»Zweck, Bedeutung, Intention und Methode der geheimdienstlichen Arbeit bestehen darin, Muster zu erkennen.« Die Studenten harren gespannt der Offenbarung, die ihnen grundlegenden Einblick verschaffen, sie wappnen wird, damit sie überleben und triumphieren können. »Eine Methodik, eine innere Ordnung, einen Plan erspüren zu können ist die größte Begabung, die man als Nachrichtenoffizier besitzen kann«, verkündet K. D. Yadav mit erhobener, den ganzen Raum erfüllender Stimme. »Das geflügelte Wort bei uns lautet: Beim ersten Mal ist es Zufall, beim zweiten Mal eine Koinzidenz, beim dritten Mal eine Aktion des Feindes. Denken Sie daran. Wenn Sie die Verbindungslinien zwischen den Fakten sehen, wenn Sie erkennen, welche Gestalt sie bilden, wenn Sie die Geschichte hören, die sie Ihnen erzählen, dann werden Sie gewinnen. Ein Soldat auf Patrouille bemerkt einen Fußabdruck auf einem Grat im Karakorum, ein Agent in Brüssel erwähnt in einem Bericht den Verkauf vieler Kilometer verstärkter Fernmeldekabel. Wer darin eine Bedeutung sieht, meine Herren, hat gewonnen.« K. D. sagt »meine Herren«, aber in der ersten Reihe lauscht auch eine Frau seinen Worten, ein Mädchen. Er kennt sie schon seit Jahren, hat zugesehen, wie sie vom Kind zur ernsten jungen Frau herangewachsen ist, und es war eine der großen Freuden seines Lebens, zu beobachten, wie sich jenes bereits durchaus individuelle Wesen, das aus dem Kinderwagen zu ihm emporschaute, zu der beherrschten, unabhängigen jungen Frau entwickelt hat, die jetzt vor ihm sitzt. Er denkt gern, daß er in diesem Entwicklungsprozeß eine Rolle gespielt, sie in ihrem Mut bestärkt hat. Aber wie heißt sie bloß? Wie kann es sein, daß er ihren Namen nicht weiß? Wie kann er ihn vergessen haben, wo er diesen Namen doch jahrelang, jahrzehntelang immer wieder ausgesprochen hat?
Und dann weiß er es. Er begreift, wie er den Namen vergessen konnte. Er hat ihn nicht in Safdarjung vergessen, in jenem verborgenen Seminarraum. Er hat ihn hier vergessen, in diesem Krankenhauszimmer, in dem er jetzt liegt. Ich bin hier, ich bin Karpuri Dwarkanath Yadav, seit eh und je als K. D. bekannt, ich liege in einem kleinen weißen Raum mit zugezogenen Vorhängen. Ich liege auf einem weißen Metallbett. Ich lehre nicht, unterrichte nicht. Ich bin krank, deshalb habe ich ihren Namen vergessen. Damals, in Safdarjung, habe ich ihn gewußt. Jetzt weiß ich ihn nicht mehr.
Sie sitzt vor ihm, an seinem Krankenbett. Sie liest ein Buch. Er erinnert sich, daß sie als Kind ständig las. Sie ging mit Buch von einem Zimmer ins andere, kam mit Buch zum Essen, und immer forderte ihre Mutter sie auf, das Buch wegzulegen. K. D. hat ihr damals oft Bücher geschenkt, denn er erkannte seinen eigenen unstillbaren Lesehunger bei ihr wieder, und ihre Frühreife zog ihn an. Er schenkte ihr Classics-Illustrated-Comics, Enid Blyton und dann P. G. Wodehouse. Sie liest noch mit der gleichen ungeteilten Konzentration wie früher, über das Buch gebeugt, das sie mit beiden Händen hält. Er erinnert sich an diese angespannte Haltung, diese Gier, als wollte sie sich die Wörter einverleiben. »Was liest du denn gerade?« fragt er.
Sie blickt auf, erfreut über die Frage, erfreut, daß er spricht. »Es heißt Yogis. Verborgene Weisheit Indiens.«
»Paul Brunton.«
»Gibt es irgend etwas, was du nicht gelesen hast?«
»Das habe ich vor Jahren gelesen.« Er weiß noch genau, wann das war, im Juni 1970 in einem Offizierskasino in Siliguri. Es war ein altes, ledergebundenes Exemplar mit verblaßten Goldbuchstaben und drei schmalen Erhebungen quer über den Buchrücken. Er kann es in seinen Händen spüren. Er hatte es in einer Glasvitrine gefunden, zwischen Ming-Vasen von einer lang zurückliegenden Strafexpedition nach Peking. Draußen vor der Offiziersmesse befindet sich eine Veranda, die gerade von einem Lance-Naik366 gefegt wird. Ein Stacheldrahtzaun. Eine schadhafte Straße und Felder. Doch er kann sich immer noch nicht an den Namen dieser Frau hier in dem gelben Krankenhauszimmer erinnern. »Es muß eine Neuauflage sein. Wie findest du es?«
»Orientalistischer Unsinn. Ein Weißer, der in einem dunklen, geheimnisvollen Land nach Sadhus und Erleuchtung sucht. Die immergleiche Phantasie.«
K. D. lacht. »Bloß weil es jemandes Phantasie ist, muß es noch lange nicht falsch sein.« Es ist ein alter Streit zwischen ihnen. Er erklärt ihr immer, sie müsse sich endlich von ihren JNU-Träumen299 vom Weltbürgertum, Anti-Imperialismus und ewigen Frieden lösen. Sie wiederum erklärt ihm, auch sein Realismus sei eine Illusion. Doch über die Jahre ist dieser Streit zu einer formalen Übung geworden, einem Ritual, das aussieht wie ein Streit, tatsächlich aber ein Ausdruck von Zuneigung ist. Und er weiß sehr wohl, daß er dabei im Vorteil ist. Schließlich hat er sie für die Organisation angeworben. Sie ist jetzt eine von uns, eine Schattensoldatin. Es bleibt ihr gar nichts anderes übrig, als Realistin zu sein. Ich habe sie ausgebildet, ich habe ihr das Spionagehandwerk beigebracht, Analyse, Feinderkennung, Aktion. Ich habe sie in diese anonyme Welt, in unsere Sorgen, in dieses Netz geheimer Missionen hineingezogen. Er lächelt sie an. »Willst du damit sagen, daß es keine Sadhus gibt? Oder keine Erleuchtung?«
Sie legt das Buch weg, rückt den Stuhl näher an sein Bett. »Sadhus gibt es bestimmt.«
»Allerdings. Echte und Scharlatane. Und beide sind nützlich.« Sie nickt, und er ist sich sicher, daß sie ihn versteht, daß sie ihren Lehrstoff nicht vergessen hat. Er hatte auf einem Grundwissen über die Ursprünge der Organisation, über ihre Vorgeschichte bestanden, also hatte er ihnen von den Pandits erzählt, von Nain und Mani Singh Rawat, von Sarat Chandra Das und anderen, unbesungenen Männern, die vor hundert Jahren, als Pilger verkleidet, in die verbotenen nördlichen Regionen vorgestoßen waren, im Norden und Westen des Himalaya Strecken von weit über tausend Kilometern abgemessen hatten, indem sie beim Gehen die Schritte zählten. In Gebetsmühlen hatten sie Kompasse verborgen, in Wanderstöcken Thermometer, und auf der Basis der von ihnen berechneten Entfernungen hatte man die ersten Landkarten dieser wilden Gegenden erstellt. Eine Landkarte ist eine Art von Eroberung, der Vorläufer aller anderen Eroberungen. K. D. hatte seinen Studenten eingeschärft: Merkt euch die Kompasse in den Gebetsmühlen - ein Wissen kann ein anderes verbergen, Informationen nisten in anderen Informationen. Schaut euch alles an, hört überallhin. Das Nützliche versteckt sich im Nutzlosen, die Wahrheit in Lügen. Und so liest nun dieses Mädchen, seine Studentin, von der Suche eines Engländers nach Frieden, die sie für unsinnig hält. Sie ist eine gute Studentin. Jetzt hält sie seine Hand. K. D. fragt: »Warum liest du Brunton?«
»Onkel«, sagt sie leise. »Ich brauche Hilfe. Es geht um Gaitonde. Ich muß mehr über ihn erfahren. Ich muß wissen, warum er sich für Sadhus interessiert haben könnte.«
Ganesh Gaitonde ist ein Übeltäter, aber er war einmal ein Verbündeter der guten Menschen gewesen. K. D. hatte auch ihn angeworben. Für bestimmte Aufgaben, spezielle Einsätze brauchte die Organisation manchmal Übeltäter. In gewissen Bereichen hatten nur Übeltäter Zugang zu verläßlichen Informationen. Also hatte K. D. Gaitonde ausfindig gemacht, in einem Gefängnis, und ihn angeworben. Gaitonde war eine gute Quelle gewesen, und seine Informationen, stets überprüft und verifiziert, waren solide und nützlich gewesen. Er hatte auch Aufträge übernommen und sie diskret und effizient ausgeführt. Zum Schluß war er abtrünnig geworden, er hatte den Geheimdienst verraten, Informationen erfunden und die Mittel der Organisation genutzt, um seine eigene Macht auszuweiten, doch am Anfang war Ganesh Gaitonde ein Übeltäter auf der richtigen Seite gewesen und K. D. sein Führungsoffizier. Um dieses Spiel gut zu spielen, mußte man die Übeltäter führen, sie dazu bringen, Böses zu tun, das letztlich Gutes war. Es war notwendig. Nur wer noch nie auf einem echten Schlachtfeld gestanden hatte, forderte unbefleckte Tugend und makelloses Verhalten. Auf dem Feld war die Moral jeglicher Handlung nur provisorisch, und das Spiel währte ewig. War also Ganesh Gaitonde ein Übeltäter? War Nehru ein Übeltäter?
Bewahr dir deine geistige Klarheit, halt sie fest. Denk nicht an Nehru, das lenkt dich nur ab. Deine Gedanken schlingern, entgleiten dir. Du bist krank. K. D. ballt die Fäuste, hebt den Kopf. Das Mädchen ist aufmerksam, hat die Stirn leicht gerunzelt. Genau wie ihr Vater. Ihr Vater hieß Jagdeep Mathur, K. D. hat ihn an einem Wintermorgen kennengelernt, in einem Konferenzraum in Lucknow, in der Lucknow University. Der Konferenztisch ist mit grünem Filz überzogen, und an allen vier Wänden hängen Gemälde von bedeutenden Europäern in akademischer Robe. Siebzehn Männer sitzen um den Tisch, alle Anfang Zwanzig, alle mit scharfem Blick, intelligent und gebildet. K. D. hat keinen von ihnen je zuvor gesehen, sie sind alle für punkt neun Uhr in dieses Zimmer einbestellt worden. Sie reden nicht miteinander, warten einfach, üben Zurückhaltung, denn sie wissen, daß sie für eine verdeckte Tätigkeit bei einer Organisation angeworben werden, deren Name ihnen bisher nicht genannt wurde. Mit K. D. hat man nach einer äußerst diskreten Kontaktaufnahme durch den Vizekanzler seiner Universität in Patna bereits zwei Gespräche geführt. K. D. glaubt den Grund dafür zu kennen: Er hat einen Bachelor-Abschluß mit Auszeichnung in Geschichte, einen Jura-Bachelor sowie das C-Certificate des Nationalen Kadettenkorps und hat als Sportler landesweiten Ruhm errungen. Er ist durchtrainiert und diszipliniert und besitzt eine erstklassige Bildung. Bisher hat er seine Zukunft am ehesten im juristischen Bereich gesehen, doch diese geheimen Vorstellungsgespräche, diese verborgene Welt, die Verheißung einer dringlichen und außerordentlich wichtigen Arbeit erfüllen ihn mit lebhaftem Interesse. Und so wartet er am Tisch mit all den anderen Männern, die er als Spiegelbilder seiner selbst erkennt - er sieht an ihren kräftigen Unterarmen und aufmerksamen Blicken, daß auch sie zugleich Sportler und Akademiker sind. Die breite Flügeltür am Ende des Saals öffnet sich, und zwei Männer mit militärischem Haarschnitt treten ein. Ihnen folgt auf dem Fuß ein älterer Mann im grauen Jackett, nach seiner dicken Nickelbrille zu urteilen vielleicht ein Professor. Der Professor geht auf den Tisch zu und dreht sich dann erwartungsvoll zur Tür um. Dann tritt Nehru ein. K. D. spürt, wie er errötet. Es ist unfaßbar, aber dort steht tatsächlich Jawaharlal Nehru.
»Meine Herren«, sagt Nehru, und seine Stimme ist heiser, fast brüchig. Die jungen Männer springen alle auf, ein lautes Scharren auf dem Holzfußboden, und er winkt ihnen ungeduldig, sich wieder zu setzen. Er nimmt ganz formlos Platz, beugt sich vor, stützt die Ellenbogen auf den Tisch. Seine Hände sind weiß, und K. D. sieht, daß die Fingernägel makellos sauber sind. Aber er sieht müde aus, dieser Nehru. Seine Augäpfel sind gelblich, die Wangen aufgedunsen. Es ist der 18. Februar 1963. »Meine Herren, Sie haben alle die Krise miterlebt, die Indien kürzlich zu bewältigen hatte. Wir leben in gefährlichen, in krisenhaften Zeiten. Die Grenzen unseres Landes wurden verletzt, und unser Vertrauen ist erschüttert worden. Und zwar ausgerechnet von den Chinesen, die wir für unsere Freunde gehalten haben. Wir müssen dafür sorgen, daß so etwas nie wieder geschieht. Daher muß unser Land seine jungen Männer heranziehen, die besten und klügsten. Wenn ich Sie betrachte, sehe ich in Ihren Gesichtern das heilige Licht einer uralten Vergangenheit, und das erfüllt mich mit Zuversicht. Ich fordere viel von Ihnen. Ihr Land wird Ihnen bei Ihrer Arbeit das Unmögliche abverlangen. Aber Sie müssen durchhalten. Unsere Zukunft ruht auf Ihren Schultern. Ich vertraue auf Ihre Kraft und Ihr unerschütterliches Pflichtbewußtsein. Jai Hind.« Er steht abrupt auf und schüttelt dem Mann zu seiner Linken die Hand. Und dann dem nächsten. Während K. D. darauf wartet, daß er an die Reihe kommt, hat er Zeit, Nehru zu beobachten. Ihm wird bewußt, daß er schwer atmet, als wäre er gerade einen Kilometer gesprintet. Als er an der Reihe ist, streckt ihm Nehru die Hand hin und sagt etwas. K. D. ist verdutzt: »Sir?« Nehru greift schon nach der nächsten Hand, doch er sagt - ohne K. D. anzusehen - noch einmal: »Tu dein Bestes, mein Sohn.« In seiner Stimme schwingt ein Hauch von Ärger mit, weil er sich wiederholen muß, doch K. D. bedeuten diese Worte viel, und er stellt fest, daß Nehru zu niemand anderem etwas sagt, nicht einmal zu dem Professor. Nehru geht, die Flügeltür schließt sich hinter ihm. Nehru hat nur mit K. D. gesprochen, nur mit ihm.
Der Professor bedeutet ihnen, sich wieder zu setzen. »Meine Herren«, sagt er. »Wie der Premierminister eben erklärte, sind Sie ausgewählt worden, weil Sie die Besten sind. Willkommen in unserer Organisation.« Es stellt sich heraus, daß der Professor gar kein Professor ist, sondern Additional Commissioner im Intelligence Bureau, dem, wie er ihnen mitteilt, ältesten Geheimdienst der Welt. Und wenn sie sich entschlössen, die Papiere zu unterzeichnen, würden auch sie zu Mitgliedern, Arbeitern, Soldaten dieser altehrwürdigen Organisation werden. Sie unterschreiben alle begierig, von Nehrus Auftritt noch ganz benommen.
Später am Vormittag feiern sie zu fünft bei Yusuf im Chowk Bazaar, wo Jagdeep Mathur sie hingeführt hat, einer aus ihrem Kreis, der in Lucknow aufgewachsen ist. Sie essen Kakori Kebabs, ihm zufolge die besten in ganz Lucknow, und unterhalten sich über Nehrus magisches Erscheinen in ihrer Mitte. Mathur macht Nehru für das erst kürzlich erlittene Debakel im Himalaja verantwortlich, für die vielen Niederlagen und all die Toten, und K. D. kann nicht umhin, ihm zuzustimmen. Trotzdem hört er sich den Idealismus des alten Mannes verteidigen, dessen Glauben an eine von Rationalität bestimmte friedliche Zukunft.
