke ich wie achtzehn, im Gegensatz zu anderen, die sich benehmen wie elf.«
Farah faßte unter den Tisch, und Imtiaz zuckte zusammen. Er hob den Arm hoch. »Die Fingernägel einer Frau«, sagte er, »können tödlich sein.« Er schien hochzufrieden mit sich.
»Schluß jetzt, ihr beiden«, wies ihre Mutter sie zurecht. »Laßt Onkel Sartaj essen.«
Sartaj aß und war froh, daß ihnen an diesem Abend eine kulinarische Katastrophe erspart blieb. »Neue Frisur?« fragte er Farah.
»Ja! Du bist der einzige Mann auf der ganzen Welt, der so was merkt. Mein lieber Papa ist drei Tage nicht draufgekommen, was sich an mir verändert hat.«
»Sieht gut aus«, sagte Sartaj. Farah war etwas pummelig, aber hübsch, und Sartaj fragte sich, ob sie ihrerseits einen Freund in Belgien oder sogar in Bandra hatte. Er behielt die Frage jedoch für sich, denn Majid war zwar sehr liberal, aber bei seiner Tochter stieß seine Toleranz zuweilen an ihre Grenzen. Zwar kaufte er seinen Kindern, seinem Sohn, von seinem schwerverdienten Geld einen Computer, doch sein martialischer Kavallerieschnauzbart war nicht etwa nur schöner Schein. Ein Junge, der Farahs neuem Look verfiel, mußte geradezu tollkühn sein, um ihre acht Stockwerke hohe Burgmauer zu erklimmen. Farah strahlte, und Sartaj war sich sicher, daß es Jungen gab, deren Furcht sie mit diesem Strahlen gebannt hatte. Vor vielen Jahren hatte er selbst Burgmauern erklommen und um eines hübschen Gesichts willen grimmigen Vätern die Stirn geboten.
Nach dem Essen brachte Rehana Sartaj eine Tasse Tee und nahm neben ihm auf dem Sofa Platz. Sie hatte die gleichen breiten Wangenknochen wie ihre Kinder und war von einer gemütlichen Fülligkeit. Ein goldgerahmtes Bild an der Wand zeigte sie als schlanke Braut mit Henna-Schmuck und züchtig gesenktem Kopf, doch auch hier waren ihre strahlenden Augen nicht zu übersehen. »Wie steht's, Sartaj, haben Sie inzwischen eine Freundin?«
»Ja«, antwortete Sartaj. »Ja.«
»Wer ist es? Sagen Sie schon.«
»Ein Mädchen.«
»Na, was denn sonst? Eine Ananas vielleicht? Für einen Polizisten sind Sie wirklich ein miserabler Lügner, Sartaj.«
»Ach, das ist doch ein langweiliges Thema, Bhabhi.«
»Mein Sohn ist da anderer Meinung.« Imtiaz war mit seinem Vater und seiner Schwester zu dem Laden an der Ecke gegangen, um Eiscreme zu holen. »Sie sind doch noch jung, Sartaj. Wollen Sie denn so durchs Leben gehen? Sie brauchen eine Familie.«
»Sie reden genau wie meine Mutter.«
»Weil wir beide recht haben. Wir möchten beide, daß Sie glücklich sind.«
»Das bin ich ja.«
»Was?«
»Glücklich.«
»Man braucht Sie nur anzuschauen, dann weiß man, wie glücklich Sie sind, Sartaj.«
Sartaj spürte jetzt deutlich, wie müde und verschwitzt er war, spürte sein ganzes whiskygeschwängertes Elend. Es ärgerte ihn, daß der Schwung seines Arbeitstages in dieser sinnlosen Diskussion über Glück mit der glücklichen Rehana verpuffte. Ein Klopfen an der Tür ersparte ihm eine weitere Erforschung der Natur des Glücks. »Da kommt das Eis«, sagte er.
Er aß eine Schale Eiscreme und ergriff dann die Flucht.
Ein lautes Summen weckte Sartaj aus einem Traum, in dem er über Meere geflogen war, um fremde Frauen kennenzulernen. Es war eine hochkomplizierte Geschichte mit wachsamen Müttern und dahinrasenden Jeeps, doch kaum schlug er die Augen auf, hatte er sie vergessen. Verwirrt stützte er sich auf. Er wußte nicht, woher das Geräusch kam. Erst dachte er, die Türklingel sei defekt, dann fiel ihm sein Handy ein. Es lag auf dem Nachttisch, doch als er danach griff, fiel es zu Boden, und er mußte es am Kabel des Ladegeräts wieder hochziehen. Dann endlich klappte er es auf.
»Sartaj-saab?«
»Wer ist da?« blaffte Sartaj.
