Die Toten begraben

Um sieben wachte Sartaj auf. Ma saß schon am Eßtisch und las, mit einer dicken Bifokalbrille auf der Nase, die Zeitung, gewaschen und frisiert und in einem frischen weißen Salvarkamiz. Noch nie war es ihm gelungen, vor ihr aufzuwachen, und manchmal fragte er sich, ob sie überhaupt je schlief.

»Setz dich«, sagte sie. Sie brachte ihm einen Teller und eine Tasse. Er schaute in die Zeitung: Der grenzüberschreitende Friedensprozeß kam in Gang, aber in Rajouri waren zweiundzwanzig Männer von Kashmiri-Kämpfern getötet worden, möglicherweise auch von ausländischen Söldnern. Die Kämpfer hatten auf einer Durchgangsstraße einen Linienbus gestoppt, die Hindu-Männer unter den Insassen in einer Reihe antreten lassen und mit AK-47-Gewehren auf sie geschossen. Einer hatte, unter den Leichen begraben, mit einer Kugel in der Leistengegend überlebt. Ein Foto zeigte die achtlos aufgereihten Leichen. Omelettduft stieg Sartaj in die Nase. Warum reihen wir sie immer auf? dachte er. Warum legen wir sie nicht im Kreis hin? Oder V-förmig? Wo immer es viele Opfer gab, wurden sie aufgereiht, als würde das Chaos, das entstand, wenn Metall lebendiges Fleisch zerriß, dadurch eingedämmt und unter Kontrolle gebracht. Sartaj hatte selbst schon schlaffe Körper über den Boden geschleift und in geordneten Reihen niedergelegt und sich dann besser gefühlt.

»Diese Muslime werden uns nie in Ruhe lassen«, sagte Ma und stellte ein Omelett vor ihn hin. Es war so, wie er es mochte, locker und mit viel Chili, aber ohne Zwiebeln.

»Das ist ein Krieg, Ma«, sagte Sartaj. »Es ist doch nicht so, daß alle Muslime Ungeheuer wären.«

»Das hab ich auch nicht gesagt. Aber das verstehst du nicht.« Sie hatte ihre Brille abgenommen und rieb sie mit ihrem Dupatta blank. Sie sah zu ihm auf, und ihr Gesicht war vollkommen ausdruckslos, verschlossen wie ein Fenster mit Stahlrollo. »Du kennst diese Leute nicht. Die sind anders als wir. Wir selbst werden sie auch nie in Ruhe lassen.«

Sartaj wandte sich wieder seinem Omelett zu. Es war zwecklos, mit ihr zu diskutieren. Sie hatte ihre festen Meinungen, und am Ende würde sie kategorisch simple, aus ihrer Sicht unbestreitbare Behauptungen aufstellen und an ihnen festhalten wie an einem Anker. Jeder Versuch einer solchen Diskussion war ärgerlich und würde nur ihren Blutdruck in die Höhe treiben. Sartaj blätterte um und las einen langen Artikel über einen Paanvaala und seinen mächtigen Schnauzbart.

Später, in der Stille unter den vielen Menschen im Gurudwara252, beobachtete er seine Mutter. Sie hatte die Arme um die hochgezogenen Knie geschlungen, eine Haltung, die ihm immer sehr mädchenhaft erschienen war. Als sich der Chor der Stimmen in einem Kirtan345 erhob, hing sie ihren Erinnerungen nach. Er kannte diesen ins Leere gerichteten, weichen Blick unter halbgeschlossenen Lidern, diesen Rückzug nach innen. Sie war sehr klein, sehr zerbrechlich, und als er ihre schmalen Handgelenke betrachtete, überkam ihn Furcht, und wieder dachte er, daß er sie zu sich nehmen sollte. Wie lange haben wir sie, unsere Eltern, dachte er. Wie lange? Doch sie war äußerst stur und klammerte sich an ihr Haus wie ein Soldat an den Krieg. Ich bin hier zu Hause, hatte sie gesagt, als sie das letzte Mal darüber gesprochen hatten. Ich werde dieses Haus nur auf eine Weise verlassen, dann, wenn es soweit ist. Und ihm war plötzlich bewußt geworden, wie allein man auf dieser unendlich weiten Welt sein konnte, wenn die Zeit einem Vater und Mutter nahm. Sag doch nicht so was, hatte er hervorgestoßen.

Tarai gun maya mohi aayi kahan baydan kaahii,622 sangen die Menschen. Wir sind Wanderer auf dieser Reise, dachte Sartaj, und wir fallen einer nach dem anderen nieder. Neben Ma saß mit wiegendem Oberkörper ihr älterer Bruder Iqbal-mama. Er war ein tief religiöser Mann, einer der Gurudwara-Ältesten, ständig mit guten Werken und wohltätigen Belangen beschäftigt. Sartaj mochte ihn, fand seine permanente Frömmigkeit jedoch erdrückend. Es hatte noch einen anderen Mama gegeben, den die Kinder alle viel mehr geliebt hatten. Sartaj dachte voll Ehrfurcht daran, wieviel dieser riesenhafte Sardar gegessen hatte, Brathuhn zum Frühstück, mittags ein fettes Lammcurry und danach frische Jalebis. Das Abendessen war stets ein von Scotch begleiteter heroischer Kampf gewesen, bei dem Alok-mamas Gesicht knallrot anlief. Die Kinder, all die Cousins und Cousinen, scherzten, es gebe in Alok-mamas Innerem eine Falltür zu einer riesigen Höhle, in der all das Essen verschwinde, ein einziger Mensch könne unmöglich so viel vertilgen. Er keuchte, wenn er von einem Zimmer ins andere ging. Seine Frau hatte ihn eines Morgens tot im Badezimmer gefunden, das Gesicht unter dem laufenden Wasserhahn. Sartaj war damals vierzehn gewesen.

Mani war im Gegensatz zu Iqbal-mama alles andere als fromm. Es hatte laute Streitereien gegeben, wenn sie sich sarkastisch über Iqbal-mamas ewige Beterei äußerte. Ma hatte Mani-mausi411 stets schwesterlichen Rat geboten und sie davon abzuhalten versucht, ihren Bruder zu plagen. Doch Mani war nicht zu bändigen, wenn sie ihre Launen hatte. Mit ihrer Scheidung, ihren radikal kommunistischen Überzeugungen und ihrem lautstarken Atheismus war sie das schwarze Schaf der Familie. Sartaj wußte nicht, inwieweit er selbst noch gläubig war. Seinen Bart, den Turban und den Kara trug er weiterhin, aber gebetet hatte er aus eigenem Antrieb seit Jahren nicht mehr. In seiner Wohnung hingen Bilder von Gurus, doch er bat sie nicht mehr um Rat und erwartete keine Wunder oder Erleichterungen von ihnen. Die Farben der Bilder erschienen ihm nun zu grell, das makellose Weiß von Guru Nanaks444 Turban zu weit von den schmutzigen Niederungen des Lebens entfernt. Trotzdem war es gut, dachte Sartaj, daß er mit seiner Mutter hierhergekommen war. Das Licht im Tempel war schön, er genoß die Gemeinschaft der Menschen, die hier Schulter an Schulter beteten, und fand darin Trost.

Ma zog die Salvar über ihre Füße, und Sartaj mußte an die Frau in Gaitondes Bunker denken, an ihre ausgestreckten langen Beine in der modischen Hose. Sie hatten in ihrer Wohnung keinerlei Anzeichen von Religiosität gefunden, weder ein Kreuz noch eine Bibel oder einen Rosenkranz. Vielleicht war sie nicht gläubig oder einfach gleichgültig gegenüber diesen Dingen gewesen. Aber sie hatte mit Gaitonde verkehrt, dessen lange Gebete und Spenden für religiöse Zwecke geradezu legendär waren. Ende der neunziger Jahre hatte er sich in den Medien eine Zeitlang als Hindu-Don präsentiert, als kühner Kämpfer gegen Suleiman Isas antinationale Aktivitäten. Sartaj erinnerte sich an ein Interview in MidDay, in dem er Suleiman Isa ein frühes Ableben prophezeit hatte. »Unsere Leute in Pakistan suchen ihn«, hatte er gesagt. Ein Archivfoto über dem Beitrag hatte einen sehr jungen Gaitonde gezeigt, im roten Sweatshirt und mit dunkler Sonnenbrille. Sein Aussehen hatte Sartaj beeindruckt. Er hatte seinen eigenen Stil gehabt, dieser Ganesh Gaitonde, aber am Ende war nicht sein alter Feind, sondern er selbst gestorben, ohne Suleiman Isas Zutun - so schien es zumindest. Warum? Das war ein interessantes Rätsel, über das sich angenehm grübeln ließ, und den Rest des Vormittags stellte Sartaj alle möglichen Theorien dazu auf.

Er spekulierte noch immer, als er und Ma am Spätnachmittag nach Hause kamen. Nach dem Gurudwara hatten sie zwei Stunden bei Iqbal-mama verbracht, inmitten einer wirbelnden Schar von Nichten und Neffen. Sartaj war als Einzelkind aufgewachsen und liebte das behagliche Chaos großer Familien - in maßvollen Dosen. Jetzt war er angenehm müde, aber sein Kopf arbeitete träge weiter und konstruierte Geschichten über Ganesh Gaitonde. Er lag bei zugezogenen Vorhängen im Dunkeln und fragte sich, ob es eine gescheiterte Liebesbeziehung zwischen Gaitonde und Jojo Mascarenas gegeben hatte, irgendeine verworrene Geschichte von Fleischeslust und Verrat, die schließlich zu Mord und Selbstmord geführt hatte. Wahrscheinlich war es so. Männer und Frauen taten einander solche Dinge an.

»Ich möchte nach Amritsar, Sartaj.«

Sartaj fuhr hoch. Ma stand in der Tür. »Was?«

»Ich möchte nach Amritsar.«

»Jetzt?« Sartaj rieb sich die Augen und schwang die Füße auf den Boden.

»Are, nein, Beta. Aber bald.«

Sartaj zog einen Vorhang auf und ließ das Licht hereinströmen. »Und warum plötzlich?«

Ma strich sein Laken glatt. »Nicht plötzlich. Ich denke schon eine ganze Weile daran.«

»Möchtest du Chacha und die anderen alle wiedersehen?«

»Ich möchte ein einziges Mal in den Harmandir Sahib264, bevor ich sterbe.«

Sartaj blieb stehen, die Hand an der Wand. »Sag doch nicht so was, Ma. Da kommst du noch oft genug hin.«

»Bring mich nur einmal hin.«

Es wurde Sartaj so schwer ums Herz, daß ihm fast die Stimme versagte. Er ging um Ma herum, nahm seinen leeren Koffer und berührte sie unbeholfen an der Schulter. »Mal sehen, wann ich Urlaub nehmen kann.« Er räusperte sich. »Dann fahren wir hin.«

Während Sartaj packte, brachte Ma einen Stapel frisch gebügelter Hemden herein. Sie setzte sich aufs Bett und schaute ihm zu. Das hatte sie die vielen hundert Male, bevor er wieder abgefahren war, noch nie getan, und er merkte, wie er unter ihrem Blick langsamer wurde. Er packte seinen Koffer auch sonst ordentlich, doch nun schob er seine Socken mit peinlichster Sorgfalt in die rechteckige Lücke zwischen seinen Hemden und den Hosen. Ma erzählte ihm unterdessen von den Verwandten in Amritsar, und bis Sartaj den Koffer schloß, war es höchste Zeit für ihn geworden, zum Bahnhof zu fahren. Trotzdem blieb er an der Tür stehen, wiederholte seine Peri paunas und versuchte, nicht an den Tag zu denken, als er sich hier zum letzten Mal von Papa-ji verabschiedet hatte.

Er kam gerade noch rechtzeitig zum Zug, doch anders als sonst konnte er nicht bis zum Bahnhof Dadar durchschlafen. Vor den schmutzigen Scheiben glitten die vertrauten, dunkler werdenden Hügelketten vorüber. Er war diese Strecke viele Male gefahren, und er mochte sie sehr: den langen Tunnel zwischen Monkey Hill und Nagnath, der ihn als Kind so begeistert hatte, die steilen Gefällstrecken und plötzlichen Biegungen, bei denen die Hügel wie ein Bühnenvorhang zurückschwangen und überraschend den Blick auf tiefe grüne Täler freigaben, so daß man staunend aufmerkte und froh war, ein Ziel zu haben. Er empfand ihn noch immer, diesen Schwall der Erregung, doch nun lag darin auch ein Hauch von Heimweh und Verlust. Vielleicht bekamen die Menschen deshalb Kinder: Wenn man nicht mehr mit den Eltern reisen konnte, wurden die Bahnfahrten durch Kinder wieder zu etwas Neuem. Dann sah man die Lichter von Mumbai auftauchen und freute sich, bald zu Hause zu sein.

»Ja, bring mir Bunty«, sagte Parulkar. »Unbedingt.«

»Ich, Sir? Nicht einer von Ihren Leuten?« Sartaj meinte damit die speziell auf Gangs angesetzten Männer.