»K. D., Yaar«, sagt Mathur, »du bist genau wie meine Mutter. Die läßt sich immer darüber aus, wie verdammt gut Pandit-ji doch aussieht, daß er nur das Beste will, daß Gandhi-ji ihn wie einen verdammten Sohn geliebt hat und was Nehru doch für ein guter Mensch ist. Ich finde, wir sollten keinen guten Menschen zum Premierminister haben. Gute Menschen sind meistens Dummköpfe. Für gute Menschen bezahlen andere mit dem Leben. Und da wir in einer Welt leben, in der es die verdammten Chinesen, die verdammten Amerikaner und die verdammten Pakistanis gibt, brauchen wir keine guten Menschen, sondern Menschen, die Kakori Kebabs essen und dicke Stöcke bei sich tragen.«
K. D. nickt und sagt: »Dicke Lathis, um genau zu sein.«
Mathur lacht, er hat ein eckiges Gesicht mit schweren, kantigen Kieferknochen, ist mit seiner hellen Haut und seinen hellbraunen Augen jedoch ausgesprochen attraktiv. K. D. findet, daß er wie ein typischer Lucknower Brahmane aussieht, und er weiß, daß Mathur wiederum K. D.s Nachnamen sofort registriert hat und ihn womöglich in eine für Yadavs und andere niedrige Kasten reservierte Schublade gesteckt hat - wie es zweifellos all seine anderen neuen Kollegen auch getan haben. K. D. ist gleich aufgefallen, daß diese sehr alte Organisation, genau wie andere sehr alte Organisationen, unbestreitbar brahmanisch ist, mit einer geringen Beimischung von Kayasths und Pajputs. Doch Mathurs Grinsen ist aufrichtig, und er zögert keinen Augenblick, bevor er über den Tisch langt und K. D. auf die Schulter klopft. »Bloody big lathis«, sagt er glucksend. »Verdammt dicke Lathis, genau. Bist du ein Stockkämpfer, K. D.?«
»Ja«, antwortet K. D. »Ich habe viele Jahre in Shakhas579 verbracht.« Das stimmt, er hat manch einen Abend in einer hell erleuchteten Sandgrube gestanden, den Lathi über seinen Schultern herumgewirbelt und von kakhi-gewandeten Lehrern Verteidigungs- und Angriffstechniken beigebracht bekommen. K. D. merkt, daß Mathur das gefällt. Er hat eine Art Prüfung bestanden. Mathur mag ihn.
Und seit diesem Vormittag mit den Kakori Kebabs wird Mathur von seinen Kollegen nur noch liebevoll »Bloody Mathur« genannt, bis zu jenem Tag zwei Jahrzehnte später, an dem er verschwindet. Er hinterläßt, auf einer Landstraße rund hundert Kilometer nördlich von Amritsar, einen weißen Ambassador mit geplatzten Reifen, einen toten Fahrer, einen toten Leibwächter und einen toten Informanten namens Harbhajan Singh, alle aus nächster Nähe von mindestens drei AK-47 niedergeschossen. K. D. ist an diesem Tag, in diesem Jahr sehr weit weg, auf der anderen Seite dieser wild rotierenden Erde: in London. Er wird durch einen Anruf aus der Europa-Abteilung in Delhi über Mathurs Verschwinden informiert, legt auf und betrachtet durchs Fenster die im gleichmäßigen Rhythmus angeordneten Haustreppen an einem englischen Platz, die weißgrauen Fassaden unter einem bedeckten herbstlichen Himmel. Eine Viertelstunde später hat K. D. in einem Pub drei Straßen weiter ein Treffen mit einem Informanten, einem militanten Sikh, den er seit einem halben Jahr umwirbt. Er muß wachsam und vorsichtig sein, denn er weiß, daß dieser Militante auch von einem pakistanischen Offizier angezapft wird, einem ISI-Mann278 namens Shahid Khan, doch er kann nur an Anjali denken, die kleine Anjali.
Anjali. Sie heißt Anjali. Sie ist die Tochter von Bloody Mathur. Sie sitzt jetzt vor mir, hier in diesem Krankenhaus im Sektor V von Rohini, Neu-Delhi. Ich bin nicht in Lucknow, ich bin nicht in London. Ich bin hier. Anjali. Halt das fest. Wirf nicht Zeiten, Daten, Orte durcheinander. Halt die Reihenfolge ein. Da ist einmal Lucknow, wo du Mathur kennengelernt hast, und zum anderen sein Verschwinden im Punjab, aber dazwischen liegen Jahrzehnte. Außerdem gab es die NEFA454, Naxalbari, Kerala, Bangladesh, London, Delhi, Bombay. Erinnere dich an die Missionen, die Entfernungen - die Verbindung der einzelnen Punkte ergibt eine Gestalt. Die Gestalt ist die Bedeutung. In der Gestalt meines Lebens muß eine Bedeutung liegen. Aber was ist seine Gestalt? Geh analytisch an die Sache heran, such nach Verbindungen zwischen den Ereignissen, nach Nähe, Wiederholung und Ähnlichkeit, nach dem Antrieb hinter dem Schwung, der Absicht hinter den Aktionen der anderen Seite. Darum geht es bei der geheimdienstlichen Arbeit. K. D. Yadav erinnert sich daran, wie er das gelehrt hat, in einem Seminarraum in Safdarjung. Und dieses Mädchen saß in der ersten Reihe. Anjali.
»Anjali«, sagt K. D. »Anjali.« Seine eingerostete Stimme kommt mit schmerzhaftem Kratzen in Gang, und er fragt sich, wie lange es wohl her ist, daß er etwas gesagt hat. »Wo warst du?« fragt er.
»Onkel, ich brauche deine Hilfe wegen Gaitonde.«
»Gaitonde ist tot.« Gaitonde ist tot. K. D. weiß das, aber er weiß nicht, woher er es weiß. Ich kann nicht mehr richtig denken, geht es ihm durch den Kopf. Sein größter Stolz war insgeheim immer sein gutes Gedächtnis gewesen, sein scharfes Auge für Details, seine glasklare Logik, seine analytische Kompetenz, dieses leuchtende, surrende Räderwerk von einem Verstand. Sein brillanter Geist war legendär, ihm verdankte er es, daß er stolz durch die Korridore der Brahmanen, durch Nehrus Royal Gardens hatte schreiten können. Aber wie war das, richtig zu denken? Im Zerfall seiner geistigen Kräfte, in den Ruinen, die sein Zusammenbruch hinterließ, lauert eine gewaltige Leere, ein absolutes Vakuum, das K. D. angst macht. Doch es ist da, dieses Verlustgefühl, dieser Verdacht, sein ganzes Leben könne vollkommen unbedeutend gewesen sein. Er sagt zu seinem kleinen Mädchen, seiner Anjali: »Die Spinne webt die Vorhänge im Palast der Cäsaren, die Eule ruft von Afrasiabs Türmen die Stunde aus.«
Sie runzelt die Stirn. »Was hat Sultan Mehmet mit Gaitonde zu tun?«
Er ist begeistert, muß lachen. Was hat sie für einen scharfen Verstand! Sie hat in Geschichte promoviert. Sie versteht seine undurchsichtigsten Andeutungen, hat die esoterischsten, nutzlosesten Schriften gelesen, sie ist seine Erbin, ist genausosehr seine Tochter wie die von Bloody Mathur. Niemand anders als sie hätte sich sofort daran erinnert, daß Sultan Mehmet, als er seine Armeen erfolgreich über die Landmauern von Byzanz geführt hatte, einem Reich, das seit 1123 Jahren und 18 Tagen bestand (erinnert euch an die Details!), ein feuriges Ende bereitete - nach einem Tag des Mordens und der Gefangennahmen, der Vergewaltigungen und Plünderungen. Niemand sonst hätte sich daran erinnert, daß der Sultan nach alldem durch den Palast der Kaiser schritt, wo die byzantinischen Herrscher ein von Luxus und Intrigen bestimmtes Leben geführt hatten, und in diesem Moment des Sieges zum Himmel emporblickte und flüsterte: »Die Spinne webt die Vorhänge im Palast der Cäsaren, die Eule ruft von Afrasiabs Türmen die Stunde aus.« Aber reiß dich zusammen, K. D., diszipliniere dich. Anjali braucht dich. Was hat Gaitonde mit Mehmet zu tun? Ja, was nur? »Entschuldige«, sagt K. D. »Entschuldige. Gaitonde.«
»Ja«, sagt sie. »Gaitonde.«
»Was war die Frage?«
»Meinen letzten Informationen zufolge hat Gaitonde vor seinem Tod drei Sadhus in Bombay gesucht. Warum? Warum Sadhus? Wo ist da die Verbindung?«
»Gaitonde hat im Gefängnis Yoga gelernt, als ich ihn angeworben habe. Die Lehrer kamen von irgendeiner bekannten Yogaschule.«
»Abhidhyana Yoga. Eine alte, etablierte, sehr angesehene Schule. Darum habe ich mich schon gekümmert. Soweit wir wissen, hat Gaitonde nach seiner Entlassung keinen Kontakt mehr dorthin gehabt.«
Die Yogalehrer waren weiß gekleidet, sie unterrichteten im Haupthof des Gefängnisses und trugen Texte aus dem Mahabharata und dem Ramayana521 vor. Durch Yoga sollten die Kriminellen ruhiger und dadurch zu besseren Bürgern werden. Aber K. D. hatte sich immer gefragt, warum die Lehrer das glaubten. Das Yoga konnte auch einfach bessere Kriminelle hervorbringen, ausgeglichenere, in sich ruhende Schläger, die in ihrer Kriminalität effizienter waren. Jener Erzschurke, Duryodhana186, war garantiert ein Yogi gewesen. Sie waren es alle, diese bösen Krieger. Gaitonde hatte sehr ruhig ausgesehen in seiner weißen Häftlingskluft, dort im sonnigen Büro des Gefängnisdirektors. Gaitonde. Warum war er hinter den Sadhus her? Denk nach, hilf Anjali, hilf ihr. »Gaitonde war fromm«, sagte K. D. »Er hat dauernd Pujas abgehalten, Geld für Tempel gespendet. Er hat allen Maths406 Geld gegeben, wir haben Bilder von ihm und den heiligen Männern. Er kannte bestimmt viele Sadhus. Was ist an diesen dreien so besonders?«
»Das wissen wir nicht. Wir wissen nur, daß es um drei Sadhus ging. Sie waren ihm so wichtig, daß er ihretwegen seine Deckung verließ und nach Indien zurückkam. Er wußte, daß wir unzufrieden mit ihm waren, er muß Sanktionen befürchtet haben, muß befürchtet haben, umgebracht zu werden. Und trotzdem ist er zurückgekehrt. Warum? Weißt du irgend etwas? Kannst du dich an irgendwas erinnern, Onkel?«
Ja, er kann sich erinnern. Sie sucht nach Einzelheiten, Struktur, nach ein oder zwei Details, die ineinandergreifen und das Rätsel lösen, die Gaitonde, sein Leben und seinen Tod erklären. So hat K. D. Yadav es ihr beigebracht. K. D. Yadav hat wieder Zugriff auf seine Erinnerung, doch es fehlt die Reihenfolge. Er sieht einzelne Elemente, doch nicht den Abstand zwischen ihnen. Für ihn ist die Vergangenheit nicht mehr durch eine deutliche, wohltuende Grenze von der Gegenwart getrennt, alles ist gleichermaßen gegenwärtig, alles ist miteinander verbunden, ist hier. Warum? Was ist mit mir passiert? K. D. weiß es nicht mehr. Aber er weiß es doch. Er fliegt in einem Hubschrauber in ein Tal hinein. K. D. grinst, lacht, er kann nicht anders, er war noch nie in der Luft, sie folgen dem langen quecksilbrigen Band eines Flusses, kurven rüttelnd über dem dichten Grün dahin, über den tief schwarzen Schatten am Fuß der Höhenrücken. Das Licht draußen ist strahlend, ein frühmorgendliches Gold, das die vibrierende Plexiglashaube erfüllt, und der Himmel ist von einer Farbe, wie K. D. sie noch nie gesehen hat, ein sattes, lebhaftes Blau, das über sein Gesicht wandert, ein Farbton, den er in seiner Haut spüren kann. Er lächelt, und einer der Piloten dreht sich um und lacht ihn an. Es sind Armeeflieger vom Stützpunkt in Pasighat. Der Pilot zeigt nach unten, auf einen braunen Fleck am Wasser, nicht weit von den Gischtkämmen, die K. D. an den Felsen vorbeischießen sieht. Dann schraubt sich ihnen der Boden entgegen, und sie sind gelandet. Der Helikopter hebt wieder ab, kaum daß K. D. ausgestiegen ist, und im nächsten Moment ist er nicht mehr zu sehen, ist verschwunden und mit ihm sein Getöse. Jetzt hört K. D. ein anderes Geräusch, ein leises, aber durchdringendes Zwitschern. So einen Vogel hat er noch nie gehört, da ist er sich sicher. Und jetzt wieder ein anderes Geräusch, wie wenn jemand eine Blechdose voller Steinchen schüttelt. Und noch eins, aber diesmal bezweifelt K. D., daß es ein Vogel ist, es ist ein heulender Lockruf mit einer Art Schnalzen am Ende. Zwischen den Baumstämmen auf der anderen Seite der Lichtung hängt ein unendlich tiefes blaugrünes Licht, eine ganz eigene dunstige Welt, von der K. D. absolut nichts weiß: NEFA. Er ist allein in der North Eastern Frontier Agency, in einem gelben Buschhemd und billigen ledernen Straßenschuhen und mit einem grünen Armeerucksack. Plötzlich hat er Angst, panische Angst. Zwei Monate Ausbildung, denkt er, ganze zwei verdammte Monate, und niemand hat mich auf das hier vorbereitet, auf diesen Dschungel, diesen unbekannten Himmel über mir.
Nach zwei Stunden taucht ein Zug der Assam Rifles032 auf, und die Jungs erklären ihm, sie seien durch einen Erdrutsch drei Kilometer weiter aufgehalten und zu einem Umweg gezwungen worden. K. D. hört dem seltsamen Hindi des Subedar603 konzentriert zu und fragt dann: Wie weit müssen wir laufen? Der Subedar grinst und sagt nichts. Er hat ein Paar Stiefel für K. D. dabei. Die Stiefel sind zu groß, aber das ist besser als zu klein. K. D. zieht drei Paar Socken übereinander und marschiert los. Einundzwanzig Tage lang. Am dritten Tag sind seine Beine so hart und verkrampft, daß er nicht mehr in die Hocke gehen kann, um sich zu erleichtern, er lehnt sich gegen einen Baum und weint. Es ist eine Eiche, das weiß er, und in dieser Erkenntnis liegt Trost. Als er erfahren hat, daß man ihn in diese Berge schicken würde, hat er sich ein Buch über die örtliche Flora und Fauna gekauft und es in seiner Freizeit studiert. Daher weiß er, daß er Magnolien sieht, ein paar verstreute Pappeln, eine Kastanie. Sie folgen dem Verlauf des Flusses, schreiten stetig bergan auf einem Weg, der mit zahlreichen Windungen und Kehren durch den Wald nach oben führt. In diesen ersten Tagen des Marsches, der ersten Woche, kommen sie an paar- oder gruppenweise zusammenstehenden Stelzenhäusern vorbei, die von kleinen Anbauflächen umgeben sind, Reis und Hirse, am Rand der Felder sieht man noch die kohlschwarze Asche des abgebrannten Waldes. Vor den Häusern sitzen Frauen und weben, und die jungen Soldaten machen höhnische Bemerkungen über ihre Nasenstöpsel. Die Männer der Gegend tragen alle lange, gerade Klingen am Gürtel, und der Subedar erzählt ihm, daß sie diese Daos bis vor wenigen Jahren zum Köpfeabschlagen benutzt haben. Die Männer sehen athletisch genug aus, um die Daos zu schwingen und damit Glieder abzuhacken, doch K. D. findet nicht sie beängstigend, nicht die fremdartigen, schrägstehenden Augen unter den konischen Bambushelmen. Nein. Was ihm angst macht, ist der Atem des Dschungels, das knarrende Seufzen des Bambus, der sich unter dem Wacholder emporreckt. Ein Röhren und Dröhnen erfüllt das blaue Licht unter dem Blätterdach. Der Dschungel spricht mit sich selbst, langgezogene Rufe und Antworten, die K. D. überraschen, ihn nervös und fahrig machen. Die Soldaten lachen ihn aus, wenn ihn ein Schrei direkt über ihm wider Willen zusammenschrecken läßt. »Das ist doch nur ein Affe«, sagt der jüngste von allen und rückt sich das Gewehr auf der Schulter zurecht. Seine Verachtung ist unüberhörbar, und K. D. spürt, daß sie berechtigt ist. Er weiß, daß es nur ein Affe ist, und trotzdem vergräbt er sich jede Nacht unter seiner Decke, zieht sie sich über den Kopf. Morgens erwacht er erschöpfter, als er es am Tag zuvor war. Die Berge erheben sich in der Frühe massiv und schwarz über ihnen, ragen dicht umhüllt Schulter an Schulter in den sich rosa verfärbenden Himmel.