»Bunty, Saab. Ich hab gehört, Sie wollen mich sprechen.«
»Bunty, ja. Gut, daß Sie anrufen.« Sartaj schwang die Füße auf den Boden und versuchte sich zu sammeln, sich auf eine Gesprächsstrategie für Gaitondes Mann zu besinnen. Doch er wußte nicht einmal mehr, ob er sich überhaupt eine zurechtgelegt hatte, und so sagte er: »Ich möchte mich mit Ihnen treffen.«
»Es geht das Gerücht, Sie hätten Bhai erschossen.«
»Ich habe Gaitonde nicht erschossen. Vergessen Sie die Gerüchte. Was glauben Sie selbst, Bunty?«
»Nach meiner Information war er schon tot, als Sie reinkamen.«
»Eine brauchbare Information, Bunty. Es war alles sehr seltsam. Wieso sollte ein Mann wie er sich umbringen?«
»Ist es das, worüber Sie reden wollen?«
»Das und anderes. Ich sag's Ihnen, wenn wir uns sehen.«
»Warum sollte ich Ihnen etwas erzählen?«
»Hören Sie, Bunty, ich möchte einfach nur mit Ihnen reden. Wenn Sie mir helfen, kann ich vielleicht auch Ihnen helfen. Gaitonde ist tot, und Suleiman Isas Leute suchen Sie garantiert. Ein paar von Ihren eigenen Leuten haben sich schon abgesetzt, wie ich höre.«
»Das ist ein Spiel, das ich seit Jahren spiele.«
»Schon, aber jetzt? Allein? Wie weit werden Sie's schaffen?«
»In meinem Rollstuhl, meinen Sie, Saab? Ich bin in dem Ding schneller, als die meisten laufen können.«
Sartaj setzte sich auf, froh über die Gelegenheit, neugierig und freundlich zu sein. »Im Ernst? So einen Rollstuhl habe ich noch nie gesehen.«
»Der kommt aus dem Ausland. Man kann damit auch Treppen rauf- und runterfahren und alles mögliche andere.«
»Erstaunlich. Der muß ja ganz schön teuer gewesen sein.«
»Bhai hat ihn mir geschenkt. Er mochte solche technischen Neuerungen.«
»Dann war er also ein moderner Mensch?«
»Ja, ein sehr moderner. Es ist nur schwierig, das Ding instand zu halten. Hier kann es niemand reparieren, die Ersatzteile müssen aus Vilayat661 geliefert werden. Es geht zu oft kaputt.«
»Nicht für indische Verhältnisse gebaut.«
»Ja, genau wie diese neuen Autos. Die sehen gut aus, aber letzen Endes bringt einen nur ein Ambassador in das Dorf, in das man will.«
»Wir sollten uns treffen, Bunty. Vielleicht kann ich Sie wohlbehalten in Ihr Dorf bringen.«
»Ich bin hier in Mumbai geboren, Saab. Und Sie sind zu scharf darauf, sich mit mir zu treffen. Wer sagt mir, daß Suleiman Isa Sie nicht darum gebeten hat, mich nach Hause zu schicken.«
»Bunty, fragen Sie, wen Sie wollen: Ich habe keinen Kontakt zu Suleiman Isa oder irgendeinem seiner Männer.«
»Sie sind mit Parulkar befreundet.«
»Schon möglich. Aber so etwas mache ich nicht für ihn, Bunty, und das wissen Sie auch.« Sartaj stand auf und ging um das Fußende des Bettes herum. Er schien ihn zu sehr zu bedrängen, diesen Mann, der in seinem schnellen Rollstuhl den Tod auszumanövrieren suchte. »Also, Sie möchten sich nicht mit mir treffen - kein Problem. Aber denken Sie drüber nach, ja?«
»Ja, Saab. Ich muß vorsichtig sein, im Augenblick erst recht.«
»Ja.«
»Aber ich kann Ihnen telefonisch helfen, Saab. Was möchten Sie wissen?«
Bunty hielt sich seine Optionen Sartaj gegenüber offen, für den Fall, daß er selbst einmal Hilfe brauchte. Sartaj entspannte sich, schüttelte die Schultern und streckte den Nacken. Es war also doch noch etwas möglich. »Sagen Sie, wissen Sie wirklich nicht, warum Gaitonde sich selbst den Garaus gemacht hat?«
»Nein, Saab, ich weiß es nicht. Wirklich nicht.«
»Wußten Sie, daß er wieder in Bombay war?«
»Ja. Aber ich hatte ihn seit Wochen nicht mehr gesehen. Wir haben nur telefoniert. Er hatte sich in diesem Ding versteckt.«
»Diesem Haus?«
»Ja. Und er kam nicht mehr raus.«
»Warum nicht?«
»Ich weiß es nicht. Er war immer sehr vorsichtig.«
»Wie klang er am Telefon?«
»Wie er klang? Wie Bhai eben.«
»Ja, aber war er traurig? Oder glücklich?«
»Vielleicht ein bißchen ... khiskela336. Aber so war er immer.«
»Khiskela?«
»Als hätte er den Kopf voll mit tausend Dingen. Manchmal hat er mir eine Stunde lang irgend etwas erzählt, das überhaupt nichts mit dem Geschäft zu tun hatte. Er hat einfach geredet und geredet.«
»Worüber zum Beispiel?«
»Alles mögliche. Einmal ging's um Computer in früheren Zeiten. Er meinte, im Mahabharata386 kämen Computer und Superwaffen vor, und hat sich endlos über Ashvatthama031 ausgelassen. Ich hab am Ende gar nicht mehr hingehört. Schon früher, auf seinem Schiff, hat er gern stundenlang telefoniert. Eine gigantische Geldverschwendung war das. Aber er war nun mal Bhai, da sagt man eben haan, haan und läßt ihn weiterreden.«
»Wer war die Tote, die bei ihm war?«
»Jojo. Sie hat ihm Frauen geliefert.«
»Geliefert?«
»Ja. Klassefrauen für Bhai. Er hat sie nach Thailand einbiegen lassen oder wo immer er gerade war. Jungfrauen.«
»Jungfrauen, von so weit her?«
»Ja, er stand auf indische Jungfrauen.«
»Wie viele waren es?«
»Ich weiß nicht, eine im Monat vielleicht.«
»Und Jojo war auch seine Freundin?«
»Sie war eine Zuhälterin. Wahrscheinlich hat er sie auch entjungfert. Das war eins seiner Hobbys.«
»Warum ist er nach Mumbai zurückgekommen, Bunty?«
»Das weiß ich nicht.«
»Sie waren sein wichtigster Mann, Bunty. Natürlich wissen Sie's.«
»Ich war nur einer von mehreren.«
»Man hat mir gesagt, Sie hätten ihm am nächsten gestanden.«
»Ich bin bei ihm geblieben.«
»Und die anderen haben ihn verlassen? Warum?«
Ein Knistern von Zellophan war zu hören, und Sartaj wartete, bis Bunty sich eine Zigarette angezündet und daran gezogen hatte.
