Ganesh Gaitonde
wird erneut angeworben

Ich wurde an einem Donnerstagnachmittag festgenommen. Sie holten mich zu Hause ab, in Gopalmath. Polizisten waren ein vertrauter Anblick in meinem Darbar148, sie kannten meine Adresse, wußten, wo ich wohnte. Ich hatte mich nie versteckt. Manchmal kamen sie, weil sie einen unserer Jungs suchten, manchmal, um mir Fragen zu stellen, manchmal sogar, um unterderhand eine Gefälligkeit zu erbitten. Sie waren immer willkommen, bekamen Tee und Kekse und Antworten, und dann schickte ich sie wieder fort. Diesmal war es der Muchchad Majid Khan mit drei Unterinspektoren, die ich nicht kannte, sowie zehn Beamten, alle in Zivil. »Bitte setzen Sie sich doch«, sagte ich und rief dann: »Are, bringt den Herren etwas Kaltes zu trinken.«

Aber Majid Khan setzte sich nicht. Seine Jungs verteilten sich im Raum, und er sagte: »Parulkar-saab hat heute morgen einen Haftbefehl gegen Sie erwirkt. Ich muß Sie festnehmen.«

»Ihr Parulkar-saab spinnt«, sagte ich. »Dieser Maderpat hat keinerlei Beweise gegen mich in der Hand. Und keinen einzigen Zeugen.«

»Den hat er jetzt«, erwiderte er. »Wir haben letzte Woche diesen Chutiya Nilesh Dhale aus Malad aufgegriffen. Er war mit einer Pistole bewaffnet und hatte eine weitere in einem Koffer bei sich. Parulkar-saab hat Sie am Wickel - wegen Unterschlupfgewährung für Kriminelle, Mittäterschaft und illegalem Waffenbesitz. Und da die eine Pistole in einem Koffer war, heißt das, daß sie transportiert wurde, also auch Waffenschieberei. Und dann packt er noch staatsfeindliche Aktivitäten drauf. Was braucht er mehr? Dhale singt nach zwei Ohrfeigen wie ein Vögelchen. Bis morgen wird Parulkar Ihre Mitwirkung in dem Mordkomplott gegen Mahatma Gandhi nachgewiesen haben.«

»Von mir hat dieser Scheißkerl Dhale seine Pistolen nicht gekriegt. Wegen solcher Peanuts wollen Sie mich festnehmen? Damit wird Parulkar nicht durchkommen.«

»Er muß gar nicht damit durchkommen, das wissen Sie selbst. Sie müssen nur eine Weile sitzen, mehr braucht er nicht, das wissen Sie doch.«

Ich wußte es nur zu gut: Ich lebte unter dem TADA, dem Terrorist and Disruptive Activities Act, was bedeutete, daß »eine Weile« ein Jahrzehnt sein konnte. Unter diesem Sondergesetz konnte man mich über die gesamte Dauer jeglicher Gerichtsverfahren festhalten, auch wenn sie sechs oder auch zehn Jahre dauerten, da war nichts mit einer Kaution oder dergleichen zu machen. Es konnte sein, daß man zum Schluß freigesprochen wurde, und trotzdem hatte man Jahre hinter Gittern verbracht. Deshalb waren Suleiman Isa und seine Führungsriege ins Ausland gegangen, um dem TADA und inszenierten Schießereien zu entgehen. Majid Khan war durchaus respektvoll, denn er war nur ein kleiner Inspektor und wußte von meinen Verbindungen zu den Rakshaks, die ohne weiteres schon bei den nächsten Wahlen, also im folgenden Jahr, an die Macht gelangen konnten. Im Moment regierte allerdings die Kongreßpartei, und der stand sein Parulkar-saab nahe, also mußte ich in den Bau.

»Kommen Sie friedlich mit«, bat Majid Khan geradezu ehrerbietig. »Ich habe draußen zehn weitere bewaffnete Kriminalbeamte postiert. Und gleich um die Ecke stehen zwei Mannschaftswagen. Wenn es Ärger gibt, kommt es zu einem Kampf, den keiner von uns will.«

Er sagte das, weil Bunty und zwei meiner Jungs drohend in der Tür standen. Sie sahen an meinem Gesichtsausdruck, daß etwas nicht stimmte. Draußen hörte ich angespannte Rufe und das Geräusch rennender Füße. Bunty und die Jungs könnten Widerstand leisten, aber dann wäre ich ein toter Mann. Das sagte mir ein Blick auf Majid Khan. Er war aus Sorge um seine Zukunft vorsichtig, doch wenn es hart auf hart kam, stand er zu seinem Boß - er würde abdrücken. Und es gab viele Leute, die das in höchstem Maße erfreuen würde: Suleiman Isa, Parulkar und seine Getreuen bei der Polizei, die von der Kongreßpartei gestellte und von Verbündeten Isas durchsetzte Regierung, ein Dutzend Industrielle, die uns Monat für Monat bezahlten. Nein, es wäre dumm gewesen, sich zu widersetzen, und in diesem Leben war das Gefängnis nun mal mein zweites Zuhause. Ich würde es überstehen, und zwar ganz locker, denn ich war Ganesh Gaitonde. Also beruhigte ich Bunty, sagte ihm, er solle die Geschäfte übernehmen und vorsichtig sein. Ich verabschiedete mich rasch von meiner Frau und meinem Sohn und ging mit.

Die Polizei hatte eine Untersuchungshaft für zwei Wochen erwirkt, die immer wieder verlängert wurde, insgesamt sechsmal. Ich wurde vierundachtzig Tage lang in Savara, nicht weit von Kailashpada, in einer Arrestzelle der Polizeiwache festgehalten. In dem drei mal drei Meter großen Raum befanden sich eine dreckige Matratze, ein Tonkrug mit ungefiltertem Leitungswasser, ein stinkendes Loch im Boden als Latrine und ich. Parulkar sorgte dafür, daß ich allein blieb, mit keinem meiner Jungs Kontakt hatte, von denen der eine oder andere vor Antritt seiner Haft hier in der Arrestzelle saß, daß ich weder mit Freund noch Feind in Berührung kam. Ich wurde mit einer Kapuze über dem Kopf und Fuß- und Handschellen zum Gericht gebracht, in einem Jeep mit fünf einsatzbereiten Wachen. »Sie sind unser Special Guest«, verkündete Parulkar. »Unser VIP-Gast.« Diese Fahrten zum Gericht waren die einzige Gelegenheit, bei der ich die Sonne spürte, trotzdem hatte ich selbst da Angst, denn falls es zu einer inszenierten Schießerei kommen würde, dann auf einer dieser Fahrten. Es würde heißen: Gaitondes Jungs haben versucht, ihn zu befreien, Gaitonde hat versucht zu fliehen, also mußten wir ihn erschießen. Ich hatte jahrelang in der Gesellschaft meiner Jungs und der Sicherheit ihrer Waffen gelebt, jetzt mußte ich wieder lernen, was es heißt, wirklich allein zu sein. Tag für Tag erwachte ich, hörte das Summen der Neonröhre draußen im Flur und rechnete damit zu sterben. Ich lebte schon so lange in der Nähe des Todes, doch jetzt war mir, als bewegte ich mich am Rand einer enormen Kluft, als läge zwischen dem Sonnenlicht und dem Abgrund nur ein kurzer Stoß von einem von Parulkars Männern. Jeden Abend schlief ich mit dem Gedanken ein, daß ich möglicherweise nicht wieder aufwachen würde.

Und jeden Tag wurde ich verhört. An den Tagen, an denen Majid Khan oder einer der anderen Inspektoren die Vernehmung durchführte, dauerte sie nicht lang, wir tranken Tee, und ich erfand Geschichten über tote Scharfschützen. Sie drängten, stellten abrupte Fragen, versuchten mich bei Widersprüchen und Fehlern zu ertappen. »Gestern haben Sie aber behauptet, Sandeep Aggarwal hätte Bada Badriya das Geld im Juni gegeben, wie kann er dann seine Schulden im April bezahlt haben?« Sie waren clever, aber nicht so clever wie ich, und es machte mir Spaß, ihnen meine Märchen aufzutischen. Ich hatte ein sehr gutes Gedächtnis, behielt die Zusammenhänge zwischen meinen erfundenen Geschichten im Gedächtnis, und so blieb alles stimmig, was sie gleichermaßen frustrierte wie faszinierte. Der Vernehmungsraum mit seinen Fenstern, den Baumwipfeln vor den Scheiben und der frischen Luft war ein geradezu lauschiges Plätzchen im Vergleich zu meiner stickigen Zelle, in der man sich lebendig begraben fühlte. Und bei all ihrer Polizistenneugier und ihrem dringenden Wunsch, alles zu erfahren, rührten sie mich doch nie an. Sie mußten an ihre Zukunft, ihre Karriere denken. Falls meine Freunde von den Rakshaks tatsächlich die Minister von morgen waren und ich diese kleinen Polizisten in schlechter Erinnerung behielt, konnten sie gleich morgen nach Auranagabad versetzt werden. Also behandelten wir einander wie Männer, und sie brachten mir gutes Essen aus dem Hotel gegenüber, Paan und saubere Kleider. Und gegen meine Magenschmerzen, die mit dem ersten Tag meiner Untersuchungshaft begonnen hatten, brachten sie mir Pfefferminztabletten und Tamarindensaft.

Wenn Parulkar die Verhöre leitete, sah die Sache allerdings ganz anders aus. Es war immer abends. Er saß in einem Armsessel, hatte die Schuhe abgestreift, war ganz locker. Ich mußte mich in die Mitte des Raums stellen, direkt unter die Hängelampe, und zwei seiner Inspektoren standen hinter mir. Er stellte seine Fragen, als unterhalte er sich mit einem Freund über einen gemeinsamen Ausflug nach Lonavla am kommenden Wochenende, ruhig und entspannt. Doch dann kamen die Schläge, plötzliche, auf meine Waden niederprasselnde Schläge, unter denen ich vorwärts stolperte, wuchtige Hiebe auf den Rücken, die mir den Atem nahmen. Wieder und wieder wurde ich auf die Knie gezwungen, und wenn ich keuchend auf dem Boden hockte, haßte ich ihn. Sie hoben mich jedesmal auf, und er begann von neuem. Fragen, Fragen. Sein Gesicht war im Dunkel jenseits des Lampenscheins verborgen, sein Bauch mir entgegengestreckt. Ich hielt durch. Was ich nicht ertrug, war die Schmach der knallenden Katzenköpfe auf meinem Hinterkopf, dieser Schläge, die mir die Tränen in die Augen trieben, des in meinem Innern aufgleißenden Lichts, das mich ganz benommen machte. Wenn Majid Khan bei einem von Parulkars Verhören dabei war, spürte ich in den Stößen, die er mir ins Kreuz versetzte, seinen Haß, die ganze Wut, die er sonst aus Kalkül unterdrückte. Durch Parulkars explizite Anweisungen befreit, schlug er hart zu. Während des fünften Verhörs fing dieser fette Scheißkerl Parulkar an zu lachen. »Schaut euch den großen Ganesh Gaitonde an, er heult wie ein kleines Mädchen«, spottete er. Er hatte unrecht. Ich heulte nicht. Meine Tränen waren eine direkte Folge der heftigen Ohrfeigen, eine automatische körperliche Reaktion, wie sie auch Kohlenstaub in den Augen ausgelöst hätte, mit Weinen hatte das nichts zu tun. Aber dieser Maderchod Parulkar war sich seiner Sache sicher. Er beugte sich in seinem Sessel vor, um mich auszulachen, und beim Anblick seiner dicken Schweinenase, seiner kleinen Zähne wußte ich, daß er mich umbringen würde. Er war Suleiman Isas Mann, er war an seine politischen Herren gebunden, und im Gegensatz zu seinen Untergebenen war er sehr wohl bereit, mir Schmerzen zuzufügen, er würde mir die Knochen brechen, würde es nicht bei den Schlägen und dem Patta bewenden lassen, er würde mir mit Lathis auf die Fußsohlen schlagen und Elektroden an meinen Golis befestigen. Er war einen zu weiten Weg mit seinen Verbündeten gegangen, um Angst vor mir zu haben. Zwischen ihm und mir konnte es keine gütliche Einigung geben, und er würde mich quälen und leiden lassen.

Also beschloß ich, für ihn zu weinen. Ich mußte es mit Bedacht tun, er war ein alter, erfahrener Khiladi334, hatte Tausende von Männern verhört und jeden einzelnen gebrochen. Er war nach oben gekommen, weil er listig war wie eine alte Krähe, sich sein Leben lang mit wachem Blick aus zusammengekniffenen stahlharten Augen vorsichtig zwischen Fallen hindurchlaviert hatte. Wenn ich zu sehr oder zu schnell weinte, würde er es bemerken, es als Schwindel entlarven. Also tat ich im Gegenteil, als schämte ich mich, als versuchte ich die Tränen zurückzuhalten, meinen Mut zusammenzunehmen. Als zuckte ich wider Willen unter den Schlägen zusammen und zerbräche allmählich. Ich schenkte ihm seinen Sieg, einen leichten Sieg, für den er dennoch arbeitete. Als ich schließlich um ein Ende flehte, glänzte er fett vor Stolz und Befriedigung. »Dann gib mir etwas«, sagte er. »Gib mir etwas, dann kannst du in deine Zelle zurück. Und morgen darfst du zum Arzt und dir etwas für deinen Magen geben lassen. Zeig ihm, was dir alles weh tut.« Ich tat, was er wollte. Ich gab ihm zwei Scharfschützen, zwei kleine, die selbständig arbeiteten und sich für dreitausend Rupien verdingten. Sie arbeiteten für alle, für Suleiman Isa, für uns, für jeden, sie waren käuflich. Und ich verkaufte sie an Parulkar für etwas Frieden, ein Radio in meiner Zelle und Arztbesuche. Er war sehr erfreut, als ich ihm die drei Stellen nannte, an denen sie nächtigten, und noch erfreuter, als sie in derselben Nacht aufgegriffen und vor Sonnenaufgang erschossen wurden. Man hatte den Reportern wohl schon abends Bescheid gesagt, denn am nächsten Tag stand die Geschichte in den Nachmittagszeitungen, samt Fotos der Leichen.

Von nun an vertraute er auf seine Macht über mich. Gleich am nächsten Nachmittag schickte er mich zum Arzt, einem Arzt, der auf die Wache kam und mich in dem Raum neben Parulkars Büro untersuchte. Er drückte auf meinem Bauch herum, schrieb ein Rezept aus, sagte, ich sei zu angespannt, und ging. Ich reichte das Rezept dem Polizisten, der mich hergebracht und die Untersuchung überwacht hatte. Der Mann hieß Salve. Ich redete mit ihm. Ich sagte, er solle mir die Medikamente besorgen, mein Anwalt werde ihm das Geld dafür geben. Und mein Anwalt werde ihm bei allem behilflich sein, was er brauche, Salve könne sich auf mich verlassen. Wir könnten Freunde sein. Freunde seien etwas Kostbares auf dieser Welt, in diesem Kaliyug309, in dem wir lebten. Salve hatte Angst, doch er hörte zu. Mein Anwalt gab ihm das Geld für die Medikamente und dazu etwa das Zehnfache als Trinkgeld. Hier, sagte er zu Salve, ein Geschenk von Bhai. Ein Mann wie Salve mit seinen drei Kindern, seiner Frau und seiner aus Mutter, nicht mehr arbeitendem Vater und verwitweter Schwester samt Kindern bestehenden Großfamilie, ein solcher Mann braucht Geld. Er kann nicht ohne. Also nahm Salve mein Geld an, und damit hatte ich eine Verbindung nach draußen zu meinen Jungs. Schon vorher hatte mein Anwalt Botschaften übermittelt und mir Neuigkeiten gebracht, aber es war gut, Salve zu haben. Er war jeden Tag in der Arrestzelle, eskortierte mich von hier nach da, brachte mir Essen und Wasser und Batterien für mein Radio und außerdem Berichte, Fragen und Bitten von der Company. Wir setzten ihn zunächst nur zögernd ein, doch er nahm weiteres Geld von uns, und bald war er unser Mann. Gegen Ende meiner Untersuchungshaft hatte ich durch ihn und meinen Anwalt das Gefühl, meine Company wieder selbst zu leiten. Die Verbindung funktionierte einwandfrei.