Sie überqueren einen Grat und steigen wieder ab, laufen an einem anderen rinnsalartigen Fluß entlang, der sich zu einem reißenden Strom verbreitert. Mit einiger Anstrengung waten sie hindurch und essen schließlich am anderen Ufer zu Mittag, die Flanke eines Hirschs, den der Subedar zwei Tage zuvor geschossen hat. Die Berge auf beiden Seiten fallen steil wie Mauern ab, und der Himmel ist eine ferne Spiegelung des Flusses, ein schmales, gewundenes Band hoch über ihnen. Dann gehen sie wieder los. Sie steigen, und K. D. weiß, daß es diesmal viel höher hinauf geht. Sie marschieren durch einen Tränenkiefernwald, vorgebeugt, um ihre schweren Rucksäcke besser tragen zu können, und K. D. ist zu müde, um über die Orchideen zu staunen, die weiß, überirdisch weiß, aus dem Gras emporleuchten, ihm läuft der Schweiß in die Augen. In einem langen Feld mit seufzendem grünen Bambus flattern ihm Vögel über den Kopf. Dann geht es durch ein letztes Pappelwäldchen hindurch, und nun schwingt sich vor ihnen eine schmale Wiese halbmondförmig nach oben. Auf ihr gehen sie weiter, höher und höher hinauf, und als K. D. sich umdreht und Richtung Süden schaut, sieht er den Grat, den sie bereits überquert haben, und dahinter, gestaffelt unter dem weiten roten Himmel, Dutzende andere. Sie schlagen ihr Nachtlager auf der Wiese auf, K. D. liegt schräg am Hang und schläft ein, sobald er sich die Decke über den Kopf gezogen hat. Am nächsten Morgen nehmen sie ein kaltes Frühstück zu sich, gehen wieder los und erreichen einen Bergsattel, der wie ein V in den Grat eingeschnitten ist. Zwei Tage haben sie gebraucht, um allein diesen letzten endlosen Hang hinaufzuwandern. Sie marschieren der Reihe nach durch den Engpaß, K. D. genau in der Mitte. Er geht um einen festungsartigen Felsblock herum und betrachtet seine Knöchel vor den Sprüngen im Stein, dann blickt er auf, und ihm stockt der Atem. Auf der anderen Seite des Tals sieht er weitere Wiesen, aber über diesen Hängen, dahinter, ragt das gezackte Weiß in den Himmel, von weißen Wolken überwölbt. Die gewaltigen silbernen Gipfel sind sehr weit weg, und doch spürt K. D. ihre ungeheure Unmenschlichkeit, ihre Gleichgültigkeit. Er versucht wieder ruhiger zu atmen, spürt den eisigen Hauch der weißen Gebirgskämme wie eine Kralle in seinem Hals. Der Mann hinter ihm stößt ihn unsanft an. »Was gucken Sie denn so, Raja-saab? Das ist Tibet, da drüben.«
»China«, ruft der Subedar von weiter unten herauf, ohne sich umzudrehen. »China.« Der Subedar ist neununddreißig und hat in den jüngsten Auseinandersetzungen nicht weit von hier gegen die Chinesen gekämpft. Seine Haut hat die Farbe und Konsistenz von altem Ölpapier. Er heißt Lalbiaka Marak, ein Name, der K. D. völlig fremd ist. Unter den jungen Soldaten gibt es einen Das und einen Gauri Bahadur Rai, aber die anderen haben Namen wie Vaiphei, Ao, Lushai und, geradezu exotisch, Thangrikhuma. K. D. zweifelt nicht daran, daß ihn die Jawaans288 ihrerseits auch seltsam fremd finden. Sie haben sich angewöhnt, ihn Raja-saab zu nennen, er weiß nicht recht, warum. Mit seinem Stoppelbart, seinen aufgesprungenen Lippen, seinen Füßen voll nässender Blasen fühlt er sich nicht gerade königlich. An der Schwelle zu dieser großartigen, todbringenden Landschaft, in der Gesellschaft dieser Männer, die angeblich seine Landsleute sind, fühlt sich K. D. Yadav vollkommen allein. Ginzanang Dowara steht direkt hinter ihm, und K. D. riecht seinen milchigen Schweiß. K. D. zieht mit den Schultern den Rucksack höher, senkt den Kopf und geht weiter. Nach einundzwanzig Tagen haben sie die Basis erreicht.
Hundertsechzig Männer, alle von den Assam Rifles, leben in dieser kleinen Siedlung aus einfachen Holzhütten und Zelten. Die Armee hat zwei Leutnants und einen Captain abgeordnet. »Wir sind offiziersmäßig ein bißchen unterbesetzt«, sagt der Captain zu K. D., »es sind schwere Zeiten.« Der Captain heißt Khandari und ist selbst im Gebirge aufgewachsen, in Garwahl, aber diese Berge hier haßt er. »In Garwahl haben die Berge eine Seele«, sagt er. »Hier sind sogar die Berge Junglis301.« K. D. lacht ihn aus, weist ihn darauf hin, daß die Berge demselben Massiv angehören, derselben Gebirgskette, die sich von Westen nach Osten über den ganzen Subkontinent windet. Doch obwohl er es nicht zugibt, weiß K. D. genau, was der Captain meint: Diese Täler zu ihren Füßen sind auf eine sehr tiefgreifende Art fremd, sehr fern von allem, was er kennt. Captain Khandari war im jüngsten Krieg oben im Norden von Ladakh im Einsatz, und er haßt Nehru erbittert, denn wie er sagt, sind die Männer alle in einem Kampf ohne Munition, ohne Unterstützung und ohne Hoffnung gefallen. Captain Khandari säuft jeden Abend, trinkt gewaltige Mengen des Armee-Rums, und er spielt jeden Abend mit den beiden Leutnants - Rastogi und DaCunha - in seiner Hütte Teen-patti. K. D. gesellt sich zu ihnen, beteiligt sich zwar nicht an ihrem Glücksspiel, ihrem wilden Kartenhinknallen, doch beim Trinken ist er dabei. Der Rum vertreibt das schreckliche Gefühl der Isolation, diese trostlose Empfindung, durch die Berge und undurchdringliche Dunkelheit von allem abgeschnitten zu sein. Es ist behaglich, angesäuselt in der Hütte am Feuer zu sitzen und sich Geschichten zu erzählen. Nach vier Nächten kennt K. D. seine neuen Freunde, seine Kumpel, weiß von DaCunhas hoffnungloser Liebe zu Sadhana und ihrem prächtigen Technicolor-Hintern, weiß von Rastogis Begeisterung für abstruse mathematische Fakten, Rätsel und Tricks und hat - zu weit fortgeschrittener Stunde - Khandari mit schwerer Zunge und kaum noch verständlich von schreckenserfüllten Rückzügen über karge Hochplateaus erzählen hören. Wenn K. D. sich schließlich wankend auf den Weg zu seiner eigenen, schrankartigen Hütte macht, sieht er auf dem Exerzierplatz die erlöschende Glut von Lagerfeuern, die schattenhaften Umrisse ordentlich aufgereihter Zelte. Und hinter ihnen das absolute Schwarz immenser Felswände unter einem kalten, sternengespickten Himmel.
Am fünften Nachmittag fühlt sich K. D. von der Anstrengung des langen Marsches hinlänglich erholt, um zum Kommandozelt zu gehen und sich der Unausführbarkeit seiner Aufgabe zu stellen. Er ist in erster Linie beauftragt, die chinesische Präsenz in dieser Gegend auszukundschaften, ein Netzwerk von Informanten und einen Fundus von Informationen zu erstellen, zu überprüfen, ob sich die Chinesen tatsächlich zurückgezogen haben und keine weiteren Einfälle durchführen, sowie die künftigen Absichten der Chinesen und überhaupt aller in dieser empfindlichen Grenzregion irgend Anwesenden zu ergründen. K. D. weiß nichts über die Chinesen, kennt weder ihre Sprache noch ihre Geschichte oder Politik, und genauso fehlt es ihm an Wissen oder Erfahrung hinsichtlich dieser Gegend, ihrer Menschen, ihrer Geographie. Er ist ziemlich ratlos, doch er macht sich auf den Weg zu Captain Khandari. Der Captain wird ihm bestimmt sagen können, wo er ansetzen sollte. Aber der Captain hat einen üblen Kater und ist mürrisch, und K. D. bekommt schließlich aus ihm heraus, daß nur eine Patrouille pro Woche ausgesandt wird, die immer dieselben vier Kilometer in nordöstlicher Richtung bis zu einem Bunker auf einer Anhöhe geht. Das ist alles, was diese Einheit tut, um hier in der Gegend Präsenz zu zeigen und Informationen zu sammeln. Der Schock malt sich so deutlich auf K. D.s Gesicht, daß Captain Khandari mit den Achseln zuckt und sagt: »Da draußen ist keiner, wissen Sie. Keine Menschenseele. Die Chinesen sind weg. Da herrscht gähnende Leere.« K. D. bleibt stumm. Er versucht, all seinen Mut zusammenzunehmen, um etwas zu sagen. Schließlich neigt Khandari den Kopf und bricht das Schweigen. »Und?« fragt er. »Was wollen Sie jetzt machen?«
Drei Tage später verlassen zwei Patrouillen das Lager, mit Marschrouten, die K. D. auf Meßtischblättern selbst ausgearbeitet hat. K. D. bekommt jetzt die Feindseligkeit von Männern zu spüren, die aus ihrer Bequemlichkeit gerissen wurden, und um ihn ist Schweigen. Selbst Marak - sein Freund, der Subedar - hat nur mehr ein einsilbiges Grunzen für ihn übrig. K. D. findet eine tote Ratte unter seinem Bett. Rastogi und DaCunha kommen früher als erwartet mit ihren Patrouillen zurück, Rastogi ganze drei von sieben vorgesehenen Tagen. Natürlich berichten sie, daß sie nichts gesehen haben, absolut nichts, und K. D. ist sich sicher, daß sie hinter dem nächsten Grat ihr Lager aufgeschlagen und sich ein paar erholsame Tage gegönnt haben. In der folgenden Woche stellt er eine weitere Patrouille für DaCunha und Marak und einen Zug zusammen und geht selbst mit. Während der ersten ein, zwei Kilometer spürt er ein Stechen in den Füßen, aber er hat jetzt gute Stiefel, und nachdem sich seine Muskeln entspannt haben, genießt er die Anstrengung. Er hat abgenommen und fühlt sich stark. Es macht ihm Spaß, seine neu erworbenen Kenntnisse im Kartenlesen einzusetzen, und bei jedem Halt inspiziert er durchs Fernglas die fernen Bergrücken. Die Männer beobachten das mit einiger Belustigung, und DaCunhas Verhalten ist kaum noch höflich zu nennen. K. D. eträgt das alles schweigend, er tut seine Arbeit und gedenkt sie gut zu tun. Am vierten Tag schlagen sie im "Windschatten einer Felswand, die von silbrig glitzernden Adern durchzogen ist, ihr Lager auf, und K. D. öffnet eilig seinen Rucksack und zieht ein Buch heraus, denn es wird nicht mehr lange hell sein. Er giert nach Büchern, nach jedwedem Lesestoff. Das Rätsel der Sandbank, das er sich in die NEFA mitgebracht hat, ist längst ausgelesen. Er hat sich in der Zwischenzeit mit den Etiketten auf Medizinfläschchen und dem Kleingedruckten auf Formblättern begnügen müssen, und als auch die erschöpft waren, erfaßte ihn eine Art Panik, so als würde er langsam ertrinken. Doch dann, kurz vor dem Aufbruch der Patrouille, hat er in einer Ecke des Kommandozelts hinter einem Stapel Proviant- und Materiallisten zwei Bücher gefunden, die ein früherer, möglicherweise längst toter Offizier zurückgelassen hat. Und so liest er nun - in Sichtweite von Tibet - William Benhams Buch der Handlesekunst. Er liest sehr langsam, kostet jeden Satz aus, denn das Buch muß lange vorhalten. Also verweilt er auf jeder Seite bei den Absurditäten dieser Lehre, derzufolge die Gestalt der Zukunft in den Linien der Vergangenheit zu finden und eine Bedeutung in den fleischigen Hieroglyphen der Handfläche zu erkennen sei. Es muß lange vorhalten, denn das andere Buch, Cheiros Chiromantie, das in seinem Rucksack steckt, ist keine zwei Zentimeter dick, und sich diesen Bergen ohne Lesestoff gegenüberzusehen wäre unerträglich.
Plötzlich beugt sich Marak zu ihm herüber und nimmt ihm das Licht. Marak schaut auf das aufgeschlagene Buch hinunter, in dem Benham gerade das übliche Größenverhältnis zwischen Handbergen und Fingern beschreibt. Marak ist völlig fasziniert. Er hockt sich hin, die Arme auf den Knien, und fixiert K. D. »Sie lesen die Zukunft aus der Hand?«
»Ja«, sagt K. D. rasch. »Ja.«
Marak schiebt seine Hand vor K. D.s Gesicht. »Lesen Sie.«
K. D. hält Maraks rissige Hand in seinen beiden Händen und erzählt ihm von der Zukunft. So schwierig ist das gar nicht. Er greift auf einige von Benhams seltsamen Instruktionen zurück, doch vor allem läßt er Marak reden, über seine Ängste wegen der zarten Gesundheit seiner Frau, die Kämpfe um Ackerland mit seinen Brüdern, und K. D. extrapoliert und rät.
»Ihr Vater war ein sehr arbeitsamer Mann, er hat bis an sein Lebensende Tag für Tag von früh bis spät gearbeitet«, sagt er zu Marak, der ihn mit neuer Ehrfurcht betrachtet. Was natürlich völlig fehl am Platz ist, denn diese Aussage hat nichts mit Benhamschem Handlesen zu tun, sondern ist schlicht aus den Hinweisen abgeleitet, die Marak, begierig, die Gestalt seines künftigen Glücks zu erfahren und einen Talisman gegen die Verheerungen zu haben, die sicher zu erwarten sind, in seinen Fragen selbst gegeben hat. K. D. lenkt ihn sanft und spürt dann, daß es nicht gut ist, zuviel zu enthüllen, daß der Fragende nicht ganz zufriedengestellt werden darf - erfreut und beruhigt schon, aber nicht gesättigt. »Genug für heute«, sagt er bestimmt. »Ich bin müde.«
»Ja, Sir«, sagt Marak. »Ich bringe Ihnen einen Tee.«
Was er auch tut. K. D. hat unterdessen das dramatische Schauspiel des schwindenden Lichts auf dem gegenüberliegenden Berg beobachtet, die Bahnen von tiefem Rot und Schwarz. Er nimmt den Becher Tee entgegen und sagt träge: »Wir werden Chinesen sehen.« Er weiß nicht genau, warum er das sagt, vielleicht weil er gerade die Zukunft vorhergesagt hat und irgendwie hofft, daß sie Chinesen sehen werden. Nicht, daß er auf eine Konfrontation oder ein Gefecht scharf wäre. Er ist sich nicht sicher, wie mutig er im Kampf ist, und er weiß aus seinen drei kurzen Ausbildungseinheiten mit der Pistole, daß er ein ausgesprochen schlechter Schütze ist. Aber wenn sie Chinesen sähen, würde seine Ausbildung einen Sinn bekommen, seine theoretische Einweisung Substanz erhalten, und der Feind würde zur Realität werden. Und da er tagelang mit niemandem geredet hat, rutscht es ihm jetzt heraus: Wir werden Chinesen sehen. Und das tun sie tatsächlich. Am nächsten Tag kurz nach drei ruft Thangrikhuma, der an der Spitze geht, nach hinten: »Dushman187.« Sie gehen geduckt zum Rand des Grates und spähen durch das trockene Tal auf den benachbarten grauen Fels, wo sich mehrere Punkte bewegen. Thangrikhuma hat sehr gute Augen, K. D. kann den Dushman kaum sehen, aber durchs Fernglas werden aus den Punkten erkennbare Männer, eine Gruppe chinesischer Soldaten, die langsam nach Westen ziehen. Die Jungs und K. D. liegen dicht nebeneinander und beobachten sie. DaCunha raschelt mit einer Landkarte und verkündet dann: »Die sind auf ihrer Seite. Glaube ich.« Ihre Seite ist von unserer nicht zu unterscheiden: In diesem Ödland gibt es keine Grenzsteine, keine Zäune. Aber sie sind dort und wir hier.
Über die nächsten zwei Tage folgen K. D. und seine Männer dem Grat, parallel zu den Chinesen. Sie achten darauf, außer Sicht zu bleiben, und die Chinesen führen sie ganz offensichtlich zu einem neuen Vorposten, drei Bunker auf einem Vorsprung mit Blick auf einen Paß und ein Unterstand für einen schweren Granatwerfer. Das ist eine wertvolle nachrichtendienstliche Information, doch die Männer sind in erster Linie von K. D.s Vorhersage beeindruckt, die sie nicht auf Scharfsinn, Ausbildung oder taktische Kenntnisse zurückführen, sondern auf mystische Erkenntnis. Im Laufe des Marsches kommen sie alle zu ihm, einer nach dem anderen, und so ist er bald mit ihrem Leben vertraut, nicht nur mit der nach außen präsentierten Persönlichkeit, sondern mit ihren Ängsten und Beklemmungen, die er gleichsam einatmet, wenn sie vor ihm kauern. Selbst DaCunha wird schließlich schwach, so daß K. D., als sie sich auf den Rückweg machen, von dessen geistig behinderter Schwester erfahren hat und von Violet, die in Panjim auf ihn wartet. Als sie ihr letztes Lager vor dem Stützpunkt abbrechen, hilft Marak K. D., seinen Schlafsack zusammenzurollen, und lächelt ihn vertraulich an. »Saab«, sagt er. »Am ersten Tag auf unserem Marsch gab es eine Riesendiskussion. Ein paar von uns haben gemeint, es wäre sehr einfach, Sie in den Abgrund zu stoßen. Der neue Offizier ist abgestürzt, war unerfahren, was hätten wir tun sollen?« Marak lacht, während er die Gurte straffzieht. K. D. grinst zurück, doch ihn packt die Angst, und den restlichen Tag geht er möglichst weit vom Steilhang entfernt, so daß er mit der linken Schulter oft den Fels streift. Daß er selbst sterben könnte, ist ihm nie wirklich ins Bewußtsein gedrungen, ist nie als Erkenntnis in seinem Körper angelangt, dessen Zerfall einfach nicht im Bereich des Möglichen zu liegen schien. In den Erfolgsstorys, die er sich selbst erzählt, ist er stets siegreich, manchmal verwundet, aber immer noch am Leben. Diese sehr realen Fremden jedoch haben sein ebenso reales Sterben in Betracht gezogen. Einige von ihnen haben schon getötet und werden es wieder tun, sein Tod hätte sie kaltgelassen. Ein kurzer Stoß, und es wäre mit ihm vorbei gewesen. In dieser Nacht liegt er zitternd in seiner Hütte im Bett. Er traut sich nicht, die Augen zu schließen.