»Einige sind gegangen. Das Geschäft lief nicht mehr.«
»Wieso?«
»Was spielt das jetzt noch für eine Rolle?«
Sie waren zum Kern der Sache vorgedrungen. Sartaj schloß es aus Buntys Widerstreben, seiner gewollten Lässigkeit. Vorsichtig und gedehnt sagte er: »Sie haben recht, Bunty, es spielt keine Rolle mehr. Also können Sie's mir genausogut sagen.«
Bunty zog an seiner Zigarette und stieß leise keuchend den Rauch aus. Sartaj wartete.
»Das Geschäft läuft im Moment nirgends gut, Saab.«
»Aber bei der Gaitonde-Company lief es noch schlechter als anderswo. Seien Sie kein Chutiya. Wenn Sie mir gegenüber offen und ehrlich sind, kann ich es umgekehrt auch Ihnen gegenüber sein. Sagen Sie's mir.«
»Bhai hat sich nicht mehr aufs Geschäft konzentriert. Er hat uns ständig hierhin und dorthin geschickt.«
»Wieso?«
Plötzlich lachte Bunty. »Wegen eines Sadhu. Wir sollten einen weisen Mann suchen.«
»Was für einen Sadhu545? Wo sollten Sie den suchen?«
»Genaugenommen ging es um drei Sadhus, einer von ihnen war der Anführer. Mehr kann ich Ihnen wirklich nicht sagen, Saab.«
»Warum nicht?«
»Weil ich nicht viel mehr weiß.«
»Sagen Sie mir, was Sie wissen.«
»Nicht am Telefon, Saab.«
»Dann treffen wir uns.«
»Reden Sie mit Parulkar-saab.«
»Worüber?«
»Ich will mich stellen. Aber sie werden mich in eine Schießerei verwickeln, Saab.«
Das klang plausibel. In Haft wäre Bunty sicherer als draußen, das Gefängnis würde ihn vor seinen vielen Feinden schützen. Aber er hatte Angst, erschossen zu werden, bevor sein Name auf einer Häftlingsliste auftauchte. »Wenn Sie was Gutes für uns haben«, sagte Sartaj, »wird sich Parulkar-saab mit Sicherheit um Sie kümmern.«
»Ich habe alles, was Sie wollen, Saab. Ich war ja lange genug mit Bhai zusammen.«
»Okay, ich spreche mit Parulkar-saab. Und danach will ich wissen, was es mit dem Anführer dieser Sadhus auf sich hat.«
»Sobald ich in Sicherheit bin, werde ich sagen, was ich weiß, Saab. Ich werde Ihnen den Namen des Sadhu nennen. Ich bin der einzige, der ihn kennt.«
»Gut. Geben Sie mir eine Telefonnummer.«
»Ich rufe von einem öffentlichen Fernsprecher aus an, Saab. Und ich bin nicht in Mumbai. Ich werde Sie wieder anrufen.«
»In Ordnung.« Bunty mußte wirklich große Angst haben, wenn er selbst bei der Suche nach einem Weg in eine sichere Zuflucht noch so vorsichtig war. »Wann?«
»Am Montag, Saab.«
»Rufen Sie mich am Montagabend an, dann sage ich Ihnen, was Parulkar-saab meint.«
»Gut, Saab. Ich melde mich.«
Bunty hängte ein, und Sartaj setzte Chai auf und sann über die Wechselfälle des Gangsterlebens nach. Der Tod konnte plötzlich kommen, das war nun einmal so, aber es erschütterte Sartaj, daß Bunty versuchte, Parulkar, seinem gefürchtetsten Feind, zu vertrauen. Parulkar war die ganzen Jahre für die Verfolgung von Mitgliedern der G-Company zuständig gewesen. Er hatte sich über seine zahlreichen Gewährsleute Informationen über Gaitondes wichtigste Männer verschafft, und seine Trupps hatten sie gestellt und getötet. Waren die Toten keine bekannten Killer, widmeten ihnen die Zeitungen nicht mehr als ein paar Zeilen unten auf einer der hinteren Seiten. Bunty würde möglicherweise für eine Erwähnung auf der ersten Seite des Lokalteils gut sein. Wenn nicht deshalb, weil er tot war, so vielleicht zumindest wegen seines Spezial-Rollstuhls.
Sartaj trank seinen Tee aus und rief dann die Delhi-vaali an, um ihr von Gaitondes Suchaktion zu berichten.
»Was für ein Sadhu? Ist ein Name gefallen?«
»Nein, Madam. Der Informant wollte vorerst nichts weiter sagen. In ein paar Tagen weiß ich wahrscheinlich mehr.«
»Gut. Sehr seltsam, das Ganze. Wir wissen, daß Gaitonde tief gläubig war und häufig Pujas abgehalten hat, aber von irgendwelchen Sadhus ist uns im Zusammenhang mit ihm nichts bekannt. Und warum hat er diesen Mann gesucht?«
»Ich weiß es nicht, Madam.«
»Hm.«
Sie schwieg. Sartaj wartete. Allmählich gewöhnte er sich an Anjali Mathurs bedächtige Art.