Doch all die übermittelten Botschaften bewahrten mich nicht vor der nächtlichen Stille in meiner Zelle, vor den Schritten auf der fernen Treppe, die auf meinem Schädel herumzutrampeln schienen, so daß ich mich unbehaglich wand und nicht schlafen konnte. Nachmittags lag ich schweißgebadet auf dem kalten Steinfußboden und versuchte mich zu kühlen. Ich hatte es verlernt, allein zu sein. Ich hatte so lange und so nah mit meinen Jungs, meiner Frau und meinem Sohn zusammen gelebt, daß ich in dieser Zelle den Eindruck hatte, ins Leere zu fallen, in Schattenschwaden endlos dahinzutreiben. Man hatte mich am Ende des Korridors hinter einer nicht einsehbaren Biegung untergebracht, durch eine Zwischentür zusätzlich von den anderen Gefangenen getrennt. Ich war allein. Im Radio knisterte und knackte es, und ich brachte die Antenne mit tausend winzigen Korrekturen in die richtige Position, hielt das Gerät an die Wand, die den Schall verstärkte. Und wenn ich ihm dann Musik entlocken konnte, wurde ich von nostalgischen Gefühlen überschwemmt. Zum dünnen, knisternden Gedudel von Sechziger-Jahre-Songs versetzte ich mich in mein Leben vor zehn Jahren, vor einem Monat zurück. Und wenn die Lieder aufhörten, spürte ich, wie sich, wimmelnden Parasiten gleich, Fragen in meinem Kopf zu regen begannen: Was war in der Vergangenheit falsch gelaufen, daß ich nun hier saß? Warum war ich nicht mächtiger, berühmter als Suleiman Isa? Würde der Waffenschmuggel meine Position stärken? Die Zusammenarbeit mit Bipin Bhonsle und seinem Sharma-ji gab mir das Gefühl, an einem immensen Spiel teilzunehmen, einem so großen Spiel, daß ich mich darin wie ein Zwerg ausnahm. In diesem gewaltigen, wirbelnden Spiel waren Bhonsle und Sharma-ji meine Verbündeten, ich war auf sie ebenso angewiesen wie sie auf mich. Aber wozu das alles? Was war der Nutzen dieses Krieges? Warum? Warum? Dieses Warum ging mir endlos durch den Kopf, immer im Kreis, wie eine Ratte, die in einem Metallkasten eingeschlossen ist. Warum? Mit seinen hastenden Krallen hinterließ dieses Warum ein Loch, eine brennende, schmerzhafte Leere. Das einzige, was diesen Hohlraum ausfüllen, ihn bis zum nächsten Morgen heilen konnte, war Liebe.

Jede Woche besuchte mich Subhadra mit meinem Sohn. Sie wäre an sich jeden Tag gekommen, doch Parulkar benutzte ihre Besuche als Druckmittel. Selbst diesen wöchentlichen Besuch gestattete er erst, nachdem ich angefangen hatte, ihm Informationen zu liefern, und er sagte, wenn ich besser mit ihm kooperiere, dürfe ich Frau und Kind öfter sehen. Ich versorgte ihn mit Bagatellen, und er hielt sich für gerissen. So spielten wir unser Spiel, Parulkar und ich, und ich wartete von einem Montag zum nächsten auf meine Familie.

Ich liebte meinen Sohn. Er hieß Abhijaya, und er machte mich völlig hilflos. Bisher hatte ich begehrt oder war abhängig gewesen und hatte das für Liebe gehalten. Ich hatte nicht gewußt, wie sich Liebe anfühlt. Wenn in Filmen von Liebe die Rede gewesen war, wenn es geheißen hatte, wahre Liebe bedeute, nichts für sich selbst zu wollen, sondern nur das Glück des anderen zu wünschen, hatte ich das als poetisches Gelaber über schwache Männer und Frauen betrachtet, die nicht die Kraft hatten, sich zu nehmen, was sie wollten. Doch als ich nun dieses zappelnde Bündel im Arm hielt, wußte ich, daß alles stimmte. Ich spürte, wie mir eine unwiderstehliche sanfte Kraft die Brust aufbrach und in mich hineingriff, ein Glücksgefühl, das sich entlang der Wirbelsäule entfaltete und bis ins tiefste Innere hineinreichte, Nerven und Knochen durchdrang. Ich war gleichsam abwesend Vater geworden, wie nebenbei, doch so etwas wie diese sturmartige, intensive Verbindung zwischen diesem kleinen Balg und mir hatte ich noch nie erlebt. Er hätte alles mit mir tun dürfen, und ich hätte alles für ihn getan. Bei ihm mußte ich keine staatsmännische Erhabenheit wahren, keine Macht ausüben.

Subhadra jedoch sagte ich, sie müsse in diesen Drecklöchern voller Polizisten auf ihre Würde achten, sie müsse lernen, stark zu sein, den Jungs eine Mutter zu sein, sie habe außer unserem Abhijaya noch hundert andere Söhne, Hunderte von Söhnen, die ganze Company. Ich sagte ihr, sie müsse innerhalb und außerhalb des Zellentrakts meine Ehre verteidigen. Sie sah jetzt reifer aus - nicht älter, doch unter ihrem immer noch mädchenhaften Gesicht hatte sich Erfahrung abgelagert. Sie schien präsenter, so als hätten sich die schwebenden Partikel des flatterhaften Mädchens, das sie einst gewesen war, zusammengedrängt, wären dichter und stärker geworden, und nun gab es diese Subhadra, die ruhig zuhörte, gute Ratschläge gab und meinen Jungs sagen würde, was sie zu tun hatten. Bunty war mir eine große Stütze, aber Subhadra nicht weniger, und das wußten alle. Die Jungs fanden das selbstverständlich, doch mich hatte sie überrascht - ich, der ich mich doch damit brüstete, nie überrascht zu sein, war von ihr und ihrem Sohn erstaunt, und es machte mir nichts aus, daß diese beiden zarten Wesen mich regelrecht umgeworfen hatten.

Sie spielten. Subhadra verbarg ihr Gesicht hinter ihren Händen und zeigte es dann wieder, und Abhijaya lachte jedesmal. Ich schaute ihnen zufrieden zu. »Wie geht es denn deinem Magen?« fragte Subhadra hinter ihren Händern hervor. Sie war ein gutes Mädchen. Sie hielt mich schon die ganze Zeit dazu an, körbeweise Pflaumen zu essen, die mich nach ihrer Ansicht von all meinen Beschwerden befreien würden. Ich scherzte mit ihr, wiegte meinen Jungen und war glücklich.

Wenn meine Frau und mein Sohn gegangen waren, wenn Parulkar von seinen kleinen Aufmerksamkeiten abgelassen hatte, Majid Khan mir seine widerliche Höflichkeit entzog und Salve mit seinem kriecherischen Gehorsam verschwunden war, wenn ich allein in meiner drei Meter langen Zelle auf und ab tigerte, dann quälte mich die Erinnerung an diesen Mistkerl Salim Kaka, der mich einst auf einem Boot mitgenommen hatte, um Gold zu finden. Es war ewig her, daß ich ihn getötet hatte, und ich hatte mir nie Gedanken darüber gemacht, doch jetzt entkam ich ihm nicht. Er war bei mir, in meiner Zelle, ging neben mir her in seinem roten Lungi, machte einen seiner großen Schritte für zwei von mir. Ich hatte ihn erschossen und sein Gold an mich genommen, um mein eigenes Leben in Gang zu bringen - na und? Es war dumm von ihm gewesen, mich hinter sich gehen zu lassen, er hatte nicht genug über mich gewußt, um mir derart vertrauen zu können. Er hatte mir nicht sorgfältig Angst und Treue eingepflanzt, so wie ich es bei meinen Jungs tat. Er war leichtsinnig gewesen, also war er gestorben. Warum erinnerte ich mich jetzt an ihn? Ich wußte es nicht, aber ich mußte immer wieder daran denken, wie er mir das Schießen beigebracht hatte, und seine schmutzigen Witze und unvermittelten Geldgeschenke kamen mir in den Sinn. »Hier hast du einen Hunderter, Bachcha, geh ins Kino, nimm dir eine Frau.« Und das hatte ich dann auch getan. Jetzt brauchte ich kein Geld mehr von Salim Kaka, und doch war er hier.

Irgendwann war meine Untersuchungshaft vorbei, man hatte offiziell Anklage gegen mich erhoben, und ich wurde ins reguläre Gefängnis überstellt. Mir war ziemlich egal, was mir zur Last gelegt wurde - Mord, Gewährung von Unterschlupf für Kriminelle, Erpressung, Drohungen ich freute mich vor allem, meine Jungs wiederzusehen. Es war die Einzelhaft, dachte ich, die mir die Sinne völlig benebelt und diesen nutzlosen Ansturm von Erinnerungen ausgelöst hatte. In dem Transporter auf der Fahrt in den Knast grinste ich. Majid Khan und die anderen Inspektoren waren verwirrt. »Freuen Sie sich bloß nicht zu sehr«, sagte der Muchchad und verzichtete ausnahmsweise auf seine Vorsicht. »So schnell kommen Sie da nicht mehr raus.« Was er nicht wußte, war, daß ich sehr wohl rauskam, und zwar aus mir selbst. In der Einzelhaft hatte ich mein eigenes Gefängnis so gut kennengelernt, daß ich nun begierig auf die Nähe meiner Jungs war. Die Gefängniswärter und Majid Khan führten mich durch das große rote Tor der Strafanstalt, durch die kleine darin eingelassene Tür. Sie meldeten mich im Gefängnis an, und dann mußte ich lange im Büro des Direktors warten, bis er endlich erschien. Er hieß Advani, hatte etwas von einer drahtigen alten Bandikutratte und hielt mir einen Vortrag über kooperatives Zusammenleben. Meine Jungs seien in Baracke vier, sagte er, die von Suleiman Isa in Baracke zwei. Er verlasse sich darauf, daß ich für Frieden sorgen würde. Es habe in letzter Zeit zuviel Ärger gegeben, zu viele Schlägereien, obwohl er sich sehr bemühe, alte Feinde voneinander fernzuhalten. Wir müssen alle das Beste aus unserer Situation machen, sagte er, und das Beste sei es, in Frieden zu leben.

Ich hörte ihm ruhig zu, pflichtete ihm in allem bei. Trotz der vielen Geschichten, die ich übers Gefängnis gehört hatte, war es eine neue Welt für mich, und bis ich mich besser auskannte, war ich gern bereit, mich mucksmäuschenstill zu verhalten. Advani war sehr mit sich zufrieden, dieser halbkahle Mistkerl glaubte, er habe Ganesh Gaitonde durch die Kraft seiner Persönlichkeit und seine zwingende Logik beeindruckt. »Wenn Sie irgendwelche Probleme haben«, sagte er, »zögern Sie nicht, sich an mich zu wenden.«

»Ja, Direktor-saab«, sagte ich. »Gern.« Er hatte natürlich gehört, daß Parulkar den berühmten Ganesh Gaitonde gebrochen hatte, daß der furchterregende Don in Wirklichkeit nur ein ängstlicher kleiner Straßenköter war, dreckig und vernarbt, der beim ersten Anzeichen irgendwelcher Schwierigkeiten sofort zu ihm gelaufen käme. Ich ertrug seine Herablassung, senkte den Blick und wurde von den Wärtern hinausgeführt. Wir gingen durch drei große, mit Schlitzen versehene Metalltüren in den langen Innenhof, wo die strahlend weißen Baracken standen, jeweils von eigenen Mauern umgeben. Der Direktor-saab habe sie kürzlich neu streichen lassen, erklärte mir einer der Wärter, der Direktor-saab lege großen Wert auf Reinlichkeit. Die Wege waren von weißen Zierleisten gesäumt, und an den Ecken standen Blumentöpfe. Jetzt, am späten Nachmittag, waren die Gefangenen in den Baracken eingesperrt, es befand sich niemand auf den Wegen, in den Höfen zwischen den Baracken oder unter den acht Bäumen, die entlang des Geländes Spalier standen. Doch als wir Baracke zwei passierten, brachen Buhrufe, Gegröle und lauter Spott los. »Bitte, bitte, Parulkar-saab«, riefen sie. »Ich will mir nicht in die Hose machen, Parulkar-saab.« Suleiman Isas Mistkerle hatten die Geschichten gehört. Egal. Ich ging weiter.

In Baracke vier erwarteten mich meine Jungs. Sie hatten eine Blumengirlande aus Gulmohar-Blüten und Neem-Blättern für mich gewunden. Sie durften mir die Girlande umhängen, ich umarmte sie alle, und dann schickte ich sie an die Arbeit. Macht diesen Schweinestall sauber, sagte ich, ihr solltet euch schämen. Sie grinsten und lachten und machten sich ans Werk. Bhai mag keinen Dreck, sagten sie. Sie waren froh, Anweisungen zu bekommen, geführt zu werden. Achtundfünfzig Mitglieder meiner Company saßen hier ein, von insgesamt dreihundertneun Mann in dieser Baracke, die zu den kleineren gehörte und ursprünglich für hundert Mann gedacht gewesen war. Meine Jungs regierten die Baracke, sie hatten den meisten Platz und die besten Betten, organisierten die Spiele und überwachten, was hereinkam und hinausging. Eine kleine Gruppe engagierter Männer, die loyal gegeneinander sind, wird immer über eine große, chaotische Mehrheit herrschen, und nun, da ich da war, hatte sich ihre Macht verzehnfacht. Feiglinge überwältigt man geistig, und die große Masse der Menschen ist immer von Angst erfüllt. Meine Jungs begannen sauberzumachen und Ordnung zu schaffen, und die ganze Baracke schloß sich ihnen unaufgefordert an. Bald war der lange Raum mit den Doppelreihen dünner blauer Daris150 entlang der beiden Längswände gefegt, sauber und ordentlich. Gegen die an Drähten baumelnden Hemden und die zum Trocknen an der Wand aufgehängte Unterwäsche, die kleinen Stapel mit Papier, Fotos und Zeitschriften konnten wir nichts unternehmen. Trotzdem, so konnte ich hier leben, so trug der Raum meinen Stempel. Die Jungs hatten mir ein Bett am Ende der Baracke gerichtet, am weitesten von der Tür entfernt und somit am sichersten. Ihre Schlafstätten waren um meine herum angeordnet, in mehreren schützenden Ringen, in deren Mitte sie drei neue Daris zu einer Matratze aufeinandergestapelt hatten, mit einem Kissen darauf und einem kleinen Regal, das sie aus Sperrholz vom Bestand der Gefängniswerkstatt gebaut hatten. Sie waren gute Jungs.

Ihre Anführer waren Rajendra Date und Kataruka, die ich beide von Operationen draußen kannte. Sie waren altgediente Scharfschützen, und ich hatte zwar aufgrund der Controllers mit ihren Aktivitäten nicht unmittelbar zu tun, hatte jedoch schon mit ihnen telefoniert und sie belohnt. Beide waren wegen Mordes verurteilt und daher Gefängnisveteranen: Date saß schon fünf Jahre, Kataruka sieben. Aber keiner von beiden war eingeknickt, hatte seinen Controller preisgegeben oder ähnliches, und sie leisteten ehrenvoll ihren Dienst ab. Daher unterstützten wir ihre Familien mit monatlichen Gehaltszahlungen und Gratifikationen, hatten uns um Hochzeiten, Krankenhausrechnungen und Ratenzahlungen gekümmert. Jetzt saßen sie Knie an Knie neben mir und erläuterten mir den Tagesablauf hinter Gittern.