Als er erwacht, ist es dunkel. Er hebt die Hand, doch es ist kein Wecker da, kein leuchtendes Ziffernblatt. Er muß aufstehen, sich rasieren, baden, seinen Bericht schreiben, den verkaterten Captain Khandari aus seiner Benebelung reißen, ihn dazu bringen, seinen Bericht den Dienstweg hinaufzufunken. Wieviel Uhr ist es? Er hat viel zu tun. K. D. schlägt die Decke zur Seite und richtet sich auf, da überschwemmt Übelkeit seinen Kopf, und er muß würgen. Warum fühlt er sich bloß so schwach? Für dieses Muskelflattern in seiner Brust, dieses Zittern, das ihn wieder ins Kissen sinken läßt, war er gestern abend doch nicht müde genug. Die weiße Zimmerdecke holt ihn brutal in die Gegenwart zurück, und mit einem Ächzen begreift er, daß er nicht in seiner Jugend ist, nicht jene erste Ekstase nach einem gut ausgeführten Auftrag auf den kargen Gipfeln im Norden erlebt, sondern in einem Krankenhausbett in Delhi liegt und allmählich den Verstand verliert.
Er denkt über diesen Ausdruck nach: den Verstand verlieren. Was bliebe übrig, wenn man seinen Verstand gleichsam verlegte? Er erinnert sich an die Parabel, weiß, daß zur Erkenntnis des Ich ein anderes Ich notwendig ist, ein Auge, das die Vögel des Selbst betrachtet, während sie sich am Nektar der Welt gütlich tun. Aber gibt es noch einen Betrachter, wenn man die Strukturen des Verstandes wegnimmt, die Fassaden der Sprache, die Grundmauern der Logik, den Zusammenhang von Ursache und Wirkung? Was bleibt, wenn das alles in sich zusammenfällt? Glückseligkeit oder Betäubung? Präsenz oder Abwesenheit? Die Spinne webt die Vorhänge im Palast der Cäsaren, die Eule ruft von Afrasiabs Türmen die Stunde aus. Plötzlich erfüllt ihn pochende Wut, Wut über die Gewalt, die ihm angetan wird. Ich habe mein Bestes getan. Ich habe getan, was von mir verlangt wurde. Die zornige Anspannung seiner Sehnen wird zum Krampf, und einen Moment lang zuckt er heftig, hat einen dröhnenden Pulsschlag gleich dem Trommeln eines Mishmi-Priesters421 im Ohr. Er kämpft sich durch das Dunkel, das ihn zu überwältigen droht. Ich bin klar. Ich kann mich an mein Leben erinnern, seine Geschichten zurückverfolgen. Ich habe mein Handwerk in der NEFA gelernt, habe ein geheimdienstliches Netzwerk aufgebaut, wo vorher keines war, indem ich Informanten gewonnen, Zellen und Kanäle erschlossen habe. Ich habe das besser gemacht als irgendein anderer Kollege, egal wo, ich habe härter, riskanter und aufrichtiger gearbeitet als sie alle, weil ich ein Yadav war und sie anderes von mir erwarteten, zumindest einige von ihnen. Sie waren Brahmanen und hatten klare Meinungen zu OBCs. Darüber habe ich nie mit jemandem geredet, nicht einmal mit Bloody Mathur. Ich habe einfach gearbeitet. Nach der NEFA kamen die Reisfelder von Naxalbari, wo ich als Händler gereist bin und die Mörder von Polizisten, Richtern und Steuereintreibern aushorchte, die verblendeten Jungs verfolgte, die ihr bequemes Mittelschichtzuhause in Kalkutta verlassen hatten, um im Norden eine Revolution zu machen. Einen von ihnen habe ich sogar getötet, diesen Möchtegern-Maoisten, der versuchte, mich umzubringen. Ich erinnere mich noch an seinen Namen, Chunder Gosh, und an das Blut, das ihm aus den Ohren spritzte, als ich ihm in die Stirn geschossen hatte. Ich entsinne mich genau unserer Aktionen gegen die kommunistischen Parteien in Kerala, unser Vorgehen gegen ihren Wahlkampf, ihre Ausbreitung, ihre Machenschaften, ja gegen ihre komplette Infrastruktur. Das haben wir für Nehrus Tochter getan, völlig illegal, aber gern, denn wir wußten, woher diese Parteien ihre Ideologie und Ausrichtung bezogen, und wir standen an vorderster Front und drängten die von Peking und Moskau gesteuerten Horden zurück. Und dann war ich in Ost-Pakistan und befragte die bengalischen Soldaten, die ihren Herren aus dem Punjab entflohen waren. Aufgrund der von mir gesammelten Informationen sind ganze Flugplätze durch präzise abgeworfene Bomben in Schutt und Asche gelegt worden. Nach Bangladesh dann wieder Delhi, das Lavieren mit ausländischen Diplomaten, die Mittagessen mit Botschaftsangestellten, der langsame Aufbau von Beziehungen, die schließlich schubweise verwertbare Erkenntnisse lieferten. Dann London, Punjab, Bombay. Mein Leben, diesem Kampf gewidmet, diesem langen, permanenten Krieg mit seinen verborgenen und ungesungenen Siegen. Ich habe die Arbeit getan. Ich erinnere mich an jede Zahlung, jede Quelle, jeden Angriff des Dushman. Ich habe dieses Indien verteidigt.
K. D. schnappt im Dunkeln nach Luft. Er hat nie geheiratet. »K. D. ist mit seinem Beruf verheiratet«, sagten seine Kollegen immer. Die meisten waren verheiratet und hatten Familie, Kinder und Enkel. Er war und ist allein. Er hat Frauen gehabt, ehrbare und verrufene. Er hat geliebt, hat für Sex bezahlt, ist von seinen Freunden mit eindeutigem Ziel Verwandten vorgestellt worden. Er sieht ein, daß die Ehe etwas Gutes ist, und erkennt ihre unbestreitbaren Vorzüge. »Wofür arbeiten wir denn sonst?« sagte Bloody Mathur einmal aufgebracht und besorgt zugleich. »Wofür das alles, wenn nicht für unsere Kinder und deren Zukunft?« K. D. konnte darauf nichts erwidern, hatte der dickbäuchigen Zufriedenheit seines Freundes, dessen Frau, die sanft murmelnd der Köchin Anweisungen erteilte, der fünfjährigen Tochter Anjali, die sich auf dem Teppich über ein Märchenbuch beugte, nichts entgegenzusetzen. Trotzdem ist er nicht in der Lage, einen der Heiratsanträge, die sein Freund ihm vermittelt, mit einem Ja zu beantworten oder auch nur eine zufriedenstellende Erklärung oder erhellende Beschreibung dessen zu liefern, was er eigentlich will. »Was willst du bloß?« fragt Mathur. »Was, was, was? Wer ist diese Heldin, auf die du wartest?« Doch K. D. ist nicht in der Lage, die Frau zu benennen, sie mit einer Liste von zehn Eigenschaften zu charakterisieren, Worte für seine aus dem tiefsten Innern kommende unausgegorene Verweigerung zu finden.
K. D. liegt im Krankenhausbett und fragt sich, worauf er gewartet hat. Jetzt ist es zu spät, er wird allein sterben. Auch sein Vater hat immer davon gesprochen, wie tröstlich es sei, mit einem Menschen gemeinsam durchs Leben zu gehen, aber war ihm Ma eine wirkliche Gefährtin gewesen? Die schlichte, stets verschleierte Ma mit ihrer Schüchternheit, ihrem stillen Wesen, ihrer endlosen Hausarbeit. Sie hatte ihren Mann bei seinem kräftezehrenden Aufstieg aus der Armut unterstützt, ihren Verwandten immer stolz von seiner Tätigkeit als Sportlehrer erzählt und ihm jeden Tag persönlich sein warmes Mittagessen gebracht, hatte seine Lieblingsspeisen in einem fünfstöckigen Henkelmann in sein winziges Büro neben dem Fußballplatz der Schule getragen. Aber sie war nicht imstande gewesen, ihm in die fremden Gefilde der englischen Sprache zu folgen, und bis zum Schluß hatten Telefone und Fernbedienungen, die Entfernung fremder Länder, die Größe der Welt sie zutiefst verwirrt. Sie hatten jung geheiratet, der künftige Leichtathletiktrainer Rajinder Prem Yadav und die schlichte Snehlata, waren noch jugendlich unausgereift, und hatten sich zu den beiden grundverschiedenen Stützen im Leben des jungen K. D. entwickelt: Papas glänzend schokoladenbraune Haut unter dem Weiß seines Banian, seine dröhnende Stimme, die den Reihen schwitzender Jungs Kommandos zurief, sein ungelenkes Englisch, seine Strenge, sein faszinierter, neidvoller Blick auf das Leichtathletiktraining in Rußland, und Ma mit ihren teigbedeckten Händen, ihren zahllosen Fest- und Fastentagen und Zeremonien, die in einem ewigen Zyklus aufeinanderfolgten, ihrem unnachahmlichen Lachen, das sie hinter ihrem Pallu versteckte, dem Stolz der Analphabetin auf die akademischen Errungenschaften ihres Sohns. Sie waren jahrzehntelang zusammen gewesen, Papa und Ma. Was hatten sie, Gefährten, die sie waren, abends im Schlafzimmer zueinander gesagt? Hatten sie einander vor diesem unheilvollen Dunkel bewahrt? K. D. fällt ein, wie er einmal nach einer Rauferei mit zwei Jungs von einer rivalisierenden Schule nach Hause rannte, mit schmerzendem Kiefer und einem Riß in der Tasche seines St.-Xavier-Hemdes. Ma hatte ihn an sich gedrückt und sich mit einem Kurkuma-Breiumschlag an ihm zu schaffen gemacht, bis K. D. sie wegschob, damit sie aufhörte. Papa hatte wie eine stählerne Säule dagestanden, die Augen zusammengekniffen, und K. D. gesagt, er solle die Jungs ausfindig machen und zusammenschlagen. »Im nächsten Trimester werden wir Boxen in den Schulsport aufnehmen«, sagte er. »Du mußt lernen, dich zu verteidigen.« Abends hatte Ma K. D. ein Glas Ovomaltine gebracht und ihm gesagt, er solle diese Barbaren von der staatlichen Schule ignorieren. »Die sind doch bloß neidisch, weil du auf so einer guten Schule bist. Vergiß sie, Beta, sei fleißig, dann wirst du vorwärtskommen. Laß dich nicht auf diesen Unfug ein, denk an deine Zukunft.« Ma glaubte fest daran, daß ihm eine große Zukunft bevorstand.
Inzwischen ist K. D. in dieser Zukunft angelangt und glaubt an gar nichts mehr, ja, er ist sich nicht einmal dieser Schmerzen in Hals und Kopf gewiß, ist von ihnen durchdrungen, doch zugleich außerstande, sicher und zweifelsfrei zu erkennen, ob sie Gegenwart sind oder nur wiedererlebte Vergangenheit. Und in Anbetracht dieses Zerfalls seines Körpers begreift K. D., daß alles, was er in seinem Leben gesehen hat, Einbildung war, daß ein Stein, den man fest in der Hand hält, nur ein Geist ist, den man sich im Kopf erschafft, daß Illusionen die einzige Realität sind. Die Zukunft ist eine Illusion, und die größte und gerissenste aller Illusionen ist die Gegenwart.
K. D. sieht zu, wie die Sonne die Wand hinaufkriecht. Er denkt über die Farbe nach, ein rotgeflecktes Orange, das mit dem langsamen Aufstieg in blassere Gelbtöne übergeht. Farbe gibt es gar nicht. Es gibt Photonen, die in der Welt herumschwirren und eine dünne Membran auf der Augenoberfläche durchdringen. Es gibt elektrische und chemische Vorgänge, die unvermittelte Effekte zeitigen, ähnlich wie eine Supernova. Aber Farbe als solche gibt es nicht. Eine Krankenschwester geht durchs Zimmer, stupst ihn an und redet mit ihm, doch er beachtet sie nicht. Es ist einfach, sie und das kurze Zwicken der Nadel, die sie in seinen Arm schiebt, zu ignorieren, das sind nicht mehr als diskrete Daten, die durch das Netzwerk seines Bewußtseins fließen, so unwirklich wie die Färbung des Putzes, die jetzt genau dem Farbton der Schale einer Papaya aus Kerala direkt am Stiel entspricht. Es ist eine ganz bestimmte Papaya, die K. D. vor sich sieht, er hat sie im Juni 1977 gegessen, in einem Dak Bungalow in Idukki. Die Papaya ist ihm völlig präsent, ihr leicht widerlicher Fäulnisduft, das glitschige Fruchtfleisch. Sie ist so real wie die Wand, die jetzt ein schmutziges Weiß annimmt. Und dann merkt er, daß ihre untere Hälfte immer noch dunkel ist.
Es ist nicht das Dunkel der Nacht. Die untere Hälfte der Wand fehlt, als hätte man K. D. Scheuklappen angelegt. Wenn er den Kopf zurücklehnt und wieder vorbeugt, kann er die Scheidelinie zwischen Sehen und Nichtsehen auf der Wand hoch- und runterbewegen. Und wenn er den Kopf zum Fenster dreht oder auf die andere Seite, zu der Tür in den Flur: ein halbes Fenster, eine halbe Tür. Es ist ein latitudinaler, ein äquatorialer Verlust. Die untere Hälfte der Welt ist aus seinem Gesichtsfeld verschwunden.
Als er einer Schwester von diesem neuen Symptom erzählt, wird das Personal sofort aktiv. Er wird aus dem Zimmer geschoben, untersucht, gepiekst, von Apparaten durchleuchtet. Dr. Kharas Kommentar später am selben Tag ist klar und sachlich. »Ihr CT zeigt eine weitere Läsion, eine kleine, hier. Wir nehmen an, daß Ihre Sehrinde beschädigt ist.« Sie deutet auf einen Querschnitt des menschlichen Gehirns, dessen einzelne Teile vergrößert und beschriftet sind. Die Farben sind leuchtend, ein Primärblau für die Hirnrinde, ein tiefes Rot für den Thalamus. »Die von dem Tumor verursachte Schädigung führt zu einem Skotom, einem Gesichtsfeldausfall. Das ist alles, was ich Ihnen sagen kann. Haben Sie gestern nacht irgend etwas gespürt? Übelkeit? Schmerzen?«
K. D. hätte ihr gern gesagt: Ich habe gespürt, wie mir die eisige Luft in die Kehle schnitt, als ich einen Grat hinaufkletterte, ich habe gespürt, wie mir in den Stiefeln die Blasen an den Füßen aufgegangen sind. »Nein«, sagt K. D., »nichts.«
Sie nickt und notiert sich etwas auf ihrem Block. Sie ist achtunddreißig, Dr. Anaita Kharas, verheiratet, zwei Kinder. Dr. Kharas und ihr Mann sind beide in Delhi geboren und aufgewachsen. Anjali hat sich ein bißchen über sie kundig gemacht. Sie begegnen einander argwöhnisch, Anaita und Anjali, ein wenig gereizt, aber K. D. sieht, wie sehr sie sich eigentlich ähneln, in ihrer Effizienz, ihrem nüchternen Kleidungsstil, ihrem energischen Auftreten, der Anstrengung, die es sie täglich kostet, angesichts der Skepsis und Aggressivität der Männer ihre Würde und Unabhängigkeit als Frau zu wahren.
