Exkurs:
Ein Haus in einer fernen Stadt

Prabhjot Kaur saß im Hof, der jeden Morgen gewischt wurde, und schrubbte eine große Pfanne unter der Handpumpe mit Asche. Sie war die bravste und jüngste der drei Töchter: Navneet, Maninder und Prabhjot oder auch Navneet-bhenji, Mani und Nikki455 - Nikki deshalb, weil sie so klein war. Prabhjot Kaur half ihrer Mata-ji405 gern bei der Arbeit, und Mata-ji pflegte zu sagen: »Schaut sie euch an, diese Nikki, diese Prabhjot Kaur, zehn ist sie erst und hilft mir mehr als ihr alle zusammen.« Nikki mußte dann aufpassen, daß Mani sie nicht zwickte, denn Mani packte mit Vorliebe die Haut innen an ihrem Oberarm, mit einem Griff, so gnadenlos eisern wie eine Zange, und dann drehte und drehte sie und flüsterte: »Dir werd ich's zeigen, du kleine Ratte!« Nikki ertrug die Blutergüsse mit Nachsicht, ja sogar Mitgefühl für Mani, die mit ihren großen Ohren und nachdem sie mit Dreizehn in einem Jahr fast acht Zentimeter in die Höhe geschossen war, wie eine Vogelscheuche aussah. Mani ging voller Zorn durch die Welt, ihre Stimme war schrill, ihre Bewegungen linkisch, in der Schule war sie nicht sehr gut, und sie saß unentrinnbar fest in ihrer Position als mittlere von drei Schwestern. Nicht einmal durch ihren Platz in der Geschwisterreihe oder aufgrund ihres Alters stellte sie etwas Besonderes dar; sie war weder Fisch noch Fleisch. Nikki dagegen wurde von ihren Brüdern Iqbal-virji663 und Alok-virji verhätschelt. Die beiden waren achtzehn und siebzehn, jünger als Navneet-bhenji, aber mit ihrer ungeschlachten Männlichkeit und ihrer Kricketleidenschaft weiter von Nikki entfernt. Ihr Vater sah sich gern Nikkis Schulhefte an, die sie mit braunem Papier tadellos einband und mit ihrem Namen in grüner Tinte beschriftete, die Anfangsbuchstaben von Prabhjot und Kaur kunstvoll verschnörkelt. Ihre Punjabi- und Urdulehrer staunten, wie schön sie beide Schriften schrieb, und setzten in Hinblick auf den jährlichen Aufsatzwettbewerb unter der Schirmherrschaft von Sir Syed Atalullah Khan große Hoffnungen auf sie. »Mein Haus ist neu«, schrieb sie in schwungvollen Lettern, ohne den kleinsten Fehler oder Klecks, denn wenn ihr auch nur ein Aleph mißlang, riß sie die ganze Seite aus dem Heft. Sie stand allenthalben in dem Ruf, ein braves Kind zu sein, ernsthaft und folgsam, und in dem neuen Haus half sie gern in der Küche.

»Bist du fertig, Nikki?« sang Mata-ji aus der Küche.

»Ich komme, Mata-ji!« Prabhjot Kaur sprang auf, um Wasser zu pumpen, und lehnte sich mit ihrem ganzen Gewicht auf den Schwengel. Im Sonnenlicht glitzernd und tanzend, sprudelte das Wasser hervor. In der Küche warf Mata-ji die Paraunthas von einer Hand in die andere, eine schnelle kleine Melodie, und beförderte sie dann mit einem letzten Schwung aus dem Handgelenk in die heiße gußeiserne Pfanne. Mata-ji tupfte sich mit dem Zipfel ihres Dupatta die Schweißperlen von den Wangen, und Prabhjot Kaur sah gespannt in ihr rotes rundes Gesicht mit der Stupsnase, derentwegen sie von allen geneckt wurde.

»Bring das rein«, sagte Mata-ji und legte den fünften vollkommenen, glänzenden Parauntha auf den Stapel der anderen. »Und dann setz dich auch hin.« Prabhjot Kaur aß stets als vorletzte. Ihre beiden Brüder vertilgten mit gewaltigem Appetit ein ganzes Dutzend Paraunthas mit pfundweise Butter. Mani saß, ein Knie unters Kinn hochgezogen, neben ihnen, stocherte in einem Berg Okra und formte ihn zu einem Kreis. Sie würdigte Prabhjot Kaur keines nicht einmal eines Blickes, sondern hörte Iqbal-virji und Alok-virji zu, die sich über Kricket unterhielten. Prabhjot Kaur hockte sich auf die Chatai hin und aß still und konzentriert. Es war Sonntagmorgen, und ihr Vater war losgegangen, um eine letzte Ladung Ziegel zu besorgen. Sie wohnten seit fast einem Jahr in dem neuen Haus, aber der rückwärtige Teil war noch immer nicht fertig. Ein Vorratsraum und ein separates kleines Dienstbotenhaus mit Veranda sollten hinzukommen. Man konnte meinen, das Haus wäre in alle Ewigkeit im Bau. Solange Prabhjot Kaur zurückdenken konnte, hatte es dieses Haus in Adampur gegeben. Ihr Vater war abends nach der Arbeit dorthin verschwunden, und an den Wochenenden hatten ihre Brüder die Bauarbeiten überwacht. Es war ein Zuhause, das niemals näherzurücken schien. Der Umzug hatte drei Tage gedauert. Die erste Nacht hatten sie alle auf neuen Charpais110 im Hof verbracht, und fast bis Tagesanbruch hatte keiner von ihnen ein Auge zugetan. Am nächsten Morgen hatte Prabhjot Kaur unter ihrer warmen weißen Decke aus wunderbaren Träumen heraus ihre Mutter vom Dach herab lachen hören. Es klang wohlig und frei und so ungewohnt sorglos, daß Prabhjot Kaur sich noch immer daran erinnerte. Und es war in dem neuen Haus geblieben, dieses Lachen, hatte die Flure erhellt und sich mit dem frischen Putzgeruch vermischt. Leise ächzend, wie immer, wenn sie die Knie abwinkelte, ließ sich Mata-ji nun neben Prabhjot Kaur nieder. Sie war müde von der morgendlichen Arbeit, aber sie strahlte auch etwas anderes aus, eine satte Zufriedenheit, die in den vier Jahren, in denen die Familie zwei Zimmer hinten in Narinder Dhanoas Haus bewohnt hatte, nicht dagewesen war. Sie aß tief über ihren Teller gebeugt und schmatzte bei jedem Bissen, bis Mani sich plötzlich zu ihrer vollen Höhe aufrichtete und in die Küche hinausstolzierte.

»Und, Sethani-ji573«, sagte Alok-virji und legte seiner Mutter die Hand auf die Schulter. »Wann fängt das Dienstmädchen bei uns an?«

»Ach, das schaffe ich schon allein«, antwortete Mata-ji. »Was sollte ich denn sonst mit meiner ganzen Zeit anfangen?«

Alok-virji hängte sich lachend an die Schultern seiner Mutter.

»Wir sagen ihr einfach, sie soll ab morgen kommen«, sagte Iqbal-virji, »sonst machst du noch zehn Jahre so weiter.« Als ältester Sohn befleißigte er sich seiner Mutter gegenüber einer milden Autorität, einer lächelnden Nachsicht.

»Genau«, stimmte Alok-virji ein. »Sonst läßt unser Größter-Kanjus-der-Welt311 ein Dienstmädchen gar nicht erst in seine Nähe.«

»Wartet nur, bis ihr mal selber Geld verdient«, erwiderte Mata-ji und schüttelte Aloks Kinn ab, das auf ihrer Schulter ruhte. »Dann werdet ihr schon sehen, was eure Paraunthas kosten.«

»Wenn ich mal Geld verdiene«, sagte Alok-virji, »kauf ich dir ein Auto mit zwei Wimpeln vorne dran.«

»Dann bist du wohl auch gleich ein Laat-saab359«, gab Mata-ji zurück. »Er hat einundzwanzig Jahre gebraucht, um dieses Haus zu bauen.«

Einundzwanzig Jahre und einiges an Ziegeln, dachte Prabhjot Kaur, aber sie merkte, daß es Mata-ji, obwohl sie den Kopf zurückwarf, Freude machte, sich Alok-virji als Laat-saab in einem Auto vorzustellen. Sie hielt den Blick gesenkt, und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Am Nachmittag, als Prabhjot Kaur sich auf die Matte gelegt hatte, den Kopf auf ihrem Lieblingskissen, den Arm darunter, hörte sie, während sie in einen tiefen Schlaf fiel, ihre beiden Virjis noch immer von dem geheimnisvollen Dienstmädchen reden. Man müsse schleunigst eines finden, damit es bei ihnen arbeite, das Haus mit seinen zahllosen Räumen und auch den Hof fege, den Scheuerlappen solle es schwingen, bis die gefliesten Böden nur so blitzten, die Wäsche schlagen und sie feucht und flatternd auf die Leinen hinter dem Haus hängen, den Weizen sieben, Lampen anzünden, Schuhe putzen, Bücher aufheben, Milch holen, Gemüse kaufen - tausend Dinge gab es zu tun. Prabhjot Kaur stellte sich vor, daß eine Frau, die all das konnte, sehr stark sein mußte.

Doch als sie drei Tage später tatsächlich kam, war es eine winzige Person namens Ram Pari, die ein merkwürdiges rotes Salvar-kamiz mit einem ausgefransten Dupatta trug und einen groben, quäkenden Dialekt sprach, den Prabhjot Kaur zwar verstand, aber urkomisch fand. Ram Pari redete Mata-ji mit »Bibi-ji« an und feilschte, im Hof kauernd, mit ihr um den Lohn. Sie einigten sich auf fünf Rupien pro Woche, und als sie sich erhob, trat Prabhjot Kaur neben sie und reckte sich hoch auf, und wirklich - Ram Pari war kaum einen Kopf größer als sie. So dicht bei ihr, bemerkte Prabhjot Kaur einen Geruch. Schnell wich sie einen Schritt zurück. Eigentlich war es kein schlechter Geruch, aber ein starker, wie feuchte Erde oder wie in einem Zuckerbäckerladen, wo man ein wenig benommen wurde von all den milchigen Gerüchen. Prabhjot Kaur wandte sich ab und lief ins Wohnzimmer, wo Navneet-bhenji saß, die Nase wie immer in einem dicken Buch. Prabhjot Kaur setzte sich neben sie, lehnte den Kopf an die beruhigende Baumwollschulter ihrer Schwester und buchstabierte den Titel der Seite: »Wordsworth«. Ein süßer, altvertrauter Duft nach Seife und warmer Haut stieg aus Navneet-bhenjis frisch gewaschener, weicher Salvar auf. Prabhjot Kaur atmete ihn ein und drückte schnaubend ihr Gesicht in den Stoff. »Was machst du denn da, Jhalli291?« fragte Navneet-bhenji und kniff sie in die Nase. Prabhjot Kaur fand sich alles andere als verrückt, aber es war zu schwierig zu erklären, weshalb sie das genau jetzt so dringend brauchte. Sie barg ihr Gesicht in Navneet-bhenjis Armbeuge und hielt ganz still. Ram Pari war wieder gegangen, und Mata-ji kam mit einem Teller Erbsen über den Hof. Sie machte sich daran, die Schoten zu öffnen, und ließ die Erbsen mit dem Daumen in den Teller prasseln, tschack-tschack-tschack, so schnell, daß es wie ein einziges langgezogenes Rasseln klang. Mata-ji war vollauf mit ihren Erbsen beschäftigt, und Navneet-bhenji hielt ihr Buch auf die angewinkelten Knie gestützt. Die beiden hatten ein ruhiges, freundschaftliches Verhältnis zueinander, doch Prabhjot Kaur erinnerte sich, wie sie ein Jahr zuvor heftig gestritten hatten, als Navneet-bhenji nach ihrem Schulabschluß aufs College wollte, um den Bachelor zu machen. Sie solle an ihre Geschwister denken, hatte Mata-ji gesagt, die sie durch ihre Selbstsucht daran hindere, zu heiraten und glücklich zu werden, und als Navneet-bhenji sie berechtigterweise darauf hingewiesen hatte, daß ihre Geschwister noch Jahre von einer Heirat entfernt seien, hatte Mata-ji sie angeschrien - sie mache der Familie Schande, oder etwas ähnlich Sonderbares - und zwei Tage lang nichts mehr gegessen. Schließlich hatte Papa-ji ein väterliches Machtwort gesprochen. Wenn Navneet ihren Bachelor machen will, hatte er gesagt, dann macht sie ihn, und damit basta. Doch Mata-ji verfügte über geheimnisvolle Kräfte. Sie zog sich ins Schlafzimmer zurück, Papa-ji verdrehte die Augen und folgte ihr.

Als Papa-ji am nächsten Morgen wieder herauskam, war es beschlossene Sache, daß eine Heirat zwar aufgeschoben, nicht aber aufgehoben sei. Und jetzt war Navneet-bhenji mit Pritam Sing Hansra verlobt, einem in Gujranwalla stationierten jungen Bauingenieur im Staatsdienst. Nach der Verlobung hatte sich Papa-ji über den schon von weißen Fäden durchzogenen Kinnbart gestrichen und erklärt, Glück sei das Ergebnis vernünftigen Denkens. Mata-ji hatte geschwiegen. Und Prabhjot Kaur, eingeschüchtert von den Anordnungen, die Papa-ji einfach so aus dem Ärmel schüttelte - ein Mann für Navneet-bhenji, ein Haus für die Familie -, hatte begriffen, daß basta nie endgültig basta bedeutete.