»Nein, dir vertraut Bunty wahrscheinlich am ehesten. Wenn ich einen von meinen Männern schicke, bekommt er Angst.«

»Stimmt.« Sie saßen in der Nähe der Haji-Ali-Moschee in Parulkars Wagen. Parulkar wollte zur Polizeidirektion und hatte Sartaj gebeten, sich unterwegs mit ihm zu treffen. Er wirkte freudlos und abgespannt. »Sie haben noch eine Besprechung, Sir?«

»Ja. Im Moment habe ich dauernd irgendwelche Besprechungen.«

»Mit dem DIG172-saab?«

»Nicht nur mit ihm. Mit jedem, den ich kriegen kann. Die Regierung will mich um jeden Preis rausdrücken, Sartaj, ich muß also sehen, wer mir helfen kann, drin zu bleiben. Und so renne ich von einem zum anderen.«

»Sie schaffen das schon, Sir. Sie haben's immer geschafft.«

»Da bin ich mir nicht so sicher. Diesmal kann man mit Geld nichts ausrichten, auch wenn ich durchaus dafür zahlen würde. Da gibt es zu viele alte Geschichten. Die hassen mich persönlich, denen bin ich zu muslimfreundlich.«

»Wegen Suleiman Isa?«

Parulkar zuckte die Schultern. »Vor allem seinetwegen. Sie haben mich im Verdacht, ihm zu helfen. Die sind so dumm. Die kapieren nicht, daß man, wenn man erfolgreich gegen die eine Gang vorgehen will, mit der anderen Informationen austauschen muß. Die wissen nur, wer der Böse ist. Sie sind Politiker und selbst Gangster, aber so sehen sie die Welt nun mal. Idiotisch.«

»Deswegen werden Sie sie auch austricksen, Sir.«

»Da wäre ich mir nicht so sicher, Sartaj.« Parulkar zeigte auf den Gebäudekomplex vor ihnen. »Heutzutage siegt hier die Dummheit. Die Zeiten haben sich geändert.«

Diese simple Tatsache ließ sich nicht bestreiten. »Wenn ich irgend etwas tun kann, Sir, dann sagen Sie's mir bitte.«

Mehr Trost konnte Sartaj dem alten Mann nicht bieten. Er stieg aus und schaute dem Konvoi aus drei Wagen nach, als er sich langsam von der Promenade entfernte. Zum ersten Mal hatte Parulkar alt auf ihn gewirkt. Sonst war er ihm mit seiner Freude an der Arbeit, seinem unverwüstlichen Spaß an den Absurditäten des Polizistendaseins, seiner Energie und seinem stetigen, erstaunlichen Aufstieg immer alterslos erschienen. Vielleicht war er zu weit aufgestiegen, vielleicht war es unvermeidlich, daß sein brennender Ehrgeiz in solchen Höhen zum Problem wurde, ja, sein Ehrgeiz hatte ihn verbogen, ihn zurechtgestutzt, ihm Selbstvertrauen und Freude genommen. Vielleicht war es besser, wie Papa-ji auf einem respektablen mittleren Level zu bleiben, gute Arbeit zu leisten und dann nach Hause zu gehen und ruhig zu schlafen.

Doch nein, an so etwas konnte man unmöglich mehr glauben in diesen veränderten Zeiten, in denen ein Mangel an glühendem Karriere-Ehrgeiz als Charakterfehler galt. Sartaj schwang das Bein über sein Motorrad und betätigte den Kickstarter. Er fuhr am Meer entlang zurück, vorbei an den Shiv Sagar Estates, einem Apartmentkomplex, in dem Harshad Mehta sieben - oder waren es acht? - Wohnungen besessen hatte. Sartaj war vor langer Zeit einmal dort gewesen, zusammen mit einer riesigen CBI-Mannschaft, die Mehtas Wohnungen nach Beweisen für seine perfiden Millionen-Geschäfte durchsuchte. Sartajs Beitrag zur Verhaftung des Börsenmaklers hatte darin bestanden, die rasch anwachsende Menge der Schaulustigen und Mehta-Anhänger zurückzudrängen und den Eingang freizuhalten. Am Abend und am nächsten Tag hatten ihn alle - Kollegen, Freunde, Megha - begierig gefragt: »Hast du Harshad Mehtas Wohnung von innen gesehen? Wie war sie? Toll, oder?« Anfangs hatte es Sartaj nichts ausgemacht, ihnen zu sagen, daß er das Gebäude nur von außen gesehen hatte, aber sie waren so enttäuscht gewesen, daß er sich bemüßigt gefühlt hatte, eine Geschichte über Harshad Mehtas extravaganten Lebensstil zu erfinden. Einzelne Steinchen des Mosaiks, das er entworfen hatte, waren sogar authentisch gewesen, etwa die schimmernden kleinen Goldklumpen, von Polizisten aufgesammelt, die in dem Gebäude gewesen waren, im großen und ganzen aber hatte Sartaj Bilder aus Film und Fernsehen zusammengeworfen und von Maisonette-Wohnzimmern erzählt, von denen man in die Zimmer der einzelnen Familienmitglieder hinaufstieg, von Schiebetüren, die in der Wand verschwanden, von Schlafzimmern, so groß wie normale Wohnungen, mit erlesenen italienischen Marmorböden, von einer Sprechanlage, die alle Räume miteinander verband. »Dreihundert Quadratmeter«, hatte er gesagt. »Er wohnt auf dreihundert Quadratmetern, könnt ihr euch das vorstellen?« Und alle, die sich kaum fünfzig oder hundert Quadratmeter leisten konnten, hatten feuchte Augen bekommen. Sartaj kannte ihre Bewunderung, denn er hatte sie selbst empfunden: Harshad Mehta war ein Dieb gewesen, doch er hatte große Träume gehabt und in großem Stil gelebt. Er war zweimal inhaftiert worden und dann an einem Herzinfarkt gestorben, aber zu seiner Zeit war er ein Held gewesen.

Sartaj ließ den Motor aufheulen; er mochte das Geräusch. Zu Harshad Mehtas Zeiten hatte sich der Ehrgeiz wie ein unentrinnbares Virus ausgebreitet. Seitdem hatte es Börsenkräche und so manche geplatzte Seifenblase gegeben, aber die Ansteckung war geblieben. Inzwischen waren solch maßlose Ambitionen gang und gäbe. Vielleicht trugen sie auf ihre Weise zur Gesundheit bei, immerhin spendeten sie Kraft, Schwung und Tempo. In einem Leitartikel, den Sartaj kürzlich gelesen hatte, war dankbar registriert worden, daß sich die indische Kricketmannschaft endlich einen gewissen Killerinstinkt erworben habe. Ja, genau, Geld und einen Killerinstinkt hatten sie sich erworben. Sartaj gab Gas. Es wurde Zeit für die Jagd nach den Mädchen-Belästigern.

Wasim Zafar Ali Ahmad, der Mann mit dem langen Namen und den politischen Ambitionen, hatte Sartaj Namen und Adresse der beiden Tapori-Brüder gegeben, die er zur Räson bringen wollte, und so fuhren Sartaj und Katekar hin. Sie rechneten nicht damit, die beiden zu Hause anzutreffen, gedachten aber Angst und Unbehagen in der Familie zu verbreiten und die Brüder dadurch so weit zu bringen, daß sie sich stellten. Mit entsprechendem Getöse drangen sie in das Kholi ein. Sartaj trat mit dem Fuß die Tür auf und brüllte: »Wo sind die beiden Gaandus? Wo sind sie?«

Katekar holte die anderen Familienmitglieder aus den drei winzigen Räumen, einen Tattergreis, eine Frau und ein elf-oder zwölfjähriges Mädchen. Das Mädchen begann Sartaj in einem unaufhörlichen Wörtschwall zu beschimpfen, und die Frau legte ihr die Hand auf den Mund.

»Was haben sie denn getan?« fragte der zitternde Großvater.

Sartaj wandte sich an die Frau. »Sind Sie die Mutter von Kushal und Sanjeev?«

»Ja.«

»Wo sind die beiden?«

»Das weiß ich nicht.«

»Sie sind die Mutter und wissen nicht, wo Ihre Söhne stecken?«

»Nein.«

Sie war eine stämmige Frau, klein, breitschultrig und mit noch breiteren Hüften. Sie trug einen leuchtend roten Sari, dessen Pallu sie sich nun mit einer Hand eng um die Schultern zog, während sie mit der anderen Hand ihrer Tochter den Mund zuhielt.

»Wie heißen Sie?«

»Kaushalya.«

»Ist das Ihr Vater?«

»Nein, seiner.« Sie meinte ihren Mann.

»Und wo ist der?«

»In der Fabrik.«

»In welcher Fabrik?«

»Die machen Mithai.«

»Hier in der Nähe?«

Sie wies mit dem Kinn über die linke Schulter. »Beim Busdepot.«

Sartaj zeigte auf das Mädchen, das hinter der Hand der Mutter aufgehört hatte zu murren und ihn nun starr und aufmerksam ansah. »Wie heißt sie?« fragte er.

»Sushma.«

»Geh deinen Vater holen, Sushma.« Kaushalya nahm ihre Hand fort, doch ihre Tochter rührte sich nicht. Der offenkundige Haß des Mädchens kränkte Sartaj. »Geh«, knurrte er.

»Hast du nicht gehört?« sagte Kaushalya, und das Mädchen lief hinaus.

Sartaj ließ sich auf einem Stuhl neben der Tür nieder, stellte die Füße fest auf den Boden und spreizte die Knie. Katekar begann die Küchenecke zu durchsuchen, klapperte mit Töpfen und Tellern, nahm eine Flasche von einem Bord und roch vernehmlich daran. Kaushalya und ihr Schwiegervater zogen sich ins andere Zimmer zurück, und Sartaj hörte ihr eindringliches Geflüster.

Eigentlich hätte die Jagd auf Apradhis anders aussehen müssen: wilde Verfolgungen im Auto, Sprints durch volle Straßen, Tempo und Action bei dröhnender Hintergrundmusik. So hätte es Sartaj gefallen, aber im wirklichen Leben bestand die Jagd in der Einschüchterung einer Frau und eines alten Mannes. Es war eine erprobte und bewährte Polizeimethode, in das Leben einer Familie einzubrechen, bis der Informant redete, der Verbrecher sich ergab, der Unschuldige gestand. Katekar fläzte sich auf ein mit einem hellblauen Tuch bedecktes Sofa, und Sartaj rief nach Kaushalya und verlangte Chai und Kekse. Sie murrte hinter der Wand vor sich hin, ging dann aber hinaus und bat eine Nachbarin, zu der Dhaba an der Ecke zu gehen. Mit eingezogenem Kopf und mahlendem Kiefer kam sie zurück, stolzierte an ihm vorbei und verschwand wieder im hinteren Zimmer, ihrem sicheren Hort.

Die weißen Wände waren kahl bis auf ein Bord mit Fotos von Kaushalyas Hochzeit und ihren drei Kindern. Sushma lachte fröhlich aus einem herzförmigen rosa Rahmen heraus. Sartaj lehnte den Kopf an die Wand und schloß die Augen, aber er war zu unruhig, zu angespannt, um zu dösen, und richtete sich gleich wieder auf. Katekar las interessiert in einer alten Ausgabe von Filmi Kaliyan. Auf dem Umschlag war in der linken Ecke ein Foto von Bipasha Basu, die Arme unter dem wogenden Busen verschränkt. Sartaj verübelte ihr das drängende Verlangen, das augenblicklich aus seinen Lenden aufstieg. Er straffte sich, setzte sich diskret zurecht und mußte sich dann vorbeugen, um sich zu verbergen. Zur Hölle mit dir, Bipasha. Er hatte vor acht Monaten zum letzten Mal Sex gehabt, mit der Lokalkorrespondentin einer Marathi-Nachmittagszeitung. Sie hatte ihn aufgesucht, um ihm für eine große Titelgeschichte knallharte Fragen zu Tanzbars und Barmädchen zu stellen, und ihre breiten Schultern, ihre schlanken, langen Beine, ihre weiten grünen Jeans, ihr Zynismus und ihre Kompetenz hatten Sartaj sehr beeindruckt. Sie hatten sich dreimal getroffen, in drei verschiedenen Restaurants, und jedesmal hatte sie vorsorglich ihren Mann erwähnt, einen Journalisten bei einer anderen Marathi-Tageszeitung. Am dritten Nachmittag aber, bei der dritten Tasse Tee, waren ihr die Fragen über Ärgernisse in Bars ausgegangen, und es mußte zwangsläufig etwas anderes passieren. Verlegen hatten sie sich voneinander verabschiedet, und diesmal hatte sie ihm nicht die Hand zu einem kräftigen Händedruck aus der Schulter heraus gereicht. Zehn Tage später hatte sie ihn angerufen, sie waren am Chowpatty spazierengegangen, und ihre Hände hatten sich gestreift. Er fand sie nicht unbedingt hübsch, aber er konnte sich nicht zurückhalten, konnte den Impuls nicht unterdrücken, ihr unter ihrem weiten, langärmeligen Hemd die Hand ins Kreuz zu legen. Vier Monate lang hatten sie einmal in der Woche Sex gehabt, immer nachmittags in PSI Kambles Zimmer in Andheri East. »Ghochi226 karo, Boß«, hatte Kamble jedesmal gesagt - Sex haben, Liebe machen, was auch immer. Sartaj hatte sich danach meist gefährlich allein gefühlt, mit einem unlösbaren Knoten in der Kehle. Es war schön, ihre Haut auf seiner zu spüren, ihre Schauer liefen mühelos durch ihren langen Körper, und sie war angenehm anspruchslos, entspannt und mit ihrer Abneigung gegen jedwede Dramatik auch entspannend. Aber Sartaj sehnte sich nicht nach ihr, spürte nichts von dem quälenden Verlangen, das ihn an Megha gebunden hatte, und das machte die Momente, wenn er keuchend in Kambles geblümten Laken lag, unerträglich. Er kam sich in seinem eigenen Körper klein und verloren vor, weit unter die Haut gesunken und dem Ertrinken nahe. Schließlich mußte er aufhören, mußte die Sache beenden. Sie war verletzt, verbarg es aber hinter dem Achselzucken der Journalistin: Marad saala aisaich hota hai - so seid ihr Mistkerle nun mal.