»Ich fürchte, gegen diese Funktionseinbuße können wir nichts tun«, sagt Dr. Kharas. »Es gibt keine Operation, keine Behandlung, durch die sich das rückgängig machen ließe.«
»Verstehe«, sagt K. D. »Aber wird es schlimmer werden?«
»Das ist schwer vorherzusagen. Gliome sind von allen Tumoren die am wenigsten berechenbaren. Es hat Fälle von spontanen Remissionen gegeben. Wir werden unser Bestes tun. Versuchen Sie also, sich keine Sorgen zu machen.«
Er will kein Mitleid, sucht keinen Trost. Was er gern hätte, sind Zahlen. Wie lange wird sein Verstand noch funktionieren, wie schnell wird er schwinden? Sie hat darauf keine Antwort. Sie hält ihm in scharfem Ton einen kleinen Vortrag, er solle sich entspannen, nicht deprimiert sein, nicht aufgeben. Er lächelt für sie. Er mag sie. Als er in der Organisation anfing, gab es dort nur einen Parsi und keinen Moslem, keinen einzigen. Er hat immer wieder dagegen protestiert, hat auf die plumpe Ironie, die krasse Ungerechtigkeit der Tatsache hingewiesen, daß ein säkularer Staat von einer nichtsäkularen Organisation beschützt wurde. Aber den alten Männern an der Spitze erschien das Risiko zu groß, nicht gerechtfertigt angesichts dessen, was auf dem Spiel stand. Vergessen Sie nicht, bekam K. D. gesagt, gegen wen wir kämpfen. Ja. Der Dushman. Die sind dort, und wir sind hier. Die und wir.
Nun verschwindet sie, die gute Dr. Anaita, von einer ganzen Riege Medizinalassistenten und Krankenschwestern gefolgt. K. D. setzt sich im Bett auf und sieht zu, wie eine klare Flüssigkeit ruckend durch einen Schlauch in seinen Unterarm läuft. Anjalis Frage fällt ihm wieder ein: Warum drei Sadhus, warum hat Gaitonde versucht, die Sadhus zu finden? K. D. führt sich noch einmal seine Verbindung mit Gaitonde vor Augen, den ersten Kontakt im Gefängnis, die Gespräche, die Vereinbarung und dann die Aufträge, die gegenseitigen Gefälligkeiten. Es war eine Notwendigkeit. Verbrechen durchziehen, durchsetzen, zersetzen diese Welt. Die Pakistanis und die Afghanen betreiben einen Zwanzig-Milliarden-Dollar-Handel mit Heroin, der teilweise über Indien läuft, über Delhi und Bombay in die Türkei, nach Europa und in die USA. Der ISI und die Generale bereichern sich an diesem Handel und kaufen Waffen und Mudjaheddin ein. Die Kriminellen sorgen für die logistische Abwicklung, sie schaffen Männer, Geld und Waffen über die Grenzen. Die Politiker wiederum sorgen für den Schutz der Kriminellen und sichern sich damit ihre nötige finanzielle und physische Schlagkraft. So läuft es. Die Organisation des Dushman rekrutiert einen illoyalen indischen Kriminellen, Suleiman Isa, damit er in seiner Heimat Bomben legt, und macht ihn so zu einem Hauptakteur in diesem endlosen Krieg. Um gegen ihren Kriminellen anzukommen, brauchen wir einen eigenen Kriminellen. Stahl schneidet Stahl. Kriminelle besitzen wertvolle Informationen über ihre Rivalen. Es ist notwendig, einen Deal mit Gaitonde zu machen, der Zweck heiligt die Mittel. Also sitzt Gaitonde nun in einem weißen T-Shirt, weißen Pajamas und blauen Badeschlappen im Büro des Gefängnisdirektors. K. D. versucht sich in die Situation zurückzuversetzen, sie nachzuerleben. Vielleicht findet er in den Details eine Erklärung für die drei Sadhus. Er schließt die Augen, versucht in diesen Nachmittag hineinzugleiten, in das Zimmer mit den Regalen voll schwarzer Aktenordner und dem schwarz gerahmten Bild von Nehru. K. D.s Atem geht kurz und stoßweise, er weiß nicht, warum. Hör schon auf. Beruhige dich. Beruhige dich, sonst fügst du dir nur weiteren Schaden zu. Denk nach. Warum drei Sadhus? K. D. hat mit Religion nichts am Hut, und er hat Gaitondes Frömmigkeit immer für die Krücke eines Mannes gehalten, der eine fürchterliche, unablässige Angst vor Mördern hat. Selbst harte Männer können dem Tod in seiner Nacktheit nicht ins Auge sehen, der irreversiblen Durchtrennung des dünnen Bewußtseinsfadens. Ein Schnitt, und es ist aus. Vorbei. Das ist unerträglich, und deshalb erging sich selbst Gaitonde, dieses blutbefleckte Monster, in Phantasien von einem Leben nach dem Tod.
»Ja, das ist Daddys Schrift«, sagt Anjalis Mutter zu ihr. Anjali hat einen alten Universitätstext gefunden, der einst ihrem Vater gehörte, einen Text über altindische Geschichte, und deutet begeistert auf die blauen handschriftlichen Anmerkungen am Rand, die Unterstreichungen. Bloody Mathur ist jetzt schon fast ein Jahr verschwunden, aber im Leben seiner Tochter erscheint er täglich, spielt gerade wegen seines Nichtdaseins eine um so größere Rolle, er ist der romantisch-mysteriöse abwesende Vater. Man hat ihr gesagt, er sei »für eine Weile verreist«, sei »unterwegs«. Innerhalb der Organisation ist die vorherrschende Ansicht, daß er von ebenden militanten Sikhs gefangengenommen wurde, die er anzuwerben versuchte, daß er in einen Hinterhalt gelockt, gefoltert und umgebracht wurde. Eine kleine Minderheit glaubt, er sei übergelaufen, habe den Hinterhalt selbst inszeniert. Jedenfalls erwartet ihn niemand zurück außer Anjali, der man gesagt hat, er sei auf Reisen. K. D. findet diese Lüge verwerflich, denn er sieht die Erwartung in Anjalis Augen, wann immer das Telefon klingelt, sieht die Sehnsucht in ihrem x-beinigen Spurt an die Tür, wenn der Briefträger draußen mit dem Tor klappert. Aber sie ist erst elf Jahre alt, und ihre Mutter glaubt, mehr als daß ihr Vater weggegangen ist, könne sie verstandes- und gefühlsmäßig nicht verkraften. K. D. weiß, daß Kinder Tag für Tag fürchterlichen Schrecken ausgesetzt sind, daß sie Greuel durchleben, vor denen die Älteren die Augen verschließen. Und was könnte schlimmer sein als diese Erwartung, dieses Verlangen? Aber er hat hier nichts zu sagen. Er muß sehr vorsichtig sein. Rekha schenkt ihm Tee ein. Sie gewährt dem gerade aus London zurückgekehrten Freund ihres verstorbenen Mannes förmliche Gastfreundschaft, K. D. weiß, daß keine Wärme, keine Zuneigung darin mitschwingen. Sie war immer höflich, aber reserviert, höchstwahrscheinlich verbirgt sich unter ihren guten Manieren der harte Panzer des Kastenbewußtseins. Wenn er etwas Falsches sagt, riskiert er, verbannt, für immer von Anjali fortgeschickt zu werden. Und diese Verbannung würde er nicht aushalten. Sie wäre unerträglich. K. D. hat keine Bindungen auf dieser Welt. Papa und Ma sind tot, und mit seinen Verwandten in Bihar hat er nur selten Kontakt. Er hat niemanden. Bei Bloody Mathur war er stets willkommen, und so konnte er zusehen, wie Anjali vom Säugling zum Mädchen heranwuchs. Sie ist ein Teil seines Lebens. K. D. weiß, daß dieses kleine Wesen von Bloody Mathur und Rekha abstammt, aber irgendwie ist sie auch seine Tochter. Irgendwie ist er Vater geworden. Er hat keine Autorität, doch er ist voller Liebe. Er begreift, daß dieses kleine Mädchen im blauen Schulrock sein Anker in der Welt ist. Mit ihrem langen Blick hält sie ihn zusammen. Er weiß nicht, wie oder wann es dazu gekommen ist, aber er weiß, daß es so ist. Sie lehnt sich an sein Knie und hält die englische Puppe hoch, die er ihr aus London mitgebracht hat.
»Sie redet nicht mehr, Onkel.«
Die Puppe hat blaue Augen und flachsblondes Haar, zu einem Lächeln gekräuselte Erdbeerlippen und eine blecherne Stimme. K. D. dreht die Puppe um und bemerkt, daß die Abdeckung unter dem rosafarbenen Kleid nicht richtig sitzt. Er hebt sie mit dem Fingernagel an und sieht, daß die Drähte um die Batterie gewickelt sind und ein grüner Chip lose ist. »Was hast du denn gemacht?« fragt er.
»Ich wollte sehen, wie sie funktioniert«, sagt Anjali.
K. D. lacht, von Liebe erfüllt, einem absoluten, bedingungslosen Gefühl bar all der Vorbehalte, die er bei jeder anderen Interaktion in seinem Leben spürt. Sie kichert. »Ich bin sowieso zu alt für Puppen, Onkel, damit spiele ich schon lange nicht mehr. Du kennst dich mit Mädchen nicht besonders gut aus. Ich lese lieber.« Sie lachen zusammen, steigern sich in Lachsalven hinein, die nur langsam verebben. Anjalis Mutter sieht ihnen mit wachsendem Mißtrauen zu. Zumindest in diesem Moment ist K. D. das egal, und er trägt Anjalis Wärme mit in den nächsten Tag, ins Büro, wo er sich dem islamischen Fundamentalismus widmet. In einer separaten, fensterlosen Kabine sammelt er Berichte aus aller Welt, kombiniert, stellt Verbindungen her, siebt, analysiert. Die Überzeugungen und Haßgefühle von Männern und Frauen erreichen ihn als Fragmente, und er fügt die Mosaiksteine zusammen. Dann schreibt er seine eigenen Berichte, läßt sie auf steifem weißem Reispapier abtippen, und über sie gelangen die Informationen nach oben, zum Additional Commissioner, zum Commissioner, womöglich sogar bis zum Premierminister. Informationen gehen nach oben, und Befehle kommen zurück. Es werden Maßnahmen ergriffen, die Resultate und Kaskaden neuer Informationen hervorbringen. K. D. hat immer das Gefühl, am Knotenpunkt eines Netzes zu sitzen, an der Schnittstelle weltumspannender Energieströme, die summen, an- und abschwellen, ihre Form verändern. Er kann hier eine Saite in Schwingung versetzen, und zwanzigtausend Kilometer weiter sackt ein Mann in einem Hauseingang in sich zusammen. Er kann einen Absatz schreiben und ihn zwei Wochen später, paraphrasiert, in einer Rede des Innenministers wiederentdecken. In diesem staubigen Raum löst er Ketten von Ereignissen aus, verändert das Leben von Millionen von Menschen.
Doch die Männer, die Bloody Mathur umgebracht haben, kann er nicht finden. Er hat einen dicken Aktenordner mit Polizeiberichten sowie mit Einschätzungen, die von den Ermittlungsteams der Organisation vor Ort erstellt wurden. Die Fakten hegen klar auf dem Tisch: Bloody Mathur hatte einen gewissen Harbhajan Singh umworben, Sohn eines Kleinbauern, nach einem zweijährigen Collegestudium arbeitslos, zweimal wegen Bagatelldiebstählen festgenommen. Harbhajan Singh hatte Kontakte zu einer militanten Gruppe, der Punjab Liberation Army, und Bloody Mathur hatte monatelang Geld in Harbhajan Singh investiert, der wiederum Geld an einen zu den Militanten übergelaufenen engen Freund gezahlt hatte. Es waren solide Informationen zurückgekommen, verifizierbares Material, das aber nicht sonderlich nützlich war. Schließlich bat der Informant in der PLA um ein persönliches Treffen, zu dem er einen weiteren illoyalen Freund mitbringen wollte. Bloody Mathur hatte so eine Ahnung, fuhr hin, und plötzlich war er verschwunden. Er hinterließ einen umgekippten, demolierten Ambassador und drei Tote. Dann verliert sich die Spur. Bloody Mathur ist von der Bildfläche verschwunden. Ende, aus.
Aber K. D. nimmt das nicht hin, er weigert sich, die Dinge auf sich beruhen zu lassen. Er beschattet Harbhajan Singhs Familie, beschattet seine Freunde, macht Deals. Bloody Mathur hatte immer gesagt: »Wenn es nicht Geld ist, dann ist es Sex. Und wenn nicht Sex, dann ist es Sicherheit, die Angst um die eigene Familie. Jeder Mann ist käuflich. Man muß nur herauszufinden, zu welchem Preis.« Also aß Bloody Mathur mit Harbhajan Singh in Garküchen am Straßenrand Chicken Tandoori, denn der Dushman führte im Punjab vielfältige Operationen durch, es war ihm Sammelplatz, Zufluchtsort, problemloser Zugang nach Indien. Und so ist Bloody Mathur verschwunden. K. D. treibt daraufhin seine Leute an, verlangt Hintergrundinformationen über Komplizen Harbhajan Singhs, Listen von Bankkonten. Er manövriert mit Männern und Mitteln, denn sie befinden sich im Krieg, in einer Schlacht. K. D. wehrt sich. Er ist nicht bereit zu vergessen. Und so wird auf den Straßen und Feldern von Punjab das große Spiel gespielt.
Das Spiel dauert an, es ist ein ewiges Spiel, es kann nicht beendet werden, es bringt sich selbst hervor. K. D. spielt es, und er spielt es gut. Er hat ein hervorragendes Gedächtnis und einen ausgeprägten Sinn für Details: Eine Lesebrille mit dunklen Gläsern, die er auf einem verwackelten Foto von ein paar Predigern in Frankfurt sieht, bleibt ihm sechs Jahre lang in Erinnerung, so daß er denselben Mann auf einem weiteren, am anderen Ende der Welt aufgenommenen Foto wiedererkennt: einem Bild, auf dem Befehlshaber der Taliban von einem Treffen mit einem Major des ISI in Peshawar kommen. Solchen Meisterleistungen der Kombination und Identifikation verdankt K. D. seinen Ruf, seinen Ruhm, seinen Platz in der Organisation. Er steigt auf. Er ist jetzt Assistant Commissioner, zwar noch nachgeordnet, aber ein Mann mit Zukunft. Er bleibt in Bewegung. Vier Jahre, dann folgt ein neuer Posten, diesmal in Berlin. In der geteilten Stadt vergibt er Visa an iranische Studenten und besorgt ihnen Stipendien, umarmt mitfühlend afghanische Ärzte und lädt sie zum Essen ein. Er schickt Päckchen an Anjali, die im Eiltempo ihre Schulzeit absolviert, durch Doppelversetzungen und unglaubliche Ergebnisse bei Abschlußprüfungen ganze Schulklassen überrundet. Sie liest über Berlin, bittet um Hitler-Biographien, die sie in Delhi nicht finden kann, und um Bücher über Generale, deren Namen so vollmundig sind wie rosa Frühstückswürstchen.
»Der Patient weist großflächige Läsionen im Stirnlappen auf.« Dr. Kharas steht über K. D. gebeugt, von einer Schar aufmerksamer Medizinalassistenten umringt. »Die Auswirkungen des Glioms sind interessant. Es sind Zustände von reduplizierender Amnesie zu beobachten, während deren der Patient innerlich ganz woanders ist. Normalerweise wähnen sich Patienten mit dieser Art von Amnesie zu Hause oder an einem Ort, den sie mögen. Dieser Patient allerdings scheint sich in seiner Vorstellung an Orte zu begeben, an denen er irgendwann in seinem Leben einmal war, alle möglichen Orte auf der ganzen Welt.«
Das liegt daran, holde Dr. Anaita, daß ich nie ein Zuhause hatte. Mein Zuhause war ein Ort in meiner Vorstellung, ein schönes, wohlhabendes Land, das es nicht gibt. Dorthin war ich auf all meinen Reisen unterwegs, in dieses friedliche Land der Zukunft.
»Was bei Patienten mit dieser Art von Erinnerungsschwäche ebenfalls häufig auftritt, ist Konfabulation. Das bedeutet, daß sie auf Fragen über eigene Erfahrungen falsche Antworten geben. Selbst Fragen nach banalen Dingen, etwa nach Einzelheiten ihrer früheren Arbeit, Daten, Orten, bringen Antworten hervor, die kohärent erscheinen, aber phantasiert sind. Die Patienten beschreiben unglaubliche abenteuerliche oder grausige Geschichten. Mr. Yadav? Mr. Yadav?«
Dr. Anaita möchte ihren Studenten Symptome vorführen. K. D. nickt. Sie soll sie bekommen, sie soll bekommen, was immer sie will. Er steht in ihrer Schuld - wegen ihrer leidenschaftlichen Neugier, ihrer Kompetenz, ihrer Begeisterung für ihre Arbeit und weil sie ihm Hoffnung gibt. Nicht die Hoffnung, er könne überleben, sondern die Hoffnung, er könne ein gutes Leben geführt haben, all die häßlichen Dinge, die er getan hat, könnten letztlich etwas Gutes bewirken. Sie ist seine Hoffnung.