»Ich habe eine Adresse für Sie«, sagte sie. »Haben Sie was zu schreiben.«
»Von der Schwester?«
»Ja. Sie wohnt jetzt in Bandra.«
Bevor er die Schwester aufsuchte, machte Sartaj im Revier halt. Er mußte noch einen Anruf erledigen. Auf Parulkars Zettel mit dem Kontakt zur S-Company stand nur eine Telefonnummer, kein Name. Sartaj mußte einen Moment überlegen, ehe er ihm wieder einfiel. Iffat-bibi. Genau. Iffat-bibi, Suleiman Isas Tante mütterlicherseits und seine Komplizin. Sartaj stellte sich kein Gesicht vor, während er wählte, doch als sie sich meldete, dachte er sofort an die Sängerin Begum Akhtar. Ihre Stimme hatte denselben rauhen und doch weichen Klang, eine altertümliche Melancholie, wie sie abgenutzte Schallplatten ausstrahlen, voller Schmerz und doch scharf wie die Klinge eines gekrümmten Avadhi-Dolchs.
»Sie sind also Parulkars Mann?« sagte sie.
»Ja, Madam.«
»Nennen Sie mich nicht so, seien Sie nicht so förmlich. Sie sind doch Sardar-saabs Sohn.«
»Sie haben ihn gekannt?«
»Allerdings. Ich kannte ihn schon, als er noch ein junger Rekrut war. Er war ein so hübscher Mann, Baap re.«
Papa-ji hatte Sartaj nie von Iffat-bibi erzählt; vielleicht gehörte sie zu der Sorte Frau, die ein Vater vor seinen Kindern nicht erwähnt. »Ja, er hat immer sehr auf sein Außeres geachtet.«
»Und er hat immer so gern das Reshmi kabab aus einem Restaurant namens Ashiana030 gegessen, das uns gehört hat. Jetzt gibt es das Restaurant nicht mehr.«
Sartaj erinnerte sich an die Kebabs, aber er hatte nicht gewußt, daß Iffat-bibi etwas damit zu tun gehabt hatte. Sie wollte sich offentsichtlich über Sardar-saab unterhalten. Einmal habe er im VT665 einen streunenden zwölfjährigen Jungen aufgegriffen und ihm von seinem eigenen Geld etwas zu essen und eine Fahrkarte nach Punjab gekauft. »Sardar-saab war ein guter Mensch«, seufzte sie. »Schlicht und geradlinig.«
Sartaj betrachtete seine Hand, den stählernem Kara314 an seinem Handgelenk und den Abdruck, den er in Jahrzehnten hinterlassen hatte. Er nickte. »Ja.« Und wartete.
»Besuchen Sie uns doch mal. Dann bekommen Sie ein besseres Reshmi Kebab als das im Ashiana.«
»Ja, Iffat-bibi, irgendwann komme ich mal vorbei.«
Damit hatte Iffat-bibi den Geboten der Höflichkeit Genüge getan und kam zur Sache. »Was kann ich für Sie tun?«
»Ich brauche Informationen über Ganesh Gaitonde.«
»Diesen Maderchod?« Es war ein Schock, das Wort aus ihrem Mund zu hören, und Sartaj begriff, daß er es tatsächlich mit der rechten Hand eines Bhai zu tun hatte, nicht nur mit der nachsichtigen Großmutter, die das Essen auftischt. »Jahrelang hat der uns das Leben schwergemacht. Ein Glück, daß Sie ihn endlich erledigt haben.«
»Ich nicht, Bibi«, sagte Sartaj. »Aber erzählen Sie mir von ihm. Was war er für ein Mensch?«
Ein hinterhältiger, feiger Schuft sei er gewesen, sagte sie. Wenn es brenzlig wurde, habe er das Weite gesucht, und seine eigenen Leute habe er verraten. Ein sündhafter Wüstling, der junge Mädchen mißbraucht und zugrunde gerichtet habe.
»Aber er hat doch ein großes Unternehmen geführt, Bibi.«
Sie räumte ein, daß er ein guter Manager gewesen sei und einiges Geld gemacht habe. Nein, sie wisse nicht, warum er in die Stadt zurückgekommen sei. Ihren Informationen zufolge habe er sich nach Thailand oder Indonesien abgesetzt, der Hurensohn. Und sie erzählte noch allerlei von Gaitonde und seiner Niedertracht. Unschuldige Menschen habe er umgebracht und behauptet, sie seien Freunde von Suleiman Isa gewesen. Eine Wanze, dieser Kerl.
»Wissen Sie etwas von einem Sadhu, mit dem er zu tun hatte?«
»Einem Sadhu? Nein. Dieses fromme Getue, das war. doch alles Schau. Der hat in seinem ganzen Leben nichts Gutes getan. Verbrennen soll er!«
Sartaj bedankte sich und sagte: »Ich muß Schluß machen, Bibi.«
»Reden Sie auch mit Leuten aus dem Gaitonde-Lager?«
»Mit dem einen oder anderen, Bibi.«
Sie lachte. »Na gut, Sie brauchen's mir nicht zu sagen, wenn Sie nicht wollen, Beta. Aber wenn Sie mal Probleme haben, kommen Sie zu mir. Schließlich sind Sie Sardar-saabs Sohn.«
»Ja, Bibi.«
»Rufen Sie wieder an. Ich bin zwar eine alte Frau, aber Sie sollten Kontakt halten, ich könnte Ihnen einmal nützlich sein. Ich gebe Ihnen meine Privatnummer.«
Sartaj schrieb die Nummer in sein Notizbuch, aber er glaubte nicht, daß ihm die schwatzhafte alte Frau groß von Nutzen sein würde. Sie hatte nichts Brauchbares für ihn, oder vielleicht hatte er nichts, was sie im Tausch gegen eine gute Information hätte gebrauchen können. Er legte den Hörer auf und sah sich im Revier nach Katekar um.