Date übernahm das Reden, von Kataruka mit Kopfnicken und gelegentlichem Grunzen begleitet. »Auf dem Gelände, Bhai, innerhalb der Mauer, gibt es acht Baracken, jede mit einer eigenen, kleineren Mauer drumherum. Die erste Baracke ist für neue Gefangene, die haben Sie übersprungen, Bhai. Das ist die vollste, da sind vielleicht sieben-, achthundert Mann drin. Von dort aus werden die Gefangenen den anderen Baracken zugewiesen. Baracke zwei ist für Suleimans Leute. Nummer drei ist die Baba-Baracke, da sind die kleinen Jungen drin, Kinder. Vier sind wir. In der fünf sind die Alten, die Weißhaarigen. Da ist ein Chutiya dabei, der ist vierundachtzig, Bhai, er hat eines Tages seine Frau umgebracht, konnte plötzlich ihr Schnarchen nicht mehr ertragen. Baracken sechs und sieben sind für die Normalen, die Allerweltsgefangenen. Hinter dem Stacheldraht da drüben ist die acht, für Frauen und Mädchen. Ganz nah, aber da läuft gar nichts.« Er grinste. »Das schöpfen nur die Wärter und Inspektoren aus, diese Maderpats. Aber für alles andere haben wir hier in dieser Baracke Absprachen. Wir können Öl, Tee, Masala, alle möglichen Lebensmittel über die Aufseher bekommen. Wir haben schon dafür gesorgt, daß Sie Tiffins von zu Hause bekommen können und nicht diesen Gefängnisfraß essen müssen. Das müßte in ein oder zwei Tagen losgehen. Falls Sie zwischendurch Hunger kriegen sollten, können wir aus Blechdosen einen Handi258 machen und Ihnen auf brennendem Kokosöl etwas kochen. Wenn die Polizisten Feuer sehen, geht allerdings ein Riesengebrüll los, und manchmal wird man dafür in Ketten gelegt. Aber uns lassen sie in Ruhe, Bhai, wir können Ihnen jederzeit einen Chai machen. Wenn Sie sonst irgendwas brauchen, sagen Sie uns Bescheid. Die Aufseher in dieser Baracke sind alle Leute von uns, die haben alle lebenslänglich. Und über die Anwälte haben wir mit vielen Richtern die Absprache getroffen, daß wir Gerichtstermine nach Bedarf verschieben lassen können. Manchmal, wenn ein Richter genug bezahlt bekommt, kriegen wir auch im Schnellverfahren eine Freilassung gegen Kaution durch. Natürlich nicht für Sie, Bhai.« Mein Fall war zu gewichtig für ein Schnellverfahren, stand zu sehr im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Das wußten wir alle. »Im Sommer ist es hier heiß, Bhai, und im Winter kalt. Am anderen Ende, in der Nähe von Baracke eins, ist eine Krankenstation, wo es richtige Betten mit Matratzen und Ventilatoren gibt. Gegen einen kleinen Betrag kann man für ein paar Tage eingewiesen werden. Auch das Essen ist dort besser. Wenn Sie wollen, können Sie für einen kleinen Urlaub ins Krankenhaus. Das ist überhaupt kein Problem.«

Ich wollte keinen Urlaub. Ich wollte Suleiman Isa oder ein paar seiner Männer drankriegen. »Diese Scheißkerle in Baracke zwei brauchen eine Abreibung«, sagte ich. »Sie freuen sich, daß ich hier bin. Zeigen wir ihnen, was das bedeutet.«

»Das ist nicht so einfach, Bhai. Wir werden nur noch zu unterschiedlichen Zeiten in den Hof rausgelassen, die und wir. Wenn einer von denen draußen ist, dürfen wir nicht raus, und umgekehrt. Das ist so, seit es letztes Jahr einen Krawall gegeben hat.«

Date und Kataruka waren froh, mich so grimmig zu erleben. Auch sie hatten natürlich das Gerücht gehört, daß ich unter Parulkars Druck zusammengebrochen sei. Sie waren meine Männer, Stützen meiner Company, aber ich war mir sicher, daß durch den schützenden Wall ihrer Treue doch ein Hauch von Zweifel gedrungen war. Es war an der Zeit, wieder Ordnung zu schaffen, die Dinge geradezurücken. Ich befragte sie noch ein wenig über die Abläufe und Gebräuche im Gefängnis, und dann bat ich sie, mich schlafen zu lassen. Es war erst später Nachmittag, noch Stunden bis zum Lichtlöschen um acht. Doch Date und Kataruka sorgten für Stille in der ganzen Baracke, und ich legte mich auf meine Daris, drehte mich auf die rechte Seite, einen Arm über dem Kopf, und sank sofort in dunklen Schlaf. Nachdem ich mich wochenlang ruhelos herumgewälzt hatte, zerschlagen aus unruhigem Dämmerschlaf hochgefahren war, schlief ich jetzt tief und lang.

Ich erwachte morgens um fünf vom Weckpfiff, fühlte mich fit und erholt und bereit für einen neuen Krieg. Meinem Bedürfnis nach Reinlichkeit Folge leistend, hatten die Jungs die Latrinen gesäubert und dafür gesorgt, daß mich im Waschraum volle Wassereimer und ein frisches Handtuch erwarteten. Ich brauchte nicht lange, und schon waren auch Date und Kataruka da, um mich abzuholen. »Die Mamus sind bereits hier«, sagte Date. Die Polizisten standen an der Tür, sie führten uns in Zweierreihen zum Abzählen hinaus. Unter dem sich zuziehenden Himmel gingen sie zählend auf und ab, und während das Ginti232 im Gange war, besprach ich mich mit meinen beiden Controllers. Ich hatte einen Plan geschmiedet, zumindest in Ansätzen. Beim Frühstück diskutierten, ergänzten und erweiterten wir ihn, und allmählich sah ich, wie er sich würde verwirklichen lassen. Nach dem Frühstück führten uns die Havaldars wieder in die Baracke, wo nun die Masse der Häftlinge schubsend und drängelnd Schlange stand, um sich zu waschen. Bald erhob sich ein gewaltiges Stimmengewirr unter den Dachsparren, die Geräuschkulisse von Männern, die sich Geschichten erzählten und stritten, die Karten spielten und beteten. Am nördlichen Ende der Baracke befand sich ein improvisierter Schrein, bunte Bilder von Rama520, Sita597 und Hanuman klebten dort an der Wand, hier saßen Männer in Reihen und sangen Bhajans. Am südlichen Ende knieten die Moslems zum Namaaz441 vor einer nackten weißen Wand. Und überall in dem langen Raum saßen Grüppchen zusammen und vertrieben sich die langen Stunden bis zum Mittagessen. Der Aufseher und vier seiner Helfer wachten großspurig neben einem großen, voll aufgedrehten Radio, aus dem Lieder bis ans Ende der Baracke drifteten: Mere sapnon ki rani kab aaye gi tu, aayi rut mastaani kab aaye gi tu ...419

Binnen drei Wochen konnte ich meinen Plan umsetzen. Und in diesen drei Wochen erlernte ich den Rhythmus meines neuen Lebens: morgens um fünf der Pfiff, die schläfrigen Reihen für das Ginti draußen, das Klappern der Teller und Schüsseln aus Aluminium und das dampfende Curry auf dem Daal136, Curry, für das man extra bezahlte; die langen Morgenstunden und dann der Geruch gekochten Essens aus der Küche, wo Teig mit den Füßen geknetet und fauliges Gemüse in Töpfe geworfen wurde; nach dem Mittagessen um zehn das Gemurmel, das Schnarchen, der Schweißgeruch Hunderter von Männern; die Raucher mit ihren kostbaren Charas-Klümpchen und dem ausführlichen Ritual des Erhitzens, Zerkrümeins und Rollens; die mal hier, mal da gespielten Schach-, Teen-patti- und Ludo-Partien378, das Gelächter und die Flüche zum Klackern der Würfel; meine Jungs, die, um die beiden einzigen Carrom-Bretter in der Baracke geschart, voller Hingabe das Fortschreiten der Meisterschaft verfolgten, die sie mitsamt auf Tafeln notierten Tabellen fürs Einzel und Doppel austrugen; die Raufereien und plötzlichen Feindseligkeiten, die zwischen den auf engstem Raum zusammen lebenden Männern aufflammten und sich wie Lauffeuer zwischen den Bettreihen ausbreiteten; die Schreie und Drohungen, wenn sich zwei Männer unter den Blicken hundert anderer gegenüberstanden, beide aus Angst vor der Schmach nicht bereit nachzugeben; die muskulösen Kalias308 aus Nigeria, die im Hof für fünfzig Rupien winzige Päckchen Brown Sugar verkauften, und ihre Kunden, die in kleinen Runden dicht beieinander hockten und den Rauch mit der andächtigen Miene derer inhalierten, die eine andere, bessere Welt gesehen haben. Das lange Warten auf das Abendessen, dann wieder der gleiche wäßrige Fraß, der klumpige grobe Reis, die gummiartigen Chappatis, und schließlich um acht das Schlafengehen.

Wir lebten dieses Leben und träumten von draußen. Als ich Date und Kataruka von meinem Plan erzählte, ihnen sagte, daß ich zwei neue Männer brauchte, zwei harte, handlungsfähige Jungs, keine Aufschneider, die beim Anblick von Blut wie das Kaninchen vor der Schlange erstarren, protestierten die beiden. Sie schüttelten den Kopf und erklärten, man könne sich unmöglich auf Männer verlassen, die sich noch nicht bewährt hätten. Genau deshalb, sagten sie, machen wir es doch so schwierig, in die Company reinzukommen: damit wir erst mal sehen können, ob der Bewerber überhaupt die Nerven für diesen Job hat. Deshalb schicken wir sie zuerst auf Botengänge, lassen sie ein-, zweimal Prügel beziehen, damit sie sich beweisen können, damit sie sich hocharbeiten, wie es sich gehört. Trotzdem, beharrte ich. Ich brauche neue Gesichter, zwei, die bisher nichts mit uns zu tun hatten.

Also trieben sie zwei Jungs für mich auf, Dipu und Meetu. Sie waren Brüder, stammten aus dem Norden und waren mit einem Abschluß von irgendeinem Gaandu-College in Gorakhpur nach Bombay gekommen. Einundzwanzig und zweiundzwanzig waren sie und echte Bhaiyyas, Bauernsöhne. Sie hatten bei einem Taxifahrer gewohnt, der auch aus Gorakhpur kam, und sich von Job zu Job gehangelt. Dipu hatte unter anderem als Waschmittelvertreter gearbeitet, Meetu als Verkäufer in einem Geschäft für Badezimmerarmaturen. Es waren aufgeweckte Burschen, voll Energie, und gerade als ihre Illusionen einen ernsthaften Knacks zu bekommen drohten, sie allmählich begriffen, daß in diesem Bombay nicht alle Träume wahr wurden und nicht jeder Depp aus Uttar Pradesh sich in einen Shahrukh Khan verwandelte, erhielten sie einen Anruf von einem entfernten Cousin aus Lucknow. Er habe einen Plan, sagte er, ein Projekt. Er wolle in Lucknow einen Handel aufziehen, mit An-und Verkauf auch in Bombay. Dafür brauche er in der Stadt ein Bankkonto, um dort Geld direkt zur Verfügung zu haben. Dipu und Meetu sollten ein gemeinsames Konto eröffnen. Er werde ihnen Geld schicken, das sie auf das Konto einzahlen sollten, sowie genaue Anweisungen, wem etwas davon auszuzahlen sei. Eine Woche später erhielten sie per Kurier einen Bankwechsel über anderthalb Lakhs. Der Wechsel wurde akzeptiert, und wie angewiesen, nahmen sie sich selbst vierzigtausend für Spesen. Sie hauten ordentlich auf den Putz, und eine Woche später kam der nächste Bankwechsel, diesmal über zwei Lakhs. Der Zweigstellenleiter sagte ihnen, die Formalitäten würden einen Tag in Anspruch nehmen, das Geld sei am nächsten Tag verfügbar. Also gingen unsere beiden Brüder am nächsten Tag wieder zur Bank. Sie traten grinsend an den Schalter, und im nächsten Moment lagen sie auf dem Boden, die Pistolenläufe von Polizisten im Nacken.

»Nicht gekennzeichnete Jeeps, Bhai«, sagte Dipu. Er erzählte die Geschichte. »Wir saßen in der Falle. Die Bankwechsel waren gestohlen, das haben sie uns auf der Wache erzählt, während sie uns verprügelten. Unser Cousin hat uns verraten.«

»Hör zu, Bhenchod«, sagte ich. »Das Unschuldslamm kannst du vor dem Richter spielen. Wenn du mich anlügst, reiß ich dir die Golis ab. Willst du mir wirklich erzählen, daß ihr völlig nichtsahnend dieses Konto eröffnet und die Wechsel eingelöst habt? Was für ein Handel sollte das denn sein?«

Er schluckte. »Ich weiß nicht, Bhai.«

»Ihr habt es nicht gewußt, aber eurem Cousin blind gehorcht? Und ihr habt gedacht, ihr kriegt vierzigtausend allein dafür, daß ihr mit sauberem Hemd und sauberer Hose in eine Bank geht? Lüg mich nicht an, Maderchod. Ihr habt ganz genau gewußt, daß die Wechsel gestohlen waren.«

Er und sein Bruder hatten das gleiche breite Gesicht, reizlos wie eine Schaufel. Er blinzelte, dachte nach, dann gab er auf. »Ja, Bhai. Wir haben halt gedacht, ein weiterer Wechsel kann nicht schaden.«

Sie waren emporgekommene Bauern, die sich für schlauer hielten, als sie es waren, deswegen waren sie der Polizei so leicht ins Netz gegangen. Dipu erzählte mir den Rest der Geschichte. Die Polizisten hatten Namen, Adresse und Telefonnummer ihres Cousins aus ihnen herausgeprügelt, aber natürlich hatte der sein Nest in Lucknow längst verlassen. Dann hatten die Policiyas weitergeprügelt, mit Pattas auf die Fußsohlen, mit Stöcken auf die Hände, mit den Fäusten in die Nieren. Sie drohten ihnen mit der Erschießung, sagten, sie würden mit ihnen ans Meer fahren und ihnen ein paar Kugeln in den Kopf jagen. Sie sagten, sie würden die Polizei von UP auf den Hof ihres Vaters schicken, zu ihrer Mutter in die Küche. »Raus mit der Sprache«, sagten die Inspektoren. Aber die Brüder hatten nichts mehr zu sagen, und der Cousin war weg, also wanderten sie schließlich aus der Untersuchungshaft ins Gefängnis, und da warteten Dipu und Meetu nun auf die Gerichtsverhandlung. Der Inspektor, der ihren Fall bearbeitete, hatte ihnen gesagt, für einen Lakh würde er vor Gericht keinen Einspruch gegen Haftverschonung erheben, und der Staatsanwalt würde es ihm für fünfzigtausend gleichtun, so daß der Antrag ihres Anwalts glatt durchgehen und sie gegen Kaution freikommen würden. Und obwohl ihnen schwere Verstöße zur Last gelegt würden, nicht nur Betrug gemäß § 420, sondern auch Fälschung gemäß § 467 und § 468, könne er, der Inspektor, ihre Freilassung gegen Kaution erwirken. Für etwas mehr Geld könne sogar der ganze Prozeß geregelt werden. Aber Dipu und Meetu hatten das, was ihnen von den vierzigtausend noch geblieben war, komplett an ihren Anwalt gezahlt, und das bißchen, das ihr Vater für sie hatte zusammenkratzen können, hatten sie ebenfalls ausgegeben. Also waren sie nun hier in Gewahrsam und warteten auf ihre Gerichtsverhandlung, ihren Termin. Sie saßen seit einem halben Jahr. Manche Männer warteten auch schon ein ganzes Jahr, ein paar abgerissene Gestalten sogar seit drei, vier, sieben Jahren. Und so hatten sich Dipu und Meetu, die sich wie Idioten verhalten hatten, aber lernfähig waren, an meine Jungs gewendet. Und jetzt redeten sie mit mir, lange nach Einbruch der Nacht in den Waschräumen von Baracke vier.

Sie versicherten mir, daß sie blutige Arbeit tun könnten, das seien sie gewohnt, sie seien in Gorakhpur aufgewachsen, das härte ab, dort fänden die studentischen politischen Aktivitäten in Form von Stimmenwerbung mit Messer und Lathi statt, ihre Gegend habe mehrere berühmte Dakus hervorgebracht, das liege ihnen im Blut. Ich hatte keine Gelegenheit, sie auf die Probe zu stellen, da sie sich ruhig halten und im Hintergrund bleiben mußten, abseits von meinen Jungs. Aber sie waren rekrutiert.