»Mr. Yadav, können Sie mir Ihr Geburtsdatum nennen?«
Er kann sich nicht erinnern. Egal, er darf sie nicht enttäuschen. Er greift ein Datum aus der Luft. »Der 9. Juli 1968«, sagt er. Ein Raunen geht durch die Runde der Assistenten, ihre Augen leuchten auf. Sie mögen Symptome, Symptome demonstrieren die inneren Abläufe des defekten Apparats. Gemäß einer inversen, aber makellosen Logik sagt eine Anomalität im Organismus etwas über sein normales Funktionieren aus. K. D. wird klar, daß 1968 für sein Geburtsjahr viel zu spät ist, er ist bedeutend älter. Aber was war am 9. Juli? Das Datum ist rauh, kratzig, bleibt in seinen Gedanken haften wie eine Klette. Dann erinnert er sich. Er sieht es. In der unteren Hälfte seiner Welt, dem neuen Teildunkel seines Gesichtsfelds, sieht K. D. ein brennendes Dorf. Es ist nicht undeutlich und verschwommen wie ein erinnertes Dorf, es ist keine Halluzination. Es ist ein echtes Dorf, und er kann es sehen. Er sieht die unter den Holzböden der Hütten züngelnden Flammen, sieht eine rotäugige Sau, die panisch grunzend durch die ordentlichen grünen Pflanzreihen eines Kohlrübenfelds läuft, hört das scharfe Knacken von platzendem Bambus. Die Farben sind intensiv und leuchtend wie in der Realität, bloß noch kräftiger, er sieht glitzernden Speichel auf den Zähnen eines schwarzen Hundes, dem in den Kopf geschossen wurde, sieht die Haare auf den gespreizten Hinterbeinen. Es ist echter als echt, dieses sterbende Dorf. Er ist nie in diesem Dorf gewesen, aber er weiß genau, daß es das Dorf Chezumi Song im Bezirk Mon in Nagaland ist. Am 9. Juli 1968 wurde es von einer Einheit der Assam Rifles unter dem Befehl eines gewissen Captain Rastogi, Dakshesh Rastogi, heimgesucht, des Mannes, mit dem sich K. D. auf seinem ersten Posten angefreundet hatte. Rastogi hat sich entwickelt, vom Leutnant zum Captain, und er hat zugenommen, ist zu einem stattlichen Kerl geworden. Er weiß es nicht, doch er handelt auf der Basis von nachrichtendienstlichen Informationen, die K. D. gesammelt, zusammengefügt und den Dienstweg hinuntergeschickt hat. Er ist hinter zwei Naga-Rebellenführern her, L. K. Luithui und M. Essau, die sich bekanntermaßen hier in der Gegend aufhalten und in diesem Dorf Verwandte haben. Rastogis Einheit hat im Laufe des letzten Monats sechs Männer durch Heckenschützen und Minen verloren, und die beiden Nagas sind die strategischen Köpfe hinter diesen Angriffen. Das Dorf wird durchsucht, die Einwohner werden befragt. Captain Rastogi übt Druck aus. Das Dorfoberhaupt und die Honoratioren des Dorfes werden mit Gewehrkolben geprügelt. Sie behaupten alle, sie wüßten nichts von den Rebellen. Es wird mehr Druck ausgeübt. Die drei Töchter des Dorfoberhaupts werden an den Haaren vom Platz geschleift. Sie heißen Rose, Grace und Lily. Sie werden vergewaltigt. Zweiundzwanzig Frauen werden vergewaltigt, und das Dorf wird niedergebrannt. Drei Männer des Dorfes werden getötet - Captain Rastogis Bericht zufolge Terroristen, niedergestreckt bei einer Schießerei, die die Zerstörung des Dorfes Chezumi Song zur Folge hatte. L. K. Luithui und M. Essau, die beiden Rebellen, werden drei Tage später in einem Versteck im Wald, dreizehn Kilometer weiter nördlich, gestellt und erschossen. Captain Rastogi erhält eine Belobigung und ist von nun an auf dem Weg nach oben. K. D. weiß, was in den offiziellen Berichten steht, und er weiß, was wirklich passiert ist. Schließlich ist er Geheimdienstler. Er weiß, daß der Hinweis auf das Versteck von einem Mädchen namens Luingamla kam, das es stammelnd verriet, weil Captain Rastogi mit der Pistole auf den Kopf ihres Vaters zielte. K. D. weiß das. Es ist seine Aufgabe, es zu wissen. Er war nicht dabei, aber er weiß es. Er kann das Dorf Chezumi Song jetzt vor sich sehen, ganz deutlich. Er sieht es lichterloh brennen. Aber wo sind die Menschen? Er sieht weder Nagas noch Soldaten. Er hört Schreie. Die Vögel kreischen gellend in seinem Kopf. Da, ein Schuß - von einem Webley-Scott-Revolver Kaliber .38, das weiß er, denn den hat Captain Rastogi an diesem Tag getragen. Aber es gibt keine Menschen in diesem echten Dorf.
»Das Dorf brennt«, flüstert K. D.
Die Medizinalassistenten beugen sich näher zu ihm. Dr. Kharas horcht konzentriert. »Was für ein Dorf?« fragt sie. »Was für ein Dorf?«
K. D. sagt nichts. Was kann er schon sagen? Ein Dorf, von dem ihr noch nie gehört habt, das aufhörte zu existieren, bevor die meisten von euch auch nur geboren waren. Es existiert nicht mehr, aber es brennt noch immer. »Das Dorf brennt«, sagt er abermals. Dr. Kharas flüstert ihren Assistenten etwas zu, und schließlich gehen sie. Das Dorf brennt weiter, K. D. horcht auf das Prasseln der Feuersbrunst, die Schreie, die Schüsse. Am Nachmittag gelingt es ihm endlich, einzuschlafen oder wenigstens vom Schlafen zu träumen. Er wacht erschöpft und mit Gliederschmerzen auf. Er schleppt sich zur Toilette, eine Hand ausgestreckt, die Fingerspitzen immer an der Wand. Auf seinem blinden Fleck, seinem Streifen Dunkelheit, ist Chezumi Song nicht mehr zu sehen, doch während er pinkelt, sieht er ein Schachspiel. Er beugt den Kopf weit vor, um in die Kloschüssel zu schauen, aber da, wo er nichts sehen kann, wo der quadratisch geflieste Badezimmerboden abgeschnitten wird, ist jetzt ein Schachspiel. Eine steinerne Tischplatte in einem Park in Berlin. Er trifft sich dort gelegentlich freitagnachmittags mit einem afghanischen Ingenieurstudenten namens Abdul Katthak. Dieser Katthak ist sehr arm, er hat vier Brüder und drei Schwestern, die alle in einer winzigen Wohnung in Neukölln leben, so daß ihm die Mittagessen, zu denen K. D. ihn immer einlädt, sehr willkommen sind, genau wie die kleinen Geldbeträge, die er für seine Dienste erhält. Für die Namen fundamentalistischer Prediger und Informationen über ihre Aktivitäten und Pläne bekommt er von K. D. dünne Umschläge und weitere Umschläge für die Namen antifundamentalistischer Afghanen oder gar eine persönliche Vorstellung. K. D. und Khattak haben über ein indisches Visum für Khattaks jüngere Brüder gesprochen und über Stipendien an indischen Universitäten und Technischen Hochschulen. Das alles natürlich gegen weitere Informationen für K. D. Aber wo ist bloß Abdul Khattak? Er ist nicht bei der Bank im Park, unter dem grünen Blätterdach der Eichen. K. D. sieht die Quadrate auf dem Schachbrett, grüne und weiße Kacheln, die in den Stein eingelassen sind. Khattak mag diesen Treffpunkt, denn er liebt Schach. Die internationalen Wettkämpfe zu verfolgen ist der einzige Luxus, den er sich gönnt, dieser Khattak, der zwischen seinen Kursen, seinem Job in der Wäscherei und seinen Geschwistern hin und her hetzt. Khattak mag keine toten Briefkästen, obwohl es viel ungefährlicher wäre, Nachrichten in einer Einkaufstüte unter einer Bank zu hinterlassen oder an einen Laternenpfahl zu kleben. Khattak redet gern, und nach zwei oder drei hinterlassenen Nachrichten besteht er immer auf einem persönlichen Treffen. Wo ist dieser Khattak, warum ist er unter dem heller werdenden Märzhimmel mit seiner Andeutung von Frühling nicht zu sehen? K. D. schlurft mit ausgestreckten Armen zu seinem Bett zurück, und er weiß genau, warum: Khattak ist tot, erliegt zwischen leeren Kisten in einer Gasse hinter einem Möbelladen. Seine Hände sind hinter dem Rücken zusammengebunden, Wangen und Brust sind grün und blau geschlagen, und man hat ihm die Kehle durchgeschnitten. Seine Mörder werden nie gefunden, die Polizei hat keinerlei Anhaltspunkte, und K. D. wird ihnen keine liefern. Khattak ist tot, aber seine Informationen sind zu einem Großteil noch verwertbar, sie sind noch lebendig. K. D. nutzt sie, bekommt Zugang zu studentischen Netzwerken, die ihn nach Kabul führen, und kann einen Informanten in Jallalabad anwerben, den Sekretär eines Mullahs, der gerade politisches Gewicht erlangt. Und jetzt, in diesem Krankenhauszimmer in Delhi, kann er in seiner Halbblindheit das Schachspiel sehen, von der Sonne beschienen und in Erwartung der Figuren, in Erwartung des Spiels. K. D. legt sich ins Bett und fragt sich, was wohl aus Khattaks Brüdern und Schwestern geworden ist. Sie haben natürlich überlebt. Die Hinterbliebenen überleben, das ist logisch. Und hier ist das Schachspiel, grün und weiß leuchtet es in seiner Dunkelheit.
»Wer ist der Premierminister?« Es ist Dr. Kharas, sie beugt sich über ihn, leuchtet ihm mit einer hellen Lampe in die Augen. »Mr. Yadav, wer ist unser derzeitiger Premierminister?« Draußen ist es dunkel, und K. D. weiß nicht, wie er vom Morgen zum Abend gelangt ist. Anjali steht am Fuß seines Betts, die Hände um die weiße Metallstange geschlossen.
K. D. lächelt sie an. »Mein Kurzzeitgedächtnis läßt nach«, sagt er. Er versucht Anjali zu trösten: Immerhin hat er noch die geistige Kapazität, zu wissen, daß er nachläßt, das ist doch besser als nichts. Aber es tröstet sie nicht, das merkt er. Sie weiß, daß er keine Ahnung hat, wer der Premierminister ist.
»Haben Sie wieder Halluzinationen?« will Dr. Kharas wissen. Er muß ihr irgendwann an diesem ihm entglittenen Tag davon erzählt haben. Eigentlich hatte er ihr nichts davon sagen wollen, auch Anjali nicht. Jetzt schämt er sich. Es ist beschämend, Dinge zu sehen, die nicht da sind, nicht mehr klar zu erkennen, was ist und was nicht ist. Er würde es nicht aushalten, wenn Anjali ihn bemitleidete, für nicht leistungsfähig hielte. Er hat Inkompetenz nie gut ertragen können. Aber nein, sie wirkt zwar gequält, aber nicht mitleidig, sie wird ihn nicht von oben herab behandeln, das sieht er. Sie merkt, daß er noch präsent ist, inmitten dieser Ruinen. Er, K. D. Yadav, ist immer noch da, er denkt, überlegt, versteht. Er schaut Anjali an, antwortet jedoch Dr. Kharas: »Nein, im Moment habe ich keine Halluzinationen. Warum bekomme ich sie überhaupt?«
»Das Gehirn mag keine Leerstellen«, sagt Dr. Kharas und lehnt sich zurück. Sie legt die Hände in den Schoß, wie ein Priester, der eine moralische Unterweisung erteilt. »Es toleriert sie nicht. Durch die strukturelle Schädigung Ihrer Sehbahnen entsteht eine Lücke in Ihrem Gesichtsfeld. Dieses Skotom, diese Schneise, füllt das Gehirn aus. Das Material dazu nimmt es aus Ihrer Erinnerung, aus den gespeicherten Gefühlen und Vorstellungen. Im Prinzip findet dieser Vorgang ständig statt, auch bei einem gesunden Menschen. Die eingehenden Daten werden mit dem kombiniert, was bereits vorhanden ist, verändern sich zu einer Wahrnehmung. Unser ganzes Erleben funktioniert so.« Sie hält inne, um zu sehen, ob er ihr folgt, ob all diese Informationen bei ihm ankommen. Sie möchte verständlich sein, die sachkundige Dr. Kharas. Er nickt, und sie fährt fort: »Aus den eingehenden Daten und dem im Gedächtnis gespeicherten Material formt das Gehirn eine Geschichte, und diese Geschichte halten wir für die Realität. Bei Ihnen treten diese Zusammenhänge deswegen so deutlich zutage, weil Ihnen die Hälfte der über das Sehvermögen eingehenden Daten fehlt und das Gehirn diesen Verlust zusätzlich kompensiert. Prinzipiell ist das, was Ihr Gehirn da tut, völlig normal. Wir sind alle so konstruiert.«
»Wir sind alle so konstruiert«, wiederholt K. D. und bricht in schallendes Gelächter aus. Es ist witzig, auch wenn seine Anjali und die gute Dr. Kharas nicht lachen, nein, sie lächeln nicht einmal, zeigen nicht das geringste Anzeichen von Belustigung. Wir sind alle so konstruiert - um in diesem einsamen Knochenpalast ein Bild der Welt zu entwerfen, um in diesem Traum zu leben und furchtbare Angst davor zu haben, ihn mit dem Tod zu verlassen, um diesen Alptraum aus Eindrücken zu durchleben, als wäre er wahr. Die Wirklichkeit einer Ratte ist genauso real wie meine, deine, unsere. Doch wir leben, sterben, töten in dieser gespenstischen Phantasmagorie sich spiegelnder Erzählungen. Das ist vollkommen erbärmlich oder aber hinreißend komisch. K. D. kann gar nicht mehr aufhören zu lachen, zu keuchen. Schließlich winkt er Anjali zu sich, damit sie sich zu ihm aufs Bett setzt, so nah, daß er ihre Hand halten kann. »Sei nicht bedrückt«, sagt er. »Immerhin ist es ein interessanter Zustand. Und sehr lehrreich.«
»Dieses Syndrom hat einen eigenen Namen«, sagt Dr. Kharas, die froh ist, Struktur liefern zu können. Sie hält viel davon, ihre Patienten durch Wissen mündig zu machen. »Man spricht vom Charles-Bonnet-Syndrom, benannt nach dem Mann, der es als erster beobachtet hat. Unter Menschen, deren Sehkraft nachläßt, ist es recht verbreitet. Alte Leute mit grauem Star zum Beispiel berichten oft, daß sie Halluzinationen haben: Menschen, Gegenstände, Gespenster.«
Menschen, Gegenstände, Gespenster. K. D. sieht Menschen und Gegenstände, doch wie ein Gespenst fühlt er sich allmählich selbst, ein Netzwerk flackernder elektrischer Impulse in der knirschenden und knarrenden Maschinerie seines Leibes. Er spürt, wie er stirbt und wieder lebendig wird, wie sein Selbst mit jedem Atemzug schwindet und wiederersteht. Erkennt Dr. Kharas, daß auch dieses Selbst eine Illusion ist, von unserem struktursuchenden Gehirn entworfen, um die Leere auszufüllen? Mitleid erfüllt ihn, für sich, für Dr. Kharas, für seine Anjali. Welche Agonie des Suchens und Leidens ist doch das unentrinnbare Schicksal dieses ziellos treibenden Geisterwesens. Welche schmerzvollen Wendungen muß es erfahren und erdulden, von der Geburt bis zum Tod, dieses Nichts. Anjali ist immer noch traurig, und er streichelt ihr Handgelenk. »Mach dir keine Sorgen«, sagt er. »Es ist schon gut.« Aber sie ist ratlos, und er weiß, daß er ihr nicht begreiflich machen kann, wie sinnlos es ist, um ihn zu trauern, um etwas zu trauern, das immer ein Nichts war. Sie ist jung, in voller Blüte, ficht lebenshungrig ihre Kämpfe aus. Er kann ihr das nicht vermitteln, er sollte es auch nicht. Vielleicht kann so etwas nur begreifen, wer selbst an der Schwelle des Zerfalls steht. Die Spinne webt die Vorhänge im Palast der Cäsaren, die Eule ruft von Afrasiabs Türmen die Stunde aus. Aber sie will ihm etwas sagen. Anjali wartet, bis Dr. Kharas ihre Anweisungen erteilt und sich verabschiedet hat, dann steht sie auf und macht die Tür zu.