Ja, Männer waren so. Vor ihr hatte es andere Frauen gegeben. Ein Callgirl, Kambles Geschenk zu seinem ersten Geburtstag nach der Scheidung, »erstklassiges Material, Boß, absolut starmäßig«. Sartaj hatte nicht gekonnt, und das erstklassige Material hatte ihm tröstend die Schulter getätschelt. Dann war da eine verheiratete Freundin von Megha gewesen, die ihn erst angerufen hatte, als die Scheidung durch war, damit auch alles ehrlich und moralisch einwandfrei zuging. Nach dem Sex ließ sie sich gern von Mord, Schießereien in dunklen Straßen und verzweifelten, gewalttätigen Männern erzählen. Goldbraun und füllig lag sie neben Sartaj, in ihren Augen ein Schimmern wie von Metallhaken, kleine Strudel der Obsession. Und es hatte sogar eine Firangi195 gegeben, eine Österreicherin, die in einem Vorortzug Opfer eines Taschendiebstahls geworden und ins Revier gekommen war, um Anzeige zu erstatten. Ihr harter Akzent hatte ihm gefallen, das Laute, Abgehackte ihrer Redeweise, das unergründliche Blau ihrer Augen, aber sie war ihm so fremd, daß er nicht wußte, wie er sich verhalten sollte, auch nicht, als sie zwei Tage später wiederkam. Er mußte ihr gestehen, daß sie nicht weitergekommen waren und wohl auch nicht weiterkommen würden, und er hatte sich für die indische Ineffizienz geschämt. In Osterreich wäre der Dieb längst verurteilt gewesen. In sein Schweigen hinein fragte sie ihn, ob er Lust auf eine Tasse Kaffee habe. Nach drei Kaffeetagen fragte er sie, ob sie seine Wohnung sehen wolle. Dort forderte sie ihn auf, seinen Turban abzunehmen. »Ich möchte dich mit offenem Haar sehen«, sagte sie.

»Du verfluchter Rajesh Khanna517, König aller Sardar-Hengste«, gluckste PSI Kamble, als er ihm davon erzählte, und drückte Sartaj die Hand. Sartaj hatte in Kambles überschäumender Begeisterung viel von seinem eigenen berauschenden Triumph wiedergefunden, von dem Sturm, der sich beim Anblick der pornografisch bleichen Brüste der Österreicherin, der hellblonden Haare unter ihrem weißen Slip in ihm erhoben hatte. Als er sich in ihr bewegte, war er sich vorgekommen wie ein Pornostar, und die überirdisch makellosen Hochglanz-Phantome seiner Jugend waren wieder zum Leben erwacht und hatten ihm von fern zugenickt. Danach hatte sie geschwiegen, und er hatte ihr Schweigen nicht zu deuten gewußt. Und der König aller Hengste hatte mit offenem Mund dagelegen, voller Angst vor dem weißen Vakuum der Enttäuschung, das er in seinem Innern entdeckte.

Sartaj schüttelte den Kopf und stand auf. Kaushalyas Mann ließ sich gern fotografieren; auf jedem Bild saß er, von Frau und Kindern umgeben, in der Mitte. Sartaj trat näher an die Wand, mit dem Rücken zu Katekar, und inspizierte die Fotos. Das also war der Vater der beiden Strolche. Ob er Geliebte hatte? Beim Anblick des kampflustig vorgewölbten Bauches unter der leuchtend weißen Kurta auf dem größten der Bilder war Sartaj davon überzeugt. Er war ein Mann, und er hatte Frauen. Sartaj genoß seit langem einen Ruf als Polizist für die Damen, und er hatte niemandem gesagt, daß er sein Liebesleben aufgegeben hatte. Kamble, Katekar und die anderen auf dem Revier trumpften mit Sexgeschichten auf, in denen ein munteres Auf und Ab von Chut und Khadda328 herrschte, von Tope640 und Dana146. Und Mausambis410, ja, Mausambis hatte die, so rund und süß, daß einem die Tränen kamen. Mausambis, Granatäpfel, Dudh-ki-tanki182, Kokosnüsse. Vielleicht bin ich der einzige, dachte Sartaj, der von stummem Sex erzählen kann, von fernem Sex, schmerzhaftem Sex, fadem Sex, bedrohlichem Sex, abgebrochenem Sex, quälend düsterem, bitterem, einsamem Sex. Sex. Was für ein Wort. Was für eine Sache.

Der Tee und der Vater kamen gleichzeitig; Kaushalyas Mann folgte dem barfüßigen kleinen Jungen, der die Teetassen in einem speziellen Drahtkorb hereinbrachte, auf den Fersen. Der Junge sah Sartaj fragend an, und nachdem Sartaj genickt hatte, reichte er ihm mit professionellem Schwung den Tee. »Biskoot?« fragte er und hielt eine Packung Parle Glucose hoch. Sartaj kramte nach einer Fünf-Rupien-Münze, und als sie ihm herunterfiel, hob der Junge sie mit den Zehen des rechten Fußes auf und beförderte sie mit einer geschmeidigen Tanzbewegung, bei der sein Schienbein waagerecht über dem Boden schwebte, in seine linke Hand. Sartaj gab ihm dafür noch fünf Rupien Trinkgeld, und der Junge grinste und verschwand.

Kaushalya war wieder aufgetaucht, gefolgt von dem alten Mann. Sartaj schritt zwischen ihr und ihrem Mann auf und ab, trank von seinem Tee und sagte: »Wie heißen Sie?«

»Birendra Prasad.«

»Sie produzieren also Süßigkeiten?«

»Ja, Saab, Cham-cham burfi und Pedas. Wir beliefern Restaurants und Geschäfte.«

»Gehört Ihnen die Fabrik?«

»Ja, Saab.«

»Und Ihre Söhne arbeiten auch dort?«

»Manchmal, Saab. Sie lernen noch.«

»Das ist gut.«

»Ja, Saab. Ich möchte, daß sie weiterkommen. Ohne Bildung bringt man es in der heutigen Welt zu nichts.«

Birendra Prasad kannte die Welt, soviel war klar. Heute trug er keine weiße Kurta, sondern ein grünes Hemd und schwarze Hosen, und mit seiner stämmigen Figur paßte er gut zu seiner Frau. Er war ein robuster, energischer Mann, und es gefiel ihm nicht, daß die Polizei in seinem Haus war, aber er gab sich Mühe, ruhig und höflich zu bleiben. Seine Tochter hielt sich hinten an seinem Hemd fest und funkelte Sartaj böse an. Es waren jetzt ziemlich viele Leute in dem kleinen Raum, und Sartaj sah den Schweiß an Birendra Prasads Hals herabrinnen. Er zeigte grinsend die Zähne und nahm noch einen Schluck Tee.

»Saab«, sagte Birendra Prasad.

Katekar ging um ihn herum und blieb links hinter ihm stehen. Das machte den Süßigkeiten-Mann sichtlich nervös: Seine Augen zuckten nach links und wieder zurück und wieder nach links. »Waren Sie schon mal im Gefängnis, Birendra Prasad?« fragte Sartaj.

»Ja, vor langer Zeit.«

»Weswegen?«

»Wegen nichts, Saab, ein Mißverständnis ...«

»Wegen eines Mißverständnisses waren Sie im Gefängnis?«

Katekar baute sich dicht neben Prasad auf. »Saab hat Sie was gefragt«, sagte er ganz leise.

Das Mädchen weinte jetzt.

»Ich war ein Jahr drin«, sagte der Vater. »Wegen Diebstahls.«

Sartaj stellte seine Tasse auf den Stuhl und trat nahe an Birendra Prasad heran. »Ihre Söhne kommen auch ins Gefängnis.«

»Meine Söhne, Saab? Wieso?«

»Wissen Sie, was sie hier in der Gegend machen? Wissen Sie, wie sie sich Frauen gegenüber benehmen?«

»Das stimmt nicht, Saab.«

Katekar legte dem Mann die Hand auf die Schulter und versetzte ihm einen leichten Stoß. »Soll das heißen, Saab sagt nicht die Wahrheit?«

»Die Leute verbreiten alle möglichen Gerüchte, und die beiden sind doch noch Kinder. Aber ...«

»Sie schicken mir Ihre Jungen morgen aufs Revier«, sagte Sartaj. »Um vier. Sonst komme ich wieder, nicht nur hierher, sondern auch in Ihre Fabrik. Und Ihre Söhne bringe ich hinter Gitter.«

»Ich weiß, wer dahintersteckt, Saab.«

Sartaj beugte sich zu ihm vor und flüsterte ihm ins Ohr: »Diskutieren Sie nicht mit mir, Gaandu. Oder wollen Sie, daß ich Ihnen hier vor Ihrer Familie Ihre Izzat nehme, Ihre Ehre? Vor Ihrer Tochter?«

Darauf wußte Birendra Prasad keine Antwort.

Katekar stieß ihn gegen die Schulter, und er trat zur Seite. Sartaj ging um Sushma herum und zur Tür hinaus. Ein paar Jungen, die ihnen auf der sonnigen Gasse entgegenkamen, liefen bei ihrem Anblick auseinander.

»Dieser Wasim Zafar ist ein durchtriebener Bursche, Saab«, sagte Katekar. »Das war auch ein Schachzug gegen den Vater, nicht nur gegen die Jungen.«

»Ja. Anscheinend hat er mit diesem Birendra Prasad ein Problem. Das hätte er uns sagen müssen, der Mistkerl.« Denn es war durchaus möglich, daß Birendra Prasad seine eigenen Beziehungen hatte. Doch das beunruhigte Sartaj nicht übermäßig. Jeder Mann und jede Frau, die man festnahm oder auch nur berührte, war Teil irgendeines Geflechts, und man konnte sich nicht ununterbrochen Sorgen darüber machen, wer wen kannte. Man war einigermaßen vorsichtig, und wenn ein Problem auftauchte, befaßte man sich damit. Trotzdem hätte Wasim Zafar Ali Ahmad sie informieren müssen. »Hier.« Sartaj gab Katekar die Kekse. Er holte sein Handy hervor und wählte. Beim zweiten Läuten nahm Wasim Zafar ab.

»Hallo, wer spricht?« sagte er sehr schnell.

»Ihr Baap«, sagte Sartaj.

»Saab? Was ist los?«

»Wo sind Sie?«

»Nicht weit vom Revier, Saab. Ich hab hier was zu erledigen. Was kann ich für Sie tun?«

»Sie können uns die Wahrheit sagen. Warum haben Sie uns nicht gesagt, daß Sie eigentlich gegen Birendra Prasad vorgehen wollen?«

»Den Vater? Ach, der ist nicht das Problem, Saab. Aber er verzieht seine Söhne und bläst sich sofort auf, wenn jemand was zu ihnen sagt. Er wird von ihnen auf gehetzt. Er selbst ist ein einfacher Mann, ein Bauerntölpel im Grunde, sie sind die Mistkerle, die sich für besonders schlau halten. Sobald sie ein bißchen unter Druck gesetzt werden und Ruhe geben, wird er sich auch nicht mehr rühren.«

»Sie haben das alles genau kalkuliert, was?«

»Ich wollte Ihnen nichts verschweigen, Saab.«

»Aber Sie haben uns nicht alle Informationen gegeben.«

»Mein Fehler, Saab. Wo sind Sie im Moment?«

»In Ihrem Raj.«

»Wo in Navnagar, Saab? Ich bin in fünf Minuten dort.«

»Sagen wir, in zehn Minuten. Wir treffen uns im Bengali Bura, bei Shamsul Sha.«

»Gut, Saab. Vor seinem neuen Kholi?«

»Ja.«

»Okay, Saab. Ich mache mich auf den Weg.«

Katekar aß einen Keks. »Er will sich jetzt sofort mit uns treffen?«

»Ja. Er engagiert sich sehr für die Gerechtigkeit.«

Katekar schnaubte. Sartaj bediente sich ebenfalls von den Keksen, und sie gingen weiter durch das Basti in Richtung Bengali Bura. Wasim Zafar Ali Ahmad wollte unbedingt mit der Polizei gesehen werden, eine Gelegenheit für ihn, seine Nähe zur Macht zu demonstrieren, seine Fähigkeit, Dinge zu regeln. Wahrscheinlich würde er herumerzählen, er selbst habe die Polizei gerufen, sie an die Ermittlungen im Mordfall Shamsul Sha erinnert, sie gedrängt, nicht lockerzulassen. In seiner Darstellung würde er der vorbildliche Bürger sein, der die Polizei in Bewegung setzt. Doch Sartaj mißgönnte ihm seine Phantasien nicht. Der Mann entpuppte sich als talentierter Politiker, auch wenn er den Fehler begangen hatte, ihnen nichts von Birendra Prasad, dem lästigen Vater, zu sagen.