Ram Pari kam täglich, und Mata-ji ließ sich auf Streitereien epischen Ausmaßes mit ihr ein. Drei Tage, zahlreiche praktische Demonstrationen und beißende Kritik kostete es sie allein, ihr beizubringen, wie man das Geschirr so spülte, daß es ein hinlängliches Maß an Sauberkeit erreichte. Ram Pari gab keine Widerworte, sie tat Mata-jis Predigten mit einem Achselzucken ab und spülte zwei Schüsseln und vielleicht noch einen Teller so, daß es höchsten Ansprüchen genügte, um dann zu ihrer gewohnten fröhlichen Nachlässigkeit zurückzukehren. Ihre Kehrtechnik, die zwar schnell und effizient war, aber Staubflusen in den Ecken zurückließ und die Flächen unter den Schränken aussparte, riß Mata-ji zu lautstarken, empörten Tiraden hin. Prabhjot Kaurs Brüder bogen sich vor Lachen und äußerten vernehmlich etwas von »Badboo Pari«. Prabhjot Kaur lachte aus Solidarität mit, fand insgeheim aber, daß es keineswegs ein Badboo war, eher ein durchdringender Boo. An Ram Paris Bauch kam ein drahtiges Muskelgeflecht zum Vorschein, wenn sie ihr Kamiz hob und sich über den Mund, über ihr runzliges, altes Gesicht wischte. Sie tat das manchmal spätnachmittags, nahm dazu nicht wie sonst den Dupatta, den sie um den Kopf trug, sondern das Kamiz, wohl hauptsächlich, um sich Kühlung zu verschaffen, ein bißchen Luft an ihre Haut zu lassen. Ein starker Geruchsschwall wurde dabei freigesetzt, so real und unausweichlich wie eine vom Feuer in der Chaunka112 heiß aufstiebende Funkenwolke. Prabhjot Kaur zuckte davon zusammen, versuchte jedoch stillzuhalten, die Schärfe auf der Haut zu spüren. Sie freute sich immer schon darauf, schämte sich aber gleichzeitig dafür und behielt diese Gefühle für sich. Es war ihr geheimstes Geheimnis, strenger gehütet als die Sache mit der Ein-Rupien-Münze, die sie unter dem Sofakissen im Wohnzimmer gefunden hatte. Sie gehörte Papa-ji, das wußte Prabhjot Kaur, aber am nächsten Tag wanderte die Münze in ihrem Federkasten mit in die Schule, und sie kaufte davon eine Woche lang Safran-Kulfis, nicht nur für sich, sondern auch für Manjeet und Asha, ihre besten Freundinnen. Sie erzählte niemandem von ihrem zaudernden Verlangen nach Ram Paris Geruch und dessen satter Schärfe, nicht einmal den beiden anderen aus dem Trio, das genau die gleichen ordentlich geflochtenen Zöpfe trug und seit der ersten Klasse nebeneinander in der zweiten Reihe saß.

An jenem Tag im April schaukelte das Trio in Daraq Alis Tanga618 dahin, Manjeet wie immer in der Mitte. Sie war die unumstrittene Anführerin, obwohl die beiden anderen bessere Noten und Väter mit besseren Berufen hatten. Manjeets Vater war nur Hotelmanager, aber sie hatte einen schlanken Körper und eine kraftvolle Persönlichkeit, eine Direktheit, die Prabhjot Kaur und Asha bewunderten, auch wenn gar nicht daran zu denken war, ihr darin nachzueifern. Sie waren es zufrieden, sich in ihrem etwas gefährlichen Schatten zu bewegen.

»Fahr schneller, Chacha«, sagte Manjeet zu Daraq Ali, den Arm über der Rücklehne. »Bitte, fahr schneller, sonst werden wir zu schwarzer Asche hier auf der Larkin Road. Wir verbrennen und verschwinden in einer stinkenden Rauchwolke. Schneller, schneller!«

Es war halb vier vorbei, und Prabhjot Kaur konnte sich nicht erinnern, daß es jemals so heiß gewesen war. Die Sonne brannte direkt auf sie herab, die Straße nahm kein Ende, und Daraq Ali war der älteste und langsamste Tanga-Fahrer der ganzen Stadt. Er holte die Mädchen morgens zu Hause ab, sein Pferd trabte, nein, trottete mit ihnen zur Schule, und um drei fuhr er sie in endlos schleppender, knarrender Fahrt wieder heim. Er warf seinen buschigen, hennagefärbten Bart über die verschwitzte Schulter zurück und sagte, was er immer sagte: »Sie hat den ganzen Tag in der Sonne geschuftet, Bibi. Sieh doch, wie müde sie ist. Ich sag ihr, sie soll schneller laufen, und sie wird's versuchen, aber das wird dir das Herz brechen.« Und dann zu der knochigen braunen Kruppe hin: »He, Shagufta, schneller, schneller! Schneller, Shagufta, sonst verwelken die großen Mems da hinten in der glühenden Sonne.«

»Deine Mähre ist ja älter als du selbst, Chacha«, sagte Manjeet. »Verkauf sie an den Schlachter, und besorg dir eine starke neue Stute.«

»Aber schau doch, wie sie sich anstrengt, schau, wie sie läuft. Wie kannst du so etwas sagen, Bibi? Du brichst ihr ja das Herz.«

Manjeet schnaubte und hielt sich ihre Schultasche als Sonnenschutz vors Gesicht. »Jetzt rasen wir ja richtig, das ist ja direkt lebensgefährlich. Ich hab solche Angst!«

Prabhjot Kaur kicherte, und plötzlich verlangte es sie nach einem großen Glas Wasser aus dem bauchigen Tongefäß, das Mata-ji den ganzen Tag feucht hielt. Sie stellte sich vor, wie das Wasser mit sattem, anschwellendem Gurgeln in ein Glas floß. Die schwarze Straße glitt unter ihren staubigen Schuhspitzen dahin, und Shaguftas trauriges Hufgeklapper pochte langsam in ihren Schläfen. Sie schloß die Augen, aber sie wußte, daß sie jetzt am Kalra Shoe Emporium mit dem spitz zulaufenden Ständer voller Damenschuhe vorbeifuhren, dann am Lal362 Madan Lal Halwai, wo es im hinteren Teil große Familiennischen gab und einen riesigen Spiegel, in den ein Mann mit Turban und eine Frau am Ufer eines Baches eingeätzt waren, dann kam Kiani Fine Furniture mit dem langen roten Sofa im Schaufenster und einem Schild mit der Aufschrift »Seit 50 Jahren zu Ihren Diensten« - nicht das Sofa, sondern der alte Mr. Kiani mit seinen drei Söhnen. Prabhjot Kaur wettete mit sich selbst und öffnete dann die Augen, und wirklich befanden sie sich nun direkt gegenüber der Tarapore Bakery, einem Kuchen- und Limonadenparadies, in dem sie nur ein einziges Mal in ihrem ganzen Leben gewesen war, an ihrem neunten Geburtstag. Sie erinnerte sich an das laute Plopp, mit dem der kugelförmige Glasstöpsel unter dem Druck von Papa-jis Hand in die Flasche mit der Erdbeerlimonade fiel. Prabhjot Kaurs Mundwinkel taten weh, schmerzten förmlich unter dem Ansturm der Erinnerung an den Strom der rosafarbenen Eruptionen in ihrem Mund, das Kribbeln an der Innenseite ihrer Lippen. Shagufta trottete unterdessen weiter, vorbei an der Tarapore Bakery, und in diesem Moment sah Prabhjot Kaur Ram Pari. Mit flatterndem Dupatta ging sie am Straßenrand entlang, die Arme gerade am Körper. Eine unerklärliche Scham erfaßte Prabhjot Kaur, und sie verkroch sich in sich selbst. Irgend etwas an Ram Paris Anblick auf dieser breiten Straße, neben den beiden weißgekleideten Damen mit ihren Hüten wie filigrane Gärten, ihren glänzenden weißen Riemchenschuhen und den erstaunlich hauchdünnen Kleidern aus den geheimnisvollen Regionen von Pereira's Ladies Wear, irgend etwas an Ram Paris breitbeinigem Gang bewirkte, daß Prabhjot Kaur sie in diesem Moment lieber nicht gekannt hätte. Sie wandte den Kopf ab, als wollte sie sich auf der anderen Straßenseite etwas ansehen, aber ihr Hals brannte, nicht von der Sonne, sondern, wie sie glaubte, von Ram Paris Blick. Sie konnte der Versuchung, schnell zu ihr zurückzuschauen, nicht widerstehen. Ram Paris Gesicht wirkte gespannt wie ein Laken, das sich im heißen Sommerwind bläht, und ihre harten Augen schienen nichts zu sehen, obwohl sie direkt auf Prabhjot Kaur gerichtet waren. Ihre zornig gekrümmten Schultern verblaßten nach und nach im gleißenden Licht der Larkin Road, während Shagufta sich langsam von ihr entfernte, und schließlich verlor Prabhjot Kaur sie aus den Augen. Dann bogen sie auch schon nach links in die Fulbag Gali und den Chaube Mohalla ein. Manjeet sprang vom Wagen, und ihre dicken Zöpfe hüpften und tanzten hinter ihr her.

Als Prabhjot Kaur nach Hause kam, saß ihr Vater mit seinem Freund Khudabaksh Shafi im Wohnzimmer. Khudabaksh Shafi trank Tee aus einer eigens für ihn reservierten Tasse. Für Prabhjot Kaur war es die Muslimtasse, und es gab jedesmal Ärger mit Mata-ji, wenn Papa-ji sie unter der Handpumpe im Hof eigenhändig abwusch. Mata-ji verzog dann immer das Gesicht, woraufhin Navneet-bhenji und Mani die Augen verdrehten und sagten, wie furchtbar dumm sie sei. Prabhjot Kaur mochte Khudabaksh Shafi, der einen breiten, geraden Schnurrbart hatte und nie ohne Geschenke kam. Diesmal hatte er einen Korb Litschis mitgebracht. »Speziell für dich, Beta«, sagte er lachend. »Iß sie nach dem Abendbrot, und laß sie dir nicht von den beiden Mustandas436 da draußen abluchsen.« Prabhjot Kaurs Brüder lümmelten in ihren weißen Kricketsachen im Hof und tranken aus riesigen Messingbechern Khari-Lassi. Iqbal-virji sprang auf, nahm seinen Schläger - den er jeden zweiten Tag mit einem Spezialöl behandelte - und zeigte Prabhjot Kaur, wie er in einem einzigen Over drei Sechser erzielt hatte, gegen diesen Shahidul Almansoor, der sich für den besten Bowler der Provinz hielt. Prabhjot Kaur wiegte sich auf Zehenspitzen vor und zurück und versuchte Interesse aufzubringen, doch sobald es ging, glitt sie seitwärts davon zum Zimmer ihrer Mutter und lehnte sich gegen die Tür, bis sich auf dem Boden ein Lichtdreieck öffnete. Sie schlüpfte hinein und setzte sich auf Papa-jis Seite ans Fußende des Bettes. Es war so hoch, daß sie beim Hinaufklettern beide Hände zu Hilfe nehmen mußte. Die Silhouette ihrer Mutter zeichnete sich im Dunkel ab. Ein Tischventilator wehte die Luft hin und her.

»Was ist?« fragte Mata-ji, ohne sich umzudrehen.

»Ist irgendwas mit Ram Pari?«

Mata-ji tat einen tiefen Atemzug. »Diese Leute!«

»Hat sie was getan, Mata-ji?«

»Nein, sie nicht. Ihr Mann.«

»Sie hat einen Mann?«

»Sie hat sogar neun Kinder, Beta. Er war anderthalb Jahre nicht mehr zu Hause, und sie war sich sicher, daß er irgendwo eine andere Frau hat. Aber gestern ist er zurückgekommen. Wie ein Laat-sahib hat er die Beine ausgestreckt und nach seinem Essen gerufen. Das ist mein Haus, hat er gesagt.«

»Ist es sein Haus?«

»Der hat in seinem ganzen Leben noch keine zehn Rupien verdient.«

Irgendwie klang es, als sei das Thema damit beendet. Mata-jis Schulter bewegte sich und kam dann zur Ruhe, ihr Atem veränderte seinen Rhythmus, und Prabhjot Kaur ließ sich mit glühenden Wangen langsam vom Bett herab. Ram Pari trottete noch immer irgendwo dahin, so gerade wie der Lauf des Schicksals, doch Prabhjot Kaur konnte nur an eines denken: Sie selbst hatte in ihrem ganzen Leben noch keine einzige Rupie verdient, aber sie hatte eine gestohlen. Sie stand im Schatten der gerillten Säulen am Rand des Innenhofes und betrachtete ihre Brüder, die roten Kricketballflecken auf ihren Hosen, ihre wohlige Erschöpfung, und sie fragte sich, ob das Haus ihr gehörte. Den ganzen Abend über glitt es weiter von ihr fort, dieses heimatliche Gefühl, das sie vom ersten Tag an empfunden hatte, als sie die hohen Balken und die halb mit Backsteinen ausgekleidete Baugrube gesehen hatte. Selbst als die Sonne an den Säulen aufwärts wanderte, als sie den Hof mit Wasser sprengte und ein frischer abendlicher Duft aufstieg, stellte es sich nicht wieder ein. Ihr Schlaf war leicht und unruhig, und in ihren Träumen wehte der Wind sie über die weißen Dächer der Stadt Sabhwal, in der sie zur Welt gekommen war.