»Ist dir irgendwas zu Gaitonde eingefallen, Onkel?«
»Nein. Nichts Neues. Nur das, was du ohnehin schon weißt.« Gaitonde war von ihm angeworben worden, war sein Mann. Als K. D. sich zur Ruhe setzte, hatte Anjali Gaitondes Führungsoffizierin werden wollen. Aus der Organisation war Widerstand gekommen: Sie sei zu jung, zu unerfahren, vor allem aber eine Frau. Welcher Gangster würde sich von einer Frau führen lassen, welche Frau würde den furchterregenden Gaitonde führen können, dieses skrupellose Monstrum, diesen Frauenheld, der die Frauen verachtete? Es war die alte, in der Organisation anerkannte Argumentation: Man dürfe Frauen nicht im Außendienst einsetzen, denn sie könnten mit den kriminellen Elementen, die üblicherweise die Informationen lieferten, nicht umgehen, könnten keine Deals mit ihnen abschließen, keine Anweisungen erteilen; sie würden nicht fertig mit den Analphabeten, den Ungehobelten und den Verzweifelten. Frauen seien im Innendienst gut, hieß es immer, sie seien gute Analytiker. Dabei sollten sie bleiben. Doch Anjali hatte sich über ihren Einsatz im Innendienst geärgert, hatte gegen diese altmodische Argumentation angekämpft und sich auf Außendienstposten in London und Frankfurt bewährt. Sie war eine gute Analytikerin, konnte aber auch gut mit Menschen - Männern und Frauen - umgehen. Ein pakistanischer Schleuser in Marseille etwa, ein schnurrbärtiger, besonders brutaler Paschtune, hatte sie immer Bhen-ji083 genannt und ihr entscheidende Kontakte zu Drogenkurieren verschafft, die afghanisches Heroin schmuggelten, mit Verbindungen nach Peshawar und Islamabad. Dennoch hatte die Organisation Anjalis Bitte abgelehnt und Gaitonde einem gewissen Anand Kulkarni zugeteilt, der sehr tough und sehr männlich war. Gaitonde erwies sich letztlich als unzuverlässig, und Kulkarni wurde innerhalb der Organisation für seine Arbeit kritisiert, dabei hatte er, K. D., diesen Mistkerl angeworben. Wenn überhaupt, dann war er daran schuld, daß Gaitonde plötzlich nicht mehr mitgespielt hatte.
»Warum ist das denn so wichtig? Gaitonde ist doch tot.«
»Ja, er ist tot.«
»Und? Es wird einen Kampf um sein Revier geben. Vielleicht wird seine Company auseinanderfallen. Vielleicht werden sie einander umbringen. Und?«
Sie schätzt ihn ab. Sie versucht zu entscheiden, ob sie ihm etwas Bestimmtes erzählen kann oder nicht. Er versteht, daß er jetzt ein Risiko darstellt, daß man ihm keine geheimen Informationen anvertrauen kann. Er ist nicht bei sich, könnte womöglich Dr. Kharas, einer Krankenschwester, anderen Leuten draußen im Flur davon erzählen. Doch er will es wissen. »Sag es mir«, bittet er. »Wenn du es mir sagst, kann ich dir vielleicht helfen. Vielleicht kann ich mich eher erinnern, wenn du es mir sagst.« Er ist sich nicht sicher, ob das stimmt, ob die Fetzen seines einst gepriesenen Gedächtnisses noch genügend Zusammenhalt besitzen, um auf Stichworte, sorgfältiges Lenken und Nachbohren zu reagieren und etwas Sinnvolles hervorzubringen. Aber sie muß es darauf ankommen lassen. Kalkulierte Risiken sind in diesem Spiel an der Tagesordnung, und K. D. selbst hat Anjali in diesen kleinen Schritten durch die Gefahr geschult: Wenn man auf dem Weg zu einem toten Briefkasten ist und sich nicht sicher ist, ob man beobachtet wird, geht man dann im letzten Moment weiter, oder greift man nach der Tüte? Man hat erfahren, daß einer der eigenen Leute Informationen an die andere Seite, an viele andere Seiten verkauft hat, es könnten also mehrere eigene Quellen enttarnt worden sein, und man hat einen V-Mann in einem Institut für militärstrategische Forschung in der Nähe von Islamabad, einen Physiker: Wendet man sich an ihn oder nicht? Es gilt abzuwägen, was der Gewinn wäre und welche Strafe ein Scheitern nach sich ziehen würde, und sich dann zu entscheiden.
Sie hat sich entschieden. Sie spricht schnell und leise. »Wir haben Gaitonde in einem Haus in Bombay gefunden. Das Haus war wie ein sehr sicherer Bunker konstruiert, mit verstärkten Mauern. Wir haben den Bauunternehmer und den Architekten aufgespürt, die es für Gaitonde gebaut haben. Sie haben uns erzählt, das Gebäude sei innerhalb von zehn Tagen hochgezogen worden, nach Plänen, die Gaitonde ihnen zugefaxt hat. Er hat ihnen gesagt, Geld spiele keine Rolle, sie sollten es so schnell wie möglich fertigstellen. Und das haben sie auch getan. Wir haben eine Kopie der Baupläne. Das Titelblatt und einige Beschriftungen, die zur Identifikation hätten dienen können, sind entfernt worden, aber der noch vorhandene Text hat gereicht, um den Ursprung der Pläne in Erfahrung zu bringen. Sie wurden aus dem Internet heruntergeladen, von einer einschlägigen nordamerikanischen Website mit dem Titel ›Wie man den jüngsten Tag überlebte Wir haben das Gebäude in Bombay untersucht. Gaitonde hat sich einen Atombunker bauen lassen.«
Ihre Augen sind silbrigschwarz und funkeln verängstigt. Draußen senkt sich mit dem Seufzen Tausender schlagender Flügel der Abend herab. Tief unter ihnen ist noch das ächzende Verkehrschaos der Stadt zu hören. Die nukleare Bedrohung erzeugt eine Art amorphe Leere, denkt K. D., ein weißes Nichts, das jedem Gedanken, jeder Regung ein Ende setzt. Anjali kann nicht darüber hinaus denken, das merkt er. Er souffliert ihr: »Gaitonde hat also seine Deckung verlassen, er ist geflohen?«
»Ja, er ist nach Bombay zurückgekommen. Er hat nach drei Sadhus gesucht. Man hat ihn tot aufgefunden, er hat sich erschossen. In diesem Bunker.«
»Was war sonst noch in dem Bunker? Habt ihr irgendwas gefunden?«
»Noch eine andere Leiche, die einer Frau. Eine gewisse Jojo Mascarenas, eine Kupplerin, die ihn mit Frauen versorgt hat. Gaitonde hat sie mit derselben Pistole erschossen wie sich selbst.«
K. D. hatte von Gaitondes stetigem Konsum an Frauen, Mädchen gewußt. Er hatte sich nie die Mühe gemacht, darüber nachzudenken, wo sie wohl herkamen. Nun wußte er es. »Und sonst?«
»Ein Fotoalbum mit Bildern von diesen Mädchen. Und Geld. Ein Crore und einundzwanzig Lakhs, in neuen Scheinen von der Zentralbank.«
»Habt ihr Nachforschungen über diese Frau angestellt?«
»Ja. Wir haben ihre Wohnung ausfindig gemacht und durchsucht. Nichts Interessantes. Ein bißchen Bargeld. Zum Teil muß es von Gaitonde gestammt haben, denn es war dieselbe Serie, neue Scheine, in Plastik eingeschweißt. Mascarenas hat im Umfeld der Film- und Fernsehindustrie gearbeitet, in diesem Busineß ist eine Menge Schwarzgeld unterwegs. Und dann noch ein paar Kassetten und Fotos von Schauspielerinnen. Das war alles.«
Sie wartet. Sie gestattet sich einen Anflug von Hoffnung, aber K. D. hat ihr nichts zu sagen. Keine Erklärungen sind aus dem Strudel seiner Verwirrung aufgestiegen, keine Hinweise haben sich aus den dahintreibenden Massen seiner Vergangenheit gelöst. »Laß mich ein bißchen darüber nachdenken«, sagt er. »Darüber muß ich nachdenken.«
Sie ißt mit ihm zu Abend, von einem unterteilten Metalltablett. Er löffelt sein Khichri und versucht nachzudenken. Die nukleare Bedrohung ist auf dem Subkontinent schon seit Jahrzehnten präsent, und die Organisation hat sich ihrer angenommen. Sie haben zahlreiche Operationen durchgeführt, um Informationen über Technologien, Theorien, Taktiken und Standorte zu gewinnen, zum Teil mit großem Erfolg. Sie sind im Besitz von Daten und kennen die Möglichkeiten und Intentionen der Pakistanis, der Chinesen und der Amerikaner. K. D. hat einige der Analysen gesehen, Berichte und Thesenpapiere, sowie die rötlichbraunen Satellitenfotos, die Raketenabschußbasen und Flugstützpunkte zeigen, und er weiß, daß abschußbereite Waffen auf seine Städte gerichtet sind, auf ihn. Trotzdem war die Vorstellung einer Atombombenexplosion für ihn immer absolut unwirklich, weit entfernt von dem alltäglichen schmutzigen Geschäft - etwa nachts in einer eisigen Hütte auf einer kaputten Kiste zu sitzen, die Beine zum Schutz vor Schlangen und Skorpionen angezogen, und auf einen pakistanischen Informanten zu warten. Oder einen Mann unter einem doppelten Stacheldrahtzaun hindurch, durch wogende Weizenfelder, an den mit Nachtsichtgeräten ausgerüsteten Gewehren der Pakistani Rangers468 und schlafendem Vieh vorbeizulotsen - das war gutes Handwerk, harte Arbeit und Begabung, in altbekannter, altbewährter Manier. Nukleare Zerstörung dagegen gehörte in die Thriller, die K. D. auf langen Fahrten und abends vor dem Einschlafen las, immer noch liest. In dem Bücherstapel neben seinem Bett liegen zwischen den Bänden über römische Geschichte und den CIA-Autobiographien solche Romane, die er zum Vergnügen liest, und oft lacht er über die wilden, extremen Szenarien, die dort entworfen werden, die Millionen von Toten, die heimtückischen Komplotte und die tapferen, selbstlosen Helden. In diesen Büchern, und nur in diesen Büchern, explodieren manchmal Bomben und radieren ganze Städte aus. Nur in diesen Büchern gibt es das qualmende Danach, diese Stille ohne Vögel. Aber irgendwann klappt man das Buch zu, legt es auf den Nachttisch, trinkt noch einen Schluck Wasser, dreht sich um und schläft ein. Es ist nicht nötig, düstere kleine Bunker mitten in Bombay zu bauen, nicht nötig, daß ein Gangster seine sichere Zuflucht im Ausland verläßt und sich in Gefahr begibt, nicht nötig, drei Sadhus zu suchen. Alles nicht nötig. Aber Gaitonde ist tot. Warum?
K. D. weiß es nicht. Aber er denkt nach. Anjali räumt die beiden Tabletts, Gläser und Löffel ab. Sie sieht erschöpft aus. »Geh doch heim«, sagt er. »Das macht der Stationshelfer schon.«
»Es macht mir nichts aus. Ich habe sogar gefragt, ob ich hier übernachten darf. Sie wollen mir eine kleine Liege reinstellen.«
»Das ist wirklich nicht nötig, Anjali. Wirklich. Du mußt dich doch mal ausruhen.«
»Ausruhen kann ich mich hier auch. Ich brauche nicht viel Schlaf, und auf der Liege werde ich es bequem haben.«
Er begreift, daß sie um ihn besorgt ist, aber auch um ihre Operation, um ihre Welt, die sie bedroht wähnt. Sie will in seiner Nähe bleiben, in der Nähe seines schwindenden Gedächtnisses und Bewußtseins, für den Fall, daß er einen Namen, einen Ort, ein Wort hervorstößt, etwas, das sie in Gaitondes verflossenes Leben führen wird. Sie liebt ihren Onkel, ja, aber sie tut auch ihre Arbeit. Sie folgt ihrer Ausbildung und ihrem Instinkt, sie ist eine gute Schülerin. K. D. liegt im Sterben, er weiß es, sie weiß es. Höchstwahrscheinlich wird der Sterbende sie nur ins Land der Toten führen, aber sie geht auf Nummer Sicher - vielleicht wird K. D. ihr noch etwas Nützliches geben, bevor er ins Schweigen entgleitet. Er lächelt sie an. »Na gut, Beta. Hauptsache, du hast alles, was du brauchst.«
»Ich habe sogar meine Zahnbürste mitgebracht«, sagt sie und hält sie hoch. Sie ist wieder das kleine Mädchen von früher, und sie grinsen einander an. Es ist behaglich, jemanden im Zimmer zu haben, im Bad herumplätschern zu hören. Anjali macht es sich auf der Liege bequem. Sie wünschen sich eine gute Nacht, und K. D. schaltet die Lampe über seinem Bett aus. Anjali schläft fast unmittelbar ein, atmet mit tiefen gleichmäßigen Zügen. Er betrachtet sie, den Umriß ihrer Schultern. Sie hat niemanden, den sie anrufen, dem sie Bescheid sagen müßte, daß sie heute nacht nicht kommt. Sie hatte mal einen Ehemann, einen Jungen aus Kannadiga, den sie gegen den Wunsch beider Elternpaare heiratete, vom Idealismus einer großstädtischen Liebesbeziehung in Delhi getragen. Ihr Mann hatte Wirtschaftswissenschaften am Zakir Hussain College studiert, trat eine Laufbahn beim Indian Administrative Service an und verließ sie vier Jahre nach der Hochzeit, weil sie, so sein Vorwurf, ständig unterwegs und von ihrer Arbeit besessen sei. K. D. weiß nicht, ob sie inzwischen jemand anderen hat, jedenfalls spricht sie nie darüber, nicht einmal von dem Verlangen, der Sehnsucht danach. Zieht sie es mittlerweile vor, allein zu sein, so wie K. D.? Er hat sich oft gefragt, ob das Alleinsein nicht besser ist als die Langeweile oder der Betrug, die offenbar unweigerlich am Ende jeder glücklichen Liebesbeziehung, jeder glücklichen Ehe stehen. Die Leute klammern sich aus Angst aneinander. K. D. hat dem immer die Stimmigkeit des Alleinseins vorgezogen. Er war, ist Realist. Er hat die Kraft, dem Tod allein ins Auge zu sehen.
In der oberen Hälfte seines Gesichtsfeldes ist seine Wahrnehmung scharf und differenziert, er sieht den zierlichen Schatten von Anjalis Haaren an der Wand, einzelne hochstehende Haare als feine Linien auf dem Grau. In der unteren Hälfte geht ein Mann namens Palash auf einem Damm zwischen Reisfeldern entlang. Er trägt ein zerrissenes Banian und ein Dhoti, die Haut in seinem Nacken ist dunkel und faltig. K. D. beobachtet seit fünfzehn Kilometern, wie der Schweiß darüberläuft. Der Nacken des Mannes ist in der Dunkelheit dieses Krankenhauszimmers wirklicher als an jenem lang zurückliegenden Nachmittag: das glänzende Schokoladenbraun und das strähnige graue Haar, das in der untergehenden Sonne leuchtet. Der Weg schwingt sich vom Damm hinunter und führt pfeilgerade in Richtung des Horizonts. Die Felder sind geflutet, und die jungen grünen Triebe spiegeln sich auf der unbewegten Wasseroberfläche. Über ihnen zieht ein eleganter Raubvogel langsam enge Kreise, hat nur die äußersten Federn an den Flügelspitzen ein wenig nach unten gebogen. K. D. registriert den goldbraunen Bauch, das Weiß von Brust und Kopf - ein Brahminenweih. Er kennt diesen Vogel, kennt diesen Tag. Bald werden sie Schüsse hören. In der Dämmerung wird Palash ihn zu einer Hütte am Ausgang des Dorfes Ramtola geleiten, in der ein junger Mann namens Chunder Ghosh die Nacht verbringt. Chunder Ghosh wird behaupten, er heiße Swapan, aber K. D. hat Fotos von der Jadavpur University gesehen und Bilder, die auf Geburtstagsfeiern in der Kadell Road entstanden sind, er wird ihn wiedererkennen. Den pausbäckigen Jungen von damals gibt es nicht mehr, aber dieser hagere Revolutionär, der im Schneidersitz vor ihm sitzt, ist eindeutig Chunder Ghosh. Ghosh wird K. D. viele Fragen stellen, seine Legende abklopfen, die solide und stimmig ist: K. D. ist Sanjeev Jha, ein kleiner Jutehändler und Naxaliten-Sympathisant450, der möglicherweise Informationen über größere, kapitalistische Jutehändler liefern könnte, die im Zuge des Klassenkampfes eliminiert werden müssen. K. D. wird Fragen über Patna und über die unterschiedliche Qualität von Jute beantworten, und unter Palashs gleichmäßigem Pumpen wird eine Lampe flackern und flimmern. K. D. wird sich die rechte Ferse reiben, wo ihn ein unbekanntes Insekt gestochen hat, ein schlängelnd kriechender Angreifer. Die Stelle ist wund, zu einer dicken Beule angeschwollen. Chunder Ghosh hat schon viele Stiche und viele Fieber hinter sich, aber diese plötzliche Blessur wird selbst ihm einen Blick wert sein. Die Fragen werden weitergehen. Sie werden zu lange weitergehen. K. D. wird aufstehen, um sich zu erleichtern. Er wird seine blaue Reisetasche mit dem Schultergurt und dem festen Boden mitnehmen, deren eingangs vorgenommene Durchsuchung eine Thermoskanne, ein Hemd, eine Tüte Erdnüsse, zwei Zeitungen und eintausendsechshundert Rupien zutage gebracht hat. Draußen wird K. D. tatsächlich urinieren. Er wird dazu imstande sein, trotz der Anspannung, die ihm in Wellen durch den Unterleib fährt. Er wird durchatmen, in seine Reisetasche greifen und ganz unten eine Stoffalte ertasten, die er mit einem kleinen reißenden Geräusch hochziehen wird. Darunter befindet sich ein verstecktes Fach, in dem eine geladene polnische Automatikpistole Kaliber .32 liegt. Er wird in die Hütte zurückgehen, die Hand an der Seite, die Tasche vor sich. Er wird Chunder Ghosh ins rechte Auge schießen und Palash in Brust und Hinterkopf. Das Filzen der Hütte wird nur eine magere Ausbeute bringen: einen uralten Colt Kaliber .38, den Chunder Ghosh in der rechten Hand hält, unter dem rechten Oberschenkel verborgen. K. D. wird die Waffe an sich nehmen und fliehen. Doch all das liegt noch vor ihm. Was er im Moment sieht, ist Palash, der vor ihm hergeht, das strahlende Grün des Reises, den über ihnen kreisenden Brahminenweih.