An einer Kreuzung blieb Sartaj stehen. Eine schmale Gasse führte geradeaus ins Bengali Bura, eine breitere rechts zur Hauptstraße. Sartaj wischte sich die Krümel von den Fingerspitzen und sagte zu Katekar: »Gehen wir erst mal zu Deva157

Deva war ein alter Bekannter von Sartaj in Navnagar, ein Tamile, den er neun Jahre zuvor kennengelernt hatte, als er in Antop Hill eine Bande von vier Reifendieben festnahm. Deva hatte bei ihnen gewohnt, auf der geschlossenen kleinen Veranda ihres Kholi, und er hatte seine Unschuld beteuert: Er sei nur Untermieter und habe nichts mit den Einbrüchen zu tun, er sei gerade erst aus seinem Dorf in die Stadt gekommen und habe geglaubt, Reifenstapel in der Wohnung seien hier etwas ganz Alltägliches. Die Frische und Munterkeit des Neunzehnjährigen, die seltsam klingenden Tamil-Lieder, die er vor sich hin summte, seine Entschlossenheit, allen Mut zusammenzunehmen, obwohl es ihn in seinen Stelzenbeinen juckte - all das hatte Sartaj gefallen. Er hatte beschlossen, Deva zu glauben, und ihn in seinem Ermittlungsbericht nicht erwähnt, er hatte sich um ihn gekümmert und einige Leute wegen eines Jobs für ihn angesprochen. Mittlerweile war Deva ein höchst achtbarer Mann, er war verheiratet und hatte einen Sohn, das zweite Kind war unterwegs, und er hatte einen Bauch angesetzt und sich einen kleinen Schnurrbart wachsen lassen. Er besaß einen Metallbetrieb, in dem ein Trupp schwitzender Tamilen riesige eiserne Räder für Handwebstühle herstellte, außerdem Zäune, Armaturen und allerlei Spezialanfertigungen.

Sartaj bog nach rechts ab und rief Wasim Zafar Ali Ahmad an, um ihm zu sagen, daß sie später kommen würden. Die Straße war vor kurzem instand gesetzt und asphaltiert worden, und ein steter Strom von Motorrollern und Fahrrädern rollte darüber hinweg. Die Häuser in diesem Teil Navnagars waren alt und gut in Schuß, alle mit Wasser- und Stromanschluß, viele zwei- oder dreistöckig mit Läden und Werkstätten im Erdgeschoß. Ein Gesicht schwebte über den gestaffelten Dächern, riesige, leuchtend braune Augen, die hinter einer Brüstung hervorkamen und wieder verschwanden, größer als irgendeines der Fenster, eine blau beleuchtete, schimmernde Stirn, halbgeöffnete Lippen und wehendes Haar, alles irgendwie schwerelos und überirdisch. Sartaj wußte, daß es nur ein geschickt ausgeleuchtetes Model auf einer monumentalen Reklametafel jenseits der Hauptstraße war, aber es störte ihn, so aufmerksam beobachtet zu werden. Mit gesenktem Blick ging er weiter.

Kaum hatte Deva sie gesehen, rief er nach Erfrischungen und ließ kein Nein gelten. Ein Junge bog mit zwei Limcas um die Ecke, und Sartaj und Katekar tranken im Stehen, direkt vor der Tür der Werkstatt. Drinnen brannte kein Licht, aber durch das Dach fielen breite Sonnenstreifen herein und beleuchteten das in die Formen fließende glühende Eisen und die Gesichter der fast nackten Männer, die mit den Füßen die Blasebälge traten, hoch hinaufstiegen und dann im Zeitlupentempo wieder herabsanken.

»Sie haben lange nicht mehr an mich gedacht, Saab«, sagte Deva.

»Die Tamilen benehmen sich eben, Deva.«

Deva lachte schallend. Er beugte sich in die Werkstatt hinein und übersetzte den Arbeitern Sartajs Worte. Da und dort blitzte ein strahlendes Lächeln zwischen den Funken auf. Man konnte in Navnagar leben und niemals etwas anderes als Tamil sprechen. Die Männer riefen eine Antwort durch das Fauchen und Lärmen hinaus. »Sie sagen, wir benehmen uns so gut, daß uns sogar die Rakshaks mögen«, übersetzte Deva.

Es hatte eine Zeit gegeben, da hatten die Rakshaks ihren glühenden Mumbai-Patriotismus dadurch demonstriert, daß sie Jagd auf tamilische Einwanderer machten, die den anderen angeblich Arbeit und Land wegnahmen. Sartaj stellte seine leere Limca-Flasche neben die Tür. »Tja, jetzt jagen sie andere.« Strammer Chauvinismus brachte noch immer Stimmen, aber man mußte seine Feinde mit Bedacht wählen. Die Rakshaks hatten jetzt die Bangladeshi-Gefahr im Visier und forderten »unpatriotische« indische Muslime auf, das Land zu verlassen. Gleiches Spiel, andere Opfer. Sartaj winkte Deva von den heißen Schwaden weg, die aus der Tür drangen, und sie stiegen über einen Rinnstein und gingen ein Stück die Gasse hinunter. Katekar folgte dicht hinter ihnen.

»Sie ermitteln in diesem Mordfall«, sagte Deva. »Von dem Jungen, den seine Freunde umgebracht haben?«

»Ja. Wissen Sie etwas darüber?«

»Nein, ich kannte keinen von den dreien.«

»Schon mal von einem Sozialarbeiter namens Wasim Zafar Ali Ahmad gehört?«

»Allerdings. Dieser Dreckskerl. Das ist ein ganz gerissener Bursche.«

»Gerissen? Was treibt er denn so?«

»Sein Vater ist Metzger, er selbst macht überwiegend Sozialarbeit, glaube ich. Aber er hat jede Menge Cousins, und die haben Kfz-Werkstätten. Zwei hier in der Gegend und eine irgendwo in Bhandup. Eine wohlsituierte Familie.«

»Und diese Werkstätten, geht es da mit rechten Dingen zu?«

»Halbwegs. Soviel ich weiß, handeln sie mit Ersatzteilen.« Deva hatte ein ungewöhnliches Lächeln: Er schob das Kinn vor, seine Augen verengten sich zu Schlitzen, und eine blendend weiße Zahnreihe teilte sein Gesicht in zwei Hälften. Ersatzteile konnten von überallher stammen, aus legalen Quellen ebenso wie aus dem Auto eines armen Dummkopfs. »Ein paar von den Cousins waren schon mal in Schwierigkeiten. Kein Knast, Saab, aber die eine oder andere kleine Sache da und dort.«

»Wissen Sie, wie diese Cousins heißen?«

»Nein. Aber mal sehen.« Deva führte Sartaj um die Ecke zu einer Bäckerei, einer weiten Halle mit Blechdach, hoch aufragenden Ofen und Reihen teigknetender Männer. Am hinteren Ende saß der beleibte Besitzer in einer kleinen Kabine, die er fast ganz ausfüllte. Er raffte seinen Lungi und seinen Bauch und ging zwischen den Arbeitern umher, während Deva sein Telefon benutzte. Sartaj lauschte Devas nasalem südlichen Akzent, der ihn jedesmal an den Filmschauspieler Mehmood und an das Lachen der Kindheit erinnerte. Er versuchte, nicht zu tief einzuatmen. Es roch zwar gut nach frischen Brotlaiben, aber der schwere Duft wirkte in der stickigen Hitze geradezu überwältigend. Deva tätigte noch einen zweiten Anruf, und Sartaj wußte, daß er auf der Klaviatur seiner Beziehungen in ganz Navnagar spielte und sich anhörte, was da zurücktönte.

Deva lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, legte die fünf Finger einer Hand gegen die anderen und sagte: »Okay, Saab, notieren Sie.«

Er nannte Sartaj die Namen von fünf Leuten, mit präzisen Angaben darüber, wie sie mit Wasim Zafar Ali Ahmad verwandt waren, und seiner Einschätzung der Frage, inwieweit Wasim mit ihnen zusammenarbeitete, legal und anderweitig. Solide Informationen.

»Gute Arbeit, Deva«, sagte Sartaj. Katekar nickte wohlwollend. Sartaj legte zwei Fünfhundert-Rupien-Scheine neben Deva auf den Schreibtisch. Sie waren alte Freunde, aber auf lange Sicht war es besser, die Beziehung professionell zu handhaben. Gefälligkeiten führten auf Dauer zu beiderseitigem Groll, Cash für Information dagegen garantierte, daß die Quelle nicht versiegte.

Sartaj und Katekar verabschiedeten sich von Deva und gingen zum Bengali Bura hinauf. Sartaj blickte über die Schulter auf das Meer der schmutziggrauen und weißen Dächer von Navnagar zurück, das sich vor der untergehenden Sonne im weiten Bogen von Horizont zu Horizont erstreckte. Wie immer beeindruckte ihn das Bild mit seinen gigantischen Ausmaßen, seiner blutroten Melodramatik, der drängenden Energie seiner bloßen Existenz - unfaßbar, daß es so etwas wie dieses Navnagar überhaupt gab. Erst jetzt sah er, daß Katekar eine große Papiertüte mit frischen Pavs in der Hand hielt, die er in den nächsten Tagen mit seiner Familie verzehren würde. Was Katekar und auch sonst jedermann aß, stammte zu einem großen Teil aus Navnagar oder wurde zumindest von dort geliefert. In Navnagar wurden Kleidung, Plastik, Papier und Schuhe hergestellt, Navnagar war der Motor, der Leben in die Stadt pumpte.

Wasim Zafar Ali Ahmad erwartete sie, von Bittstellern umdrängt, vor Shamsul Shas Kholi. Sein Handy glitzerte in seiner Hand, als er Sartaj und Katekar zuwinkte. Eine Frau zog ihn am Ellbogen, und er redete in schnellem Bengali auf sie ein und machte sich unter vielen zusichernden Gebärden frei.

»Saab«, sagte er. »Tut mir leid, aber wenn mich diese Leute einmal am Wickel haben, lassen sie nicht wieder los.«

»Sie sprechen Bengali?«

»Ein bißchen, ein bißchen. In dem Bengali, das die sprechen, ist viel Urdu drin, wissen Sie.«

»Und was sprechen Sie sonst noch alles?«

»Gujarati, Saab, Marathi, etwas Sindhi. Wenn man in Mumbai aufwächst, schnappt man von allem ein bißchen was auf. Ich versuche auch, mein Englisch zu verbessern.« Er hielt eine Ausgabe von Filmfare hoch. »Ich lese, wenn es geht, jeden Tag eine englische Zeitschrift.«

»Sehr beeindruckend, Ahmad-saab.«

»Are, Sir, ich bin jünger als Sie. Bitte nennen Sie mich Wasim. Bitte.«

»Gut, Wasim. Haben Sie schon mit Shamsul Shas Verwandten gesprochen?«

»Nein, Sir, ich dachte, das machen Sie lieber selbst. Aber einer von den Leuten hier hat gesagt, sein Vater sei nicht da, sondern bei der Arbeit. Die Mutter ist zu Hause.«

»Da drin?«

»Ja.«

»Halten Sie die Leute auf Abstand, während ich mit ihr rede.«

Der tote Junge hatte ein besseres Haus für seine Familie gekauft, das sah man schon daran, wieviel Platz es in der Gasse einnahm. Sartaj klopfte an. Von der Tür aus erblickte man vier Räume und eine separate Küche mit Resopalschränken. Die Mutter schickte ihre Töchter in die hinteren Zimmer, richtete sich kerzengerade auf und wartete.

»Sie sind Moina Khatoon?« fragte Sartaj. »Shamsul Shas Mutter?«

»Ja.«

Moina Khatoons Töchter waren in strenge Purdahs502 gehüllt, sie selbst schien es im Alter nicht mehr so genau zu nehmen, zumindest nicht in ihren eigenen vier Wänden. Sie sah aus wie sechzig, mußte aber mindestens zehn Jahre jünger sein. Sie trug ein blaues Salvar-kamiz und um den Kopf einen weißen Dupatta.