Streitende Stimmen weckten sie. Mani meinte, Ram Pari müsse bleiben - »Sie kann doch sonst nirgendwohin!« und Prabhjot Kaur merkte, daß sie sich anstrengen mußte, um nicht laut zu werden.

»Das ist zwar alles sehr traurig«, sagte Mata-ji, »aber seit wann ist sie meine Tante, um die ich mich kümmern muß? Sie kann doch zu ihren Verwandten.«

»Sie hat hier niemanden, Mata-ji, das hab ich dir doch schon gesagt. Ihr Mann hat sie damals aus ihrem Dorf hierhergeholt. Soll sie denn mit ihren vielen Kindern auf der Straße schlafen?«

»Hab ich gesagt, daß sie irgendwas soll?« Mata-ji saß mit untergeschlagenen Beinen in der Nähe der Küche, auf dem Schoß eine große Schale mit einem Berg Weizen auf einer Seite. Die Körner rutschten unter ihren flinken Fingern unaufhörlich über das Metall auf die andere Seite, und auf dem Boden neben ihr häuften sich Hülsen, Halme und schwarze Steinchen. »Sie soll überhaupt nichts.«

Prabhjot Kaur lief durch den Hof und zum Tor hinaus. Ram Pari kauerte unter dem Torbogen auf einer zusammengerollten blauen Matratze, von einer Kinderschar umgeben. Ein Baby, nackt bis auf eine Schnur um den Bauch, krabbelte mit seinen dicken Beinchen über Knöchel und Schienbeine. Als es dem Kreis der Körper schon fast entkommen war, beugte sich ein Mädchen in Prabhjot Kaurs Alter vor, packte es am Arm und zog es zurück.

»Ram Pari«, sagte Prabhjot Kaur, »was ist passiert?«

»Was soll ich sagen, Nikki? Was soll ich sagen? Mein Mann - er ist zurückgekommen.« Sie breitete die Hände aus, eine Geste, die nicht nur ihre Kinder und Prabhjot Kaur, sondern die ganze Welt umfaßte.

»Aber er kann dich doch nicht einfach aus dem Haus jagen. Das ist nicht recht.« Ram Pari schwieg, und Prabhjot Kaur hatte das unbehagliche Gefühl, daß alle sie ansahen, selbst das Baby, all die glühenden schwarzen Augen, gänzlich ausdruckslos zwar, aber doch so, daß sie von einem Fuß auf den anderen trat und sich nach einem Fluchtweg umsah. Sie wich zurück, machte kehrt und lief ins Haus. Panik stieg in ihr auf, eine nagende Angst, die schwarz und purpurrot war und wie ein fauler Apfel schmeckte, in den sie einmal gebissen hatte, schwammig und braun unter der festen Schale. Sie warf sich an Mata-jis Schulter und vergrub das Gesicht in ihrem Haar. »Ach, Mata-ji, laß sie doch bleiben«, stieß sie hervor.

»Du auch?« Mata-ji verdrehte die Augen. »Heilige und Fürsorgerinnen sind meine Töchter neuerdings.«

Navneet-bhenji lachte. Sie saß an dem Tisch im Flur, vor sich eine kleine Tasse mit Öl, das sie sich mit langen Strichen ins Haar kämmte. Die schwarzen Strähnen hoben sich und fielen in Wellen wieder herab. Navneet-bhenjis herzförmiges Gesicht glühte im Morgenlicht, und ihre roten Lippen kräuselten sich - noch nie hatte Prabhjot Kaur sie so schön gesehen.

»Navneet-bhenji«, rief Prabhjot Kaur, den Tränen nahe, »sag Mata-ji, Ram Pari muß bleiben!«

»Es gibt nur Ärger, wenn man sich in die Streitereien von solchen Leuten einmischt«, sagte Mata-ji. »Wollt ihr etwa, daß dieser Mann in unserer Gasse auftaucht und bei uns ein und aus geht? Und dieser dreckige Bruder von ihr ...«

»Du kannst sie ja alle waschen, Mata-ji«, sagte Navneet-bhenji, »gleich dreimal.«

»Fang du nicht auch noch an, Navneet. Und ihr beide macht euch für die Schule fertig.«

Mit zitternden Fingern knöpfte Prabhjot Kaur ihre Uniform zu, und in der Schule konnte sie sich auf nichts konzentrieren, weil sie sich die ganze Zeit ausmalte, wie Ram Pari durch eine endlose dornige Einöde wanderte und ihre vor Durst wimmernden Kinder eines nach dem anderen niederfielen. Manjeet und Asha wunderten sich, wieviel Mühe es Prabhjot Kaur machte, im Unterricht mitzuschreiben. In der Pause erzählte sie ihnen von Ram Paris Notlage, aber sie reagierten ungerührt oder nur halb oder ein Viertel so gerührt wie Prabhjot Kaur. Wenn überhaupt. »Solche Leute streiten sich doch dauernd«, meinte Asha. Prabhjot Kaur hörte ihre Worte, sie sah den strengen Zug um ihren Mund und mußte plötzlich gegen die Tränen kämpfen. Manjeet zuckte nur die Schultern, und beide wandten sich wichtigeren Dingen zu, der Frage nämlich, ob Manjeets Vater dazu überredet werden könne, einen Wochenendausflug zu finanzieren. Sie steckten die Köpfe zusammen, Prabhjot Kaur sah ihre glänzenden Zöpfe und das reine Weiß ihrer Dupattas, und sie wollte sprechen, doch ihr Gefühl für Ram Pari gehörte in einen dämmrigen, versteckten Winkel tief in einer Höhle und ließ sich unmöglich ans grelle Sommerlicht zerren. Und so atmete sie nur tief ein und schwieg. Sie schwieg den ganzen Tag, schwieg auch in Daraq Alis Tanga, bis sie zu Hause war.

Ram Paris Kinder waren noch da, drängten sich noch immer in dem schmaler werdenden, über den Hof wandernden Schattenfleck. Ram Pari schrubbte im Haus den letzten Topf. Navneet-bhenji lag mit einem Buch auf dem Bauch dösend da und wedelte träge mit einem Fächer. Ohne die Augen zu öffnen, erzählte sie Prabhjot Kaur von den Kämpfen des Tages. Ram Pari sei unaufgefordert hereingekommen und habe wie immer den Hof gefegt. Dann habe sie vor Mata-jis Augen ihre gewohnten Arbeiten verrichtet, und die beiden hätten sich schweigend umeinander herum bewegt. Den ganzen Tag hätten sie kein Wort miteinander gewechselt. Auch jetzt, als Mata-ji auf dem Weg zu der Treppe, die aufs Dach führte, mit einem nassen Kleiderknäuel in der Hand schräg über die glühenden Ziegel herankam und dicht an Ram Pari vorbeiging, wandten beide den Blick ab, als erforderten Kleider und Töpfe ihre ungeteilte Aufmerksamkeit.

»Sie hat sie nicht angeschaut, stimmt's?« fragte Navneet-bhenji, die Augen noch immer geschlossen.

»Wer?«

»Mata-ji. Sie hat Ram Pari nicht angeschaut?«

»Nein.«

»So geht das schon den ganzen Tag. Puh, Nikki, das macht mich wahnsinnig. Dieses bedeutungsvolle Schweigen - jeder soll verstehen, was damit gemeint ist, und jeder soll tun, was sie will. Das kann sie wirklich gut. Jeder tut tatsächlich, was sie will.«

Da verstummte Prabhjot Kaur ebenfalls. Auch sie hatte schon kleine Stiche des Grolls gegen ihre Mutter verspürt, einmal, als sie nicht mit zum Schulpicknick durfte, oder als sie nur noch den Rest aus einer Schüssel mit süßem Reisbrei bekommen hatte, weniger als ihre Brüder. Solche Regungen verflüchtigten sich indes Tag für Tag in der Wärme, die ihre Mutter verströmte, in der alles umhüllenden mütterlichen Umarmung, die man spürte, sobald man durchs Tor trat, in den weiß gestrichenen Halbsteinen, mit denen sie den Weg eingefaßt hatte, im Spitzenbesatz der Tischdecken im Wohnzimmer. Doch als Prabhjot Kaur den seltsam blechernen, verächtlichen Unterton in Navneet-bhenjis Stimme hörte, wußte sie plötzlich, daß es zwischen Mutter und Tochter, zwischen Mata-ji und ihr, Prabhjot Kaur, eine Kluft gab, von der sie bisher nichts geahnt hatte. Ihr wurde ein wenig übel, und sie fühlte sich sehr allein.

Navneet-bhenji öffnete die Augen. Mit noch verschleiertem, fernem Blick sah sie Prabhjot Kaur gerade ins Gesicht. Dann zwinkerte sie zweimal. »Are, was schaust du so, Bachcha?« fragte sie. »Hab keine Angst. Sie kann einen zur Weißglut treiben, aber irgendwann gehst du auch fort von hier.«

Prabhjot Kaur mußte zweimal schlucken, ehe sie sprechen konnte. »Fort?«

»Ja.« Navneet-bhenji zog sie an sich, bettete sie in ihre Armbeuge und flüsterte ihr ins Haar: »Weißt du es nicht? Ein Mädchen wird in einem Haus geboren, aber zu Hause ist sie woanders. Dieses Haus hier gehört dir nicht. Dein Zuhause ist woanders.«

Damit reckte sie sich und stieß einen wohligen Seufzer aus, und Prabhjot Kaur spürte - vom Kopf bis in die Zehen - die Lebensfreude ihrer Schwester, spürte, wie gespannt sie auf die Zukunft war, wie froh darüber, wegzugehen, fort zu sein. Und doch empfand Prabhjot Kaur nichts als ein unerklärliches Gefühl des Verlustes, drohenden Unheils. Und das rauhe Schrubben des Topfes mit Asche vermischte sich mit dem Pulsschlag ihrer Schwester unter ihrem Ohr.

Sie zog sich Navneet-bhenjis Dupatta über den Kopf und versuchte zu schlafen. Als anderthalb Stunden später Mani nach Hause kam und ihre vollgepackte Schultasche auf den Boden warf, wußte Prabhjot Kaur, daß sie Ram Pari und ihre Kinder gesehen hatte, die noch immer am Tor lagerten. Mani war empört und kampfbereit, doch unter dem Blick, den Mata-ji ihr mit gerunzelter Stirn und hervortretenden Augen zuwarf, verlor selbst sie den Mut. Leise kam sie heran, setzte sich neben Prabhjot Kaur und pulte wütend an einem Zehennagel. »Wir müssen warten, bis Papa-ji kommt«, sagte sie.

Doch Papa-ji war nicht in der Stimmung für Streitereien. Er legte sich müde hin, ein Polster im Rücken, und fuhr sich mit den Fingern durch den Bart. Mani trug ihm ihr Anliegen vor, und sie machte es gut, in wenigen knappen, präzisen Sätzen, aber Papa-ji schien mit den Gedanken woanders. »Schwierige Sache«, sagte er und bedeckte seine Augen mit den Händen. Mani beugte sich vor, die Finger zu einer Art Netz verschlungen. »Schwierige Sache«, wiederholte er und stand dann auf. Er ging in sein Zimmer, und es war offensichtlich, daß er schon nicht mehr an Ram Pari und ihre Probleme dachte. Mani richtete sich auf und hob resigniert die Hände. Prabhjot Kaur trommelte mit den Fersen auf den Boden. Was tun, was tun? Die Stille hielt an, weitete sich aus. Zur Abendbrotzeit kam Ram Pari wieder ins Haus, um die dünnen Brotfladen zuzubereiten, und Prabhjot Kaur hörte nichts anderes mehr als das dumpfe Klatschen ihrer Hände auf dem Mehl. Selbst die Brüder aßen schweigend. Alle außer Navneet-bhenji schauten besorgt drein. Als der Tisch abgeräumt war, knabberte Mata-ji an einem Stückchen Gur, das sie mit zwei Fingern über der hohlen linken Hand hielt. Ram Pari kam herein und lehnte sich an die Wand, die Hand auf der Hüfte, die Füße gekreuzt. »Bibi-ji«, sagte sie, »ich gehe jetzt.«

»Dann geh«, sagte Mata-ji, und Prabhjot Kaur spürte, wie sich genau in der Mitte ihrer Brust etwas zusammenzog und wieder löste.

Als Ram Pari schon halb über den Hof war, rief Mata-ji: »Wo willst du hin?«

Prabhjot Kaur stand ganz still da, ihre Schultern schmale, dunkle Rechtecke vor der mondbeschienenen weißen Hauswand. Sie antwortete nicht.