Jede Woche wurde ich zum Haftprüfungstermin beim zuständigen Gericht gebracht. Die Gefängniswärter steckten immer auch noch andere Häftlinge in den Transporter, alle, die am jeweiligen Tag einen Gerichtstermin hatten. Und so fuhren Dipu und Meetu immer im selben Wagen wie ich zum Gericht - wir hatten das mit den Anwälten und Richtern so ausgemacht. Ich, die beiden Brüder und entweder Date oder Kataruka. Letztere wechselten sich ab, es saß immer einer von ihnen zu meiner Linken auf der Bank an der Wand. Zu meinen Füßen, bei den gemeinen Gefangenen auf dem Boden, saßen Dipu und Meetu. Und mir gegenüber, auf der anderen Bank, die Männer anderer Companys. So war das im Gefangenentransporter geregelt: Die Bhais saßen auf den Bänken und die normalen Häftlinge auf dem Boden. Date und Kataruka hätten es vorgezogen, wenn ich bei der Ausführung des Plans gar nicht dabei gewesen wäre, sie wollten mich keiner Gefahr aussetzen. Sie versuchten mich zu überreden, die Sache ihnen zu überlassen, aber ich erklärte ihnen, es sei entscheidend, daß ich dabei sei, ohne mich ergebe das Ganze keinen Sinn. Und nun sollten sie die Klappe halten. Dann wartete ich auf den passenden Tag im Gefangenentransporter.

In den ersten zwei Wochen gehörten die Männer auf der gegenüberliegenden Bank immer anderen Companys an, nicht der von Suleiman Isa. In der dritten Woche hatten Kataruka und ich uns bereits auf der Bank breitgemacht, als Suleiman Isas Jungs hereinkamen. Es waren vier, die ich alle nicht erkannte, doch Kataruka zu meiner Linken setzte sich aufrecht hin und zog an dem Seil an seinen Handgelenken. Wir wurden immer gefesselt zum Gericht gebracht, aneinandergebunden wie Tiere. Für das, was wir tun mußten, war das Seil indes lang genug. Suleimans Männer machten es sich bequem und grinsten mich an. Sie waren amüsiert und hatten keine Angst.

»Was gibt's zu lachen, Maderchod?« fragte Kataruka. Er war sehr hellhäutig, mein Kataruka, aber pockennarbig. Und meist schweigsam, doch jetzt erhob er die Stimme.

»Kein Grund zur Aufregung«, sagte ich zu ihm. Ich selbst war völlig entspannt. Mir sauste das Blut in den Ohren, aber ich war ganz ruhig. Die Jungs gegenüber waren ebenfalls entspannt, denn sie waren zu viert und wir nur zu zweit, außerdem hatten sie ja gehört, daß ich ein Feigling war.

»Ist dein Gaand noch wund?« fragte mich einer von ihnen. »Wir haben gehört, Parulkar hat dich monatelang jeden Abend rangenommen. Er hat erzählt, es wäre ein Vergnügen, dich zu besteigen, du hättest gestöhnt wie ein Mädchen.«

Ich lächelte ihn an. »Parulkar ist ein ehrenwerter Polizist«, sagte ich. »Was er sagt, muß stimmen.« Ich rutschte auf der Bank nach hinten, setzte einen Fuß auf der Sitzfläche auf und kratzte mich am Knöchel.

Sie lachten alle. Die Vordertüren des Transporters wurden zugeschlagen, der Motor drehte zu einem langen vibrierenden Heulen hoch, das ihr Gekicher übertönte, dann fuhr der Wagen mit einem Ruck an, und ich sagte sehr leise: »Dipu.«

Er war wirklich schnell, dieser Dipu. Ich sah seine Hand kaum, sie sauste vorbei, und der Suleiman-Isa-Mann rechts von ihm begriff einen Moment lang gar nicht, daß er eine Schnittwunde hatte. Er saß einfach nur da, und dann spritzte sein Blut durch den Wagen. Und dann stürzten wir uns auf sie und schlitzten drauf los. Wir benutzten Klingen, keine Rasierklingen, sondern die etwas dickeren, die man verwendet, um Pappe oder Klebeband zu schneiden. Wir hatten sie aus der Gefängniswerkstatt mitgehen lassen, hatten die Klingen halbiert, die Bruchseite mit geschmolzenem Gummi umgeben, so daß eine Art Griff entstand, und die Klingen dann seitlich in unsere Gummi-Chappals geschoben, in den Absatz.

Sie waren von Schnitten übersät, bevor sie auch nur eine Hand heben konnten. Sie rechneten mit zwei Gegnern, doch wir waren zu viert. Wenn man einen Mann zum Bluten bringt, ist es vorbei mit seinem Mut. Ich hatte meinen Jungs gesagt, sie sollten ihnen an die Augen gehen. Mit dieser Art Klinge kann man nicht töten, aber man kann dafür sorgen, daß dem Gegner das Blut in die Augen läuft und er nichts mehr sieht. Nur zwei von ihnen wehrten sich, die anderen beiden gerieten in Panik, schrien und versuchten sich im Tumult der anderen Gefangenen zu verbergen. Ich war ganz ruhig. Ich wich aus, wartete und schlitzte und schlitzte. Im Kopf eines Menschen ist mehr Blut, als man denken würde, und es strömt mit hohem Druck. Es spritzt wie aus einer Wasserpistole, in schnellen Stößen, dem Herzschlag entsprechend. Unser Angriff kann kaum eine Minute gedauert haben, aber im Vergnügen des Schlitzens und Schneidens dehnte sich die Zeit zu einem Bazaar der Möglichkeiten. Plötzlich bemerkte ich, daß der Transporter angehalten hatte und die Halvadars und Inspektoren sich mit den Türen abmühten. Ich wich aus dem Kampf nach hinten zurück und ließ mich auf die Bank sinken. »Gib mir den Lambi«, befahl ich Meetu.

Er hatte die Stichwaffe hinter dem dicken Packen von Papieren, Vorladungen und Berichten in seinem blauen Aktenordner versteckt. Dieser Lambi, den er mir da in die Linke drückte, war eigentlich ein Scharnier aus einem der Waschräume in der Baracke, das wir sorgfältig abgeschraubt, an einem Stein endlos geschliffen und mit einem Griff versehen hatten, indem wir das eine Ende mit Leitungsdraht umwickelten. Mit dem Lambi in der Hand stieg ich im Storchengang über die Masse von Männern. Ich hatte es auf einen bestimmten Mann abgesehen, hatte sein von Blut dunkel überkrustetes Gesicht erspäht. Er hob die Hände, als ich auf ihn zukam. Es bedurfte nur eines einzelnen schwungvollen Stoßes aus der Schulter, der mir vertraut war, ohne daß ich ihn je zuvor ausgeführt hätte. Ich rammte ihm den Lambi in den Hals. Dann waren die Polizisten da.

Sie zerrten uns unter großem Gelärme heraus, es waren Dutzende. Wir grinsten uns an. Auf Dipus linkem Handrücken war eine Schnittwunde. »Ich habe mich selbst geschnitten, Bhai«, sagte er. »Aber die noch viel mehr.«

»Chutiya«, sagte ich lächelnd.

Sie schleiften uns in die Anda020-Zellen. Hinein in das hohe, tankförmige Gebäude und dann in die sonnenlosen Zellen. Die anderen wurden gleich durch die niedrigen Zellentüren geschoben, mich führten sie noch einen Stock tiefer, allein. Es war dunkel, sehr dunkel. Nach einer Weile konnte ich zwei Betonplatten in dem runden Raum ausmachen und im Boden dazwischen ein Loch. Zwei Betten und eine Latrine. Ich schwitzte. Ich tastete die Wände ab, so weit hinauf, wie es ging. Kein Fenster, kein Bord, kein Schalter, keine Steckdose, nur eischalenglatter Beton. Ich saß lange auf einem der Betten. Dann zog ich mein Hemd aus und rollte es mir zum Kissen zusammen. Ich legte mich hin. Und fing an zu lachen.

Man hielt mich zwei Wochen in der Anda-Zelle fest. Ich bekam Essen und Wasser durch die Tür hereingeschoben und lebte allein in dieser stinkenden Hölle. Die Dunkelheit -es ist die Dunkelheit, die einem ins Herz schneidet, das Gehirn aufschlitzt. Ich versuchte ein Gefühl für die Zeit zu behalten, versuchte gesund zu bleiben, indem ich zügig im Kreis herummarschierte, mich bemühte, dann zu schlafen wenn ich glaubte, es sei Nacht. Aber bald konnte ich Tag und Nacht nicht mehr unterscheiden. Ich versuchte die Uhrzeit an den Mahlzeiten zu erkennen, aber sie müssen mir das Essen gebracht haben, wann immer es ihnen gerade einfiel, es war kalt und zu einer festen Masse erstarrt, und ich hätte schwören mögen, daß viele Tage und Nächte verstrichen, bevor ich die Tür knarzend wieder aufgehen hörte. Und dann war da das Rasseln meines eigenen Atems, ein und aus, ein und aus, Ewigkeiten. Ich öffnete die Augen und wußte, daß nur ein oder zwei Minuten vergangen waren. Und doch war ich endlos lang eine sumpfige Küste entlanggelaufen. Eine weitere lange Minute erwartete mich, öffnete ihren tiefen Abgrund vor mir. Und dann noch eine. Ich versuchte mir eine Uhr vorzustellen, schlug einen Nagel in die Wand und hängte eine goldene Uhr daran auf, mit einem dieser Pendelgewichte, ich dachte mir, sie könne die Zeit für mich messen. Aber meine Uhr gähnte, zerrann und verschwand, und ihre Zeiger rollten sich ein und bildeten Schlaufen. Ich hatte gehört, daß die Anda-Zellen Menschen in den Wahnsinn treiben konnten, und jetzt stellte dieser schwarze Raum mich auf die Probe.

Im Dunkeln kamen Frauen zu mir. Sie liefen mit kühl klimpernden Fußkettchen durch mich hindurch. Ich lag flach auf dem Rücken, und sie schwebten über mir. Die Säume ihrer Ghagras streiften mir sanft über die Wangen, und ich spürte ihre Schritte auf meiner Brust, sanft wie eine Segnung. In diesem vagen Traum, der luftigen Berührung ihrer Gaze, wurde ich von meiner Gefangenschaft erlöst. Sie unterhielten sich murmelnd, so daß ich sie gerade eben nicht verstand, ein Flüstern, das zu leiser Musik wurde. Ich schwebte. Ich war fort.

Als man mich aus der Anda-Zelle herausließ, wußte ich nicht, wieviel Zeit verstrichen war, ob zwei Wochen oder zweitausend Jahre. Ich hielt mir schützend die Hand vor die Augen und stellte den Gefängniswärtern und Polizisten keine Fragen. Parulkar war da, in seiner typischen selbstgefälligen Art, aufgeblasen und beleidigend, und unter seiner Führung wurden wir über den Gefängnishof zum Büro des Direktors geschleift. Dort folgten natürlich weitere Schmähungen und Einschüchterungen, man drohte uns mit zusätzlichen Anklagen und langen Haftstrafen. Aber das war alles nur Show, leeres Gerede, denn sie wußten so gut wie wir, daß wir einen Sieg verbucht hatten. Es war nur ein kleines Scharmützel gewesen, aber wir hatten gewonnen. Und so geringfügig dieser Triumph auch gewesen sein mochte, für meine Jungs und mich änderte er alles. So ist das manchmal eben. Während ich das Theater, das die Gefängniswärter und Parulkar veranstalteten, in aufrechter Haltung über mich ergehen ließ, kam ich wieder zu mir. Auf dem Schreibtisch stand ein Kalender, dem ich das Datum entnahm, es war der 28. Dezember. Ich war also dreizehn Tage und vierzehn Nächte in der Anda-Zelle gewesen. Mit einem metallischen Klirren fiel die Zeit wieder in ihren Rahmen. Ich blieb ruhig, verzog keine Miene, senkte den Blick, doch meine Stärke kehrte zurück. Das Aufheben, das sie machten, zeigte, daß sie mir meinen moralischen Sieg zu verwehren suchten. Ich wußte, daß alle meine Jungs, in der Baracke wie draußen, von unserem Kampf gehört hatten und daß er ihnen Auftrieb gab.

Erst in der Baracke erfuhr ich Einzelheiten über unseren Triumph. Der Mistkerl, dem ich in den Hals gestochen hatte, war einer von Suleiman Isas obersten Controllers, der den Jungs in Dubai direkt unterstand. Der Maderchod hatte wie durch ein Wunder überlebt, aber er war immer noch im Krankenhaus und von langen bogenförmigen Nähten übersät. Die Ärzte rechneten damit, daß er irreparable Nervenschäden davontragen würde. Die anderen waren mit geschorenen, bandagierten Köpfen in ihre Baracke zurückgekehrt, und wann immer meine Jungs in Hörweite ihrer Fenster gelangten, wurde ordentlich herumgewitzelt: »Hat hier jemand Kopfweh? Braucht vielleicht jemand eine Kopfmassage?« Die Verletzungen auf unserer Seite waren nicht der Rede wert, kleine Schnittwunden. Doch alle waren sichtlich benommen von der Zeit in der Anda-Zelle. Meetu zitterte, er versuchte zwar, es zu unterdrücken, fröstelte jedoch trotz der Nachmittagshitze.

»Okay«, sagte ich zu meinen Jungs. »Wir feiern später. Macht uns erst mal einen Tee. Dann baden wir alle und ruhen uns etwas aus. Sorgt für ausreichend Wasser.«

So wurde es gemacht. Zum Schluß legten wir uns zu einem Kreis zusammen, die Füße in der Mitte, unsere Körper die Speichen eines Rades, und die anderen Jungs fächelten uns abwechselnd Luft zu. Es war ein Vergnügen, zu plaudern, an die Deckensparren hochzuschauen und Licht zu sehen, das Fortschreiten des Tages zu verfolgen. Dipu und Meetu unterhielten sich über Frauen, über den Sex, den sie sich gönnen würden, sobald sie wieder draußen wären. Kataruka lachte sie aus. »Ihr Ganwars«, sagte er. »Ihr haltet die Huren aus der Lamington Road für Frauen? Diese Bhenchods sind doch schlimmer als Tiere. Da könnt ihr's genausogut mit der nächstbesten Hündin treiben, die ihr an einem Müllhaufen herumschnüffeln seht. Ihr werdet nie echte Lust kennenlernen, wenn sich eine Frau euch nicht freiwillig hingibt. Ein Mädchen, das auf der Klosterschule war, das gut erzogen ist, schüchtern und reserviert, das umworben werden muß - das ist die wahre Bewährungsprobe für einen Mann. Aber warum erzähle ich euch beiden das, ihr werdet so einem Mädchen sowieso nie nah genug kommen, um auch nur seinen Duft zu riechen.« Woraufhin sie natürlich bettelten und quengelten, meine großartigen, gefährlichen Daku-Brüder, er solle sie doch unterweisen. Ich hörte zu, wie Kataruka sich bis in den Abend hinein über die Geheimnisse der Verführung ausließ. »Wenn ihr sie erobern wollt«, sagte er, »müßt ihr Kishore Kumar346 sein. Und damit meine ich nicht nur, daß ihr seine Lieder für sie singt, nein. Ihr müßt so mühelos charmant und gut gelaunt sein wie er. Wenn ihr das hinkriegt, kommt sie zu euch, und zwar mit größtem Vergnügen. Und wenn das passiert ist, wenn man sie hat, dann muß man Mohammad Rafi singen, nichts als Rafi.«

»Warum denn?« fragte Meetu gähnend. »Wenn man sie schon gebumst hat, warum soll man dann noch irgendwas singen?«

Kataruka setzte sich auf und gab Meetu eine Kopfnuß. »Hör zu, Gaandu. Hör mir ganz genau zu. Man singt Rafi, weil man sie sonst kein zweites Mal bumsen wird. Mit Rafi verschafft man sich den dauerhaften Zugang zu ihrer Chut.« Er wandte sich zu mir um. Ich lachte. »Was machen wir nur mit diesen Bauern, Bhai?«

Ich schüttelte den Kopf. »Und was singt man nach Rafi?«

»Aha, hier haben wir einen Mann, der das Leben kennt«, sagte Kataruka. Er legte sich wieder hin, reckte sich. »Wenn es vorbei ist, wenn sie einen verlassen hat oder man selbst sie verlassen hat - hört ihr mir zu, Chutiyas? -, wenn ihr das Gefühl habt, das Herz wird euch an einem Haken aus dem Hals gezogen, dann singt ihr Mukesh. Mukesh ist der einzige Ausweg, nur mit ihm wird man einen weiteren Monsun erleben. Mukesh heilt einen, damit man irgendwann wieder anfangen kann, Kishore zu singen. Damit man noch mal eine Chance hat. Kapiert, Chutiyas? Kishore, Rafi, Mukesh.«

Meetu und Dipu nickten, aber ich wußte, daß sie kaum etwas verstanden hatten. Sie waren zu jung, um zu begreifen, daß man Rafi brauchte, von Mukesh ganz zu schweigen. Aber sie grinsten, zeigten ihre riesigen Hasenzähne. »"Wie wär's denn jetzt mit ein bißchen Kishore?« schlug ich vor. Es war die richtige Stimmung, der richtige Abend für eine solche Einlage. Wir waren alle glücklich.