Mary Mascarenas saß zitternd auf ihrem Bett, den Kopf gesenkt, die Arme um ihren Bauch geschlungen. Vielleicht hatte sie Streit mit Jojo gehabt, vielleicht hatte sie ihrer Schwester sogar den Tod gewünscht, aber nun war ein Teil ihres Lebens weggebrochen, und dieser Verlust erschütterte sie bis ins Mark. Es war zwecklos, sie anzusprechen, bevor ihre Erregung abgeklungen war, und so warteten Sartaj und Katekar ab und sahen sich in der Wohnung um - ein Zimmer mit Küche und einem winzigen Bad. Eine grün-schwarze Tagesdecke lag auf dem schmalen Bett, ein paar kleine Pflanzen standen auf dem Fensterbrett, außerdem hatte sie ein altes schwarzes Wählscheibentelefon, zwei gerahmte Bilder an der Wand und auf dem Boden einen grau gemusterten dicken Baumwollteppich mit Fransen. Sartaj saß auf dem einzigen Stuhl am Fußende des Bettes und betrachtete dieses Refugium, das sie sich geschaffen hatte. Die Wände waren blaßgrün - sie hatte sie zweifellos selbst gestrichen -, passend zu dem dunkleren Grün der Pflanzen und dem Smaragdgrün der Bilder, auf denen Hütten in üppige Vegetation gebettet lagen und Papageien durch Baumwipfel flogen. Die strahlende Mumbai-Sonne drang durch die weißen Jalousien und ließ die Farben, mit denen Mary Mascarenas sich umgeben hatte, und ihr schimmerndes Haar, das über ihr Gesicht herabfiel, aufleuchten.
Katekar verdrehte die Augen. Er tappte in die Küche, und Sartaj sah, wie er den Kopf neigte und drehte. Er machte Inventur. Als nächstes würde er ins Bad gehen und haarklein registrieren, was er dort an Tiegeln und Töpfchen, Zahnbürsten und Gesichtscremes vorfand. Diese Detailbesessenheit war eine Eigenschaft, die sie gemeinsam hatten. Das war Sartaj zum ersten Mal aufgefallen, als Katekar ihm vor Jahren über einen Taschendieb Bericht erstattet hatte, der auf der Bahnstrecke Churchgate-Andheri arbeitete. Katekar hatte Namen, Alter und Größe des Mannes heruntergeleiert und dann hinzugefügt, daß der Kerl drei Frauen und eine Schwäche für knusprige Papri chaat102 476 und Faluda190 habe, was in dem Basti, in dem er aufgewachsen war, allgemein bekannt sei. Drei Wochen später hatten sie ihn in der Mathura Dairy Farm nahe dem Bahnhof Santa Cruz festgenommen, wo er nach einer einträglichen abendlichen Rush-hour über einen Teller Bhelpuri gebeugt saß, ihm gegenüber seine schielende Freundin, die auf dem besten Wege war, Ehefrau Nummer vier zu werden. Genaue Beobachtung führte zwar nicht immer zu Festnahme und Erfolg, aber Sartaj wußte es zu schätzen, daß Katekar sich darüber im klaren war, wie viele Möglichkeiten es gab, einen Menschen zu beschreiben. Nur zu sagen, er sei Hindu, ein armer Mann oder ein Krimineller, machte ihn noch nicht greifbar. Erst wenn man wußte, welches Shampoo er benutzte, was für Musik er hörte, mit wem und wie er Sex bevorzugte, welches Paan er aß, erst dann konnte man ihn kriegen. Katekar stand also in Marys Badezimmer, und Sartaj war sich sicher, daß er an ihrer Seife roch.
»Warum?« rief sie plötzlich und strich sich wütend die Haare aus dem Gesicht. »Warum?«
Sie hatte die Wangenknochen ihrer Schwester, jedoch eine runde, fülligere Kinnpartie. Sie weinte nicht, zitterte aber noch und kämpfte dagegen an, bis Sartaj die Erschütterung nur mehr an ihren Fingerspitzen und ihrem Kinn erkennen konnte.
»Ihre Schwester war in üble Machenschaften mit dem Mafia-Don Ganesh Gaitonde verwickelt«, sagte er. »Das hat dazu geführt, daß -«
»Das sagten Sie bereits. Aber warum?«
Warum das alles? wollte sie wissen. Warum ein Einschuß in der Brust, warum auf einem Betonboden, warum Ganesh Gaitonde? Sartaj zuckte die Schultern. »Ich weiß es nicht.« Warum bringen Männer Frauen um? Warum bringen sie andere Männer um? Das waren Fragen, die ihn mitunter selbst quälten und die er dann in Whisky ertränkte. Aber konnte man sich nicht ebensogut fragen, warum man lebte? Da taten sich schwindelerregende Abgründe auf, Versuchungen in großer Höhe. Katekar stand an der Badezimmertür, seine Augen funkelten im Sonnenlicht. »Ich weiß es nicht«, sagte Sartaj.
»Sie wissen es nicht.« Sie nickte heftig, als bestätigte das einen schweren Verdacht. »Ich will sie haben«, sagte sie.