Mata-ji betrachtete das winzige Stück Gur, das noch übrig war, als wollte sie es prüfen, seine Möglichkeiten abschätzen. »Also gut«, sagte sie. »Eine Nacht kannst du bleiben. Hinter dem Haus.«

»Ja, Bibi-ji.«

»Aber nur eine Nacht, hörst du?«

»Ja, Bibi-ji. Eine Nacht.«

Ram Pari eilte davon. Prabhjot Kaur wußte, daß sie schnell außer Hörweite wollte, ehe noch mehr gesagt werden konnte, ein Gedanke, den auch Prabhjot Kaur kaum ertrug. Sie fühlte sich plötzlich schlaff und müde, als hätte sie den ganzen Weg zur Schule und zurück einen schweren Sack auf dem Rücken getragen. Sie warf sich gegen Mata-jis Knie, stand aber gleich wieder auf und ging unaufgefordert zu Bett. Doch trotz ihrer weichen Knie und ihrer bleiernen Lider stieg sie in der Ecke des Zimmers, in dem sie und Mani schliefen, auf einen Hocker und reckte den Kopf schräg zum Fenster hinaus, um das geschäftige Gewimmel dunkler Gestalten hinter dem Haus sehen zu können. Aus zwei Fenstern fiel ein schwacher Lichtschein nach draußen, gerade so viel, daß sie beobachten konnte, wie Ram Pari und ihre Kinder sich häuslich einrichteten. Sie hatten Bündel bei sich - Prabhjot Kaur konnte sich nicht erinnern, sie im Laufe des langen Tages gesehen zu haben - und zogen nun Laken und Lappen, Stoffstreifen und -fetzen daraus hervor, die sie nahe am Haus in einem gezackten Kreis zu einer Wohnstatt auslegten. Prabhjot Kaur machte sich bewußt, daß schon eine bloße Hauswand Unterschlupf bieten konnte. Randvoll mit diesem neuen Wissen legte sie sich schlafen. Sie dachte an »Mein Haus«, an all die Bilder, die sie in ihrem langen Leben davon gemalt hatte. Jetzt wußte sie, daß diese schlichten Rechtecke in gewisser Weise eine Lüge gewesen waren, und irgendwie bereitete es ihr Genugtuung, zurückzublicken und sich vorzustellen, was für ein überaus dummes Kind sie gewesen war.

Als sie am nächsten Nachmittag aus der Schule kam, ging sie als erstes hinter das Haus. Zwei dicke Laken waren an die Hauswand genagelt und auf der anderen Seite mit Ziegelbrocken beschwert, so daß eine Art Halbzelt entstanden war, unter dem das Baby schlummerte. Die anderen Kinder waren über den ganzen Garten verstreut, der noch kein richtiger Garten war; zwei Bäume ragten verloren aus der staubigen Erde auf, und hinten erhob sich eine Mauer. Prabhjot Kaur trat nahe heran und spähte in die Öffnung des Zeltes. Zwei vorstehende Mauersteine waren zu einem kleinen Bord umfunktioniert worden, und darauf stand ein leuchtend buntes Bild, auf dem Sheran-walli-Ma588 in voller Pracht auf ihrem Tiger ritt. An einem Nagel hing ein Stoffsack mit Kleidern, zwei Jutesäcke an weiteren Nägeln enthielten Getreide. Ganz hinten im schattigsten Winkel des Zeltes schlief auf einem Haufen Säcke das Baby. Prabhjot Kaur erschauerte heftig angesichts dieser kleinen Welt unter den Laken, und ihre Begeisterung über all das Neue sandte eine Gänsehaut ihre Arme hinauf. Sie war voller Bewunderung. Wie geschickt hier aus so wenig so viel gemacht worden war! Wie tapfer das alles war! Sie betrachtete das Baby. Es hatte einen dünnen Armreif am rechten Handgelenk, eine schwarze Schnur mit einem Amulett daran um den linken Arm und einen Penis, der aussah wie ein kleiner Wasserhahn. Prabhjot Kaur widerstand dem Drang, das Kind aufzunehmen, und drehte sich um. Dicht hinter ihr stand, die Hände hinter dem Rücken, das älteste der Mädchen und beobachtete sie. Sie hatte einen sehr langen, schmutzigen, über die Schulter nach vorn hängenden Zopf, wache schwarze Augen und links einen vorstehenden Zahn. Prabhjot Kaur schätzte sie auf ungefähr vierzehn, kam sich aber sofort und ohne jeden Zweifel älter vor als sie. »Wie heißt du?« fragte sie.

»Nimmo«, sagte das Mädchen.

»Kannst du lesen, Nimmo?«

Nimmo schüttelte den Kopf. Nach einer halben Stunde konnte Prabhjot Kaur die Namen der Kinder auswendig - Nimmo, Natwar, Yashpal, Balraj, Ramshri, Meeta, Bimla, Nirmala und Gurnaam, in dieser Reihenfolge - und wußte, daß keines von ihnen lesen konnte, daß keines, auch keiner der Jungen, je ein Schulzimmer von innen gesehen hatte. Prabhjot Kaur war entsetzt: Sie hatte das Analphabetentum des Landes vor sich, in ihrem eigenen Garten. Insgeheim freute sie sich aber auch, denn hier zeichnete sich eine klare Richtung ab, eine wichtige Aufgabe. Sie wußte, was sie zu tun hatte. Die Frage war nur, wie lange sie bleiben konnten, ob Mata-ji an ihrer Eine-Nacht-Strategie festhalten und sie dann unbarmherzig in die weite Welt hinausschicken würde oder nicht. Im Haus schnitt Ram Pari Zwiebeln, an Mata-jis Händen klebte dicker Besan, und in der Pfanne brutzelten laut die Pakoras. Die beiden Frauen saßen einträchtig beieinander und klatschten über die Witwe vier Häuser weiter, deren Sohn auf die schiefe Bahn geraten und dem Alkohol verfallen war. Prabhjot Kaur ging den ganzen Abend voller Angst auf Zehenspitzen umher. Sie wagte nicht, Mata-ji auf die eine Nacht anzusprechen, wollte sie nicht daran erinnern und mußte doch die ganze Zeit daran denken. Als sie aber vor dem Schlafengehen den Kopf aus dem Fenster streckte, war die Familie noch da, eine kreisförmige Ansammlung im Dunkeln schimmernder Köpfe. Das alles war sehr verwirrend, fand Prabhjot Kaur, während sie auf den Schlaf wartete, den Kopf voller Pläne. Die Menschen vertraten Standpunkte, sie äußerten Meinungen, sie gaben wilde Laute von sich, Entscheidungen aber fielen oft, wenn alle schwiegen, und was nicht ausgesprochen wurde, war wichtiger als das Gesagte. Die Welt wurde mit jedem Tag komplizierter.

Am darauffolgenden Nachmittag, einem Freitag, setzte Prabhjot Kaur die Kinder in Dreierreihen hin, die kleinen vorn, die größeren hinten, und begann mit dem Punjabi-Alphabet. »Ooda, aida«, ließ sie sie im Chor aufsagen, und als Tafel diente ihr ein kaputtes Carrombrett. Sie schrieb die Buchstaben auf die verblaßten Linien des alten Spiels, akkurat wie immer, nicht nur auf Richtigkeit, sondern ebenso auf Schönheit bedacht. Schnell merkte sie, daß die Jüngeren leichter zu unterrichten waren. Meeta und Bimla fanden Gefallen an den Buchstaben, beugten sich, die Zunge zwischen die Lippen gerollt, tief über ihr Papier und malten unbeholfene, aber korrekte Formen. Nimmo dagegen trödelte herum, schaute in die Luft, legte sich auf die Seite, den Kopf auf dem Arm, und zeichnete Buchstaben, die eher zerschmetterten Drachen oder verfilztem Gras glichen als den elegant herabschwingenden, schwanengleichen Lettern, die Prabhjot Kaur haben wollte. Kaum hatte Nimmo den dritten Buchstaben gelernt, vergaß sie den ersten wieder, und als Prabhjot Kaur sie drängte, es noch einmal zu versuchen - »Ooda, aida, Nimmo, ooda, aida« -, bleckte sie ihren Zahn und verzog das Gesicht zu einem Grinsen von solch fröhlicher Dummheit, daß Prabhjot Kaur die Geduld verlor und wünschte, sie besäße die Autorität, ihr eine scharfe kleine Ohrfeige zu versetzen, ähnlich denen, die ihre Zeichenlehrerin so blitzschnell austeilte, daß man vor Schreck erstarrte. Doch Nimmo war und blieb dumm, so zäh und hartnäckig wie alte Wagenschmiere. Und Natwar verschwand ganz. Als Prabhjot Kaur sich an diesem ersten Freitag von der Carromtafel wieder ihren Schülern zuwandte, fehlte einer von ihnen in der mittleren Reihe hinten. Sie stampfte mit dem Fuß auf und lief zur Hausecke, aber er war schon aus dem Tor gerannt und reagierte nicht auf ihr Rufen. Er nahm nie wieder an den Stunden teil, tauchte jedoch immer genau dann auf, wenn sie zu Ende waren.

»Mach dir nichts draus«, sagte Ram Pari. »Das ist so einer wie sein Vater. Die anderen kriegen durch dich was in den Kopf.« Sie erschien täglich zwischen dem Nachmittagsabwasch und dem Tee, lehnte sich an die Hauswand und schaute zu, wie ihre Kinder gedrillt wurden. Prabhjot Kaur beobachtete sie, und nach einer Woche kam sie zu dem Schluß, daß Ram Pari auch nicht annähernd dankbar genug war. Denn Ram Pari sparte zwar nicht mit Ermahnungen - »Lernt was, ihr Ganwars!« -, schien das Ganze aber für eine Art Spiel zu halten, und wenn sie bei einer Arbeit, die Mata-ji ihr aufgetragen hatte, Hilfe brauchte, holte sie alle außer dem Baby weg, als sei das Aufhängen und Ausklopfen von Teppichen ungleich wichtiger als die Dreierreihe. Prabhjot Kaurs Brüder heuchelten tiefe Bewunderung, doch als sie anfingen, sie »Adhyaapika009-ji« zu nennen, merkte sie, daß sie sich über sie lustig machten, und zeigte ihnen die kalte Schulter. Navneet-bhenji war zu sehr in ihren Träumereien gefangen, um auf Prabhjot Kaurs Unterricht zu achten, und Mani hatte keine Zeit, sich damit zu befassen, weil sie sich auf ihre Prüfungen vorbereiten mußte. Nur Papa-ji begriff, wie wichtig die Sache war. Bis Prabhjot Kaur mit ihrer Klasse oder zumindest einem Teil davon bei der Neunerreihe angelangt war, trank er seinen Abendtee regelmäßig auf einem Stuhl, der schräg zu ihrem Klassenzimmer stand, so daß er den ganzen Garten vor sich hatte, in dem bald noch mehr Bäume wachsen würden.

»Das ist eine gute Sache, was du da machst, Beta«, sagte er eines Tages zu ihr. Sie lehnte an seinem Arm und schaute zu, wie er den Tee vorsichtig aus der Tasse in die Untertasse goß, mit sparsamen Bewegungen, wie bei allem, was er tat, ohne auch nur einen Tropfen zu vergeuden. Sein Schnurrbart und sein Kinnbart waren silberweiß, seine Wangen aber von flaumweichem Schwarz bedeckt, und Prabhjot Kaur fand es schön, wie das Weiß im Bogen in das Schwarz überging. Er neigte die Untertasse und trank, ohne seinen Schnurrbart zu benetzen. Papa-ji arbeitete bei einer britischen Firma für medizinischen Bedarf, und Prabhjot Kaur kannte die englische Bezeichnung für seinen Posten dort: Assistant Regional Manager - »Stellvertretender Bezirksleiter« -, sie wußte, daß er sich vom Vertreter hochgearbeitet hatte, doch was ein Bezirksleiter genau war, blieb ihr verborgen. Sie wußte außerdem, daß sie in dem tief verschlafenen Dorf Khenchi Land besaßen, das jährlich elf Quintal505 guten Weizen pro Acre008 lieferte, und daß ihnen diese großväterliche Gabe eine große Hilfe war. Seit sie zurückdenken konnte, war sie jeden Winter in Khenchi gewesen, in dem einsamen, baufälligen gelben Haus inmitten grüner Felder. Sie wußte, daß der Umzug aus dem gelben Haus in das jetzige ein Fortschritt war und daß dies alles durch Bildung möglich geworden war, weil Papa-ji als erster Junge im Dorf ein College besucht hatte.

»Noch ein halbes Jahr, und ich hab sie alle auf dem Stand der ersten Klasse«, sagte sie. »Und in einem Jahr auf dem Stand der zweiten.«

Da sah er sie unter weißen Brauen hervor an. »In einem Jahr?«

»Ja.«

Er stellte seine Tasse auf die Untertasse zurück, obwohl sie noch zu einem Drittel voll war, und reichte sie Prabhjot Kaur. Dann wanderte er um den Garten herum, wieder und wieder, und streifte dabei mit dem Ärmel die Mauer. Als Mata-ji Prabhjot Kaur ins Haus rief, war er noch immer draußen und drehte mit gesenktem Kopf langsam seine Runden.