Wie sich herausstellte, war es Date, der singen konnte. »Khvab ho tum ya koi haqiiqat, kaun ho tum batalaao«341, sang er. Und dann: »Khilte hain gul yahaan, khilake bikharane ko, milte hain dil yahaan, milke bichhadne ko.335« Die ganze Baracke verstummte, und wir hörten ihm zu. Jedesmal wenn er ein Lied beendet hatte, riefen die Männer nach Zugaben, baten um Lieblingssongs, und es wurde viel gelacht. Bald hatten sich ihm ein paar Background-Sänger und zwei Tabla-Spieler zugesellt, die auf leeren Kanistern spielten. Wenn Date sang, hielt er sich wie ein Profi eine Hand hinters Ohr, und zwischen den Liedern erfuhr ich nach und nach, daß er aus einer Musikerfamilie stammte und als Kind Musikunterricht genommen hatte, daß sein Vater in einer Hochzeitsband Trompete gespielt hatte, bis ihm das Alter die Kraft aus den Lungen nahm, und daß Date immer davon geträumt hatte, Playback-Sänger zu werden. »Pag ghungru baandh Mira naachi thi«464, sang er, und »Ye dil na hota awaara«673, und dann war es Zeit fürs Abendessen.

Später am Abend kam Date zu mir und stupste mich an. »Bhai«, sagte er. »Können Sie nicht schlafen?« Ich hatte mich hin und her gewälzt, zusammengerollt und gestreckt, eine entspannte Haltung gesucht, die es mir erlauben würde einzudämmern.

»Was ist denn, Kishore Kumar?«

»Das Problem ist, Bhai, daß wir Frauen brauchen.«

»Natürlich brauchen wir Frauen, Saala. Willst du mir eine Frau besorgen, Maderpat? Aus der Frauenbaracke?«

»Nein, nein, Bhai. Absolut ausgeschlossen. Das riskieren die Wärter nicht, das Risiko ist einfach zu groß. So was hat es nur ein einziges Mal gegeben - erinnern Sie sich an diese Frau, Kamardun Khan?«

»Drogenschmugglerin, stimmt's?«

»Ja, sie hat allein gearbeitet, hat Brown Sugar geschoben. Sie war im Gefängnis in der Arthur Road, und ihr Freund, Karan Pradhan, war in der Männerbaracke.«

»Der aus der Navlekar-Company?«

»Ja genau, der. Diese Kamardun Khan hat Karan Pradhan wirklich geliebt. Also ist sie immer wieder über die drei Meter hohe Mauer ihrer Baracke geklettert und in den großen Gefängnishof gesprungen. Sie hat die Wachen und die Aufseher bestochen und viele, viele Nächte bei ihrem Liebsten in der Männerbaracke verbracht.«

»Was für eine Frau.«

»Es heißt, sie hätte ab und zu auch den Wachen eine kleine Kostprobe gegeben, nur damit sie zu Karan Pradhan konnte.«

»Das nenne ich Liebe.«

»Als sie wieder draußen waren, hat sie ihm ein Auto geschenkt. Einen nagelneuen Contessa.«

»Lebt er nicht mehr?«

»Die Jungs aus Dubai haben ihn erledigt, vor seiner Garage. Sie haben ihn in seinem Contessa umgebracht.«

»Und sie?«

»Sie ist durchgedreht. Hat versucht, gegen Suleiman Isa zu kämpfen. Sie hat schießen gelernt und sich mit einem Polizei-Inspektor eingelassen. Sie dachte, er würde ihr helfen, Rache zu nehmen.«

»Aber?«

»Die Jungs aus Dubai haben sie erstechen lassen. Es heißt, der Inspektor hätte sie an die S-Company verkauft, ihnen gesagt, wo sie sie finden können.«

»Das nenne ich tragisch.«

Er seufzte. Einen Moment lang dachte ich, er würde gleich einen Mukesh-Song anstimmen. Doch er riß sich zusammen und sagte: »Diese Geschichte ist voller Dramatik, voller Emotion, voller Tragik.« Woraufhin wir in schallendes Gelächter ausbrachen. Wir gackerten so lange herum, bis die anderen Jungs anfingen, über unser Gelächter zu lachen, über unsere Hysterie.

»Soso«, sagte ich dann, »in der Navlekar-Company gibt es also Jungs, die so kühn sind und so gut aussehen, daß Frauen für sie über Mauern springen. Was werden meine Jungs wohl für mich tun?«

»Eine Frau kann ich Ihnen nicht besorgen, Bhai«, sagte Date. »Aber da wäre noch die andere Baracke.«

Ich wußte natürlich, welche er meinte. »Der Baba-Raum?«

»Es gibt da einen Jungen«, sagte Date, »der hat einen Gaand, das können Sie sich gar nicht vorstellen. Wenn Sie den sehen, würden Sie schwören, daß es Mumtaz' Hintern ist.«

»Wieviel?« fragte ich.

»Dreihundert für den Aufseher, fünf für die Wache. Und etwa hundert für den Gaari201

»Gut. Besorg fünf Gaaris.«

»Fünf, Bhai. Einen für Sie, einen für Kataruka und einen für mich?«

»Und je einen für die beiden Helden-Brüder.«

»Aber Mumtaz kriegen Sie, Bhai. Sie werden schon sehen.«

Nachdem ich das Geld abgezählt hatte, dauerte es keine halbe Stunde, bis sie da waren. Und dann wurde im Dunkeln heftig gestöhnt. Unter meinen Fingern fühlte sich der Gaari tatsächlich wie Mumtaz an. In meiner frühen Zeit in der Stadt, als ich noch auf dem Bürgersteig gelebt und auf Zement geschlafen hatte, hatte ich es mit Jungen getrieben. Doch nun kannte ich die Frauen, also schloß ich die Augen und sah Mumtaz. Sie keuchte unter mir. Danach war ich entspannt und schlief gut.

Am nächsten Morgen fand ich, in meinem Tiffin versteckt, ein in Plastik gehülltes Mobiltelefon. Es ähnelte einem kleinen Backstein, war fest und schwer und hatte ein eigenes Ladegerät. Date und Kataruka saßen neben mir, während ich das Plastik entfernte. Ein eingerollter Zettel war mit einem Gummiband an dem Handy befestigt. »Mit der PWR-Taste einschalten. 022 wählen, dann meine Nummer, dann OK drücken«, stand in Buntys Schrift darauf. Wir folgten der Anweisung, und er nahm sofort ab. »Wer ist dran?« fragte er.

»Dein Baap.«

»Bhai!«

»Wo hast du das Ding her?«

»Frisch vom Schiff, Bhai. Sehr teuer. Aber klasse, oder?«

»Erstklassig.«

»Sie sind der erste in der Stadt, der eins hat, Bhai.«

»Tatsächlich?«

»Na gut, vielleicht der dritte oder vierte.«

Er übertrieb natürlich. Es gab damals, in jenen lang zurückliegenden Tagen, wahrscheinlich ein paar Dutzend reiche Säcke, die schon Mobiltelefone hatten, aber von den Companys war unsere die erste, die Handys im großen Stil nutzte. Und dieses hier im Gefängnis war unser erstes. Ich war sehr zufrieden mit Bunty, er war ein Mann mit Weitblick, ging mit der Zeit. Wir redeten über Organisatorisches. Es gab viel zu besprechen. Da war einmal das Alltagsgeschäft - das Eintreiben von Schutzgeldern, unsere Interessen im Immobilienhandel, unser Import von Elektronik und Computerbauteilen, unsere Barinvestitionen in der Unterhaltungsindustrie. Und zum anderen der Waffenschmuggel, ein Projekt, das besonders viel Aufmerksamkeit erforderte, wir mußten idiotensichere Pläne entwickeln, größte Sorgfalt auf Einzelheiten verwenden. Wir organisierten im Schnitt nicht mehr als eine Lieferung pro Halbjahr, die Ware war sehr schwer und ließ sich weder gut verstecken noch gut transportieren. Doch der Wert einer solchen Schiffsladung ging in die Crores, und bisher waren wir auf ganzer Linie erfolgreich gewesen, unser Kunde war zufrieden. Wir setzten meine alten Freunde Gaston und Pascal ein, nur ihr Schiff mit einer minimalen Besatzung, die allerdings, bedingt durch dieses Geschäft, bestens ausgerüstet war. Bunty und ich besprachen das alles, wobei wir selbstverständlich Codewörter benutzten: AK-47 bezeichneten wir als Besen, Munition als Süßigkeiten, und ein Trawler war ein Bus. Bei dieser Waffengeschichte war unser einziger Kunde Sharma-ji, der immer pünktlich war und seine beträchtlichen Zahlungen fristgerecht leistete, in seinen perfekten weißen Dhotis stets perfekt gekleidet. Bunty hatte keinerlei Beanstandungen, was Sharma-ji betraf, und ich auch nicht. Schließlich gab es noch die Frage, ob wir einige kleine Splitter-Companys beim Transport von Drogen über Bombay nach Europa unterstützen sollten. Bunty hatte in der Vergangenheit dafür plädiert, direkt in den Drogentransit einzusteigen, wegen der hohen Gewinne und auch, um gegen die Marktdominanz der Paschtunen anzugehen. Aber ich hatte das immer abgelehnt: Da es keine örtliche Produktion gab, würden die Gewinne nicht hoch genug sein, um die Preisgabe unseres Slogans »Drogen rühren wir nicht an« zu rechtfertigen. Die Company konnte Schaden nehmen, wenn sie zu schnell expandierte. Konsolidieren, konsolidieren, war meine Devise. Ich sagte Bunty, er solle den Drogenhändlern unsere Logistik und Männer zur Verfügung stellen, dabei jedoch vorsichtig bleiben, Distanz halten.

»Ja, Bhai«, sagte er. »Ihr Akku ist wahrscheinlich bald leer. Sonst noch irgendwas?«

»Ich will einen Fernseher«, sagte ich. »Und einen richtigen Schrein.«

»Kein Problem. Das kann ich bis heute nachmittag beides besorgen. Mit den Genehmigungen könnte es allerdings eine Weile dauern.«

»Mach dir deswegen keine Gedanken«, sagte ich. »Schaff das Zeug einfach an den Haupteingang.« Ich schaltete das kleine Telefon aus, freute mich an seiner schlanken Form, an der pulsierenden Linie, die die Stärke des Signals anzeigte. Ich winkte Date zu mir. »Lad das Ding auf«, sagte ich. »Und sag der Wache, daß ich den Direktor sprechen will.«

Nach dem Mittagessen legte ich mich ein bißchen hin und dachte über Bunty nach. Er war ein bescheidener Mann, unscheinbar, aber intelligent und in Krisensituationen eiskalt. Er war schon lange bei mir, stand mir von all meinen Männern am nächsten. Es war ein schneller Aufstieg gewesen, trotzdem fühlte ich mich nicht bedroht. Ich wußte, daß er ehrgeizig war, aber ich sah auch, daß seine Ambitionen sich darauf beschränkten, gut zu leben und respektiert zu werden. Ich hatte keine Angst, daß er versuchen könnte, mich auszustechen oder sich unabhängig zu machen und seine eigene Company aufzuziehen. Warum war er so? Warum war er es immer zufrieden, an zweiter Stelle zu stehen, während ich immer an erster Stelle stehen mußte? Ich war weder körperlich stärker noch gewiefter, ich sah auch nicht besser aus. Sein Appetit auf Frauen war so groß wie meiner, da vergaben wir uns nichts. Er war mit einer verwitweten Mutter, zwei Brüdern und einer Schwester aufgewachsen, stets am Rand bitterer Armut balancierend. Aber auch ich hatte mich ohne jedes Geld durchgeschlagen. Wir ähnelten uns in vielfacher Hinsicht, und doch war er meine rechte Hand, und ich war sein Boß. Jeden Morgen wartete er auf meine Anweisungen und nahm sie freudig entgegen. Wieso nur? Ich rief mir Buntys Gesicht ins Gedächtnis, seine Punjabi-Nase und die wippende Stirnlocke, seine rauchige Stimme und gebeugte Haltung, und ich fand keine andere Erklärung als die ganz schlichte, daß es manchen Menschen bestimmt war, Größe zu erlangen, und anderen, ihnen den Weg freizuräumen. Es war keine Schande, Bunty zu sein. Er war ein guter Mann, der wußte, wo er hingehörte. Dieser Schluß war befriedigend, und ich döste ein. Doch dann sank ich tiefer, sank in die Erinnerung, in eine Dunkelheit, unter der eine massige Form aufragte, die mit vielen Stimmen sprach, und ich war ein fieberndes Kind in einem warmen Bett. Eine Frau lächelte mich an und zog mir die Decke bis unters Kinn hoch, sie berührte meine Stirn, und ich winkelte die Knie an und drehte mich auf die Seite, zu ihr hin.

Ich zwang mich in den Wachzustand zurück, setzte mich auf. Ich war ein vielbeschäftigter Mann, für Tagträume hatte ich keine Zeit. Ich rief meine Jungs, ging die Pläne für die kommenden Woche mit ihnen durch, bat um Vorschläge, wie die Lebensbedingungen in den Baracken verbessert werden könnten, und hörte mir Beschwerden über Anwälte und Richter an.

Nachmittags um drei traf ich mich mit Advani, dem Gefängnisdirektor, in seinem Büro. Er saß unter dem Nehru-Bild und hielt mir in seinem gepflegten Hindi Vorträge.

»Das war wirklich ein unseliger Vorfall«, sagte er. »Wir müssen zusammenarbeiten, um so etwas in Zukunft zu vermeiden, denn die Folgen sind für uns beide höchst unerfreulich.« Ich sah ihn nur an. Ich ließ ihn reden, hielt seinem Blick stand, schaute zurück. Nach einer Weile wurde ihm unbehaglich zumute, und er schaute weg, während er weiterredete. Doch ich wandte den Blick nicht von seinem runzligen kleinen Schädel ab, und schließlich wurde er langsamer, räusperte sich und verstummte. Der Deckenventilator tickte weiter vor sich hin, und Advani versuchte meinem unverwandten Blick zu trotzen, doch dann gab er auf. Er schwitzte.

»Kann ich etwas für Sie tun, Advani-saab?«, fragte ich ganz sanft. »Kann ich etwas für Ihre Familie tun?«

Er schüttelte langsam den Kopf und hustete. Endlich gelang es ihm zu sprechen. »Was kann ich für Sie tun, Bhai?«

»Ich bin froh, daß wir - wie sagten Sie? -, ja genau, kooperieren. Also: Die Männer in der Baracke langweilen sich, ihnen fehlt es an Informationen und Unterhaltung. Deshalb bekommen wir heute nachmittag einen Fernseher geliefert. Wir benötigen dafür einen Stromanschluß und ein Kabel. Und außerdem brauchen wir einen Schrein.«

»Aber das ist doch vortrefflich! Religion und Information - beides macht die Männer zu besseren Bürgern. Die Genehmigung dafür bekommen Sie natürlich. Ein kluger Gedanke.«

Er versuchte eher sich selbst zu überzeugen, als mir zu schmeicheln. Beim Anblick seiner langen, zuckenden Hände auf dem Schreibtisch, seines matten, schiefen Lächelns überkam mich Ekel. Wie schwach ist doch der Mensch, wie erbärmlich. Wie war dieser Mann zum Direktor geworden? Er hatte zweifellos einen Onkel, der im Staatsdienst tätig war, und einen Cousin, der einem MLA nahestand. Der Staatsdienst war voll von solchen Leuten. Sie waren das Material, mit dem wir auf dieser Welt arbeiten mußten.

»Der Gedanke kommt von Ihnen«, sagte ich. »Sie haben das vor drei Wochen selbst angeregt: Sie wollten die Haftbedingungen verbessern. Ich liefere nur die Details.«

Er brauchte eine halbe Minute, um das zu begreifen, dieser eselige Maderpat. »Ach ja, ja«, sagte er. »Danke, Bhai.«

»Kann ich irgend etwas für Sie tun, Advani?« fragte ich, jetzt ziemlich scharf. »Sagen Sie es mir.«

»Nein, Bhai. Wirklich nicht.«

»Geld?«

Das versetzte ihn in Panik. Er sah sich in seinem Büro um, als versteckte sich womöglich jemand hinter dem Schrank. Ein zu offensichtlicher Schachzug meinerseits, zu direkt. Jeder will Geld. Er würde es nehmen, aber ich war ein großer Name, und eine offensichtliche Verbindung zu mir würde seine Karriere ruinieren. Er würde darüber nachdenken müssen und ein wenig sanfte Nachhilfe benötigen.