In diesem ersten violetten Schimmer der Abenddämmerung am Ende der Welt steuern K. D. Yadav und Chunder Ghosh aus verschiedenen Richtungen dieselbe triste Hütte mit eingebrochenem Dach und rissigen Lehmwänden an. Ersterer tut immer noch sein Bestes für Nehru, letzterer hat für eine andere, genauso erhabene und genauso verrückte Vision sein bequemes Leben mit Klub, Konvent und Theatergruppe hinter sich gelassen. Beide glauben, daß irgendwo jenseits der Hütte, jenseits des Horizonts das Glück wartet. Nur das, ganz einfach: das Glück. Aber K. D. sieht jetzt klar, sieht in der großen Klarheit seiner Erkrankung, daß sie beide verraten wurden, noch ehe sie ihren Weg überhaupt angetreten haben. Ein dickes Knäuel der Verachtung entrollt sich in K. D.s Brust, Verachtung für diese jungen Männer, die sich ihrer Gesundheit, der primitiven Vitalität ihrer Träume so sicher sind. Solche Narren. Solche Egoisten. Was hätten sie denn aufbauen können, der eine wie der andere, das nicht in weiteren Morden, weiteren Verlusten, weiterer Krankheit geendet hätte? Die Spinne webt die Vorhänge im Palast der Cäsaren, die Eule ruft von Afrasiabs Türmen die Stunde aus. Und trotzdem haben wir Intrigen gesponnen, sind einander zu Leibe gerückt, haben getötet. Und wir tun es weiterhin und werden nie damit aufhören. Wir werden von Massaker zu Pogrom taumeln, alles im Namen irgendeines künftigen Paradieses. K. D. verspürt einen enormen Ärger, eine Wut auf die gesamte Spezies, auf alles, was die Menschheit je getan hat. Dieses Leben ist eine Krankheit, denkt er. Möge es enden. Möge alles enden. Gaitonde hatte Angst vor dem plötzlichen grellweißen Licht gehabt, einer Explosion und einem tosenden Wind, der alles wegreißen würde, was auf der Oberfläche des Morasts gebaut worden war. K. D. Yadav dreht sich auf den Rücken und stellt es sich vor, die gewaltige, aufsteigende Explosion, den plötzlichen Tod, die Stille danach. Endlich wird Ruhe herrschen. Ein Verlöschen, wie wenn man eine Kerze ausbläst. Er denkt daran und spürt den Frieden, die Notwendigkeit eines solchen Endes. Mit einem zufriedenen Lächeln schläft er ein.
Als er aufwacht, sitzt Anjali angezogen neben seinem Bett. Sie lächelt ihn an. »Ist dir irgend etwas eingefallen?«
»Nein«, sagt er. »Nichts. Gar nichts.«
Sie nickt. Hinter ihr steht ein junger Mann, ein eleganter Bursche mit gestutztem Schnurrbart und listiger Miene. »Das ist Amit Sarkar«, sagt sie. »Er hat gerade in der Organisation angefangen, er ist mein Trainee. Er wird heute bei dir bleiben.«
»Guten Morgen, Sir«, sagt Amit Sarkar, und in seiner Stimme schwingt die Begeisterung des Novizen in Gegenwart einer Legende mit.
Anjali hält die Überwachung also aufrecht, folgt ihrer Intuition, wider alle Wahrscheinlichkeit. K. D. soll es recht sein. Er hat mit alldem abgeschlossen. »Gut«, sagt er und läßt sich wieder in seine Kissen sinken. Er will unbeschwert sein, sich treiben lassen, doch es arbeitet in ihm. Gaitondes Geld. Irgend etwas an Gaitondes Geld fuchst ihn, das Bild geht ihm nicht mehr aus dem Kopf, nagt an ihm, ein Crore und zwanzig Lakhs in Bündeln von der Zentralbank. K. D. schiebt die Erinnerung an das Geld weg, er will nichts davon wissen. Er konzentriert sich auf die Wand, auf das leichte Vibrieren des Lichts infolge der Bewegung des Deckenventilators. Er sinkt in eine angenehme Schläfrigkeit, eine schwerelose Wahrnehmung, die von Erinnerung über Bild zu Gedanke springt, ohne irgendwo anzuhaften. Sein Verstand fühlt sich federleicht an, von der Gravitation befreit. In der unteren Hälfte seines Blickfelds tummeln sich immer noch Geister aus der Vergangenheit, Soldaten, die längst tot sind, Informanten, Agenten, Opfer. Er betrachtet das alles mit erhabener Distanz. Und in der oberen Hälfte kommen und gehen Besucher. Ehemalige Kollegen mit ihren Enkeln. Dr. Kharas und ihre Medizinalassistenten. Krankenschwestern und Helfer. Abends kommt schließlich Anjali zurück, um Sarkar abzulösen. Sie flüstern miteinander, dann kommt sie und setzt sich im Licht der Abenddämmerung zu K. D. Er ißt etwas, weil sie darauf besteht und er kein Aufhebens machen will. Sonst hätte er, ebenfalls ohne Aufhebens, das Essen stehenlassen. Ihm ist jetzt alles egal. Eine Nacht verstreicht, dann ein weiterer Tag. Er betrachtet das Leben vor seinen Augen und das Leben, das sich in seinem Innern abspielt, und beide sind gleichermaßen irreal, alles Einbildung, Dr. Kharas mit ihren spitzen Nadeln und ihren Diagnosen, Anjali, die vom Kurs abweichenden, heulend auf einen pakistanischen Flugplatz niederstoßenden MiGs, zwei Männer, die durch Reisfelder laufen. All die Illusionen, all diese unwirklichen Männer und unwirklichen Frauen, die für Illusionen leben und leiden und ihretwegen sterben. Möge alles morgen enden, diese bedeutungslose Kavalkade von Geistern, enden in einem unentrinnbaren Aufblitzen weißen Lichts. Morgen ist es vorbei. Dieser Gedanke befriedigt K. D., und ihm ist wohl.
Er träumt. Er weiß, daß er schläft, und weiß, daß er träumt. Er ist sich seiner selbst als des schlafenden Beobachters bewußt, und zugleich spürt er durch die dicken Sohlen seiner Leinenturnschuhe das harte Aufsetzen seiner rennenden Füße. Sie spielen Fußball auf dem Plateau, das sie an der Flanke des Berges angelegt haben. Alle sind da: Khandari in seinem grünen Pullover aus grober Wolle, links außen Rastogi, DaCunha mit seinem ständigen »Steil, Mann, steil!« und Ginzanang Dowara, der versucht steil zu spielen, aber immer wieder den Ball verliert. Es ist Sonntag, und sämtliche Männer, die nicht im Dienst sind, haben sich in zwei Mannschaften zu je vierzig aufgeteilt und spielen jetzt einen hektischen, brutalen Fußball auf dem ihrer Vermutung nach höchstgelegenen Fußballplatz der Welt. Sie haben ihn aus dem Berg herausgehauen, zwei Monate harter Arbeit in großer Höhe, haben eine vorhandene, fast ebene Fläche verbreitert. Der Ball ist den ganzen weiten Weg von Kalkutta hier hoch gekommen, über eine Kette persönlicher Bitten und eingeforderter Gefälligkeiten. Nun spielen sie also. Thangrikhuma ist am Ball, er ist klein, kompakt und sehr flink, schlüpft jetzt zwischen einem halben Dutzend Verteidigern hindurch, gebeugt und mit einem so raschen Seitenschritt, daß man meinen könnte, nur das Flimmern eines Films gesehen zu haben. K. D. stößt einen lauten, anerkennenden Ruf aus und läuft ihm nach. Thangrikhuma ist schnell, unglaublich schnell. Er weiß, daß K. D. ihm auf den Fersen ist, doch es kümmert ihn nicht, er grinst. K. D. läuft, so schnell er kann. Das Tal ist grün und grau, weiße Wattewolken stehen am Himmel. Thangrikhuma rennt. Dann ist Marak, der Subedar, zur Stelle, nicht weit vom Torwart und den beiden Holzstöcken, die das Tor markieren. Marak ist alt und langsam, er hält sich stets in der Nähe des Tors und ist so in kritischen Momenten da. Er ist erfahren. Er wartet ab. Thangrikhuma tänzelt, täuscht an, fordert ihn heraus. Marak greift jetzt an, er grätscht, unser gerissener Marak. Er erwischt Thangrikhuma nicht, streckt jedoch im Fallen eine zielsichere Hand hinter sich aus und packt ein Stück Stoff, und Thangrikhuma geht zu Boden. Foul, Foul, aber hier spielen echte Männer, und es ist zu spät, Foul zu schreien, K. D. hat den Ball und treibt ihn zurück auf feindliches Terrain. Seine Jungs sind an seiner Seite, rempeln die Verteidiger weg, K. D. hat jetzt Tempo drauf, und was für ein Tempo, er freut sich über den hübsch vorwärts springenden Ball, der ihm förmlich am Spann klebt, er hat ihn voll unter Kontrolle, dribbelt locker an Rastogi vorbei, an dessen Keuchen und fliegenden Schweißtropfen, und dann hat er sich freigespielt und läuft ungehindert nach vorn, er hört DaCunha zu seiner Linken, rechts hält Ginzanang Dowara mit, und der aufspringende Ball leuchtet weiß und schwarz, K. D.s Brust tut weh, er ist glücklich, spürt die kalte Luft in seiner Kehle, und vor ihm ist das Tor.
K. D. wacht weinend auf. Seine Ferse brennt. Vor langer Zeit, als er mit Chunder Ghosh auf dem nackten Lehmboden einer Hütte saß, barfuß und im Schneidersitz, hat ihn ein Insekt in die linke Ferse gestochen. Daran erinnert er sich jetzt, er erinnert sich, wie er mit dem Daumen über die schmerzende rote Stelle rieb und wie Chunder Ghosh für einen Augenblick seine Fragerei unterbrach und den Stich neugierig beäugte. K. D. erinnert sich, und ein Schluchzen schüttelt ihn am ganzen Körper. Anjali bewegt sich auf ihrer Liege, und K. D. versucht seine Zuckungen zu unterdrücken, sie abzustellen. Die Männer und Frauen, um die er weint, sind heute zum größten Teil tot, aber er weint um ihr Leben, um die Kürze ihres Kampfes, um ihre kurzen Qualen und Freuden. Er weint um das Brennen ihrer Insektenstiche, das flüchtige Aufflammen ihrer Begierden.
»Was ist los, Onkel? Soll ich eine Schwester holen? Hast du Schmerzen?«
Im hellen Licht der Glühbirne beugt sich Anjali über ihn. Er schüttelt den Kopf und greift nach ihrer Hand. Er verspürt keinerlei Angst, jedenfalls nicht um sich selbst. Doch er findet keine Worte für das immense Mitgefühl, das seinen Körper erhitzt. Sein versagender Verstand registriert Angst um Anjali, um das Leben, das diese starke junge Frau durchströmt, die ihn in den Armen hält. Sie wertschätzt ihr Leben, sie hängt daran, und ihren Kollegen, ihren Freunden, ihrer Familie geht es genauso. Ich muß ihr helfen, denkt K. D. Ich muß. Er hält Rückschau in sein Leben, denkt an alles, dessen er sich entsinnt, und nun, da er nachdenkt und ein Ziel hat, hört das Zittern auf. Er liegt ruhig in Anjalis Armen und denkt nach. Er verspürt jetzt seine alte Freude am Denken, und die Informationen fließen in verschlungenen Strömen, reich an Farben und Bildern und Gerüchen. Sie fließen, und er schwimmt darin und wendet sich hierhin und dahin, bringt dies und das und anderes zusammen, und ihm ist, als bewegte er sich in einem Kaleidoskop. Als draußen der Morgen graut, regt er sich. »Das Geld in Gaitondes Bunker«, sagt er.
Anjali, die am Kopfbrett des Bettes lehnt, erwacht aus ihrem Schlummer. »Was?« fragt sie.
»Das Geld, das in Gaitondes Bunker lag. Du hast etwas über die Verpackung gesagt.«
»Die Bündel waren in durchsichtiger Plastikfolie verpackt. So wie manchmal Spielzeug oder Schokolade.«
»Immer fünf Bündel? Ungefähr so ein Stapel?«
Sie schaut auf die Form, die er mit den Händen andeutet, auf die Leere, die er umschreibt. Das frühe Morgenlicht glitzert in winzigen Lichtpunkten in ihren Augen. »Ja«, sagt sie.
»Ich möchte das Geld sehen.«
Sie läuft durchs Zimmer zu ihrem Handy, und er setzt sich auf, während sie mit raschem Klicken wählt. Sie rattert Anweisungen herunter und kommt wieder. »Es ist unterwegs«, sagt sie.
Doch sie wissen beide, daß es eine Weile dauern kann, die Bürokratie innerhalb der Organisation zu überwinden, Leute zu wecken, Genehmigungen erteilt und Safes geöffnet zu bekommen. K. D. hat womöglich nicht mehr so viel Zeit, droht zu vergessen. Also bittet er sie, sich zu ihm zu setzen, und spricht mit ihr, solange er noch Zugriff auf die Fakten hat. Er erzählt ihr, was er weiß, woran er sich erinnert. »Ein großer Teil der indischen Währung wurde früher in der Sowjetunion gedruckt. Als die Union auseinandergebrochen war und alles zum Verkauf stand, haben die Pakis eine Operation durchgeführt. Sie haben versucht, den Russen die Original-Druckplatten abzukaufen. Hätte das geklappt, dann hätten sie eine Fälschungsaktion durchziehen können, bei der echte Geldscheine herausgekommen wären, perfekte Banknoten. Aber wir haben Wind von der Sache gekriegt und die Platten aus der Fabrik geholt. Allerdings ist es den Pakis gelungen, sich beträchtliche Mengen des Originalpapiers zu beschaffen. Das konnten wir nicht mehr verhindern. Und mit diesem Papier haben sie indische Währung in großen Scheinen produziert, mehrere Serien mit hohen Nennwerten. Die Pakis haben hochbegabte Spezialisten. Ihre Fälschereien sind ausgezeichnet. Ich habe ein paar dieser Banknoten gesehen, von Beschlagnahmungen in Jammu und Amritsar. Sie sind erstklassig. Und sie waren in Plastikfolie verpackt, in solchen Stapeln.«
Anjali nickt sehr rasch. »Sehr gut zum Transport geeignet, unter den verschiedensten Bedingungen.«
»Ja, bei jedem Wetter. Die Operation in Rußland wurde von einem ISI-Mann namens Shahid Khan geleitet, der damals Major war. Er ist gut. Ich kannte ihn schon von früher, als er bei der pakistanischen Botschaft in London gearbeitet hat.«
»Shahid Khan«, sagt Anjali.
»Shahid Khan«, sagt K. D. »Sehr fromm. Und fleißig. Einer ihrer Besten. Shahid Khan hat das Papier organisiert.«
Sie schreibt schnell mit, er hört, wie ihr Kuli über das Papier kratzt, und als sie fertig ist, wartet sie auf mehr. Aber mehr hat er nicht zu bieten.
Zusammen warten sie auf das Geld. Kurz nach eins trifft Amit Sarkar ein, eine Aktentasche an sich gepreßt. Anjali hält den Stapel für K. D. hoch. »Ja«, sagt er. »Ja.« Er spürt, wie er lächelt. Das Spiel, denkt er. Es läuft. Er nimmt Anjali den Kuli ab, sticht mit der Spitze durch die Plastikfolie und zieht. Durch diesen Schlitz zieht er einen Schein hervor und hält ihn in Richtung des Fensters, des Tageslichts. »Ja«, sagt er. »Ja. Ich glaube, das ist ihr Geld.« Er hat keine Ahnung, was das für Anjali bedeutet oder ob es überhaupt etwas bedeutet. Aber sie sind alle froh: Es ist zumindest etwas.
Anjali nimmt das Geld und ihren Block, umarmt K. D. und eilt davon. Sie muß weg, aber sie läßt Amit Sarkar bei K. D., damit er ihm zuhört, ein Auge auf ihn hat. Die Organisation möchte immer noch, daß er das Spiel spielt, aber es ist zu spät. K. D. lehnt sich im Bett zurück, die Arme ausgebreitet. Seine Kissen sind sehr bequem. Er ist müde. Es ist Zeit, sich auszuruhen. Er schließt die Augen. Er atmet tief und schläft ein.