Warum waren die Erwachsenen traurig? Prabhjot Kaur konnte kaum je einen Grund dafür erkennen. Zwischen Mata-ji und gewissen Tanten, Cousinen und Nachbarinnen gab es alte Fehden, und manchmal murrte Mata-ji deswegen und redete von früh bis spät von einem lange zurückliegenden Verrat oder einer Beleidigung, an anderen Tagen aber war sie blaß und wurde ohne erkennbaren Grund von Seufzern und einer unbestimmten Traurigkeit heimgesucht. Selbst Navneet-bhenji hatte Tage, an denen eine vage Melancholie sie verstummen ließ, auch noch nachdem ihre Verlobung und die Briefe ihres Verlobten sie sinnlich und schön gemacht hatten. Deshalb gab Prabhjot Kaur nicht viel auf Papa-jis Stimmung. Am nächsten Morgen schien er wieder munter wie immer. Hinter dem Haus waren Arbeiter, und im Weggehen erfuhr Prabhjot Kaur, daß über den Fensterläden Gitter angebracht werden sollten. Als sie zurückkam, saßen dicke, kantige Eisenstangen senkrecht vor den Fenstern. »Sie werden noch grün gestrichen«, sagte Papa-ji, »wie die Läden.« Doch nun ging Prabhjot Kaurs Fenster nicht mehr ganz auf, und Ram Paris Familie war ihrem Blick entzogen. Sie redete mit Papa-ji, wies auf die untaugliche Konstruktion hin, aber zu ihrer Verwunderung sagte er nur: »Das ist nicht mehr zu ändern, Beta. Das Fenster geht auf, wenn auch nicht ganz.« Und das sagte derselbe Mann, der vier Wagenladungen Ziegel hatte zurückgehen lassen, weil es nicht genau die waren, die er bestellt hatte. Am nächsten Morgen wollte Prabhjot Kaur mit Manjeet und Asha über die Sache reden, doch als sie in den Tanga stieg, schwang sich Iqbal-virji neben Daraq Ali auf den Vordersitz, seinen Kricketschläger zwischen den Knien, die großen Fäuste um den Griff geschlossen. Den ganzen Weg zur Schule redete er kein Wort. Die drei Mädchen saßen mit halb abgewandtem Kopf hinten, und niemand im Tanga sprach. Erst nachdem sie das Schultor passiert hatten, forderte Manjeet die anderen mit einer knappen Kopfbewegung zu einer geheimen Besprechung auf, und sie steckten in einem Winkel die Köpfe zusammen, so daß sie sich fast berührten. »In Minapur sind letzte Nacht drei Morde passiert«, flüsterte Manjeet. »Drei Hindus sind umgebracht worden.« Sie zitterte, ihr Ellbogen zuckte an Prabhjot Kaurs Arm. »Eins war ein Mädchen.«

Prabhjot Kaur konnte sich den ganzen Tag nicht konzentrieren. Sie schrieb nichts in ihre Hefte, und in der Pause standen die Mädchen der ganzen Schule in Grüppchen beisammen und fingen kein einziges Kidi-kada343 an. Als es zum Schulschluß klingelte und alle ans Tor liefen, sah Prabhjot Kaur Iqbal-virji neben dem Tanga stehen. Unendlich erleichtert rannte sie zu ihm und blieb erst dicht vor ihm stehen, den Tränen nahe. Er legte ihr die Hand auf den Kopf und führte sie um den Wagen herum zu ihrem Sitz. Auch auf der Rückfahrt herrschte Schweigen, schwer und unbehaglich wie eine dicke Wolldecke im Sommer. Daraq Ali richtete kein einziges Mal das Wort an Shagufta, und das ängstigte Prabhjot Kaur mehr als alles andere. Die Straßen waren nicht so voll wie sonst, die Leute redeten nicht miteinander, niemand stand plaudernd an den Straßenecken oder vor den Läden. Als der Tanga endlich um die Ecke bog und Prabhjot Kaur das vertraute Rechteck des Tors sah, durchströmte sie ein warmes, jubelndes Gefühl der Geborgenheit, wie ein Honigbad, weich und zärtlich auf ihrer Haut. Sie lief ins Haus, umarmte Navneet-bhenji, setzte sich dicht neben sie und trank ohne das übliche Protestquieken einen riesigen Becher Milch, stürzte ihn in tiefen Zügen bis auf den letzten Tropfen hinunter. Erst dann merkte sie, daß Iqbal-virji mit dem Tanga weitergefahren war, um Asha nach Hause zu bringen. In dieser Nacht war sie froh über die eisernen Gitterstäbe, die zumindest die Bedrohung fernhielten, auch wenn die Angst deshalb nicht wich. Und sie war froh, nicht im Freien schlafen zu müssen.

Sie wachte davon auf, daß ihr Gesicht im vollen Licht lag. Im Hof draußen war es hell; es mußte schon spät am Morgen sein, sehr spät. Sie schaute auf die Uhr auf dem Kaminsims, und ihr Herz begann zu hämmern. In knapp zehn Minuten würde es in der Schule zur Morgenversammlung läuten. Sie sprang aus dem Bett und lief hinaus. »Warum hast du mich nicht geweckt, Mata-ji?« rief sie atemlos. »Es ist schon so spät!«

Mata-ji streckte ihr die Hand entgegen. »Schon gut, Beta«, sagte sie sanft. »Heute ist keine Schule. Und auch kein College. Alles ist geschlossen.«

»Wieso?«

»Es gibt Unruhen in der Stadt. Geh dir das Gesicht waschen, und komm dann frühstücken.« Sie berührte Prabhjot Kaurs Hand, hielt einen Moment ihr Handgelenk. »Geh.«

Es war der ruhigste schulfreie Tag, den Prabhjot Kaur je erlebt hatte. Sie blieb in ihrem Zimmer, ordnete ihre Bücher und räumte ihre Schultasche aus, doch um elf hielt sie es nicht mehr aus. Sie schlich auf Zehenspitzen durchs Haus, schlüpfte zur Tür hinaus und stellte sich ans Tor. Nichts rührte sich in den Straßen, als hätten die Leute sich abgesprochen und alle gleichzeitig die Stadt verlassen. Aber Prabhjot Kaur wußte, daß sie da waren. Sie ging ums Haus herum, und da kauerte Ram Pari mit ihrer Brut. Selbst Nat-war war da, der doch sonst immer auf schmutzigen nackten Füßen durch die Gassen hüpfte und ein geheimnisvolles Eigenleben führte, von dem Prabhjot Kaur keinerlei Vorstellung hatte.

»Geh rein, Nikki«, sagte Ram Pari. »Das ist nichts für dich hier draußen. Du bleibst besser im Haus.«

»Warum?«

»Es passieren schlimme Dinge, Nikki.« Ram Pari hielt den Blick auf die hintere Gartenmauer gerichtet, und Prabhjot Kaur blickte in die schmutzige Gasse dahinter, eben noch ein nichtssagendes, von hin und her wehenden Papierschnipseln bedecktes Band aus eingetrocknetem Matsch, das sich jetzt, sogar im hellen Tageslicht, dunkel und bedrohlich hinstreckte. Prabhjot Kaur betrachtete prüfend die Mauerkrone und fragte sich, ob sie hoch genug sei. Sie hätte die Höhe der Mauer und damit den Schutz, den sie bot, gern nachgeprüft, aber der Garten erschien ihr wie eine unbekannte Wildnis, und sie wagte nicht, ihren Fuß von den Ziegeln herab auf die Erde zu setzen. Sie nickte, ging wieder ins Haus und ließ sich im Schneidersitz auf ihrem Bett nieder. Dann wartete sie, ohne zu wissen, worauf.

Auch das Mittagessen verlief in gedrückter Stimmung, alle redeten leise, und Navneet-bhenji sagte gar nichts. Papa-ji und die Brüder saßen in einem kleinen Kreis beisammen und unterhielten sich mit gesenkten Köpfen. Nach dem Essen setzte sich Prabhjot Kaur wieder auf ihr Bett, dann lehnte sie sich zurück und trommelte mit den Fersen auf die Decke. »Hör auf!« platzte Mani heraus. »Du machst mich wahnsinnig!« Und Wahnsinn war es auch, was sich an diesem Nachmittag wie eine langsame Ameisenprozession Prabhjot Kaurs Bein hinaufschlich und hinter ihren Schulterblättern staute. Als schließlich die Kette am Tor rasselte und das metallische Geräusch durchs Haus und in Prabhjot Kaurs Kopf hinein hallte, wurde sie von heftiger Angst gepackt, empfand aber zugleich Erleichterung. Sie sprang vom Bett und lief hinaus. An der Tür hielt sie sich mit einer Hand fest, schwang sich vor und sah Iqbal-virji, Alok-virji und Papa-ji durchs Tor hinausgehen. Sie rannte nach vorn. Papa-ji stand nun mit gerecktem Hals auf der anderen Seite der Gasse, und man hörte hastiges Fußgetrappel und Stimmengewirr. Ein schnelles Schnaufen neben ihr ließ sie herumfahren: Es war Natwar. Sie lehnten sich nebeneinander ans Tor. Natwars Augen waren kohlschwarz. Er schlüpfte an ihr vorbei auf die Gasse hinaus. Ohne auch nur einen Augenblick zu zögern, lief sie ihm nach, und im nächsten Moment befand sie sich inmitten einer Schar rennender Männer. Sie behielt Natwar im Auge und folgte ihm, als er sich im Zickzack zwischen ihnen durchschlängelte. Plötzlich kam die Menge zum Stehen. Ohne sich zu Prabhjot Kaur umzudrehen, streckte Natwar ihr die Hand hin und zog sie weiter durch das dichte Gedränge. Sie stieß mit dem Kopf an Hüften und Hinterteile, sie stolperte nach vorn und schlug mit der Nase auf Natwars Schulter auf. Die Straße vor ihnen war frei. Ein ramponierter Tanga stand dort, und ein Pferd lag auf dem Boden, verheddert in Geschirr und Riemen, den Hals vorgereckt, als versuchte es verzweifelt, sich weiter vorwärts zu schieben. Es war Shagufta. Prabhjot Kaur erkannte sie sofort. Shagufta bleckte vor Anstrengung die riesigen Zähne. Ihre Vorderbeine waren angewinkelt, die Hinterbeine gestreckt, und dazwischen quollen dicke blaue Schlingen aus ihrem Bauch hervor. Prabhjot Kaur konnte geradewegs in Shagufta hineinschauen, in eine Höhle von der Farbe einer überreifen Winterpflaume. Die Eingeweide, so schien es Prabhjot Kaur, drängten noch immer in fettigen Wogen aus dem Pferdeleib. Die Straße unter dem Tanga war schwarz und naß. Hinter dem Wagen hatte sich eine Menschenmenge versammelt, Muslime, das wußte sie irgendwie, nicht nur der Kleidung wegen, vorne erkannte sie Daraq Ali. Er schrie etwas, und Prabhjot Kaur sah seine Zähne. Die Münder all der Männer standen offen, und darin schimmerten weiß die Zähne. Die Menge bewegte sich ruckweise vorwärts und wich dann wieder zurück. Irgend jemand schob Prabhjot Kaur von hinten weiter, sie blickte in Shaguftas weit aufgerissene, feuchte Augen. Shagufta schien noch zu leben, doch als Prabhjot Kaur zu ihr wollte, wurde sie am Arm hoch-und herumgerissen, so daß sie vor Schmerz aufschrie. Es war Papa-ji. Er rannte mit ihr durch die Menge zurück und hielt sie dabei fest an seiner Seite. Er lief und lief. Die ganze Gasse entlang spürte sie seinen Griff an ihrem Arm. Im Hof, wieder zu Hause, packte er sie an den Schultern und schüttelte sie, so heftig, daß auch sein eigener Kopf hin und her schlenkerte, das Gesicht wutverzerrt und verschwitzt. Prabhjot Kaur sah es nur verschwommen. »Warum bist du rausgelaufen?« rief er und gab ihr einen Klaps. »Warum bist du rausgelaufen? Warum?« Ein zweiter Klaps folgte.

»Laß sie«, sagte Navneet-bhenji. Sie führte Prabhjot Kaur in ihr Zimmer, setzte sich zu ihr und bettete den Kopf der kleinen Schwester in ihren Schoß. Sie strich ihr über Gesicht und Schultern, und Prabhjot Kaur spürte Navneets flatterndes Herz. Mani saß mit hochgezogenen Knien an der Wand. Mata-ji kam herein, schloß schnell die Tür und legte die Kette vor. Sie zog sich den Dupatta über den Kopf und setzte sich ebenfalls aufs Bett. Von fern hörte man anhaltendes wirres Geschrei, wie das stetige Knistern eines schwachen Feuers. »Vaheguru, Vaheguru«, sagte Mata-ji. So saßen sie zusammen, bis es dunkel wurde. Dann war es still.