»Oder etwas anderes? Eine Empfehlung bei Ihrem Chef? Eine Zulassung an einer guten Universität für Ihre Tochter? Ein zusätzlicher Telefonanschluß bei Ihnen zu Hause?«

»Gar nichts«, sagte er. »Ich arbeite gern mit Ihnen zusammen, damit hier im Gefängnis alles glatt läuft. Sonst nichts.« Seine Hände lagen jetzt in seinem Schoß, und als er sagte, er wolle nichts, hielt er sich sehr gerade, doch in seinen Augen sah ich diesen Schmerz glitzern, der entsteht, wenn man die Erfüllung eines geheimen Herzenswunsches angeboten bekommt, sich aber nicht traut zuzugreifen. Ich sah es nicht zum ersten Mal, dieses sehnsüchtige Zucken, dieses Zaudern vor dem eigenen Verlangen. Ich hatte die Macht, Männern und Frauen zu geben, was sie wollten, einen wie auch immer gearteten schmutzigen kleinen Traum, den sie ihr Leben lang in einem geheimen Winkel ihres Herzens verborgen hatten, hervorzuziehen und wahr werden zu lassen. Das machte ihnen angst. Ich hatte Männer dazu gebracht, mir zu gestehen, daß sie ihren Vater am liebsten umbringen würden, und Frauen, daß sie sich wünschten, ihre diebischen Brüder würden zusammengeschlagen werden. Ich wußte also, was zu tun war.

»Erzählen Sie mir von sich, Advani-saab«, sagte ich. »Wo sind Sie geboren?«

Seine Selbstbeherrschung wich einem erleichterten breiten Lächeln. »Ich bin in Bombay geboren, in Khar. Aber mein Vater stammt aus Karatschi. Die haben bei der Teilung alles verloren, wissen Sie.« Und dann erzählte er mir von seiner ebenfalls aus Karatschi stammenden Mutter - wie sie in einem brennenden Zug von seinem Vater getrennt wurde und wie die beiden sich auf einem Bahnsteig in Delhi wiedergefunden hatten. »Es war wie im Film«, sagte er. »Sie waren auf verschiedenen Bahnsteigen, Nummer drei und vier, der Amritsar Mail fuhr aus, und da haben sie sich gesehen. Papa-ji ist quer über die Schienen gerannt.« Und er erzählte weiter, von ihrem neuen Leben in Bombay, der Geburt von zwei Söhnen und drei Töchtern, seinen eigenen Jahren am National College. Wie er sich hatte abmühen müssen, bis er endlich Fuß gefaßt hatte. Unterdessen spazierte ich in seinem Büro herum, schaute in seine Schränke, verschob seine Aktenordner. Es gab keine Fotos von seiner Familie, aber eines von ihm mit Raj Kapoor513. Er hatte gerade von seinen Kindern berichtet, von seiner Tochter, die einen in die USA übergesiedelten Jungen geheiratet hatte, war dann jedoch irgendwie wieder auf seinen Vater zu sprechen gekommen, der mit Filmstars persönlich bekannt gewesen war. »Papa-ji hat Pran-saab schon in Karatschi gekannt«, sagte er. »Sie haben zusammen Kricket gespielt.« Pran war also ein Langotiya Yaar368 von Papa-ji gewesen, und die Familie hatte ihn oft zusammen bei Dreharbeiten besucht.

»Haben Sie jemals Mumtaz getroffen?« fragte ich.

»Ja«, sagte er, »zweimal. Are, sie war wunderschön. Bei manchen dieser Filmis ist das alles nur Make-up und Beleuchtung, wissen Sie. Auf der Leinwand sehen sie hell und hübsch aus, aber wenn man sie dann in der Öffentlichkeit sieht, merkt man, daß das alles gemogelt ist und man sie in einem Nahverkehrszug gar nicht bemerken würde, wenn sie nicht diesen großen Namen hätten. Aber Mumtaz, das war eine, ich kann Ihnen sagen - hell wie eine Rasgulla, was für eine Farbe, und saftig wie ein Apfel.« Er machte ein paar kleine, rundende Handbewegungen.

Jetzt hatte ich ihn. Ich winkte ihn zum Schreibtisch herüber und flüsterte: »Advani-saab, haben Sie je so einen Apfel gegessen?« Er schüttelte lachend den Kopf, warf die Hände hoch, tat die Vorstellung ab, aber ich insistierte. »Nein, wirklich, ich meine das ganz ernst, bei vielen dieser Stars läßt sich das einrichten.«

»Nein«, sagte er. »Nein, das glaube ich nicht. Das behaupten immer alle.«

»Wollen Sie damit sagen, daß ich lüge?«

»Nein, nein. Aber.«

»Keine Sorge, Advani-saab. Sie werden schon sehen. Ich besorge Ihnen ein Äpfelchen.«

Er stotterte herum, protestierte wie ein Gast, der etwas der Form halber ablehnt, aber ich war mir meiner Sache sicher. Ich ging zur Baracke zurück. Dort rief ich Bunty an und sagte ihm, daß wir einen Filmstar für den Gefängnisdirektor brauchten. »Aber, Bhai«, wandte er ein. »Wo soll ich denn einen Filmstar herkriegen?«

»Mistkerl«, sagte ich. »Du bist der König von Bombay und kannst keinen Filmstar auftreiben? Chutiya. Ruf diese Frau an.«

»Was für eine Frau?«

»Chhota Badriya hat immer Mädchen von ihr gekriegt. Schau in seinem Terminkalender nach, da findest du bestimmt ihre Telefonnummer. Und wenn nicht da, dann hat er sie irgendwo anders aufgeschrieben. Spür sie auf. Eine Jojo oder Juju oder so.«

»Ja, Bhai. Sonst noch was?«

Ich schwieg. Da war noch etwas, irgend etwas steckte wie ein Sandkorn im Getriebe meines Denkens. Ich hatte gelernt, auf diese Art vager, lästiger Empfindung zu achten. Und Bunty hatte gelernt zu warten. Ich ließ es an die Oberfläche steigen. »Okay, Bunty. Da ist noch etwas. Dieser Sharma-ji, hat der jemanden dabei, wenn er seine Ware abholt und bezahlt?«

»Die Fahrer der Lastwagen, ein paar Verlader, ein paar Wachen. Die Nummernschilder sind aus UP«

»Wissen wir sonst noch etwas über ihn, über seine Hintermänner?«

»Nein, Bhai.«

»Wir müssen mehr wissen. Mir gefällt das nicht, solche Geschäfte mit Leuten zu machen, über die wir nichts wissen. Zieh Erkundigungen ein.«

»Mach ich, Bhai.«

»Sei vorsichtig. Sie dürfen nichts merken. Laß dir ruhig Zeit. Hauptsache, du findest etwas heraus.«

»Verstanden, Bhai.«

Ich hielt meinen Mittagsschlaf. Kurz nachdem ich wieder aufgewacht war, brachten meine Jungs den Schrein und den Fernseher herein. Den Schrein mußten sie zu acht tragen. Er war aus Marmor und hatte ein spezielles Granitfundament, das dem Gewicht standhielt. Dazu gehörte eine anmutige Statue des flötespielenden Krishna mit einem goldenen Dhoti, das sich hinter ihm bauschte. Er stand auf den Fußballen, mit gekreuzten Beinen. Er tanzte. Die Jungs stellten unter dem fröhlichen Stimmengewirr der anderen Gefangenen Krishnas Schrein auf und plazierten Krishna hinein. Dann setzten wir uns alle zu unserer ersten Puja nieder. Meetu und Dipu sangen ein Bhajan. Date malte mir ein großes Tikka auf die Stirn, und Kataruka hatte eine Girlande für mich zur Hand. Ich nahm die Girlande und legte sie Krishna zu Füßen.

Dann schalteteten wir den Fernseher ein. Ich saß auf dem Ehrenplatz direkt vor dem Gerät, das genau in der Mitte des Raums auf einem hohen Sockel stand. Die gesamte Baracke setzte sich in einem großen Halbrund hinter mich, meine Jungs in der ersten Reihe. Mit perfektem Timing begann gerade auf Zee TV der Film Deewar. Es wurde nicht herumdiskutiert, wir schauten ihn uns an. Jeder in der Baracke hatte den Film bereits gesehen, doch es war mucksmäuschenstill, außer als Amitabhs Bruder, der Inspektor, sagte: »Ich habe Ma bei mir«, diesen Satz sprach die ganze Baracke mit. Der Film dauerte über die Abendessenszeit hinaus, doch eine kurze Unterredung mit meinem neuen Freund Advani schaffte dieses Problem aus der Welt: Das Abendessen wurde ausnahmsweise, nur an diesem einen Tag, verschoben. An diesem Tag waren wir alle ein Herz und eine Seele.

So widmete ich mich der Verbesserung der Haftbedingungen und der Leitung meiner Company. Die Gaandus vom zuständigen Gericht wiesen meinen Antrag auf Freilassung gegen Kaution immer wieder ab, und meine Anwälte stellten ihn immer wieder aufs neue. Ich mußte also weiter im Raj des TADA schmachten. Eines Morgens kam Date mit finsterer Miene zu mir.

»Diese verdammten Landyas«, sagte er.

»Was?«

»Anscheinend beschweren sie sich über den Schrein und den Fernseher.«

»Beschweren? Inwiefern?«

»Es heißt, Sie würden den Hindu-Don spielen, einen großen Schrein aufstellen und der Baracke einen Fernseher schenken, nur um jeden Morgen Bhajans laufen zu lassen.«

»Als sie sich gestern abend die Wiederholung von Deewar angeguckt haben, habe ich keine Beschwerden gehört.«

»Doch, ein paar haben sich beklagt. Sie mögen den Film und Amitabh auch. Aber sie behaupten, daß die Geschichte eigentlich von Haji Mastan handelt, der im Film aber zu Vijay werden mußte, weil ein Film über einen muslimischen Don in der Filmindustrie nicht möglich ist.«

»Es ist also die Schuld des Produzenten, daß er sich um das Geld sorgen muß, das er in die Stars investiert? Bezahlen ihn diese Dreckskerle denn aus ihrer eigenen Tasche, wenn der Film die Kosten nicht einspielt?«

»So sind die Moslems eben, Bhai. Undankbare Arschlöcher. Wenn Sie etwas für die Hindus tun, denken die Landyas immer, es wäre gegen sie gerichtet.«

Ich war verärgert, doch zugleich überlegte ich. Man kann das Denken von Menschen nicht ändern, indem man sie verprügelt, und hier ging es um eine Glaubensfrage. Und auch nach den Bombenexplosionen und den Krawallen hatte ich noch Moslems unter meinen Jungs, schließlich war ich ein weltlicher Don. Date schimpfte leise vor sich hin. »Bring in Erfahrung, was sie brauchen«, sagte ich. »Vielleicht brauchen sie ein paar Exemplare des Koran oder so was. Wir sollten etwas für sie tun.«

»Ich sag Ihnen doch, Bhai, die werden sich nicht ändern. Die meckern und meckern und meckern.«

»Tu es einfach.«

Er ging, die Schultern angespannt und den Kopf gesenkt wie ein Bulle. Um halb zehn rief Bunty mit weiterem Ärger an. Er war wütend auf Jojo.

»Bhai«, sagte er, »dieser elenden Jojo gehört ein ordentlicher Denkzettel verpaßt.«

»Was hat sie denn getan?«

»Sie macht mir schon seit Wochen Ärger. Sie will kein Mädchen zu Advani ins Gefängnis schicken. Und sie läßt auch nicht über Preise mit sich verhandeln. Aber es ist ihre ganze Einstellung, Bhai. Sie führt sich auf wie der große Boß, sie hat vor niemandem Angst. ›Wenn Sie nicht mit mir ins Geschäft kommen wollen, dann lassen Sie's bleiben‹, hat sie zu mir gesagt. Ich habe sie gefragt, ob sie eigentlich weiß, mit wem sie redet, und da hat sie gesagt: ›Ja, Sie sind Gaitondes kleiner Bunty.‹ Ich habe sie beschimpft, und da hat sie angefangen zu lachen. Sie ist verrückt. Ich wäre am liebsten losgezogen und hätte ihr zwei Golis in den Gaand gejagt, Bhai.«

»Statt dessen hast du mich angerufen. Das ist gut, Bunty. Nie die Selbstbeherrschung verlieren.«

»Nur weil Sie gesagt haben, daß wir mit ihr ins Geschäft kommen müssen, Bhai. Ich weiß nicht, wie Badriya mit ihr zurechtgekommen ist. Ich habe ihr gesagt, daß sie Ihrem Namen den angemessenen Respekt erweisen soll, und da hat sie gesagt: ›Und wenn nicht? Dann bringt er mich um, oder wie?‹«

»Das hat sie gesagt? Und was hast du geantwortet?«

»Daß sie eine durchgeknallte Randi ist. Und dann habe ich Sie angerufen. Lassen Sie mich ihr einen Denkzettel verpassen, Bhai.«

»Gib mir ihre Telefonnummer!«

»Wollen Sie selbst mit ihr reden?«

»Nein, ich will die ganze Baracke für sie singen lassen. Gib mir die Nummer.«

Also rief ich Jojo an. Sie nahm nach dem zweiten Klingeln ab. »Haan? Bitte?« fragte sie, halb auf Hindi, halb auf englisch.

Ich antwortete auf Hindi: »Was ist denn das für eine Begrüßung?«

»Wer ist dran?«

»Ihr Baap.«

»Der ist vor Jahren gestorben, dieser Waschlappen.«

»Haben Sie denn vor gar nichts Respekt?«

»Männer sind schlimmer als Hunde. Besonders Männer, die meine Zeit verschwenden. So wie Sie.«

»Sie sollten mich lieber anhören.«

»Warum denn?«

»Wer mich wütend macht, bezahlt teuer dafür.«

Sie brach in schallendes Gelächter aus, und es war nicht gespielt, ein wildes, tiefes Lachen - als ich es hörte, mußte ich lächeln.

»Ich fasse es nicht«, sagte sie. »Was für große Worte. Das kann nur Gaitonde höchstpersönlich sein.«

»Saali«, sagte ich. »Wollen Sie in einem Straßengraben enden? Ich lasse Sie Ihr eigenes Grab ausheben, bevor ich Sie eigenhändig hineinbefördere.«

»Donnernde Worte, fürwahr«, sagte sie und prustete wieder los. Dann beruhigte sie sich und fragte: »Wollen Sie mich umbringen, Gaitonde?«

»Es wäre ein Kinderspiel.«

»Dann nur zu.«

Sie legte auf.

Ich hob den Arm, um das Handy an die Wand zu knallen, doch dann überlegte ich es mir anders. Ich drückte auf die Wahlwiederholungstaste und wartete.

»Ja? Bitte?« Sie war ganz ruhig.

»Sind Sie eigentlich vollkommen irre?«

»Viele Leute glauben das.«

»Sie können froh sein, daß Sie noch am Leben sind.«

»Das denke ich jeden Morgen.«

Ich mochte sie. Von unserer ersten Unterhaltung an, als ich das erste Mal ihre Stimme hörte, die rauh wie die eines Mannes war, mochte ich sie. Sie lachte mich aus, und ich mochte sie. Trotzdem blaffte ich sie jetzt an: »Sind Sie schon immer irre gewesen? Sind Sie so auf die Welt gekommen?«

»Nein, nein, Gaitonde. Ich mußte hart arbeiten, um verrückt zu werden. Und Sie? Warum ist bei Ihnen eine Schraube locker?«

»Passen Sie auf, was Sie sagen, Saali.« Es war seltsam, ich war wütend auf sie, aber gleichzeitig amüsierte ich mich. »Meine Schrauben sitzen alle fest.«

»Ja, genau. Deshalb sitzen Sie im Gefängnis, bringen scharenweise Leute um und benehmen sich wie Hitler.«

»Seien Sie froh, daß Sie nicht hier vor mir stehen.«

»Sie können mich bestimmt auch so umbringen lassen, Sie großer Mann.« Und wieder lachte sie schallend, mit dieser verblüffenden, kernigen Heiterkeit.