»Wie bitte?«
»Ich will sie haben«, wiederholte sie langsam und mit mühsam unterdrückter Ungeduld. »Für die Beerdigung.«
»Ja, selbstverständlich. Einen Leichnam freizugeben kann zwar schwierig sein, wenn die Ermittlungen noch laufen, aber wir werden uns darum kümmern. Ich muß Ihnen allerdings ein paar Fragen stellen.«
»Ich will jetzt keine Fragen beantworten.«
»Aber es betrifft Ihre Schwester. Sie haben doch gerade gesagt, Sie wollen wissen, was passiert ist.«
Sie wischte sich übers Gesicht und beugte sich ein wenig vor, und plötzlich war er es, der eingehend gemustert wurde. Ihre Augen waren von einem helleren Braun, als es zunächst den Anschein gehabt hatte, und nun sah er auch die Sprenkel darin. Er fühlte sich äußerst unbehaglich unter ihrem langen, ungeniert prüfenden Blick, vor dessen unerwarteter Intimität ihn seine Position hätte schützen sollen. Aber er schlug die Augen nicht nieder. »Wie war Ihr Name noch mal?«
»Inspektor Sartaj Singh.«
»Haben Sie je eine Schwester verloren, Sartaj Singh?« Sie wurde lauter. »Ist je eine Schwester von Ihnen ermordet worden?«
Ihre völlige Furchtlosigkeit irritierte ihn. Normalerweise verhielten sich die Leute, besonders Frauen, Polizisten gegenüber zurückhaltend, vorsichtig, ängstlich, förmlich. Mary Mascarenas hingegen legte eine geringschätzige Lässigkeit an den Tag. Doch da sie soeben ihre Schwester verloren hatte, holte Sartaj tief Luft und unterdrückte seinen Ärger. »Es tut mir leid, daß ich Sie diese Dinge fragen muß, gerade jetzt, wo ...«
»Dann lassen Sie's.«
»Es ist aber sehr wichtig. Der Fall berührt die nationale Sicherheit.« Dann wußte Sartaj nicht mehr weiter. Irgendwie fühlte er sich im Unrecht, und das machte ihn wütend. Mary Mascarenas wirkte zwar nicht ängstlich, aber mutig war sie auch nicht. Sie war traurig und erschöpft und erwartete sich nichts anderes von ihm als noch mehr Leiden. Sie würde sich stur stellen, und sie anzuschreien würde nichts nützen. Sartaj atmete tief ein. »Die nationale Sicherheit. Verstehen Sie?«
»Wollen Sie mich schlagen?«
»Wie bitte?«
»Wollen Sie mir die Knochen brechen? So was macht ihr doch.«
»Nein«, blaffte Sartaj. Dann fing er sich wieder und hob die Hand. »Wir sorgen dafür, daß der Leichnam freigegeben wird. Ein paar Sachen von Ihrer Schwester sind wegen der Ermittlungen noch beschlagnahmt, werden Ihnen aber später ebenfalls übergeben. Ich rufe Sie an, wenn es soweit ist. Hier ist meine Nummer auf dem Revier, dort können Sie mich erreichen.« Behutsam legte er seine Karte auf das Fußende des Bettes, ganz an den Rand, dann wandte er sich ab.
Auf der Treppe schaute Katekar zu ihm hoch. »Die wird reden, Sir.«
»Warum flüstern Sie?« Normalerweise baute sich Katekar drohend vor den Leuten auf, verkörperte mit seiner massigen Gestalt mögliche Ohrfeigen, Schläge und Tritte, während Sartaj den verständnisvollen Freund spielte, das überraschend milde Gesicht der Autorität. Zu Frauen war er stets freundlich. Mary Mascarenas aber hatte sich feindselig verhalten, und das ärgerte ihn. Vom Hof aus sah er noch einmal zu ihrer Tür hinauf, die sich in diesem Moment schloß. Ihre Wohnung lag im hinteren Teil eines alten Hauses in einer ruhigen Straße. Zwei große Bäume spendeten mit ihren ineinander verflochtenen Ästen Schatten. Das Haus war eine jener überraschenden Kostbarkeiten, die es in Bandra noch immer gab, alt und grau, mit Zugjalousien, schmiedeeisernen Balkongeländern und weiß eingefaßten Fenstern und Türen. Der Hof war mit Laub bedeckt, das unter den Füßen raschelte. Das alles hatte Charme - und war irritierend.
Katekar hatte recht: Sie würde reden. Sartaj ging die Straße hinunter. Sie würde sich in ihren Zorn hineinsteigern, würde sich sagen, was für ein Scheusal dieser Sardar-Inspektor sei, was für ein Hurensohn, am Ende aber würde nur ihre Schuld bleiben, und es würde sie drängen, ihm zu erzählen, was passiert war, was aus Mary und Juliet Mascarenas geworden war. Sie würde beichten, damit er sie verstand. Nicht Vergebung brauchten die Überlebenden, dafür war es immer zu spät. Sie wollten nur, daß jemand in Uniform, in Robe, jemand mit drei Löwen auf der Schulter ihnen sagte: Ja, ich kann mir vorstellen, wie es dazu gekommen ist, erst ist dies passiert, dann jenes, und deshalb haben Sie dies getan und dann jenes. Aber für den Moment mußte man Mary Mascarenas sich selbst überlassen. Zunächst mußte verhindert werden, daß die Leiche durch Einäscherung entsorgt wurde, damit Mary Mascarenas ihre Schwester beerdigen konnte. Die Menschen legten großen Wert auf kleine Zeichen der Würde, kleine Illusionen. Mary würde den Kühlraum nicht zu Gesicht bekommen, Sartaj würde es ihr ersparen, mit eigenen Augen zu sehen, wie man mit toten Schwestern verfuhr. Sollte sie Jojo ruhig beerdigen. Danach würde sie reden.
Sartaj beschattete die Augen mit der Hand und spähte aufs Meer hinaus, ein schmales Leuchten zwischen den Bäumen und den beiden Häusern unterhalb von ihm. Es war spät, Zeit nach Hause zu fahren, zu seiner Familie.