Nach dieser Nacht ging keine der Frauen mehr aus dem Haus. Prabhjot Kaur blieb die meiste Zeit im Bett. Sie stand nur zum Essen auf, und wenn Mata-ji sie rief, schlich sie sich so schnell wie möglich wieder fort. Papa-ji kam herein, ließ sich mit einem Kissen auf dem Schoß und gekreuzten Beinen nieder und neckte sie, brachte sie zum Lachen und kitzelte sie an den Fußsohlen, und sie begriff, daß er sich damit für seine Panik entschuldigte. An seiner Hand wagte sie sich in den Hof hinaus, bekam im Freien aber wieder Angst, ein Gefühl, als blähe sich eine harte Blase in ihrer Brust zur Größe einer Zwiebel auf und nehme ihr den Atem. Schnell lief sie in ihr Zimmer zurück. Mit den weißen Wänden und den Gitterstäben vor Augen fühlte sie sich besser. Manchmal schaute sie aus dem Fenster und sah Ram Pari, Natwar und all die anderen zusammengedrängt dort unten sitzen, doch sie vermied es, den Blick zum Garten und dem, was dahinter lag, zu heben. Nur in ihrem Zimmer, auf dem Bett, fühlte sie sich geborgen.

Draußen wurden Männer und Frauen getötet, Tag für Tag, Nacht für Nacht. Prabhjot Kaur wußte, wie es sich nannte: Khun339. Sie behielt das Wort auf der Zunge, und es fühlte sich an wie ein viereckiger Apparat aus Stahl mit einem klaffenden Loch in der Mitte, von zähen Flüssigkeiten triefend und mit blitzend scharfen Kanten. Manjeet hatte ihr diesen Gegenstand, diese Todesmaschine, einmal in einem Schulbuch der Abschlußklasse gezeigt, und nun hatte sie das Bild wieder vor Augen. Khun. Papa-ji und die Brüder brachten die Namen der vielen ins Haus, die bereits gestorben waren. Ein Sardar namens Jasjit Singh Ahluwalia, an der Ecke Pakmara Street und Campbell Road, nahe der Tarapore Bakery, von Männern mit Schwertern aufgehängt und zerstückelt. Ramesh Kripalani, sechzehn, mit kunstgerecht durchgeschnittener Kehle aufgefunden, den Kopf im Rinnstein, so daß nicht ein einziger Blutstropfen die Ali Jafar Road besudelte. »Ein Fleischer aus Karsanganj soll es gewesen sein«, sagte Alok-virji. »Hat ihn abgefangen, als er von seinem Chacha nach Hause ging.« Khun. Und es gab andere, viele andere. Mata-ji und ihre Töchter lauschten der immer länger werdenden Liste. Am Tag als die Abschlußprüfungen beginnen sollten, wurde Ram Paris Mann getötet, mit zwei weiteren Plünderern um sechs Uhr früh in der Larkin Road von der Polizei erschossen. Prabhjot Kaur erfuhr es am nächsten Tag, erst schien es nur ein Gerücht, dann war es Gewißheit. Ein Wehklagen erhob sich hinter dem Haus, ein wirrer, an-und abschwellender Chor, dem man nirgends entgehen konnte, und zum ersten Mal hörte Prabhjot Kaur den Namen des Mannes: Kuldish. Den ganzen Tag trauerten sie um Kuldish, den bösen Ehemann, der nie gekommen war, um Ram Pari zu bedrohen. Ihr Wimmern ging Prabhjot Kaur unter die Haut, ließ sie erschauern.

Am Abend forderte Mata-ji die Brüder auf, zu Hause zu bleiben, nicht hinauszugehen, doch Iqbal-virji lachte, und sein Lachen fiel in den Raum wie schepperndes Metall. Sie gingen dennoch. Bevor Alok-virji die Tür schloß, drehte er sich noch einmal um und sah Prabhjot Kaur an, sah sie alle an, seine Schwestern und seine Mutter, zornig und fast verächtlich. Mata-ji schimpfte auf die Muslime. »Man kann mit diesen Leuten einfach nicht leben«, sagte sie. »Zu einem friedlichen Zusammenleben sind die nicht fähig.« Ihr Gesicht war stark gerötet und verquollen. »Diese dreckigen Lügner.« Prabhjot Kaur zählte im Kopf die Muslime auf, die sie kannte: Da war natürlich Daraq Ali, dann Papa-jis Freund Khudabaksh Shafi, der immer einen Korb Erdbeeren, Apfel oder Mangos mitbrachte, mit seinen Söhnen, Töchtern und Enkelkindern; Parveena und Shaukat Shah, die Inhaber des Excellent Store, in dem Prabhjot Kaur und ihre Geschwister ihre sämtlichen Schuluniformen und Schuhe gekauft hatten; die Muslim-Mädchen in der Schule, vor allem die rundgesichtige Nikhat Azmi, mit der das Trio bei Manjeet immer spielte. Die Liste wurde länger und länger, und es schien Prabhjot Kaur, als käme immer noch jemand dazu, immer noch ein Gesicht, an das sie sich erinnerte, bis sie spätabends einschlief. Mata-ji aber schimpfte. Und Pritam Singh Hansra, der sich seit anderthalb Monaten in Amritsar aufhielt, schrieb Briefe an Papa-ji. Er schrieb nicht mehr an Navneet-bhenji, er schrieb an Papa-ji und bat ihn inständig, nach Amritsar zu kommen, mit der ganzen Familie, vor allem aber mit Navneet-bhenji. »Ihr wißt selbst, was los ist«, schrieb er. »Und es kann nur noch schlimmer werden.«

Doch Papa-ji war wie gelähmt. Morgens las er kopfschüttelnd die Zeitungsberichte von Feuer, Mord und Überfällen auf Züge voller Flüchtlinge, und nachmittags verstummte er ganz. Er saß in einem Lehnstuhl im Hof und rührte sich nicht mehr, als läge er in Ketten. Er zog sich auch nicht mehr um, sondern saß den ganzen Tag in Banian und Pajamas da, einen Patka484 auf dem offenen Haar, die nackten Füße auf dem Ziegelboden. Prabhjot Kaur wußte, daß er auf etwas wartete, und sie sah, daß ihn alle Energie verlassen hatte, daß seine Willenskraft abgeflossen war wie Wasser aus einem Eimer. Sie dachte daran, wie er damals, als die Baugrube für das Haus ausgehoben wurde, von einem Ende der Grube zum anderen gesprungen war, wie er, unbekümmert um den Schmutz, in die Erde gegriffen und Hände voll davon zu ihr hinaufgereicht hatte, damit sie die Feuchtigkeit prüfte, wie er sich dann mit weit ausholenden Bewegungen die Hände abgeklopft hatte, so laut klatschend, daß sie zusammengefahren war. Jetzt war er erstarrt, selbst seine Lider gingen nur noch langsam und traurig auf und ab. Irgendwann, dachte sie, komme ich in den Hof, und dann hat auch das aufgehört, dann regt sich gar nichts mehr an ihm. Sie versuchte, nicht daran zu denken, doch der Gedanke schlich sich immer wieder ein, hartnäckig wie eine Fliege, schwoll immer mehr an, bis sie sich mit den Fäusten gegen die Stirn schlug. Ich werde noch verrückt, dachte sie. Ganz bestimmt.

Schließlich ergriff Mata-ji die Initiative. Der Sommer war vorbei, und alle ihre Bekannten waren fort, auch Manjeet und Asha mit ihren Familien. Eines Abends rüttelte ein Polizist am Tor, ein Paschtune. Als Iqbal-virji es bei fest geschlossener Kette einen Spaltbreit öffnete, warf der Polizist einen Brief hinein, der Alok-virji vor die Füße fiel. »In einer halben Stunde komme ich wieder und hole die Antwort«, flüsterte der Polizist und ging davon. In dem Umschlag steckte ein Brief ohne Unterschrift.

»Sardar-saab«, stand darin, »ich unterschreibe diesen Brief nicht, für den Fall, daß er in falsche Hände gerät. Aber Sie wissen, wer ich bin. Ich bin Ihr Freund, der Ihnen Früchte aus den Bergen bringt. Nun hören Sie mich als Ihren Freund an. Sie müssen fort. Man redet über Sie, und heute oder morgen wird Ihr Haus angegriffen. Verstehen Sie mich richtig: speziell Ihr Haus. Man kennt Ihre Söhne, man redet über das, was sie getan haben, und Sie sind in Gefahr, in höchster Gefahr. Sie müssen fort. Ich bereite alles vor. Wir kennen uns seit dreißig Jahren, ich war in Ihrem Haus zu Gast und Sie in meinem. Sie müssen fort, mein Freund. Ich kümmere mich um Ihr Haus.«

Papa-jis Gesicht blieb reglos wie ein Tonklumpen, als Iqbal-virji den Brief vorlas. Mata-ji nahm ihrem Sohn den Brief aus der Hand, zog sich ihren Dupatta über den Kopf und verhüllte damit ihr Gesicht. Sie wartete am Tor, und als das leise, dumpfe Klopfen ertönte, näherte sie ihren Mund dem Holz. »Sagen Sie ihm, wir gehen«, sagte sie.

»Halten Sie sich morgen abend um neun bereit«, sagte der Polizist. »Sie werden mit einem Tempo abgeholt. Für tausend Rupien pro Person. Nicht mehr und nicht weniger. Klar?«

»Ja«, sagte Mata-ji. »Klar.«

Sie packten die ganze Nacht und den ganzen Tag. Prabhjot Kaur staunte, wie viele Dinge ein Haus beherbergen konnte. Papiere, Kleider, Bücher, silberne Gefäße, Fotos, Stühle, noch mehr Kleider, Matratzen, teure Kämme, Schuhe - jeder besaß eine Menge Gegenstände, die mit festen Knoten vielfädiger Zeit an ihm befestigt waren, jeder hatte seine eigene schwere Fracht, die er nicht zurücklassen konnte. Prabhjot Kaur betrachtete die vielen Puppen, mit denen sie nicht mehr spielte, abgewetzte Köpfe, die sie jahrelang nicht mehr gestreichelt hatte, doch dann versuchte sie, alle in eine Papiertüte zu stopfen, füllte die Tüte mit diesen Gefährten längst vergangener Tage, bis das Papier riß. Gegen Abend standen Hof und Wohnzimmer voll mit schwankenden Bündeln aus Bettlaken, zentnerschweren Koffern und eisernen Truhen, die man nur zu viert anheben konnte. Prabhjot Kaur überlegte gerade, welche Bücher sie mitnehmen sollte, als Mata-ji hereingestürzt kam. »Hier, zieh das an.« Es war ein blaues Salvar-kamiz aus dicker Baumwolle mit einem Muster aus rechtwinkligen Linien. Prabhjot Kaur hatte vor drei Monaten beschlossen, daß es sich nur noch für zu Hause eignete. Doch Mata-ji sagte ungeduldig: »Nimm schon«, und Prabhjot Kaur nahm es. Sie wunderte sich über sein Gewicht, aber Mata-ji war schon wieder aus der Tür. Das Schwere war die Salvar, und als Prabhjot Kaur sie umdrehte, sah sie, daß direkt unter der Kordel, der Nada, kleine Stoffpäckchen innen an den Bund genäht waren. Sie enthielten Metall, diese kleinen Geheimtaschen, Gold, Prabhjot Kaur spürte die glatte Oberfläche von Halsketten und Armbändern. Sie zog sich um, und als sie in den Hof kam, sah sie, daß auch Mata-ji und ihre Schwestern weite, grobe Sachen anhatten, bereit für eine seltsame Reise. Alle bewegten sich unbeholfen unter der Last. Prabhjot Kaur hörte es klirren, als Mani an ihr vorbeiging, aber sie konnte nicht lachen über Manis Versuche, die Füße von der Ferse zu den Zehen abzurollen, um geräuschlos zu gehen. Niemand sprach. Die Sonne war untergegangen, und Prabhjot Kaur setzte sich auf eine Truhe, vor ihren Augen verschmolzen die Umrisse ihres Zuhauses mit der Dämmerung. Iqbal-virji kam und wusch sich unter der Pumpe die dreckverschmierten Arme und Hände. Das Wasser klatschte so laut auf die Ziegel, daß Prabhjot Kaur zusammenzuckte, dann trat wieder Stille ein.

»Bibi-ji.« Es war Ram Pari. Sie flüsterte. Mata-ji antwortete nicht. Ram Pari trat in den Hof und kauerte sich neben Mata-ji. »Was sollen wir tun?« fragte sie. »Was sollen wir tun?«

»Hier ist Geld für euch«, sagte Mata-ji.

Prabhjot Kaur war froh, daß die Dunkelheit ihr Gesicht verbarg. Sie hielt sich die Hände vor den Mund. Seit Tagen, vielleicht sogar seit Wochen hatte sie nicht mehr an die Familie gedacht, die direkt unter ihrem Fenster lagerte, weder an Ram Pari noch an Natwar oder Nimmo - an niemanden. Sie waren ihre Schüler gewesen, und sie hatte sie völlig vergessen. Sie hatte sich in ihrem Bett verkrochen und sie aufgegeben.

»Wo sollen wir hin, Bibi-ji? Und wie?«

»Ich weiß es nicht, Ram Pari. Komm, nimm das.« Prabhjot Kaur sah die Umrisse von Mata-jis ausgestrecktem Arm. »Nimm.«

Der Anblick der beiden Silhouetten schnürte Prabhjot Kaur die Luft ab, schnitt ihr ins Herz, und in dem scharfen Schmerz wußte sie plötzlich, daß die Welt nie wieder dieselbe sein würde. Sie wollte etwas sagen, aber es gab nichts zu sagen.