»Verschwenden Sie nicht meine Zeit und meinen Strom«, sagte ich. »Bunty hat mir gesagt, daß Sie Schwierigkeiten machen.«

»Bunty ist ein Chutiya. Ich schicke keine Mädchen ins Gefängnis. Und eine Frau, wie Sie sie wollen, würde sowieso kein Gefängnis betreten.«

»Bunty ist ein intelligenter Kerl, und er hätte auf Sie gehört, wenn Sie sich nicht aufgeführt hätten wie ... «

»Wie was?«

»Können Sie uns besorgen, was wir wollen? Einen Filmstar?«

»Vielleicht eine Fernsehschauspielerin. Aber nicht ins Gefängnis.«

»Vergessen Sie das verdammte Gefängnis.«

»Es wird einiges kosten.«

»Alles kostet etwas. Versuchen Sie nur nicht, uns zu verarschen.«

»Ich betreibe ein ehrliches Geschäft.«

»Machen Sie einen anständigen Deal mit mir, dann wird Ihr ehrliches Geschäft ordentlich anziehen.«

»Gut.«

»Und nennen Sie mich nicht noch mal Hitler. Sie haben ja keine Ahnung, wieviel ich für die ...«

»Ja, ja, Sie sind der große Wohltäter der Armen. Sie geben wie ein König. Ich muß jetzt aufhören, ich habe zu tun. Ich werde mich mit Ihrem Bunty in Verbindung setzen.«

Und weg war sie. Sie war wahnsinnig und machte einen wahnsinnig. Aber sie war eine gute Geschäftsfrau - sie besorgte uns eine abgehalfterte Schauspielerin, die ab und zu im Fernsehen auftrat, eine gewisse Apsara. Diese Apsara war mal ein Vamp gewesen, hatte in ein paar Filmen mit Rajesh Khanna mitgespielt, als es mit seiner Karriere bergab ging und er auszusehen begann wie ein fetter Gurkha. Apsara hatte eins dieser Gesichter, an das man sich erinnerte, ohne einen Namen damit in Verbindung bringen zu können. »Dafür soll ich fünfzigtausend bezahlen?« beschwerte ich mich bei Jojo. Sie hatte alles mit Bunty geregelt, aber ich hatte sie angerufen, um noch mal wegen des Preises zu verhandeln. Es war zugegebenermaßen ein Vorwand. Ich wollte einfach mit ihr reden. Ich sagte: »Beschaffen Sie uns wenigstens einen echten Star von damals. Zeenat Aman682 oder so jemanden.«

»Das ist das Problem mit euch Männern, Gaitonde. Ihr bildet euch ein, daß jede berühmte Frau insgeheim käuflich ist. Von damals? Wie wär's mit Indira Gandhi?«

»Wie bitte? Das sagen Sie zu mir? Sie wollen mit dieser Frau ein Geschäft machen, und dann behaupten Sie, ich habe ein Problem, weil ich Frauen für käuflich halte?«

»Dieses ganze Geschäft findet nur statt, weil Männer sich etwas vorgaukeln. Die arme Apsara. Sie braucht das Geld.«

Die arme Apsara entpuppte sich als Trinkerin, aber eine fröhliche. Wir arrangierten alles: Am folgenden Samstagnachmittag kam Advani ins Juhu Centaur, wo er einen unserer Jungs traf, der unter dem Namen Mehboob Khan eine Suite angemietet hatte. Advani nahm in der Suite einen Drink, mein Junge gab ihm einen braunen Umschlag mit fünf Lakh und ließ ihn dann allein. Eine Tür ging auf, und Apsara schwebte herein, in einer weißen Garara213, ganz à la Meena Kumari. Sie war füllig geworden, doch ihre Haut war immer noch hell und schimmernd, und Advani muß sich im Himmel gewähnt haben. Sie bat um einen Drink, und dann sang sie für ihn. Er beteuerte, ihr größter Fan zu sein. Sie spielte ihm Filmszenen vor, und er übernahm die Rolle von Rajesh Khanna in jener Szene aus Phulon ki Rani490, in der sie, der Vamp, sich vor dem Millionärs-Playboy in die Schußbahn wirft, weil sie ihn so sehr liebt. Advani kannte den Dialog komplett auswendig.

Am nächsten Tag rief Jojo mich an. Ich konnte gar nicht mehr aufhören zu lachen. »Sie haben füreinander geschauspielert?« fragte ich. »Und dann? Hat er überhaupt was gemacht?«

»Apsara hat gesagt, für einen so alten und mageren Burschen hätte er ganz schön viel Kraft. Ich glaube, sie mag ihn.«

»Sie hat ihn für Rajesh Khanna gehalten, die besoffene Alte. Frauen sind einfach verrückt.«

»Genauso verrückt wie Männer.«

Nach und nach war das Telefonieren mit Jojo zur täglichen Gewohnheit geworden: Zuerst war ich es gewesen, der sie anrief, meist vormittags, im Anschluß an mein allmorgendliches Telefonat mit Bunty. Einmal rief ich sie dann nicht an, weil ich zu Gericht mußte, und als ich zurückkam, legte ich mich ein bißchen hin, bis das Klingeln des Telefons mich weckte.

»Wo waren Sie, Gaitonde?« Es war Jojo. Wir plauderten. Und wir lachten. Nach Apsara machten wir noch mehrere Deals - Advani brauchte weitere Äpfelchen, und gewisse Anwälte, Polizisten und Richter ebenso. Doch das Geschäftliche machte nur einen Bruchteil unserer Gespräche aus. Wir unterhielten uns über Gott und die Welt.

Dreizehn Monate verstrichen.

Dreizehn Monate können einfach so verstreichen. Die Tage glitten ineinander. Ich wurde zum Gericht gefahren, ich kümmerte mich um meine Company. Manches änderte sich, manches blieb gleich. Wir sorgten dafür, daß die Anklage gegen Dipu und Meetu fallengelassen wurde. Date wurde ins Gefängnis von Nashik verlegt, wo er den Rest seiner Strafe absitzen sollte. Kataruka wurde entlassen. Bunty wurde festgenommen, kam in die Baracke. Die Besetzung der Kinderbaracke veränderte sich, und ich bekam eine neue Mumtaz. Bunty wurde entlassen. Unser Krieg gegen Suleiman Isa ging weiter. Die Regierung in Maharashtra wechselte, die Regierung in Delhi wechselte. Ich vermittelte und entschied bei Streitigkeiten im Gefängnis. In der Baracke mußte ich ein Komitee zur Regulierung des Fernsehens einsetzen, denn angesichts der von Mahabharata und Ramayana ausgefüllten Sonntagvormittage fühlten sich die Moslems und Christen heruntergesetzt, sie wollten ihre eigenen Sendungen sehen. Die Tamilen und Malabaren wiederum bestanden darauf, um Mitternacht ihre Hot Songs anschauen, und die Marathen forderten regelmäßig Spielfilme. Wir versorgten die moslemischen Häftlinge an ihren Festtagen mit ganzen Ziegen und sicherten ihnen zu, daß wir an ihren Fastentagen alles nach ihren Wünschen regeln und verhindern würden, daß die Gefängnisangestellten ihnen in die Quere kamen. So waren alle zufrieden. Advani führten wir außerhalb des Gefängnisses seine Äpfelchen zu, dafür war er uns drinnen gefällig, paßte sich uns an. Mein Sohn wuchs, lernte laufen, und bei seinen wöchentlichen Besuchen spielte ich in Advanis Büro mit ihm, hielt ihn im Arm, sog den frischen Duft seines Scheitels ein, während er zappelte und lachte und in Sprachen mit mir redete, die ich nicht verstand. Auch ich veränderte mich während dieser Zeit. Ich war ruhiger und nachdenklicher geworden, interessierte mich plötzlich für das Weltgeschehen. Ich las regelmäßig Zeitung, schaute mir die verschiedenen Nachrichtensendungen und am Sonntag die politischen Debatten im Fernsehen an und sah die amerikanischen Filme im Original. Ich bildete mich im Gefängnis sozusagen weiter, eignete mir Wissen über die lange Geschichte meines Landes an. Doch trotz meiner Nachdenklichkeit, oder vielleicht gerade deshalb, entwickelte ich ein peinliches Leiden: Ich hatte Hämorrhoiden. Eine Unpäßlichkeit, keine wirkliche Krankheit, aber ich litt gehörig. Ich erhob mich zitternd von der Toilette, mir war schwindlig vor Schmerzen, angesichts des hellroten Blutes packte mich Übelkeit. Ich zog Ärzte zu Rate, veränderte meine Ernährung, nahm Kräuter ein, die mir ayurvedische Weise verordnet hatten, und dennoch krümmte ich mich und preßte und litt.

»Du bist zu angespannt«, sagte Jojo. »Dein ganzes Leben ist eine einzige Anspannung. Und das Problem ist, daß deine gesamte Anspannung in deinem Gaand sitzt. Du mußt dich entspannen.«

»Hör mir mal zu, mein kluger Guru«, sagte ich. »Ich bin ein Don, ich sitze im Knast, einige Leute versuchen mich hier festzuhalten, und einige andere versuchen mich umzubringen. Ich soll mich entspannen? Wie in aller Welt soll ich das denn anstellen?«

»Du meinst immer, du hättest so ein schweres Leben.«

»Fang nicht wieder damit an. Nehmen wir mal an, ich würde dir zustimmen: Okay, ich muß mich entspannen. Was soll ich tun?«

Sie brachte mich dazu, regelmäßig Übungen zu machen, und zwei Wochen später führten wir Yoga im Gefängnis ein. Advani gefiel die Idee. Er lancierte einen Bericht darüber in der Bombay Times, mitsamt Farbfoto und dem Kommentar, er sei der »progressivste Gefängnisdirektor unserer Zeit«. Bunty und meine Jungs waren glücklich, weil zwei der Yogalehrer Frauen waren, die sich eine ganze Stunde lang vor ihren Augen bogen und reckten und drehten. Aber ich sagte ihnen, sie sollten ihr Gekicher lassen, sich konzentrieren und tun, was man ihnen sagte. Ich mußte auf das Yoga hoffen und vertrauen, denn mein Gaand brannte wie die Hölle. Und es wirkte tatsächlich. Ich fühlte mich ruhig und entspannt. Ich entspannte mich nicht nur in den Muskeln, sondern auch tief in meiner Seele. All das Einatmen und Ausatmen löste einen Knoten in meinem Innern. Ich will nicht lügen und behaupten, ich wäre von meinen Hämorrhoiden völlig geheilt gewesen, aber wenigstens zu siebzig Prozent.

»Siehst du, du mußt nur auf mich hören«, sagte Jojo, als ich ihr das erzählte. »Siebzig Prozent sind eine Menge.«

»Ja. Jetzt habe ich nur noch ab und zu das Gefühl, daß ich riesige Rasierklingen scheiße.«

»Für einen harten Mann klagst du ganz schön viel, Gaitonde. Hast du auch nur die geringste Vorstellung davon, wie es ist, ein Kind zu gebären?« Und dann war sie nicht mehr zu halten. Es war eins ihrer Lieblingsthemen: daß die ganze Welt litt und die Frauen am meisten und daß dem Leiden der Frauen keine Beachtung geschenkt würde. »Die verdammten Männer erklären das Leiden zur Pflicht der Frauen«, sagte sie. »All die leidenden Mütter in den Filmen. Und die Frauen sind selbst Chutiyas, weil sie es glauben.« Am Anfang unserer Freundschaft hatte ich versucht, ihr zu widersprechen. Ich hatte gefragt: Glaubst du denn, Männer leiden nicht? Ich könnte dir da ein paar Geschichten von Männern erzählen, die völlig zerrüttet und sterbenskrank ihr Leben lang für lächerlich wenig Geld arbeiten und für Essen, das kein Hund anrühren würde. Aber sie hatte für jede von meinen Geschichten vier eigene auf Lager, und ich begann es zu genießen, ihr zuzuhören, denn irgendwo in ihren Leidensgeschichten steckten immer ein paar hübsche Details über sie. Ich wußte, daß sie in einem Dorf aufgewachsen und von ihrer Mutter großgezogen worden war; irgendwo gab es noch eine Schwester, mit der sie aber nicht mehr redete. Ihr Vater war früh gestorben. Als sie nach Bombay gekommen war, noch ein junges Mädchen, hatte sie nur Tulu und etwas Konkani gesprochen, kein Hindi, kein Englisch oder sonst etwas. Jojos Schwager war mit der jungen Jojo durchgebrannt, er hatte ihr erzählt, daß er einen Filmstar aus ihr machen würde, doch nachdem sie monatelang die Büros der Produzenten abgeklappert hatten, nötigte er sie, mit einem von ihnen ins Bett zu gehen. Er sagte, alle Mädchen müßten das tun, Kompromisse seien der Preis des Ruhms und Teil des Busineß, alle gingen Kompromisse ein. Sie hatte das mittlerweile auch begriffen und es getan, aber aus dem Film war nie etwas geworden. Dann war da ein anderer Produzent gewesen und wieder ein anderer. Ihr Freund hatte angefangen, sie zu prügeln. Sie sprach inzwischen fließend Hindi und etwas Englisch. Also lief sie fort. Der Freund fand sie und verprügelte sie. Sie brach ihm mit einem Stößel den Unterkiefer, danach ließ er sie mehr oder weniger in Ruhe. Aber sie mußte irgendwie ihren Lebensunterhalt verdienen. Sie mühte sich ab, hungerte, ging schließlich zu einem der Produzenten zurück, dann zu einem anderen, willigte in weitere Kompromisse ein. Doch jetzt behielt sie das Geld für sich und sparte. Sie trat in die Gewerkschaft der Tänzer ein und wirkte in ein paar Filmen bei großen Tanzszenen mit. Eine Weile hielt sie noch an ihrem Traum fest, eines Tages eine Schauspielerin zu sein, eine Mumtaz, die sich aus der Tanzgruppe zu den gigantischen Nahaufnahmen eines Stars hochgearbeitet hatte. Aber sie war nicht so dumm, lange daran zu glauben. Und sie war so klug, Angebot und Nachfrage zu erkennen: Sie kannte reiche Männer, und sie kannte junge Mädchen, die sich in der Stadt irgendwie durchschlagen mußten. So startete sie ihr Geschäft. Doch sie vermittelte nicht nur Sex. Einigen der Mädchen verschaffte sie auch Rollen. Und schließlich wurde sie selbst zur Produzentin. Mit eigenem Geld und einem finanziellen Beitrag von mir begann sie in jenem Jahr, die Produktion einer Fernsehserie zu planen. Es ging darin um zwei junge Mädchen, die sich in der Schule anfreundeten, die eine reich und der Liebling der Lehrer, die andere ein armes Findelkind, und dann zusammen in die Stadt zogen und endlos litten. Jojo ließ keinen Zweifel an der Art unserer Partnerschaft aufkommen.

»Hör zu, Gaitonde«, sagte sie. »Wir machen hier ein Geschäft, nicht mehr und nicht weniger. Ich will sauberes Geld, in Schecks. Und keine Sperenzien. Ich schulde dir Geld, sonst nichts. Du hast es mir angeboten, ich habe dich nicht darum gebeten.«

»Achcha, Baba, so ist es«, sagte ich. »Du schuldest mir nichts als Geld. Es ist einfach ein Geschäft.« Sie schickte mir das Drehbuch des Pilotfilms, und ich las es. Und wollte daraufhin nie wieder eins ihrer Drehbücher lesen. Bunty hatte recht gehabt: Welcher Mann wollte sich schon anschauen, wie in einer Szene nach der anderen Frauen wegen irgendwelchem Blödsinn heulen und sich dann in die Arme fallen? Jojo sagte ich, ihr Drehbuch gefalle mir. Wenn sie über dieses Herumgeheule eine Serie drehen wollte, wenn sich Frauen so etwas gerne anschauten, dann sollten sie es ruhig tun. Ich wußte, daß Jojo trotz ihrer Fröhlichkeit, trotz ihres unbeschwerten Gefluches Tage hatte, an denen sie nicht aus dem Bett aufstand, mit niemandem reden konnte, an denen ihr die ganze Welt wie ein Dschungel aus Asche vorkam, ein Kremationsgelände voll wandelnder Leichen. Sie stand diese düsteren Stimmungen nur durch, indem sie sich den Tod versprach. Das erzählte sie mir eines Morgens.