»Ein schönes Kholi hat Ihr Sohn Ihnen da gekauft.« Sartaj hätte nicht sagen können, ob Moina Khatoons undurchdringliche Miene Taktik war oder eine Eigenheit von ihr. Er konnte sie überhaupt nicht einschätzen. »Ein guter Junge. Wie ist er denn mit den beiden aneinandergeraten?«

Sie legte den Kopf schräg. Sie wußte es nicht.

»Kannten Sie Reyaz-bhai, diesen Bihari-Freund von den dreien?«

Wieder bewegte Moina Khatoon langsam den Kopf.

Auf der Gasse draußen wurde es still, und in dieser Stille gähnte ein Abgrund des Verlustes. Sartaj kam sich vor, als wäre er über eine Kante gestolpert, und er wußte nicht recht, was er als nächstes tun, wo er Druck ausüben sollte und ob Druck überhaupt ratsam war. Da ergriff Katekar das Wort.

»Es ist gegen die Natur, daß ein Sohn vor seinen Eltern stirbt. Das kann man einfach nicht hinnehmen. Aber er« - Katekar deutete nach oben -, »er gibt und nimmt nach seinem Willen. Er bestimmt unser Schicksal.«

Moina Khatoon fing an zu weinen. Sie tupfte sich die Augen, und ihre Schultern krümmten sich. »Wir müssen es hinnehmen«, sagte sie heiser. »Wir müssen es hinnehmen.«

Katekar legte die Hände ineinander und neigte leicht den Oberköper vor, voller Anteilnahme und nicht im mindesten drohend. »Wie alt war Shamsul?«

»Achtzehn erst. Nächsten Monat wäre er neunzehn geworden.«

»Er war ein gutaussehender junger Mann. Wollte er bald heiraten?«

»Es gab schon Anfragen.« Moina Khatoon belebte sich, und die Erinnerung an vergangene Diskussionen hellte ihre Miene auf. »Aber er wollte, daß zuerst seine Schwestern heiraten. Ich hab gesagt, die Jüngste ist gerade neun, bis zu ihrer Mala badol391 bist du ein alter Mann. Aber Shammu hat gemeint, so jung zu heiraten sei dumm. Erst will ich einen eigenen Hausstand haben, hat er gesagt, wieso soll man heiraten, wenn man dann weiter bei den Eltern wohnt und Frau und Schwiegermutter sich zanken? Er wollte nicht auf uns hören. Erst sie, dann ich, hat er immer gesagt.«

»Ein guter Junge. Und ein schönes Kholi hat er Ihnen gekauft.«

»Ja. Er hat hart gearbeitet.«

»Wissen Sie, was für eine Arbeit das war?«

»Er war bei dieser Firma, als Paketbote.«

»Aber er hat außerdem auch mit Bazil und Faraj zusammengearbeitet, oder?«

»Davon weiß ich nichts.«

Sartaj sah Moina Khatoon an, daß sie ihm nichts verschwieg; sie wußte wirklich nicht, was für Geschäfte ihr Sohn mit den Mördern gemacht hatte. Das war plausibel, der Junge hatte seiner Mutter natürlich nichts von seinen kriminellen Machenschaften erzählt. Doch Katekar wollte noch nicht aufgeben.

»Die drei waren gute Freunde. Sind sie hier in diesem Basti zusammen aufgewachsen?«

»Ja.«

»Warum haben sie sich gestritten?«

»Faraj war immer neidisch auf meinen Sohn. Er hatte keine Arbeit, hat gar nichts gemacht. Schon als Kind hat er dauernd mit Shammu gestritten.« Sie lief dunkel an, schüttelte die Faust und verfiel ins Bengali. Der Dupatta rutschte ihr vom Kopf, ihre Stimme wurde rauh, und sie begann zu schreien. Ihr Kummer schnürte Sartaj die Kehle zu, und er ging hinaus, um Wasim zu holen.

»Sie beschimpft Faraj und seine Familie, Saab«, übersetzte Wasim. »Teufel seien die, sagt sie.«

Moina Khatoons Gesicht hatte seine Starre verloren, seine Konturen zerflossen, und Sartaj konnte sie kaum noch ansehen. Er räusperte sich. »Nichts Brauchbares?«

»Nein«, sagte Wasim.

»Gut. Gehen wir.«

Er ging hinaus. Katekar winkte der Frau zu und folgte ihm. Sie waren schon fast um die Ecke, da rief sie ihnen auf Hindi nach: »Lassen Sie sie nicht davonkommen! Schnappen Sie sie! Lassen Sie nicht locker!«

Sartaj schaute zu ihr zurück und ging dann weiter. Zur Hauptstraße hin, wo sie den Gypsy geparkt hatten, wurde die Gasse breiter. Sartaj verlangsamte seinen Schritt, ließ Katekar aufholen und nickte ihm zu.

»Wasim«, sagte Sartaj.

»Ja, Saab?« Wasim eilte heran, glatt und ruhig, die Rechtschaffenheit in Person.

»Okay, hören Sie zu, Sie Scheißkerl«, sagte Sartaj. »Dieser Birendra Prasad ...«

»Wirklich, Saab, der ist nicht das Problem. Die Söhne, wie gesagt, die machen den Ärger.«

Eine Mauer zu ihrer Linken war mit Werbung für Zement und Gesichtspuder bemalt. Sartaj trat heran und zog den Reißverschluß seiner Hose auf. »Jetzt hören Sie mir mal gut zu. Sie sagen, ich bin älter als Sie, also gebe ich Ihnen einen Rat: Halten Sie sich nicht für schlauer als die Leute, mit denen Sie zusammenarbeiten wollen. Verschweigen Sie nichts, was diese Leute wissen müssen.« Sartajs Strahl traf laut plätschernd auf den Fuß der Mauer, und erst jetzt merkte er, wie stark sein Drang gewesen war. »Kommen Sie mir nicht mit Überraschungen. Ich mag keine Überraschungen. Ich will Information. Wenn Sie was wissen, sagen Sie's mir. Auch wenn Sie meinen, es sei unwichtig. Mehr Information ist besser als weniger Information. Verstanden?«

»Saab, wirklich, ich wollte Sie nicht zum Narren halten.«

»Wenn Sie glauben, ich bin ein Narr, dann bin ich vielleicht die Sorte Narr, die gewisse Geschäfte hier in der Gegend unter die Lupe nimmt und sich gewisse Leute genauer anschaut. Wie heißen sie noch gleich, Ihre Cousins? Salim Ahmad, Shakil Ahmad, Naseer Ali, Amir015 ...«

»Alles klar, Saab. Es kommt nicht wieder vor.«

»Gut. Dann kann das vielleicht eine längere Beziehung werden zwischen uns.«

»Genau das will ich, Saab, eine dauerhafte Interessengemeinschaft.«

Sartaj zog und zupfte und schloß den Reißverschluß. »Den Politiker können Sie anderswo spielen. Bei uns nicht.«

»Klar, Saab.«

Sartaj holte sein Taschentuch hervor und drehte sich um. Wasim hielt sein Filmfare-Heft hoch.

»Hier, bitte, Saab.«

»Wie?«

»In dem Heft sind gute Informationen, Saab.«

Ein verschlagenes kleines Lächeln erschien auf Wasims Gesicht. Sartaj nahm die Zeitschrift, und als er darin zu blättern begann, öffneten sich die Seiten bei einem Schwarzweißfoto von Dev Anand, das teilweise von einem dünnen Bündel Tausend-Rupien-Scheine verdeckt wurde, säuberlich von rechts nach links gestaffelt und mit einer Büroklammer zusammengehalten.

»Nur ein kleines Geschenk, Saab, in der Hoffnung auf unsere künftige Freundschaft.«

»Das wird sich zeigen.« Sartaj rollte die Zeitschrift zusammen und klemmte sie sich unter den Arm. »Ich habe Birendra Prasad gesagt, er soll seine Söhne morgen aufs Revier bringen. Sollte er das nicht tun, behalten Sie die beiden im Auge, damit wir sie uns, wenn nötig, greifen können.«

»Kein Problem, Saab. Und, Saab, vielleicht können Sie Majid Khan mein Salaam ausrichten ...«

»Mach ich. Aber erwarten Sie nicht, daß Sie für viertausend Rupien zum Ehrengast des Reviers avancieren.«

»Nein, nein, Saab. Wie gesagt, es ist nur ein kleines Geschenk.«

Sie ließen Wasim stehen, und Sartaj war zufrieden, daß der Mann die wahre Natur ihrer gegenseitigen Abhängigkeit erfaßt hatte. Im Gypsy rollte er die Zeitschrift auf, nahm einen Schein heraus und gab ihn Katekar, der ihn in seine Brusttasche steckte. Sartaj würde auch Majid etwas geben. Er war nicht verpflichtet, Geld nach oben weiterzureichen. So geringe Beträge - unter einem Lakh - durfte man als Beamter im Außendienst behalten, und die Oberinspektoren und DCPs gaben nur etwas ab, wenn ein ansehnlicher Kuchen zu verteilen war. Aber Sartaj würde Majid Wasim Zafar Ali Ahmads Grüße ausrichten und ihm einen Tausender anbieten - über den Majid allerdings nur lachen würde. Sie kannten einander seit langem, und ein Tausender oder auch vier Tausender waren allenfalls Kleingeld.

»Saab«, sagte Katekar, »was ist mit heute abend?«

»Ich hab's nicht vergessen.« Katekar wollte sich den Abend freinehmen und mit seiner Familie ausgehen. »Fahren Sie nach Juhu. Sie können dort aussteigen, und ich fahre weiter.«

»Aber nein, Sie müssen doch nicht -«

»Schon gut. Fahren Sie.«

Warme Zuneigung zu dem behäbigen, zuverlässigen Katekar wallte in Sartaj auf. Megha hatte immer gesagt, er und Katekar seien wie ein altes Ehepaar, und vielleicht war es auch so, doch Katekar war auch für Überraschungen gut. »Ich dachte, Sie mögen diese Bangladeshis nicht«, sagte Sartaj.

»Ich mag die Bangladeshis in Bangladesh.«

»Und die Frau? Moina Khatoon?«

»Sie hat einen Sohn verloren. Ein Kind zu verlieren ist sehr schlimm. Auch wenn der Junge ein Dieb war. Wie ging noch mal dieser Dialog aus Sholay?590 Hangais Text? ›Die schwerste Last, die einem Mann aufgebürdet werden kann, ist die Totenbahre seines Sohnes.‹«

»Wie wahr.« Und einer Filmi-Logik folgend, hatte dieser Bengali-Sohn Raubüberfälle verübt, um seine armen Schwestern verheiraten zu können. Sie überquerten eine Überführung, unter ihnen ratterte ein Zug durch, an dessen Türen bereits die spätnachmittäglichen Menschentrauben hingen. Der Tote hatte mehr gewollt, als nur seine Schwestern zu verheiraten, er hatte einen Fernseher gewollt, einen Gasherd, einen Dampfkochtopf und ein größeres Haus. Zweifellos hatte er auch von einem nagelneuen Auto geträumt, einem wie dem silbernen Toyota Camry, der sie gerade überholte. Und all das war nicht unmöglich gewesen, schließlich hatten Männer wie Ganesh Gaitonde und Suleiman Isa auch mit kleinen Diebstählen angefangen und später dann ihre eigenen Opel-Vectra- und Honda-Accord-Flotten besessen. Und Jungen und Mädchen aus staubigen Dörfern schauten jetzt von Plakatwänden herab, schön und unwirklich. Es konnte so kommen. Deshalb probierten es die Menschen immer wieder. Das war der Traum, der große Traum von Bombay. »Wie ging dieses Lied noch mal?« fragte Sartaj. »Sie wissen schon, das Sha Rukh singt, ich weiß nicht mehr, wie der Film heißt. Bas khvab340 itna sa hai ...062« Katekar nickte, und Sartaj wußte, daß er begriff, warum er, Sartaj, fragte. Sie waren so oft zusammen durch die Stadt gefahren, daß sie den Gedankensprüngen und seltsamen Einfällen des anderen folgen konnten.