»Ihr werdet uns verlassen, Bibi-ji«, sagte Ram Pari. »Wir werden sterben.«

»Vaheguru wird für uns alle sorgen.« Mata-ji streckte die Hand weiter vor und schüttelte sie nachdrücklich. Ram Pari sank noch mehr in sich zusammen. Prabhjot Kaur glaubte schon, sie würden ewig dort unter dem riesigen stillen Himmel sitzen, doch dann kam Alok-virji aus seinem Zimmer und stand in seiner vollen Größe vor ihnen.

»Nimm es«, sagte er, nahm Mata-ji das Geld aus der Hand, zog Ram Pari an der Schulter hoch und ging mit ihr an Prabhjot Kaur vorbei. »Übermorgen startet hier eine Karawane, Tausende von Leuten, zu Fuß. Mit ihnen kannst du gehen.« Prabhjot Kaur glitt von ihrer Truhe und folgte Alok-virji, und obwohl sie es nicht sehen konnte, wußte sie, daß er Ram Pari das Geld in die Hand drückte. »Wir können nichts mehr für euch tun. Geh.« Er schob sie zur Tür hinaus, drehte sich um und kehrte zu seinen Vorbereitungen zurück. Ram Pari blieb in dem Durchgang zum Hof dicht an der Wand stehen. Prabhjot Kaur trat einen Schritt vor und legte ihr die Hände an die Seiten, umklammerte sie, lehnte sich an sie und spürte den Stoff an ihrem Gesicht, atmete die lebendige Ausdünstung dieser Frau ein, verschwitzt, scharf und bitter. Schließlich löste Ram Pari ihre Hände und ging davon, ein Schatten an der Wand. Prabhjot Kaur schaute ihr nach.

Der Tempo kam eine Stunde zu spät, und es war nicht der erwartete Lastwagen, sondern ein quietschendes, knarrendes schwarzes Auto. Den Fahrer, einen kleinen, kahlköpfigen Mann, begleitete der Polizist vom Tag zuvor. »Schnell«, sagte er, »schnell, schnell!« Iqbal-virji und Alok-virji beluden den Notsitz und zurrten die Fracht fest. Zwei Truhen und mehrere Bündel kamen aufs Dach, der Rest wurde auf dem Wagenboden verteilt. Dann war das Auto voll.

»Kommt«, sagte Iqbal-virji. Als sie am Wohnzimmer vorbeilief, sah Prabhjot Kaur die Gestalten, die sich an der Hausecke drängten. Ihre Gesichter konnte sie nicht erkennen, aber sie wußte, daß es Ram Pari, Nimmo, Natwar und die anderen waren. Auf dem Weg zum Tor stolperte sie immer wieder über Pakete, die zurückgelassen werden mußten. Der Motor tuckerte bereits. Papa-ji setzte sich rechts auf den Rücksitz, neben ihm Mata-ji, dann Navneet-bhenji, Mani und Iqbal-virji. Prabhjot Kaur kam vorn zwischen Alok-virji und den kahlköpfigen Fahrer. Der Polizist klopfte auf die Motorhaube.

»Los«, sagte er. »Schnell.«

Als sie anfuhren, kniete sich Prabhjot Kaur auf den Sitz und schaute zurück, sah aber nur den Polizisten, der aufrecht am Tor stand, und Mata-ji, Navneet-bhenji und Mani, die sich auf dem Rücksitz zusammenrollten wie Kinder, wenn sie sich auf einer langen Fahrt zum Schlafen einrichten. »Runter!« rief Alok-virji, faßte Prabhjot Kaur am Nacken und drückte sie nach unten. Seine Stimme zitterte, und Prabhjot Kaur bekam große Angst. Ihr Gesicht lag an seiner Seite und der Rücklehne, doch aus ihren weit aufgerissenen Augen konnte sie am Ellbogen des Fahrers vorbei durch das Lenkrad und die Windschutzscheibe spähen. Sie sah die Umrisse von Wohnhäusern und Läden, das Weiß der Schilder und das tiefere Schwarz, wenn sich eine Seitenstraße auftat. Sie bogen ab und bogen noch einmal ab, der Motor ächzte und stotterte, und Prabhjot Kaur hatte keine Ahnung mehr, wo sie waren. Plötzlich knallte etwas mehrmals in den Himmel hinauf, den Prabhjot Kaur durch die schmutzige Scheibe sah, peng-peng-peng, als ließe ein Kind Luftballons platzen, und dann noch einmal, sehr schnell hintereinander. Es war ein fröhliches Geräusch, aber der Wagen kam ruckend und schleudernd zum Stehen, Prabhjot Kaur rutschte nach vorn. Und dann fuhren sie rückwärts, immer weiter rückwärts, so schnell, daß Prabhjot Kaur ihre Hände in Alok-virjis Hemd krampfte und zu weinen anfing. Sie hörte Männerstimmen, Rufe und deren Widerhall. Und Iqbal-virji: »Fahr hier links und dann in die Ravo Road.« Jetzt ging es wieder vorwärts, sie bogen nach rechts ab, und Prabhjot Kaur wurde von neuem herumgeworfen. An dem Vibrieren in ihrem Körper merkte sie, wie schnell sie fuhren. Orangefarbenes Licht fiel gleißend in den Wagen, und sie sah die silberne Rupie am Zündschlüssel baumeln, sah das Gesicht des Königs und Kaisers in allen Einzelheiten. Fauchend schössen die Flammen in den Himmel, füllten einen Moment lang die Windschutzscheibe und das Seitenfenster, und Prabhjot Kaur schloß die Augen. Wieder eine Kurve, irgendwo splitterte Glas, dann ein Knall, so laut, so nahe und so häßlich, daß Prabhjot Kaur sofort wußte: ein Schuß. Der Wagen schleuderte heftig, ein Schrei füllte Prabhjot Kaurs Kopf, sie flog nach vorn und prallte mit der Stirn auf Metall, und dann war nur noch ein blecherner Widerhall in ihrem Kopf. Sie lag auf der Seite und hörte Stimmengewirr und, nicht weit entfernt, ein anhaltendes Schreien, und sie wußte nicht, wo sie war, bis der dunkle Balken über ihr sich drehte und zurückwich und zu einer Speiche des Lenkrades wurde. Dann wieder der scharfe Knall, direkt über ihrem Kopf, und diesmal sah sie einen Blitz und warf sich tiefer in das Dunkel unter dem Lenkrad. Gleich darauf noch ein Schuß. Sie schloß die Augen.

Sie hörte Mata-ji weinen, heisere, gurgelnde Laute, sonst war es ganz still. Ihr Magen krampfte sich zusammen, ihre Knie zitterten, und sie kämpfte dagegen an, aus Angst, das Zittern könnte sie verraten. Sie legte die rechte Hand auf ihren rechten Oberschenkel und drückte ihn mit aller Kraft nach unten. Metall schrammte, und sie wußte, es war die Wagentür, sie konnte nirgendwohin und wollte schreien, doch sie spannte die Muskeln an, um das Schreien zu unterdrücken. »Nikki, Nikki!« Es war Iqbal-virji. Behutsam zog er an ihr, sie löste sich aus ihrer Verkrampfung und hielt sich weinend an seinen Armen fest. Er hob sie aus dem Auto, sie schlang Arme und Beine um ihn. »Ist ja gut«, sagte er. Aber Mata-ji saß auf der Straße, und Mani versuchte sie zu trösten, Papa-ji lehnte mit hängendem Kopf hinten am Wagen, die Hände auf den Knien, und aus seinem Mund hing ein Speichelfaden. Alok-virji stand ein Stück entfernt und spähte um eine Hausecke. Dicht hinter ihm lag eine Gestalt auf der Erde, wie ein Kleiderbündel, das sich geöffnet und seinen Inhalt verstreut hat. Es war ein Mann. Da war der Kopf, da eine Hand. Es war der Fahrer.

Alok-virji drehte sich um. »Wir müssen hier weg.«

»Ich kann nicht Auto fahren«, sagte Iqbal-virji leise.

Fassungslos sahen sie sich an, als hätten sie vergessen, diese Fähigkeit, die nun plötzlich ihre geheime Bedeutung offenbarte, in ihr sportliches Repertoire aufzunehmen.

In diesem Moment hörte Mata-ji auf zu weinen und sagte: »Tötet sie.«

Sie hatte so anhaltend und so laut geweint, daß Prabhjot Kaur die plötzliche Stille nach all dem Tumult um so deutlicher wahrnahm. Sie tat gut. Aber wen meinte Mata-ji? Sie sah erst ihren Mann an, dann den einen Sohn, dann den anderen.

»Tötet sie«, sagte sie. »Bevor sie sie auch noch holen.«

Prabhjot Kaur schaute zum Auto, dann auf die Straße. Navneet-bhenji war weg. Prabhjot Kaur hatte es bis jetzt nicht bemerkt, aber nun wurde es zur unausweichlichen Gewißheit. Sie hatten Navneet-bhenji geholt.

Alok-virji kam auf Mata-ji zu, und Prabhjot Kaur sah, daß er in einer Hand eine Pistole und in der anderen etwas Langes, Gebogenes hielt. Sein Hemd war vorne links zerfetzt und gab seine eingefallene Brust frei. An seinem Hals floß dunkles Blut herab. Und von Iqbal-virjis Hand, nicht weit von Prabhjot Kaurs Gesicht entfernt, hing ein Kirpan344 herab, nein, ein Schwert.

»Tötet sie«, wiederholte Mata-ji. Manis Gesicht war im Dunkeln nicht auszumachen. Prabhjot Kaur sah nur ihre unverkennbaren schmalen Schultern und ihre Arme, die Mata-ji hielten. Prabhjot Kaur trat von Iqbal-virji zurück, hob den Kopf und bemerkte, daß sein Pagdi465 weg war und seine Haare sich in die Stirn rollten. Sein Mund zitterte. Er sah sie an und rang um Fassung, biß sich auf die Unterlippe, um das Zittern zu stoppen. Ihre Angst fühlte sich plötzlich anders an, wie ein endloser Sturz aus großer Höhe, aber selbst in diesem Moment noch spürte sie, wie peinlich ihrem Bruder sein Zustand war. Sie sah wieder zu Boden und wartete. Sie wartete auf den Tod, auf einen von ihrer Mutter befohlenen Khun.

»Ich fahre«, ließ sich Papa-ji vernehmen. »Ich kann Auto fahren.«

Natürlich, dachte Prabhjot Kaur, er war ja früher Vertreter. Der Wagen sprang schon beim ersten Versuch an, aber sie mußten ihn erst ein Stück zurückschieben, weg von dem Rinnstein, in dem das rechte Vorderrad festsaß. Prabhjot Kaur drehte sich auf der dunklen Straße, drehte und drehte sich, sie konnte nicht stillstehen und schaute in alle Richtungen, voll Angst vor dem, was hinter ihr war. Dann saßen alle wieder im Auto, und diesmal machte sich Prabhjot Kaur vor dem Vordersitz so klein wie nur irgend möglich. Sie stieß die Füße in das Bündel vor ihr, und als es ein wenig nachgab, zwängte sie Beine und Hüften in die Mulde. Sie wünschte, sie hätte unter das Bündel kriechen können. Sie wünschte, es hätte unter dem Sitz einen Hohlraum gegeben, in den sie hätte hineinschlüpfen können. Sie wünschte sich ein dunkles kleines Loch, in das nichts und niemand hinein konnte, das sie vor Mata-jis grauenvollem, krächzendem Schluchzen schützte, ihrem »Vaheguru, Vaheguru«, ihrem Japji sahib285, das durch das Scheppern des Wagens und ihr eigenes lautes Atmen drang. Verzweifelt hielt sie sich Ohren zu.

Sie sah nichts. Sie hielt die Augen geschlossen. Doch nun veränderte sich das Geräusch der Straße, und sie wußte, daß sie die Stadt hinter sich gelassen hatten. Bei Tagesanbruch tauchten an einem Brunnen vor ihnen zwei Lastwagen mit Soldaten auf. Alok-virji bekam Angst, aber Papa-ji sagte, sie hätten keine Wahl. Langsam fuhren sie auf die Soldaten zu, und unmittelbar bevor sie hielten, öffnete Prabhjot Kaur die Augen. Der Himmel war von einem unbestimmten Grau, einem Farbton zwischen Schwarz und Weiß. Noch nie war sie die ganze Nacht wach gewesen.

»Das sind Muslime«, hörte sie Mata-ji sagen. So war es, und sie wurden von einem Major namens Sajid Farooq befehligt. Prabhjot Kaur las den Namen auf seiner Brusttasche, als sie zitternd auf dem Charpai eines Dorfbewohners saß. An diesem Morgen nahm Sajid Farooq ihr Auto zwischen die beiden Laster, und bis zum Nachmittag hatte sich eine Karawane aus einunddreißig Fahrzeugen gebildet. Am nächsten Morgen sah Prabhjot Kaur einen Strich, einen Bach, einen Strom von Menschen, der bis zum Horizont reichte. Männer, Frauen und Kinder wanderten schweigend in dieselbe Richtung wie Sajid Farooqs Lastwagen und all die Autos. Sie trotteten langsam dahin, und die Lastwagen und Autos überholten jeden einzelnen von ihnen mühelos, brauchten aber drei Stunden, bis sie an allen vorbei waren. Am Abend trafen sie auf andere Soldaten in den gleichen Uniformen, mit den gleichen Lastern, doch diesmal waren es Hindus, die einen Konvoi Muslime eskortierten. Alok-virji meinte, sie seien aus Madras. Zum ersten Mal seit zwei Tagen hörte Prabhjot Kaur ihn wieder sprechen. Seine Augen waren gerötet, und von Zeit zu Zeit liefen ihm Tränen übers Gesicht, die er nicht zu bemerken schien. Sajid Farooq übernahm den Konvoi der Autos und Lastwagen, die mit den Madrasis gekommen waren, postierte seine Soldaten vor und hinter ihnen und fuhr davon. Prabhjot Kaur sah die Muslime vorbeifahren, in Richtung Pakistan. Die Madrasis ihrerseits brachten die Sikhs und Hindus nach Indien. Die Fahrt verlief ruhig, und nach zwei Tagen waren sie in Amritsar.