Prabhjot Kaur saß in ihrem Schlafzimmer in einem Sessel und lauschte auf die Geräusche der Nacht. Das Haus war schwarz. Nachts schien es größer, die vertrauten Konturen wurden zurückgedrängt von einem sich regenden Dunkel, einer Abwesenheit von Licht, in der geisterhafte Farbsplitter tanzten. Prabhjot Kaur hörte Sartaj schlafen, weit entfernt, am Ende des Flurs, sie vernahm vieles um diese Zeit, das leise Knacken des alten Eßtisches, das stetige Tip-tap, Tip-tap des tropfenden Wasserhahns hinter dem Nachbarhaus, das Rascheln kleiner Tiere unter der Hecke vorn am Haus, das Summen der Nacht selbst, jene tiefe, lebendige Schwingung, die alle Geräusche verstärkte. Dies alles hörte sie und mitten darin das laute Atmen ihres Sohnes. Sie wußte, wie er lag, ausgestreckt auf dem Rücken, den Kopf zur Seite gedreht, ein Kissen an die Brust gedrückt. Er war spät gekommen, wie immer mit einer Tasche und einem vollgestopften Koffer, müde von der Bahnfahrt, aber auch von vielem anderem, das sah sie ihm an. Er hatte noch rasch geduscht und dann das Rajma-chawal gegessen, das schon auf ihn wartete. Er aß schweigend, erleichtert. Sie setzte sich ihm gegenüber an den Tisch, und ihr wurde warm ums Herz angesichts seiner vertrauten Gewohnheit, den Reis systematisch von links nach rechts aufzunehmen, ihn mit der Gabel immer wieder in Form zu klopfen. Er hatte das schon als Kind getan, die Gabel quer in der Faust. Rajma-chawal war sein Lieblingsgericht, sein Sonntagsvergnügen, und er aß den Reis gern mit viel Röstzwiebeln.
Von Zeit zu Zeit stellte sie ihm eine Frage - ob die undichte Stelle in seinem Badezimmer in Bombay inzwischen repariert sei, ob er an seinen Chacha-ji in Delhi geschrieben habe -, aber es ging ihr dabei nicht um Sartajs Antworten, sondern um den Klang seiner Stimme. Als er aufgegessen hatte, lehnte er sich träge blinzelnd zurück, gesättigt, die Arme schlaff herabhängend. Sie nahm seinen Teller. »Geh schlafen, Beta«, sagte sie.
Der Sessel, in dem sie nun saß, war alt, das älteste Möbelstück im Haus, geflickt, neu bezogen, aufgepolstert, geklebt, für sie gerettet. Sartajs Vater hatte ihn eines Abends mitgebracht, hatte ihn vorsichtig von der Ladefläche eines Tempo626 gehoben und ihre Fragen - Was ist denn das? Was hast du dafür bezahlt? - mit einem strahlenden Lächeln quittiert. Eine Stunde hatte es gedauert, bis er sie überredet hatte, in dem Sessel Platz zu nehmen, zuzugeben, daß er nicht allzu unbequem sei. Es war ihre erste große gemeinsame Anschaffung gewesen, das erste Stück in ihrem kleinen Haushalt, das nicht zu ihrer Mitgift gehörte. Jetzt war die Nacht ein weites, unbekanntes Gelände, das sie allein erkundete, eine endlose Ebene, deren Horizonte sich immer weiter ausdehnten, und sie erduldete sie in ihrem Sessel, denn wach im Bett zu liegen hätte Faulheit bedeutet. Doch nein, so war es nicht, es war nicht nur ein Erdulden, auch wenn die Einsamkeit manchmal wie ein Heuschreckenschwarm hinter ihren Lidern summte, ihr Sand in den Bauch wehte, körnig, knirschend und schmerzhaft. Etwas anderes hielt sie davon ab, zu ihrem Sohn zu ziehen oder in das geräumige Haus ihres Bruders in der nächsten Querstraße, in die turbulente Wärme von Nichten und Neffen, lauten Streitereien und eisverschmierten Gesichtern. Es war etwas so Ungeheuerliches, daß sie es nicht einmal sich selbst eingestand. Doch sie spürte es, tief in der Nacht, verborgen unter den Konturen ihres Gesichts, das sie betastete, als wäre es eine Maske, während sie bedächtig die unaussprechliche Freude des Alleinseins auskostete.
Sie schüttelte ärgerlich den Kopf, verbot sich diesen Genuß. Es bedurfte einer vollen Minute und vier aufeinanderfolgender Bewegungen der Arme, Hüften und Beine, um aus dem Sessel aufzustehen. Sie brauchte kein Licht zu machen, als sie das Zimmer verließ und den Flur entlangging. Links stand die Kommode mit dem guten Geschirr in der ersten Schublade, in der zweiten das teure mit dem Lilienmuster, dessen hellblaue Spiralen sie so mochte. Zu ihrer Rechten in Schulterhöhe die Hochglanzfotos, die sie genau im Kopf hatte, ein mit fester Plastikfolie laminiertes Hochzeitsbild, auf dem das Rot ihres Saris tiefschwarz wirkte. Sie erinnerte sich an die zweifarbigen Schuhe des Fotografen, seinen Kopf unter dem schwarzen Tuch, ihren noch jungen Devar158 mit seiner roten Krawatte und dem spitzbübischen Lächeln, sein »Na, komm, Pabi-ji, wo bleibt dein wunderschönes Lächeln?«. Gleißendes Licht war aufgeflammt, und sie hatte ein Lächeln zustande gebracht, das allen Verfall überdauert hatte. Und da war Sartaj als Zehnjähriger, mit einem zu großen blauen Turban und einem blauen Blazer mit blanken Messingknöpfen. Auf dem Bild nicht zu sehen war sein linkes Knie unter der Flanellhose, das er sich am Morgen an einem Stück Stacheldraht aufgerissen hatte, als er auf dem Weg zum Schulbus eine Abkürzung über ein unbebautes Grundstück genommen hatte und durch einen Zaun geklettert war - hundertmal hatte sie es ihm verboten. Er hatte eine Tetanusspritze bekommen, und sein Vater hatte ihm ein Eis gekauft, ein großes Kwality Vanille, seine Lieblingssorte. Vater und Sohn hatten den gleichen Geschmack, das gleiche dringende Bedürfnis nach blitzblank polierten Lederschuhen und einer neuen Jacke alle zwei Jahre. Am Ende des Flurs stand der Vater vor einem grauen Atelier-Hintergrund in seinem vorletzten Jackett - blau-grüner Tweed, dazu ein weißes Hemd und ein seidig glänzender grüner Schal, sein Bart von einem matten Weiß, das er nun nicht mehr durch Tönen und Färben bekämpfte. Ein weißer Bart wirke ungeheuer distinguiert, hatte sie ihm monatelang zweimal täglich versichert, bis er ihr endlich geglaubt hatte. Sie ging weiter und blieb dann in Sartajs Tür stehen. Ihr Sohn atmete schnell im Schlaf.