»Ja, ja«, sagte Katekar. Er summte die Melodie und schlug mit dem Zeigefinger den Takt auf das Lenkrad. »Bas itna sa khvab hai... shaan se rahoon sada ... Mmmmm, mmmmm - das?«

»Ja, genau. Bas itna sa khvab hai ... Haseenayein bhi dil hon khotin, dil kaye kamal khile ...«

Gemeinsam sangen sie weiter: »Sone ka mahal mile, barasne lagen hire moti ... Bas itna sa khvab hai.«

Sartaj reckte sich. »Dieser Shamsul Sha, ja, der hatte einen großen Khvab.«

Katekar schnaubte. »Stimmt, Saab, aber am Ende hat ihn dieser große Khvab seinen Gaand gekostet.«

Beide platzten los. Zwei Frauen in einer Autorikscha neben Sartaj wandten sich erschrocken ab und lehnten sich unter den Schutz des Daches zurück. Darüber mußte Sartaj noch lauter lachen. Er wußte, daß dieser wilde, heisere Heiterkeitsausbruch eines Polizisten in einem Gypsy anderen Angst einjagen konnte, aber das machte die Sache nur noch lustiger. Megha hatte immer gesagt: »Erst erzählst du diese schrecklichen Polizeigeschichten, und dann gackerst du los wie ein Bhut088. Richtig unheimlich ist das.« Ihr zuliebe hatte er versucht, es sich abzugewöhnen, aber er hatte es nie ganz geschafft. Jetzt tat es jedenfalls gut, unter schallendem Gelächter mit Katekar durch die Stadt zu rollen, er brauchte sich keinen Zwang anzutun und lachte noch eine ganze Weile weiter.

Als sie durch den Stoßverkehr nach Juhu Chowpatty abbogen, schwiegen sie wieder. Sie hielten, und als Sartaj vorn um den Gypsy herumging, nahm er schwachen Meergeruch wahr. An den Chaat-Ständen brannte bereits das Neonlicht, und die Kunden strömten heran. »Sagen Sie den Jungs mein Salaam«, sagte Sartaj.

Katekar grinste. »Mach ich, Saab.« Er legte kurz die Hand auf seine Brust und ging dann zum Strand.

Sartaj schaute ihm nach, seinem selbstbewußten, wiegenden Gang, den breiten Schultern, dem kurzgeschorenen Haar. Ein geübtes Auge hätte ihn sofort als Polizisten erkannt, aber er war ein guter Beschatter, und zusammen hatten sie so manche Festnahme durchgeführt. »Man ja ay khuda, itni si hai dua«396, sang Sartaj, als er durch Vile Parle fuhr, aber er konnte sich nicht an den Schluß des Liedes erinnern. Es würde ihm nun den Rest des Tages im Kopf herumgehen, und sehr spät, irgendwann vor dem Einschlafen, würde ihm das letzte Antra wieder einfallen.

An der verabredeten Stelle, einem Stand mit dem Namen Great International Chaat House, warteten die Jungen und Shalini schon auf Katekar. Er strich Mohit über den Kopf und piekte ihn sanft in den Bauch. Mohit gab ein glucksendes Kichern von sich, und Rohit und Shalini mußten lächeln.

»Kommen sie wieder mal zu spät?« fragte Katekar.

Shalini verzog den Mund. Katekar kannte diesen Gesichtsausdruck: Was man nicht ändern kann, muß man ertragen. Bharti und ihr Mann kamen immer zu spät.

»Setzen wir uns schon mal hin?« fragte Rohit. »Die wissen ja, wo wir sind.«

Katekar schaute die Reihe der Buden entlang und über die Straße. Zwei Busse direkt hintereinander versperrten die Sicht. »Rohit, sieh doch mal nach, vielleicht versuchen sie gerade rüberzukommen.«

Rohit ging widerwillig los und ließ ärgerlich seine Chappals über den Asphalt schleifen. Er war in letzter Zeit hoch aufgeschossen, aber Katekar war überzeugt, daß er mit Mitte Zwanzig, wenn er erst einmal Familie hatte, längst nicht mehr so dünn sein würde. Alle Männer in der Familie hatten eine beeindruckende Korpulenz entwickelt, Schultern und Arme, die einschüchtern konnten, einen respektablen Bauch. Rohit drehte sich um und schüttelte den Kopf.

Mohit zupfte Katekar am Hemd. »Ich möchte Sev-puris, Papa«, sagte er.

»Setzen wir uns erst mal«, sagte Shalini. »Die finden uns schon.«

Das ließ sich Katekar nicht zweimal sagen. Rohit war zwar nicht sehr weit gegangen, aber Bharti war Shalinis Schwester, und wenn Shalini meinte, sie könnten sich setzen, dann würde Katekar das auch tun.

Sie fanden ganz am Ende rechts zwei Matten und ließen sich darauf nieder. Katekar zog seine Schuhe aus, kreuzte die Beine und seufzte. Die Sonne stand noch hoch genug, um seine Knie zu wärmen, doch an der Brust spürte er schon die aufkommende Brise. Er knöpfte sein Hemd auf und wischte sich mit seinem Taschentuch den Nacken, während Shalini, Rohit und Mohit bei dem Jungen, der ihnen die Plätze angewiesen hatte, ihre Bestellung aufgaben. Katekar wollte noch nichts essen. Er genoß es, endlich Ruhe zu haben und nicht wie der Kellner, der jetzt zu seinem Stand eilte, von einem Fuß auf den anderen treten zu müssen. Schon kam er wieder zurück und balancierte das Essen routiniert zwischen den Spaziergängern durch.

»He, Tambi617«, sagte Katekar zu ihm, »für mich eine Narial pani446

»Ja, Seth572.« Und schon war er wieder weg.

»Narial pani?« Shalini sah ihn spitzbübisch an.

Er hatte ihr vor ein paar Wochen von einem Artikel über schädliches Fett in Kokosnüssen erzählt, den er in einer Nachmittagszeitung gelesen hatte. Sie hatte abgewinkt und gesagt, sie glaube nicht an all den neumodischen Kram, der in den Zeitungen stehe; wer wohl je davon krank geworden sei, daß er Kokosnüsse gegessen oder Narial pani getrunken habe? Doch sie vergaß nichts, und sie würde ihm seine Abkehr von der Wissenschaft nicht durchgehen lassen. Er legte den Kopf schräg und lächelte. »Ausnahmsweise.«

Sie erwiderte sein Lächeln und ließ ihn seine Narial pani trinken. Er schaute Mohit zu, der mit Hingabe seine Sevpuris verzehrte, während Rohit den vorbeigehenden Mädchen nachsah. Ein Schiff balancierte auf dem schimmernden Horizont. Katekar wußte, daß es sich bewegte, wenn er die Bewegung auch nicht erkennen konnte.

»Dada!«

Katekar drehte sich um. Vishnu Ghodke kam heftig winkend heran, gefolgt von Bharti und den Kindern. Es gab einigen Aufruhr, das übliche aufgeregte Hin und Her der Begrüßungen, dann ließen sich die beiden Familien endlich auf den Matten nieder. Bharti saß neben Shalini, Vishnu neben Katekar, die Kinder waren zwischen Bharti und Vishnu eingezwängt. Die beiden Mädchen trugen die üblichen Haarschleifen und schicken Kleider, der Junge aber, nach vielen Gebeten und Ritualen als letzter geboren, war angezogen wie für eine Hochzeit. Er trug eine kleine blaue Fliege und eine große rote Spielzeugarmbanduhr. Mohit und Rohit beugten sich vor und schubsten ihn, und in Katekar wallte Zuneigung auf, weil sie die geschniegelte Frisur des gezierten kleinen Kerls durcheinanderbrachten. Er kniff die Mädchen in die Wangen, und Shalini und Bharti stürzten sich sofort in ein angeregtes Gespräch über irgendeine Familienintrige unter entfernten Verwandten. Am liebsten mochte Katekar die ältere seiner beiden Nichten, die still und mit zunehmender Einsicht und Resignation mit angesehen hatte, wie ihr Bruder zum Mittelpunkt der Welt ihrer Eltern wurde.

»Du bist wieder gewachsen, Sudha«, sagte er zu ihr. »Wie groß du schon bist!«

»Sie ißt wie ein Pferd.« Ihr Vater lachte schallend und legte ihr die Hand auf den Kopf.

Sudha duckte sich weg und flüsterte ihrer Schwester etwas ins Ohr, und Katekar sah, wie sich ihr Kinn wütend verzog. Vishnu hatte eine Stimme, die keinen Lautsprecher gebraucht hätte. »Sie will eben so groß werden wie ich«, sagte Katekar. »Komm, Sudha, setz dich zu mir. Ich habe auch einen Bärenhunger. Are, Tambi!«

Sudha tat wie geheißen, und gemeinsam studierten sie die fleckige Speisekarte und stellten ein Festmahl aus Bhelpuri, Papri chaat und Pav bhaji, Katekars Lieblingsgericht, zusammen. Sie aßen, und Katekar genoß den plötzlichen Übergang von sauer zu süß auf seiner Zunge. Essen war die größte und verläßlichste aller Freuden, und nie war Katekar so zufrieden wie in den Stunden, wenn er im Angesicht des sanft wogenden Meeres mit Frau, Kindern und Verwandten am Chowpatty saß und aß. Bharti redete und redete. Sie hatte einen glänzenden grünen Sari an, einen neuen, dachte Katekar. Als er sie zum ersten Mal gesehen hatte, war sie ein stämmiges Mädchen gewesen, zu schüchtern, um das Wort an ihn zu richten. Nur wenige Jahre später hatte Vishnu ihr eine Mangalsutra geschenkt, schwerer als Katekar sie je bei einer Hochzeit in der Familie gesehen hatte, und seitdem hatte sie nicht mehr aufgehört zu reden. Sie trug die Mangalsutra auch jetzt, zusammen mit einer zweireihigen Goldkette.

»Dieser Bipin Bhonsle ist ein solcher Betrüger«, sagte sie. »Vor den Wahlen hat er uns eine zusätzliche Wasserleitung für die Siedlung versprochen, und was ist jetzt? Die neue Wasserleitung ist nie gekommen, und die alte hat alle zwei Wochen ein Leck. Drei Kinder und kein Wasser, das ist wirklich das letzte.«

»Dann wählt ihn nächstes Mal nicht mehr«, sagte Katekar.

»Das geht nicht, Dada«, sagte Vishnu. »Er hat zu gute Beziehungen. Und die anderen Kandidaten in dem Wahlkreis, das sind alles Gadhavs. Von denen schafft es keiner. Eine Stimme für die wäre verschenkt.«

»Dann müßt ihr einen guten Kandidaten finden.«

»Are, Dada, wer würde schon gegen Bhonsle antreten? Und wo findet man heutzutage noch gute Kandidaten? Man braucht jemanden, der etwas aushält, der ausgezeichnete Reden halten kann, der bei den Leuten ankommt. Solche Typen gibt es gar nicht mehr. Man braucht einen einzelnen Riesen, aber es gibt nur noch Scharen von Zwergen.«

Shalini beugte sich zur Seite, wischte sich die Hände ab und strich ihren Sari über den Knien glatt. »Ihr sucht nur nicht an der richtigen Stelle«, sagte sie.

Vishnu sah sie überrascht an. »Kennst du jemanden?« fragte er.

Shalini zeigte mit beiden Händen auf Bharti. »Die da.«

»Was?«

Katekar schüttete sich aus vor Lachen, mehr über Vishnus bestürzte Miene, sein Entsetzen bei der Vorstellung, seine Frau könnte zur Riesin werden, als über Shalinis Scherz, aber die Kinder stimmten ein, und im nächsten Moment bogen sich alle vor Lachen.

»Meine Schwester Bharti ist mutig und unerschrocken«, sagte Shalini, »sie beeindruckt jeden mit ihrem Stil, und niemand kann Reden schwingen wie sie. Sie sollte Mantri399 werden.«

Vishnu hatte inzwischen begriffen, daß Shalini nur Spaß machte, und grinste gezwungen, so daß sich seine Unterlippe über die unteren Zähne spannte. »Ja, Taai609, sie gäbe tatsächlich eine gute Ministerpräsidentin ab. Sie hätte jeden an der Kandare.«

Bharti hielt sich beide Hände vor den Mund. »Are, Deva, das ist nichts für mich. Was redest du denn da, Taai? Ich habe schon mit den Kindern alle Hände voll zu tun, da will ich nicht auch noch fünfzigtausend andere Leute unter mir haben.«

Katekar wollte sich noch dazu äußern, wie sie die fünfzigtausend unter ihr mit ihrem Gewicht zermalmte, besann sich aber und begnügte sich mit einem Schnauben bei der Vorstellung, wie sich Vishnus Gesicht unter ihren ausladenden Hüften knautschte. Vishnu schaute unsicher drein und lachte schließlich mit.

Nachdem Katekar aufgegessen hatte, spazierte er mit Vishnu am Wasser entlang. Er hatte die Hosenbeine hochgerollt und seine Schuhe bei Shalini gelassen. Er liebte es, über den nassen, vom Meer geglätteten Sand zu gehen, ihn unter den Fußsohlen zu spüren. Vishnu hielt Abstand, damit seine Sandalen nicht naß wurden. »Dada«, sagte er und sprang vor einer auf den Sand schwappenden Welle zurück. »Irgendwann mußt du mich auch mal zahlen lassen. Sonst wird es peinlich für uns hierherzukommen.«

»Die Diskussion hatten wir doch schon, Vishnu. Ich bin der Altere, also zahle ich.« Ärger wallte in Katekar auf. Es war dumm, daß sein Stolz ihm verbot, etwas zu essen, was Vishnu bezahlt hatte, aber er konnte Vishnus Selbstgefälligkeit, seine Genugtuung über den eigenen Erfolg nun einmal nicht ertragen.