Sie lebten dort in einer Stadt aus dreitausend Zelten. Die Einwohner Amritsars brachten den Flüchtlingen Kleider und Lebensmittel, und ein Politiker schritt über die Trampelpfade zwischen den Zeltwänden. Als Prabhjot Kaur die Fotografen im Kielwasser dieses Vertreters der Kongreßpartei entdeckte, versteckte sie sich im Zelt. Sie empfand Scham, ein Brennen und Kribbeln an Armen und Schultern. Und Scham erkannte sie auch in Papa-jis Gesicht, als er einen halben Sack Weizen von einem Bania056 entgegennahm, der eine Wagenladung Nahrungsmittel aus der Stadt brachte. Sie spürte Scham in Mata-jis geduckter Haltung, in ihrem halb verhüllten Gesicht und in Manis langen Schlafphasen, in der Entschlossenheit, mit der ihre Schwester sich hinlegte und wegdrehte, auch wenn die Sonne auf die Zeltwand brannte und der Boden sich anfühlte, als würde er von unten beheizt. Scham schnürte auch Alok-virji die Kehle zu. Jedes Wort kostete ihn Anstrengung und kam nur langsam und gepreßt heraus. Die Scham umgab sie alle wie ein Geruch nach ungewaschenen Menschen. Am unerträglichsten war sie bei Mata-ji, Prabhjot Kaur konnte ihre Mutter nicht anschauen. Sie blickte nach oben oder zur Seite, sie musterte ihre Hände oder schloß ein Auge, wenn sie an Mata-ji vorbeiging, um sie nicht sehen zu müssen.

»Es war eine Falle«, sagte Alok-virji. »Das war dieser Khudabaksh Shafi. Er hat das alles geplant.«

Prabhjot Kaur stand draußen vor dem Zelt und hielt ein Bündel feuchter Wäsche hoch über ihren Kopf.

»Du meinst das mit dem Haus? Er wollte das Haus und hat uns Angst eingejagt, um uns zu vertreiben?« Es war Iqbal-virjis Stimme.

»Ja«, antwortete Alok-virji. »Das Haus und alles andere.«

Das Blut schoß Prabhjot Kaur in den Kopf. Dieses »alles andere« war etwas, worüber sie nie redeten. Nichts wurde ausgesprochen, mit keinem Wort. Ein Name war aus der Welt verschwunden und hatte ein ganzes Leben mitgenommen.

»Das kann ich nicht glauben«, sagte Iqbal-virji. »Nein, unmöglich.«

»Glaub es nur«, sagte Alok-virji. »Sie haben das Haus genommen, sie haben unser Land genommen, und das war ihnen immer noch nicht genug. Es war alles geplant. Der Fahrer hat uns direkt in einen Hinterhalt gefahren. Sie haben schon auf uns gewartet, und es waren so viele, daß sie sich nehmen konnten, was sie wollten. Sie hatten nur nicht damit gerechnet, daß wir bewaffnet waren. Uns alle konnten sie nicht töten, und so haben sie sich geholt, was sie holen konnten, und sind geflüchtet. So war das. Hätte ich nur mehr getan. Hätten wir statt drei Häusern nur tausend niedergebrannt! Und ein Lakh von denen umgebracht.«

»Sei still, Alok.«

»Warum? Warum soll ich still sein? Ich werde es laut hinausschreien! Bhenchods und Maderchods sind diese Muslime. Wenn ihre Frauen vor mir stehen würden, ich würde sie alle aufhängen und sie wie Ziegen aufschlitzen. Mit meinen eigenen Händen würde ich ihnen die Eingeweide herausreißen. Mit Freuden! Bhenchods! Maderchods!«

Prabhjot Kaur lief weg. Sie warf die Kleider hin und lief weg. Die Worte ihrer Mutter verfolgten sie: »Tötet sie.« Sie stolperte über Zeltschnüre und schürfte sich an dem schwarzen Kies die Hände auf, sie lief an Kindern vorbei, die ein Holzstück zwischen sich hin und her kickten, an Frauen, die in den Zelteingängen hockten und zerrissene Hemden flickten, an brodelnden Töpfen auf behelfsmäßigen Chulas129 aus sechs Backsteinen, rannte an allem vorbei, bis sie am Rand der Zeltstadt anlangte, allen bewohnten Raum hinter sich ließ. Vor ihr verlief ein brauner Pfad, jenseits davon lag ein kahler, steiniger Maidan, dann kamen endlose grüne Felder. Sie blieb stehen und hielt sich die Seiten, beugte sich vor, so daß der Schweiß von ihrer Stirn tropfte und dunkle Flecke auf die Erde malte. Dann richtete sie sich wieder auf. Sie wollte fort. Irgendwohin, weit weg von allem, meilenweit weg von ihrer Familie, von allen, die sie kannte. Weißt du es nicht? Ein Mädchen wird in einem Haus geboren, aber zu Hause ist sie woanders. Dieses Haus hier gehört dir nicht. Dein Zuhause ist woanders. Könnte ich doch einfach immer weitergehen, dachte sie. Aber sie kannte die Geographie zu gut, entsann sich zu genau, was sie zusammen mit den Freundinnen in der Schule gelernt, was sie in ihrer schönen Schrift in die braun eingebundenen Hefte geschrieben hatte. Und jetzt wußte sie noch mehr. Es gab Berge auf der einen Seite, Meere auf der anderen, man konnte nirgendwohin, und überall war Angst. Man würde durch die Angst hindurchmüssen, um schließlich doch nirgendwo anzukommen. Es war still auf dem Maidan, und die Felder warteten schweigend. Prabhjot Kaur stand allein am Rand der Flüchtlingsstadt. Schließlich machte sie kehrt und ging zurück zu ihrem Vater und ihrer Mutter, ihren Brüdern und ihrer Schwester.

Endlich erreichten sie Delhi. Mata-ji holte etwas von dem Schmuck, den sie bei sich trug, unter ihren Kleidern hervor, und diesmal fuhren sie mit dem Zug. Die Brüder brachten den Rest der Familie zu Gunjan Singh Parvana, der zwar kein Verwandter, aber der Sohn eines Mannes aus dem Dorf Khenchi war. Es gab da eine alte Geschichte - Papa-jis Vater hatte Gunjan Singh Parvanas Vater, einen Polizisten, vor fristloser Entlassung und Arbeitslosigkeit bewahrt -, und nun nahm er sie bei sich auf. Sie bekamen zwei winzige Zimmer mit einer Veranda an der Rückseite des Hauses. Die Brüder fuhren an die neue Grenze und weiter in ein fremdes Land. Sie wollten nicht weg, doch Mata-ji sagte nun zum ersten Mal: »Geht, sucht meine Tochter.« Prabhjot Kaur hörte es, während sie sich schlafend stellte. Zwischen den älteren Familienmitgliedern fanden jetzt häufig Diskussionen statt, von denen sie und Mani ausgeschlossen blieben. Mani schlief wirklich und wimmerte sogar leise im Schlaf, Prabhjot Kaur aber hielt sich Abend für Abend wach. Sie wollte wissen, sie mußte wissen. Wach zu bleiben wurde immer leichter. Es gab Techniken, die verhinderten, daß man in sich selbst hineinglitt, ohne es zu merken, daß man wie eine Feder in den luftleeren Raum des Schlafes sank: Man mußte auf Details achten, den Geist in ständiger Bewegung halten, man mußte lauschen. Und Prabhjot Kaur hörte Mata-jis Stimme, leise, belegt, beschwörend: »Geht, sucht meine Tochter.« Was sonst gemurmelt wurde, floß ineinander, war kaum zu verstehen, doch diesen Befehl vernahm Prabhjot Kaur: »Geht, sucht meine Tochter.« Er duldete keinen Widerspruch. Und sie gingen. Prabhjot Kaur begriff nicht, weshalb sie sich sträubten. Natürlich müssen sie gehen, dachte sie, warum wollen sie nicht? Und dann spürte sie einen Schmerz im Bauch, eine Faust, die sich aufwärts schob und sich um ihr Herz schloß, so daß sie glaubte laut aufschreien zu müssen. Doch sie blieb still und wach, Nacht für Nacht, und wartete.

Anderthalb Monate später kamen sie zurück. Vierzig Tage und vierzig Nächte später, um genau zu sein, denn Prabhjot Kaur zählte die Tage. Sie fuhr aus dem Schlaf hoch - es kam ihr vor, als hätte sie erst wenige Minuten geschlafen - und wußte, daß sie wieder da waren. Die Tür zu Mata-jis Zimmer war geschlossen, und sie sprachen sehr leise, aber Prabhjot Kaur hörte sie, und sie war sich sicher. Sie stand auf, stellte sich eine Weile an die Tür, lehnte die Stirn an das rauhe graue Holz, und die Stimmen drangen in ihren Kopf. Alle Hoffnung erlosch. Nacht für Nacht hatte sie sich den glücklichen Moment vorgestellt, das so vertraute Geräusch der über den Boden schleifenden Salvar-Knöpfe, hatte sich vorgestellt, wie sie sich an Navneet-bhenji klammern, ihren Kopf in weicher, tröstlicher Geborgenheit vergraben würde, wie das geliebte Blut in den Armen, die sie hielten, singen würde. Nun wußte sie, daß es nicht geschehen würde. Sie wandte sich ab und trat auf die Veranda hinaus. Ein Drahtzaun, dahinter eine Reihe Gulmohar-Bäume und in der Ferne eine Bergkette, das war alles, was sie von Delhi kannte. Eine Frau hockte am Zaun, und Prabhjot Kaur wußte sofort, wer es war: Ram Pari. Sie erkannte sie an ihrem mühelosen Kauern, dieser Stellung, in der sie stundenlang verharren konnte.

»Ist das Ram Pari?« Mani war auf die Veranda gekommen und rannte an den Zaun. Als sie sich zu Ram Pari hinabbeugte, sah Prabhjot Kaur Ram Paris emporgewandtes Gesicht. Das Gesicht einer alten Frau, deren Haut schlaff von den Wangenknochen hing. Um die Schultern trug sie einen Dupatta, einen roten, an den sich Prabhjot Kaur gut erinnerte. Jetzt war er zerrissen und zu Rostbraun verblaßt. »Wo kommst du her?« fragte Mani sie.

»Iqbal-virji - ich hab ihn am Busbahnhof gesehen.« Es war wie ein Schock, Ram Paris rauhe Stimme und den vertrauten ländlichen Singsang zu hören. »Wir sind über die Grenze gekommen. Zu Fuß.«

»Und ... Und wo sind die anderen?«

Prabhjot Kaur wollte Mani etwas zurufen. Die Frage schien ihr unerträglich, und sie wollte die Antwort weder hören noch darauf warten. Doch sie blieb stumm und konnte sich nicht rühren.

Ram Pari schüttelte den Kopf. Ganz langsam schüttelte sie den Kopf. Hin und her, hin und her.

Die Tür knarrte, und Papa-ji ging an Prabhjot Kaur vorbei, gefolgt von den Brüdern. Die drei Männer blieben auf der Veranda stehen, unschlüssig, was sie tun oder wohin sie sich wenden sollten. Manis Hand lag auf Ram Paris Schulter. Prabhjot Kaur nahm all ihre Willenskraft zusammen, drehte sich um und ging ins Haus zurück. In dem stickigen kleinen Zimmer rechts weinte ihre Mutter. Sie saß neben einem Charpai auf dem Boden, schluchzend, Arme und Kopf auf der Bettdecke. Es war ein leises, kindliches Schluchzen, nicht zornig, nicht empört, nur fassungslos. Prabhjot Kaur ging hinein und blieb neben ihr stehen. Sie spürte die leichte Erschütterung des Holzbettes an den Knien, und in ihrem Innern stieg Wut auf, ließ sie hart werden wie Stein und zugleich überfließen von hilflosem Mitleid. Graue Strähnen durchzogen das Haar ihrer Mutter, es war spröde und häßlich, am Hinterkopf eine fast kahle Stelle, die Haut darunter jung und glatt wie die eines Babys. Prabhjot Kaur schloß einen Moment die Augen, dann legte sie ihrer Mutter die Hand auf den Kopf. Mata-jis Körper krümmte sich und bewegte sich auf Prabhjot Kaur zu wie ein Tier, das sich blind anschmiegt, sie schlang die Arme um sie, und Prabhjot Kaur suchte Halt, tätschelte ihr sanft Schultern und Nacken und versuchte die Frau in ihrem Kummer zu trösten.