Jetzt redete er, murmelte etwas in das zusammengeknüllte Laken. Sie bückte sich mühsam und hob Hose, Hemd und Unterwäsche auf, die am Fußende des Bettes auf dem Boden lagen. Wieder sprach Sartaj, und sie verstand deutlich das Wort »Boot«. Leise schloß sie die Tür - Sartaj würde ausschlafen wollen, und die Dienstboten kamen früh. Auf dem Weg ins Bad stülpte sie seine Hosentaschen um und fand ein Taschentuch, dann legte sie alles für das Mädchen in den Wascheimer.
Wieder in ihrem Sessel, hörte sie den Wachmann an der letzten Biegung der Straße mit seinem Lathi klopfen. Er drehte stündlich eine große Runde um die dicht an dicht stehenden Häuser. Und während sie so lauschte, stieg ein ganz leises Knirschen des Grolls aus ihren Knochen auf, ein schwaches Scheuern des Widerstandes, kaum vernehmbar inmitten der größeren Melodie des Glücks, eines Lebens nicht ohne Schmerz, doch eines guten Lebens an der Seite ihres Mannes und ihres Sohnes. Sie war ungehörig, diese unausrottbare, nach all den Jahren noch immer aufblitzende Verstimmung über ein paar Kleidungsstücke auf dem Boden, diese leise Regung des Ärgers darüber, ständig etwas für Männer tun zu müssen, immer und immer wieder. Ja, ungehörig, zumal Sartaj so müde gewesen und zu ihr gekommen war, weil er Trost suchte. Das wußte sie. Er schlafe so tief in diesem Haus, hatte er gesagt, besser als sonst. Wie tapfer hatte er einst die erste Nacht in seinem neuen Zimmer geschlafen - sechs mußte er damals gewesen sein, vielleicht auch etwas älter als sie endlich in eine Wohnung gezogen waren, in der er sein eigenes Zimmer hatte, eine Wohnung mit Veranda und einem kleinen Garten, in dem sie Rosen gepflanzt und Saris und Uniformen zum Trocknen aufgehängt hatte. Wieviel Wäsche hatte sie in jenen frühen Tagen gewaschen, wie viele traurige Tage mit Kernseife, zerrissenen blauen Shorts und löchrigen Socken zugebracht! Hatte es solche Anflüge von Grimm schon damals gegeben, hatte sie sie unterdrückt, sie tief unter Lawinen der Liebe begraben? Prabhjot Kaur drängte diese Gedanken zurück, legte die Hände auf das alte Holz der Armlehnen und umklammerte sie fest, wiegte den Kopf vor und zurück und versuchte, nicht an jenen Ferientag in den Bergen zu denken, als sie mit Karamjeet und ihrem Sohn eine windige Hügelkette entlanggewandert war. Dennoch sah sie ein Haus in einer fernen Stadt vor sich, unendlich ferner noch, seitdem' diese Stadt jenseits einer neuen Grenze, eines langen, mit tödlichem Strom geladenen Drahtzauns lag. Und sie sah ein Haus mit grün gestrichenen Läden und einem großen, ganz neu möblierten Wohnzimmer. Durch einen dunklen Gang gelangte man von draußen in einen mit Ziegeln gepflasterten, von Bögen und anderen Räumen umgebenen Hof. In diesem Hof saßen Prabhjot Kaurs Vater und ihre Mutter, ihre zwei älteren Brüder und ihre beiden Schwestern. Und eine dieser Schwestern, die geliebte Navneet, die beste von allen, war nun für immer verloren. Fort, Navneet-bhenji war fort. Prabhjot Kaur wischte sich mit beiden Händen über die Stirn, das Gesicht. Zurückzudenken war sinnlos. Die Geschichten waren schon geschrieben, und was geschehen war, war geschehen. Zu leben, eine Familie zu haben, war nun einmal zwangsläufig mit Schmerz verbunden. Man konnte dem Leben nicht entfliehen, und der Versuch, das Leid fortzuwünschen, machte es nur noch gegenwärtiger. Sie atmete tief ein: Ertrage es. Ertrage alles, die kleinen Unzufriedenheiten des Alltags und die mörderischen Tragödien von einst, ertrage alles mit Vahegurus Hilfe und Gnade. Ertrage es für jene, die du liebst. Noch einmal atmete Prabhjot Kaur tief ein und versuchte dann, sich auf die Pflichten des kommenden Tages zu besinnen.
Sie atmete ruhig und gleichmäßig. Von draußen drang das Geräusch stetigen Tropfens, des leisen Klatschens von Wasser auf Stein herein.