»Schon gut, Dada.« Vishnu hob die Hände. »Sorry. Verdienst du jetzt gut?«

»Ich komme klar.« Sein Schwager hatte natürlich gesehen, daß er mit einem Tausender gezahlt hatte. Dem wachsamen Vishnu entging nichts.

Vishnu stieg nachdenklich über einen zerfransten Palmzweig. »In dem Alter müßtest du viel mehr verdienen, Dada.«

»In welchem Alter?«

»Deine Söhne werden groß, sie werden eine gute Ausbildung brauchen, gute Kleidung und so weiter.«

»Und du meinst, das kann ich ihnen nicht bieten?«

»Du regst dich schon wieder auf, Dada. Ich sag lieber nichts mehr.«

»Nein, sag, was du meinst.«

»Nur eins, Dada: Dieser Sardar-Inspektor von dir, dieser Chutiya, der wird nie auf einen grünen Zweig kommen.«

»Ich habe alles, was ich brauche, Vishnu.«

Vishnu senkte den Kopf und sprach sehr sanft weiter: »Schon, Dada, aber ich verstehe nicht, warum du immer noch bei ihm bist. Du könntest doch mit Leichtigkeit einen anderen Posten bekommen.«

Katekar antwortete nicht. Er machte kehrt und ging zu den beiden Familien zurück. Als er jedoch später neben Shalini im Bett lag, mußte er an Sartaj Singh denken. Sie arbeiteten seit vielen langen Jahren zusammen. Sie waren zwar nicht direkt Freunde, besuchten sich nicht und fuhren nicht zusammen in Urlaub, aber sie kannten die Familie des anderen, und sie kannten einander. Katekar wußte in jedem Moment, was Sartaj empfand, er wußte seine melancholischen Stimmungen ebenso zu deuten wie die fröhlichen. Er vertraute dem Instinkt des Sardar. Gemeinsam hatten sie so manches Verbrechen aufgeklärt, und wenn sie scheiterten, hatte Katekar stets die Gewißheit, daß sie alles versucht hatten. Ja, es sprang nicht soviel dabei heraus, wie es anderswo möglich gewesen wäre, aber die Arbeit war befriedigend. So etwas würde Vishnu nie verstehen. Leute wie er konnten sich gar nicht vorstellen, daß man aus anderen als finanziellen Gründen Polizist sein wollte. Das Geld war natürlich willkommen, doch es gab auch den Wunsch, der Allgemeinheit zu dienen: »Sadrakshanaya Khalanighranaya«, so lautete das Motto der Polizei von Mumbai - »Die Wahrheit schützen, das Böse vernichten«. Katekar war sich darüber im klaren, daß er mit niemandem über dieses Bedürfnis sprechen konnte, schon gar nicht mit Vishnu, denn schöne Reden vom Guten, das man schützen, und vom Bösen, das man vernichten wollte, von Seva574 und vom Dienen würden nur Gelächter hervorrufen. Nicht einmal unter Kollegen konnte man über so etwas sprechen. Aber es war da, wenn auch begraben unter schmutzigen Schichten des Zynismus. Bei Sartaj Singh hatte Katekar ihn hin und wieder bemerkt, diesen sinnlosen, peinlichen Idealismus. Zwar würde keiner von ihnen dem anderen gegenüber auch nur eine Andeutung über dessen romantische Ader machen, aber vielleicht war ihre Partnerschaft gerade deshalb so beständig. Ein einziges Mal nur - sie hatten ein zitterndes zehnjähriges Mädchen vor seinen Entführern aus einem Schuppen in Vikhroli gerettet - hatte Sartaj sich den Bart gekratzt und gemurmelt: »Gute Arbeit haben wir heute geleistet.« Das hatte genügt.

Und es genügte nach wie vor. Katekar seufzte, drehte den Kopf, streckte den Hals und schlief ein.

Sartaj sah zunächst nur die Leute, dicht gedrängt vor einer hohen Glasscheibe, die zu einem neuen Einkaufszentrum gehörte - sehr schön, aus emporstrebendem, von glänzendem Stahl unterbrochenem grauem Stein. Sartaj hatte in der neuen Filiale seiner Bank einige Dividendenschecks auf das Konto seiner Mutter eingereicht und war noch ganz geblendet von den eleganten Schaltern und der beispiellosen Herzlichkeit der Angestellten. Er blickte über die dunklen Köpfe hinweg und sah ein tiefes Rot aufleuchten.

»Saab, kommen Sie rein, und sehen Sie sich's an.« Ein Wachmann in blauer Uniform nickte Sartaj von der Seite zu.

»Ganga!« Sartaj ging durch die Tür, die Ganga bewachte. Er kannte ihn aus dem alten Gebäude der Bank, wo er mit grimmigem Blick und einer langläufigen Schrotflinte vor einem Juwelierladen Wache gestanden hatte. »Ist Ihr Seth auch hierher umgezogen?«

»Nein, Saab, ich bin jetzt bei einer anderen Firma.« Ganga zeigte auf seine Schultertresse, auf der in Blau und Weiß der Name seines neuen Arbeitgebers prangte: Eagle Security Systems.

»Bessere Firma?«

»Bessere Bezahlung, Saab.« Die Sicherheitsfirmen schössen wie Pilze aus dem Boden, und die Nachfrage nach Ex-Soldaten wie Ganga war groß. Er schloß die Tür hinter Sartaj und wandte sich zum Fenster. »Tibetische Sadhus, Saab«, sagte er voll Besitzerstolz.

Sie waren zu fünft, fünf in sich ruhende, abgeklärte Männer mit kurzgeschorenen Haaren und fließenden scharlachroten Gewändern, rings um ein hölzernes Podest, auf dem ein bunter Kreis in einem Quadrat zu sehen war, das wiederum von einem Kreis umschlossen war.

»Was machen die da?«

»Ein Mandala, Saab. Es kam gestern im Fernsehen, haben Sie's nicht gesehen?«

Sartaj hatte es nicht gesehen, aber jetzt sah er die Öffnungen in den vier Seiten des Quadrats und das Dunkelgrün, mit dem einer der Sadhus den inneren Kreis füllte. Ein anderer füllte auf dem grünen Grund eine Silhouette aus, offenbar die Gestalt einer Göttin. »Womit machen die das, mit einem Pulver?«

»Nein, Saab, mit Sand, gefärbtem Sand.«

Es wirkte beruhigend, den Sand aus den Händen der Sadhus rieseln zu sehen, ihre sicheren, anmutigen Bewegungen zu beobachten. Nach einer Weile wurde der Aufbau des Mandala in mattweißen Umrissen erkennbar. Innerhalb des letzten Kreises würden mehrere voneinander getrennte Bereiche entstehen, Ovale, jedes mit einer anderen Szene aus menschlichen, tierischen und göttlichen Figuren. Zwischen den Ovalen, genau in der Mitte des Rades, war eine Form, die Sartaj nicht deuten konnte. Die Ovale lagen innerhalb des Quadrats, außerhalb davon kam wieder ein Rad mit weiteren Figuren, dann folgte ein Kranz mit eigenen Ornamenten, alles faszinierend komplex und irgendwie ansprechend. Sartaj überließ sich ganz der Betrachtung.

»Wenn sie fertig sind, Saab, dann fegen sie alles wieder weg.«

»Nach der ganzen Arbeit? Wieso denn das?«

Ganga zuckte die Schultern. »Das ist wahrscheinlich wie mit dem Rangoli525 unserer Frauen. Da es aus Sand ist, wird es sowieso nicht lange halten.«

Trotzdem fand Sartaj es grausam, diese wirbelnde Welt zu schaffen und sie dann mit einem Schlag wieder zu zerstören. Aber die Sadhus wirkten heiter. Einer von ihnen, ein älterer Mann mit angegrautem Haar, fing Sartajs Blick auf und lächelte. Sartaj wußte nicht recht, wie er reagieren sollte, und so neigte er den Kopf, legte die Hand auf die Brust und lächelte zurück. Er schaute noch eine Weile zu, dann ging er davon.

»Kommen Sie morgen wieder«, rief Ganga ihm nach, »dann ist das Mandala fertig.«

Sartaj verbrachte den halben Tag im Gericht, um in einem länger zurückliegenden Mordfall auszusagen. Die letzten beiden Termine hatte er verpaßt, und der Verteidiger hatte deswegen ein Riesentheater gemacht, aber heute verspätete sich der Richter selbst, und die Parteien warteten still. Sartaj las im Afternoon einen Bericht über die Tibeter. Sie seien Mönche, hieß es da, und machten ihr Mandala für den Weltfrieden. Nach der Mittagspause erschien der Richter endlich, und Sartaj sagte aus und fuhr dann zum Revier zurück. Am Eingang wartete Birendra Prasad mit seinen Söhnen auf ihn.

»Sie warten hier«, sagte Sartaj zu ihm. »Ihr beide kommt mit.«

»Saab?« sagte Birendra Prasad.

»Ruhe. Los.«

Die Jungen folgten ihm, und Sartaj führte sie durch die vorderen Räume zu seinem Schreibtisch. Er war müde und lechzte nach einer Tasse Tee, aber erst mußte er sich mit den beiden Strolchen befassen. Es waren gutaussehende, kräftige Burschen, beide in hellen T-Shirts. »Welcher ist Kushal, und welcher ist Sanjeev?«

Kushal war der Altere. Er nagte an seiner Unterlippe und wirkte starr und angespannt, aber nicht ängstlich. Noch vertraute er auf seinen Vater und auf sich selbst.

»Du hast in diesem Leben viel Mithai gegessen, Kushal?«

»Nein, Saab.«

»Und davon bist du so ein Held geworden, so ein Muskelpaket?«

»Saab -«

Sartaj schlug ihm ins Gesicht. »Halt den Mund, du Drecksack, und hör mir zu.« Kushals Augen weiteten sich. »Ich weiß, daß ihr in eurer Gegend Mädchen belästigt. Ich weiß, daß ihr in den Gassen herumhängt und glaubt, ihr wärt die Rajas von allem, was ihr um euch herum seht. Aber ihr seid keine Bhais, ihr seid nicht mal Taporis, ihr seid Ungeziefer. Was schaust du so, Bhenchod? Komm her.« Sanjeev zuckte zusammen und kam herangetrottet. Sartaj stieß ihm die Faust in den Bauch, nicht mit aller Kraft, aber Sanjeev krümmte sich und drehte sich weg. Sartaj schlug ihm auf den Rücken.

Es war ein altes Gewalt- und Einschüchterungsprogramm, das Sartaj mechanisch abspulte. Wäre Katekar dabeigewesen, hätten sie das Ritual in einem routinierten, fast an Schönheit grenzenden Zusammenspiel vollzogen. Aber Sartaj schwitzte, er war müde und beschleunigte deshalb den Ablauf. Er wollte die Sache hinter sich bringen. Die beiden waren Amateure, es bedurfte also keiner größeren Raffinesse oder Geschicklichkeit. Nach zehn Minuten konnten sie nur noch angstvoll keuchen und stammeln. Sanjeev hatte vorn an der Hose einen dunklen Fleck.

»Wenn ich noch einmal etwas von euch höre, dann komme ich und hole euch, und dann gibt's richtig Dum. Und für euren Vater gleich mit. Habt ihr verstanden?«

Kushal und Sanjeev schlotterten und wußten nichts mehr zu sagen.

»Raus hier!« rief Sartaj. »Raus!«

Nachdem sie gegangen waren, setzte er sich hin, lehnte sich zurück und zog sein Taschentuch hervor, das bereits feucht war. Angewidert wischte er sich damit den Hals und schloß die Augen.

Sein Handy klingelte.

»Sartaj-saab?«

»Wer ist da?« fragte Sartaj, obwohl er das rauhe Knurren sofort erkannt hatte. Es war Parulkar-saabs hochrangiger Kontakt zur S-Company, die alte Frau, mit der er vor einigen Tagen gesprochen hatte.

»Ihre wohlwollende Freundin Iffat-bibi. Salaam.«

»Salaam, Bibi. Was gibt's?«

»Sie interessieren sich für einen Chutiya namens Bunty, wie ich höre?«

»Schon möglich.«

»Wenn Sie sich noch nicht entschieden haben, Beta, dann ist es jetzt zu spät. Bunty ist tot - lurkao, erledigt.«

»Waren das Ihre Leute?«

»Meine Leute hatten nichts damit zu tun.« Es klang vollkommen überzeugend. »Der Mann war sowieso nichts wert, ein verkrüppelter Mistkerl.«

»Wo?«

»Es wird gleich im Polizeifunk kommen. In Goregaon. Bei einem Gebäudekomplex namens Evergreen Valley.«

»Den kenne ich. Okay, Iffat-bibi, ich fahre hin.«

»Ja. Und nächstes Mal, wenn Sie etwas brauchen oder sich für jemanden interessieren, egal, für wen, reden Sie erst mit mir.«

»Ist gut, dann stehe ich sofort bei Ihnen auf der Matte.«

Sie lachte schallend. »Ich muß Schluß machen«, sagte sie dann und legte auf. Sartaj fuhr schnell, beschleunigte an den Kreuzungen und wechselte ständig die Spur. Vor dem Evergreen Valley stand bereits ein Polizeiwagen, und auf dem Parkplatz an der Rückseite wartete ein Trupp Zivilbeamte. Sartaj erkannte mehrere Angehörige des Sondereinsatzkommandos. Als er auf die Leiche zuging, sah er ihren Vorgesetzten, Inspektor Samant. Der Tote konnte also nur Bunty sein.

»Are, Sartaj«, sagte Samant, »was gibt's?«

»Reine Routine, Sir.« Sartaj deutete auf die Leiche, die, mit dem Gesicht nach unten, verdreht neben dem umgestürzten Rollstuhl dalag.

»Kennen Sie den Maderchod?« fragte Samant mit hochgezogenen Brauen. »Interessiert sich Parulkar-saab für ihn?«

»Ist das Bunty?«

»Ja.«

»Ich selbst hatte mich für ihn interessiert.« Sartaj ging in die Hocke. Bunty hatte ein interessantes Profil, sehr klar und markant, mit einer schön geformten Nase. Wo einmal sein Hinterkopf gewesen war, breiteten sich Blut und Gehirnmasse fächerförmig aus. Sein kariertes Hemd war am Rücken blutgetränkt. »Eine in den Kopf, zwei in den Rücken?«

»Ja. Wahrscheinlich zuerst in den Rücken, dann in den Kopf. Ich wußte gar nicht, daß Sie mit dem organisierten Verbrechen zu tun haben.«

»Hab ich normalerweise auch nicht. Aber ich hatte Kontakt zu Bunty.« Sartaj richtete sich wieder auf.

»Ich dachte, nachdem Sie Ganesh Gaitonde geschnappt haben, sind Sie vielleicht an einer speziellen Sache für Parulkar-saab dran.«

Samant war kahlköpfig, rundlich und vermögend, und er sah Sartaj eindringlich an. Es hieß, er habe bei Schießereien mindestens hundert Menschen getötet, und Sartaj zweifelte nicht daran. »Nein, nichts dergleichen«, sagte er. »Diese Bunty-Sache hatte mit einem anderen Fall zu tun.«

»Na, jetzt ist die Bunty-Sache jedenfalls beendet.« Samant lachte breit. »Der Maderchod hat noch versucht wegzukommen. Dieser Rollstuhl von ihm muß schneller sein als ein Auto.« Er zeigte auf die schwarzen Reifenspuren, die über den Asphalt liefen, fast bis zu Buntys Leiche.

»Haben Sie ihn erledigt?«

»Nein. Schön wär's, ich bin schon lange hinter dem Dreckskerl her. Den haben seine eigenen Leute erledigt, jedenfalls ist das bis jetzt unsere Theorie. Natürlich hat niemand was gesehen.«

»Wieso sollten seine eigenen Leute das tun?«

»Are, Yaar, Gaitonde ist tot, also ist der arme lahme Bunty auch sonst lahmgelegt. Allein war er nicht mehr viel wert. Vielleicht sind seine Jungs zur anderen Seite übergelaufen, vielleicht hat die andere Seite sie bezahlt.«

»Suleiman Isa?«

»Der, oder sonst jemand.«

Bunty hatte es also doch nicht geschafft, sich in Sicherheit zu bringen. Sartaj stieg über den Rollstuhl hinweg. Er war in der Tat beeindruckend mit seinen massiven Rädern, die aussahen, als gehörten sie zu einem Rennwagen. Er war solide gebaut, Präzisionsarbeit, alles aus hochmodernem, robustem Stahl. Motor und Batterie waren unter dem dick gepolsterten schwarzen Sitz angebracht. Ein Joystick und mehrere Schalter an der rechten Armlehne regelten die Steuerung, das hydraulische Anheben des Fahrgestells, das Treppensteigen und was das schnittige Gefährt sonst noch alles konnte. Trotz all der importierten Raffinessen aber war Bunty seinen mörderischen Freunden nicht entkommen, und vielleicht waren Anjali Mathurs Ermittlungen damit in einer Sackgasse gelandet. Sartaj richtete sich auf. Es war im Grunde ohnehin nicht sein Fall. »Der Rollstuhl scheint nichts abbekommen zu haben«, sagte er.

»Die Räder haben sich noch gedreht, als wir kamen. Da gibt es einen Knopf, mit dem kann man sie abstellen. Wir nehmen das Ding mit. Irgendwann wird einer von diesen Gaandus sicher angeschossen und zum Krüppel, dann fahren wir ihn damit zum Gericht.«

»Sehr clever.« Sartaj tippte sich an die Stirn. »Was hat Bunty eigentlich hier gemacht?« Evergreen Valley bestand aus drei wuchtigen Bauten auf einem rechteckigen, von kleinen zweistöckigen Häusern umgebenen Gelände. Das einzige Grün, das Sartaj sah, waren ein paar wahllos zwischen den Gebäuden verstreute Hecken.

»Das wissen wir noch nicht. Vielleicht hat er jemanden besucht. Vielleicht hatte er hier eine Wohnung.«

»Sagen Sie mir bitte Bescheid, wenn Sie was rausfinden, Sir.«

»Ja.« Samant ging mit Sartaj zum Tor. »Wenn Sie sich jetzt für diese Company-Geschichten interessieren, Sartaj, dann können wir ja zusammenarbeiten. Das wäre hervorragend, beruflich und auch sonst. Wir könnten Informationen austauschen.« Samant gab Sartaj eine Karte.

»Sicher.« Samant wollte, daß Sartaj ihn, den Spezialisten für Schießereien, hinzuzog, wenn er wieder einmal einen Tip zu einem guten Fang wie Ganesh Gaitonde bekam. Wer einem großen Company-Bhai eine Kugel in den Leib jagte, erhielt nicht nur Belobigungen und eine gute Presse, sondern konnte damit auch eine Menge Geld machen. Andere Companys würden gut dafür zahlen. Samant, so erzählte man sich, hatte in seinem Dorf bei Ratnagiri233 auf eigene Kosten ein hochmodernes Krankenhaus gebaut. »Ich rufe Sie an, wenn ich etwas erfahre.«

»Meine Privatnummer steht auch drauf. Sie können mich jederzeit erreichen, rund um die Uhr.«

Sartaj verließ Evergreen Valley und Samant, Bunty und den Rollstuhl und fuhr zum Revier zurück. An seinem Schreibtisch besah er sich Samants Karte genauer. »Dr. Prakash V. Samant« stand da in kunstvollen goldenen Lettern. Neben seiner Tätigkeit bei der Polizei - er war Träger des Polizei-Verdienstordens - war er außerdem noch »Staatlich geprüfter Homöopath«. Sartaj seufzte über seine unspektakuläre eigene Karriere und rief dann Anjali Mathur an, um ihr vom bedauerlichen Ableben seines Informanten zu berichten.

»Alles, was wir wissen, ist also, daß Gaitonde nach einem Sadhu gesucht hat?«

»Ja, Madam.«

»Das ist interessant, aber nicht genug.«

»Ja, Madam.«

»Aber so etwas kommt vor. Halten Sie sich an die Schwester, da bekommen Sie zumindest Hintergrundinformationen.«

»Ja, Madam.«

»Shabash«, sagte sie und legte auf.

Anjali Mathur hatte Verständnis dafür, daß so etwas nun einmal vorkam, und Sartaj war froh darüber. Auf Gewährsleute war kein Verlaß; auch wenn sie redeten, war die Information oft unvollständig. Allenfalls konnte man Mutmaßungen über das Geschehen zusammenstückeln. Und wenn der Informant ein Bhai war, der ständig seine Berufsrisiken umgehen mußte, endete er zwangsläufig irgendwann mit einer Kugel im Kopf. Da konnte man - oder er - nichts machen. Ein Polizist feuerte die Kugel ab, ein Feind oder auch ein Freund. Und wenn der Gewährsmann bis zu dem Augenblick die Information nicht ausgespuckt hatte, da sich sein Schädel unter der Einwirkung von fliegendem Metall zusammenpreßte, um dann zu explodieren, dann war das eben Kismet, und zwar ein ganz übles. Bunty war erledigt und der Fall ebenso.

Doch Sartaj war sich bewußt, daß er sich mit dieser Da-kann-man-nichts-machen-Tour nur selbst trösten wollte. In Wahrheit hatte er sich nie an den gewaltsamen Tod gewöhnt. Er hatte Bunty gar nicht gekannt, er hatte nur einmal ein paar Minuten mit ihm geredet, aber nachdem er nun erschossen worden war, würde er, Sartaj, ihn tagelang nicht wieder loswerden. Nachts würde Bunty vor ihm auftauchen und ihm mit seiner Adlernase zuwinken. Sartaj hatte sein Leben lang mit dieser Schwäche zu kämpfen gehabt, und sie hatte ihn daran gehindert, beruflich jene Wege zu gehen, auf die Leute wie Samant so erpicht waren. Sartaj hatte in seiner Laufbahn nur zwei Menschen getötet, und er wußte, daß er keine hundert oder auch nur fünfzig hätte töten können. Er war dazu einfach nicht robust oder auch nicht mutig genug.

Er lehnte sich zurück, legte die Füße auf den Tisch und wählte Iffat-bibis Nummer.

»Sie hatten ein Bunty-Darshan?« sagte sie.

Sartaj grinste. Allmählich machten ihm ihre schroffen Äußerungen Spaß. »Ja, ich hab ihn gesehen. Besonders glücklich sah er nicht aus.«

»Verrotten soll er und seine ganze Sippe dazu. Er war sein Leben lang ein feiger Hurensohn, und so ist er auch geendet: auf der Flucht.«

»Sogar das wissen Sie, Bibi? Und Sie sind sicher, daß es nicht Ihre Leute waren?«

»Are, das hab ich doch gesagt.«

»Es gibt die Theorie, daß es seine eigenen Leute waren.«

»Hat das Samant gesagt, diese Pappnase?«

»Samant ist sehr erfolgreich, Bibi.«

»Samant ist ein Hund, der sich von dem ernährt, was andere übriglassen. Er wird behaupten, seine Leute hätten Bunty erschossen, Sie werden sehen. Dabei weiß der Chutiya nicht mal, daß Buntys Jungs vor zwei Tagen abgehauen sind. Bunty hat nicht mehr genug Geld gebracht, also haben sie sich anderweitig umgetan.«

»Gibt es überhaupt etwas, was Sie nicht wissen, Bibi?«

»Ich lebe eben schon sehr lange auf dieser Welt. Aber keine Sorge, wir werden bald wissen, wer Bunty erledigt hat.«

»Das wüßte ich zu gern.«

»Sehr gut, Beta - fragen Sie mich, wenn es soweit ist.«

Sartaj mußte lachen. »In Ordnung, Bibi, ich werd's mir merken.«

Sartaj legte auf und dachte an Bunty, wie er in seinem Rollstuhl durch die Stadt gedüst war, von Versteck zu Versteck. Er mußte sehr allein gewesen sein ohne seine Bodygards, und voller Angst; bestimmt hatte ihm jemand aufgelauert. Ein kleines Kribbeln des Mitgefühls breitete sich in Sartajs Kreuz aus, und er drehte sich ärgerlich in seinem Stuhl, stand auf und stampfte dabei mit den Füßen auf den Boden. Bunty hatte in seinem Leben genug Unheil angerichtet, der Gaandu hatte verdient, was er bekommen hatte. Und wer immer ihm den Garaus gemacht hatte, der hatte das Geld oder zumindest einen Orden verdient. Hoffentlich hatte es sich für ihn gelohnt.

Auf der Heimfahrt machte Sartaj einen Umweg, um zu sehen, wie weit die Sadhus inzwischen mit ihrem Mandala gekommen waren. Die Zuschauermenge hatte sich gelichtet, doch die Tibeter waren in der Abenddämmerung noch am Werk, arbeiteten im Lichtkreis der Lampen. Sartaj stellte sich ans Fenster, und als der ältere Sadhu vom Vormittag ihn sah, neigte er den Kopf und erwiderte Sartajs »Namaste« mit einem Lächeln. Er gestaltete eine schöne Szene in einem der Ovale und füllte gerade die Flanke eines Hirschs aus. Das Tier hatte undurchdringliche schwarze Augen und stand vor dem Hintergrund einer tiefgrünen Waldlichtung. Sartaj betrachtete den rieselnden goldenen Sand. Die Erdkugel war etwa zur Hälfte fertig. Sie war inzwischen von einer Vielzahl von Lebewesen bevölkert, großen und kleinen, und ein Reigen göttlicher Wesen hüllte diese ganze neue Welt ein. Ihr Sinn blieb Sartaj verborgen, aber es war schön, ihre Entstehung zu verfolgen, und er schaute lange Zeit zu.