»Ich sage mir dann immer, wenn es zu schlimm wird, bringe ich mich um. Die Tabletten habe ich griffbereit hier liegen. Und dann zähle ich mir alles Gute im Leben auf. Der Schmerz ist weiterhin da, aber ich weiß, daß er nicht ewig anhält, weil ich die Tabletten habe. So komme ich durch den Tag. Und dann durch den nächsten.«

Sie machte mir angst. Ich versuchte sie zu einem Priester, einem Zauberer, einem Arzt zu schicken. Ich hatte im Fernsehen Sendungen über Depressionen gesehen. Sie sagte, ich solle mich um meinen eigenen Kram kümmern. »Lies meine Drehbücher«, sagte sie. »Vielleicht lernst du ja noch etwas über die Frauen, Gaitonde.«

Ich las kein Drehbuch mehr, aber ich unterhielt mich weiterhin mit ihr. Sie hatte sich von Anfang an geweigert, mich im Gefängnis zu besuchen. »Wir können nur so miteinander reden, weil wir uns noch nie begegnet sind, Gaitonde. Verstehst du das denn nicht?« Ich wußte, daß sie keine Scheu vor Männern und vor Sex hatte. Im Gegenteil, sie nahm Männer, sie wählte sie selbst aus, und dann trieb sie es mit ihnen. »Warum müssen denn immer die Männer die Frauen aussuchen, ihnen nachstellen und sie nehmen? Ich verdiene mein eigenes Geld, ich sorge selbst für mich, ich will meinen eigenen Spaß. Ich schäme mich nicht für das, was ich will.« Sie erzählte mir das, als wir schon lange keine Geheimnisse mehr voreinander hatten, und sie sagte es ohne Angst, ohne Scham. Als sie es aussprach, zuckten mir zugleich Erschrecken und Erregung die Kehle hinauf, so als wäre ich gerade im Dunkeln von einem Dach gesprungen.

»Das ist ja ... das ist ja ungeheuerlich, Jojo«, flüsterte ich eindringlich in mein Handy.

»Warum denn?« blaffte sie zurück. »Du kannst es mit deinen kleinen Jungen im Gefängnis treiben, weil du ein Mann bist und Erleichterung brauchst, und das soll nicht ungeheuerlich sein, aber mein Verhalten schon? Daß ich nicht lache.« Natürlich sagte ich ihr, daß das etwas anderes sei, schließlich sei sie eine Frau. Worauf sie erwiderte: »Genau, ich bin eine Frau, und Frauen können zehnmal soviel Vergnügen dabei empfinden wie Männer. Weißt du das denn nicht?« Das stimmte natürlich. Es war allseits bekannt.

Ich sagte: »Deshalb gehören die Frauen ja auch eingesperrt, diese Randis.«

Sie prustete los und sagte: »Aber mein guter Bhai, du bist derjenige, der eingesperrt ist, nicht ich. Ich bin frei.« Sie war frei. Sie nahm sich Männer und bezeichnete sie als ihre Thokus630. Sie brachte mich mit den Geschichten über diese Kerle zum Lachen - wie sie weinten, wenn Jojo sie verließ, wie groß ihr Ding war, welche Eitelkeiten sie hatten. Und sie lehnte es weiterhin hartnäckig ab, sich mit mir zu treffen. »Weder jetzt«, sagte sie, »noch später. Ich will nicht einer deiner Thokus sein und du nicht meiner. Wir sind Bidhus, Bidhu.« Es stimmte. Wir waren Freunde.

Im Mai trat der TADA außer Kraft, doch ich blieb im Gefängnis. Für die anderen Bürger existierte das Gesetz nicht mehr, doch da man gegen mich Anklage erhoben hatte, als es noch galt, war ich ihm nach wie vor ausgeliefert. Über meinen Fall sollte gemäß den Bestimmungen des TADA entschieden werden, der jedoch in Wirklichkeit kein Gesetz war, sondern ein willkürlicher Erlaß. Ich verfluchte meine Anwälte und drohte, mir neue zu nehmen. Leben wir denn in einer Diktatur? fragte ich. Habe ich als Bürger keine Rechte? Was seid ihr eigentlich, Anwälte oder Bhangis? Warum zahle ich euch ganze Wagenladungen Geld?

Endlich, endlich brachten sie meinen Fall dann vor den Bombay High Court und kämpften einen würdigen Kampf, der vom Sieg gekrönt war. Der Richter sagte, er werde mich gegen Kaution freilassen, allerdings unter der Bedingung, daß ich die Zeugen der Anklage nicht bedrohe oder auch nur versuche, Kontakt mit ihnen aufzunehmen, daß ich die Stadt nicht verlasse und dieses und jenes mehr. Einverstanden, Euer Ehren, sagte ich, ich bin mit allem und jedem einverstanden. Und plötzlich war ich draußen. Ein Vormittag im Gericht, und dann war es vorbei, ich war auf der Schnellstraße unterwegs nach Hause. So einfach ging das. Plötzlich saß ich in meinem Schlafzimmer, Subhadra zu meiner Linken, und mein Sohn rannte um das Bett herum. Es war unglaublich still, und das Zimmer erschien mir riesig, viel größer, als ich es in Erinnerung hatte. Es waren einige Besucher gekommen, aber Kataruka hielt sie mir vom Leib. Er war ein alter Hase, was Gefängnisaufenthalte und Entlassungen betraf. Er beharrte darauf, daß eine Feier mit vielen Leuten und viel Lärm nicht das Richtige sei, auch wenn es zunächst passend erscheinen mochte. Und tatsächlich sehnte ich mich nach einem ruhigen Abend. Ich aß das Abendessen, das Subhadra mir servierte, brachte Abhi ins Bett. Nachdem sich die Tür hinter Kataruka und den anderen geschlossen hatte, streckte ich den Arm nach Subhadra aus. Sie schmiegte sich fügsam an mich, und dann erst kam ich wirklich zu Hause an.

Als sie eingeschlafen war, zog ich eine Kurta an und schob leise die Tür auf. Ich ging aufs Dach, zu meiner alten Stelle neben dem Wassertank. Die Nacht war diesig, keine Sterne waren zu sehen, nur ein schwaches Schimmern von den verstreuten Lichtern. Ich war siebenundzwanzig Jahre alt und wieder zu Hause. Der vertraute Geruch nach Öl und Verbranntem und Müll biß ein wenig in der Nase, doch er war von Leben erfüllt. Ich sog ihn ein, und dann rief ich Jojo an.

Sie nahm gleich nach dem ersten Klingeln ab. »Gaitonde.«

»Ich bin draußen.«

»Ich weiß.«

»Treffen wir uns?«

»Nein. Wie geht es Subhadra?«

»Der geht's gut. Ich will nicht über sie reden.«

»Okay. Dann reden wir nicht über sie.«

»Du weigerst dich also, dich mit mir zu treffen?«

» Absolut.«

»Ich könnte dich ergreifen und herbringen lassen.«

»Das könntest du. Wirst du es tun?«

»Nein.«

»Gut. Weißt du was, Gaitonde: Ich schicke dir ein Mädchen.«

»Was?«

»Zier dich nicht, Gaitonde. Ich weiß, was du brauchst. Sie wird dir gefallen. Teuer, aber genau das Richtige für dich.«

»Du weißt, was ich brauche?«

»Du wirst schon sehen.«

Und sie hatte recht. Am nächsten Morgen schickte sie mir ein Mädchen. Sie hieß Suzie und sagte, sie sei achtzehn und komme aus Kalkutta. Sie war halb Kalkutta-Chinesin, halb brahmanische Bengalin, hatte langes, glattes schwarzes Haar, lange, zierliche Arme, die sie beim Lachen verschränkte, und eine Haut wie feiner weißer Marmor. Ich legte sie auf den Bauch und küßte ihren Nacken, während ich sie von hinten nahm. Sie stöhnte.

Danach rief ich Jojo vom Auto aus an. »Was hab ich dir gesagt, Gaitonde?« meinte sie. »Ist sie nicht umwerfend?«

»Ja, ja, du hast recht gehabt.«

»Wart's nur ab, in zwei Jahren hat sie ihre eigene Show auf MTV.«

»Mag schon sein. Aber ich habe an dich gedacht, während ich auf ihr lag.«

»Du liegst auf einer Achtzehnjährigen und denkst an eine alte Frau wie mich? Du bist ein Idiot, Gaitonde, so wie alle Männer auf dieser Welt.«

Ich mußte mit ihr lachen. Ich hatte in einem kleinen Hotel in der Nähe des Sahar Airport auf Suzie gewartet, und jetzt fuhren wir auf der Schnellstraße heim. Der Verkehr floß zügig, und die Sonne blitzte von den Autodächern. Ich war frei. »Ich fühle mich richtig gut«, sagte ich zu Jojo.

»Genieß es«, sagte Jojo. »Genieß es nach Kräften.«

Ich hatte mich im Gefängnis daran gewöhnt, früh aufzustehen, daher hatte ich bereits meine Yoga-Übungen gemacht, gefrühstückt und Suzie genommen, als wir um elf zu Hause ankamen. Ich fühlte mich beschwingt, während einige meiner Jungs noch gähnten. Ich schickte sie an die Arbeit. Eine Weile spielte ich mit Abhi, der eine Mischung aus verständlichen Wörtern und sinnlosen Lauten brabbelte, mein Gesicht festhielt und versuchte, mir etwas zu sagen. Er hatte noch keine Ahnung von Grammatik, keine Vorstellung von Vergangenheit und Zukunft, und doch hörte ich ihm völlig fasziniert zu, das Herz voller Liebe. Mittags kam Kataruka in den großen Raum, wo ich mit einigen Bittstellern saß. Er beugte sich dicht zu mir und flüsterte: »Die Naunamberis sind hier. Sie sagen, sie müssen Sie zur Wache mitnehmen. Zu einem Verhör wegen eines anderen Falls.«

»Wer ist es denn? Wieder Majid Khan?«

»Nein, ich kenne die Chutiyas nicht. Sie behaupten, daß sie zu Parulkar gehören.«

»Diese Dreckskerle. Sag ihnen, wenn sie Fragen haben, sollen sie sie an meine Anwälte schicken.«

»Das habe ich ihnen schon gesagt. Sie haben eine richterliche Verfügung.«

»Ja, und der Richter fickt ihre Mütter jede Nacht in den Gaand. Sag ihnen, daß sie warten sollen, daß ich komme, wenn es mir paßt. Und ruf einen unserer Anwälte.«

»Ja, Bhai.« Kataruka lächelte. »Diese Maderchods haben keine Manieren. Ich habe nicht mal Lust, ihnen einen Tee anzubieten.«

»Keine Manieren?«

»Sie haben ihren Transporter direkt vor dem Haus geparkt und sich geweigert, ihn woanders hinzustellen. Sehr aggressiv, Bhai. ›Hol ihn sofort her‹, so reden sie. Die Typen sehen aus wie von einem Sonderkommando, zwei von ihnen haben Karabiner dabei und einer einen Jhadu290. Die halten sich wohl für Helden.«

Ein Lied vor sich hin summend, ging er fort. Ich wandte mich wieder den Eltern zu, die um einen Job für ihren Sohn baten. Aber ich war abgelenkt, dachte über dieses neue Ärgernis nach. Ein Kommandotrupp mit Maschinenpistolen und AK-47, das sah nach einer neuen Spezialeinheit aus, womöglich eine Regierungsinitiative, mit der man den Eindruck erwecken wollte, aktiv gegen das organisierte Verbrechen vorzugehen. Auf lange Sicht würde das keine Folgen haben, aber es war lästig. Ich versprach meinen Besuchern, mich um ihr Anliegen zu kümmern, und sagte, sie sollten sich in einer Woche noch mal melden. Als einer meiner Jungs ihnen die Tür öffnete, hörte ich deutlich eine wütende Aufforderung und dann Katarukas Antwort, heiser und sehr laut. Diese Bhenchods von Polizisten brüllten in meinem Haus herum. Maderchods. Ich stand auf und ging durch den langen Flur, schob mich an der Familie der Bittsteller vorbei, Mutter und Vater, mehrere Onkel und der Sohn. Selbst in meiner Wut war ich mir des typischen Geruchs meines Zuhauses bewußt, dieses Geruchs nach Zwiebeln, Kurkuma und Öl von dem Mittagessen, das in der Küche zubereitet wurde. Ich sog ihn ein. »Holt Gaitonde sofort her«, schrie einer der Polizisten. Zwischen ihm und mir standen mehrere Jungs und einige weitere Besucher, doch ich erhaschte einen Blick auf seine Schultern und sein Gesicht, sah einen weiteren Polizisten hinter ihm und das Schimmern einer AK-47. »Er kommt, wenn er soweit ist«, antwortete Kataruka, genauso laut und zornig wie der Polizist. Ich schob mich durch das Gedränge; vor mir stand Dipu, der sich zum smarten Städter gewandelt hatte, seit er bei uns war, und einen neuen Haarschnitt hatte.

Ich fragte ihn im Vorbeigehen: »Wie viele sind es?«

Er sagte mir ins Ohr: »Vier, Bhai.«

Jetzt sah ich links einen dritten Polizisten. Er hatte den Karabiner schußbereit über der Schulter hängen, den Finger am Abzug. Plötzlich dämmerte es mir: Vier Polizisten, und zwar nur vier, die, mit automatischen Waffen ausgerüstet, in einem Transporter kamen, um Ganesh Gaitonde abzuholen - das ergab keinen Sinn. Der herumschreiende Polizist beugte sich näher zu Kataruka, und dabei entdeckte er mich. Unsere Blicke trafen sich. Ich drehte mich um und rannte los.

Während die Gewehre knatterten, lief ich geduckt durch den Flur zurück, zwischen den fuchtelnden, schreienden Menschen hindurch oder über sie hinweg. Im Schlafzimmer fischte ich hinter dem Kopfbrett des Betts hektisch nach meiner Pistole. Die Schüsse durchsiebten die Wände, so daß der Putz spritzte, mir blieben nur Sekunden, also sprang ich durch das Fenster rechts neben dem Bett. Ich fiel zwischen die Hauswand und die Grundstücksmauer und spürte, daß in meinem Arm etwas gebrochen war, doch ich mußte weiter. Ich rannte aus dem hinteren Tor hinaus, zwei meiner Jungs schlössen sich mir an und führten mich im Laufschritt durch die nahen Gassen. Wir bogen zweimal ab, stürmten dann in ein Haus hinein und sanken dort alle drei völlig erschöpft zu Boden, als wären wir fünfzehn Kilometer gerannt.

Das Gewehrfeuer dröhnte ganz in der Nähe, über dem Geknatter der AK-47 und der Karabiner waren auch einzelne Gegenschüsse zu hören. Und dann war plötzlich alles vorbei. Keine Schüsse mehr, nur noch Schreie, verzweifelte Rufe, die durch das Basti schwirrten. Ich lebte noch.

Meinen Arm haltend, trat ich auf die Gasse hinaus. Erst jetzt beim Gehen spürte ich einen brennenden Schmerz am Hintern, einen schmalen Streifen, als hätte mir jemand einen geschmolzenen Draht darübergezogen.

»Sie bluten, Bhai«, sagte jemand. Ich schob ihn zur Seite und ging ins Haus. »Einen von ihnen haben wir erwischt«, sagte ein anderer. Ja, einen hatten sie erwischt, er lag vorn am Eingangstor, ein Bein unter dem Körper verdreht. Im Eingangsbereich des Hauses war die Decke voller Blut, und an den Wänden hingen Gewebefetzen. Dipu war tot, Kataruka ebenso.

Siebzehn Männer starben an jenem Tag in meinem Haus, vier Frauen und ein Kind. Doch zunächst wußten wir das nicht, wir hatten nur einen wirren Haufen von Leichen vor uns. Erst als wir begannen, sie hinauszutragen, fanden wir am hinteren Ende des Flurs, in der Küche, Subhadra und Abhi, unter ihrem blauen Sari zusammengekrümmt. Sie waren von ein und derselben AK-47-Kugel durchbohrt worden, die erst durch den Türpfosten und dann durch sie beide hindurchgedrungen war. Sie waren tot. Meine Frau war tot. Mein Sohn war tot.

Ich kehrte ins Gefängnis zurück. Nachdem mein gebrochenes Handgelenk eingegipst und die Wunde von dem Streifschuß an meinem Hintern genäht worden war, nachdem wir unsere Toten hatten einäschern lassen, überlegten wir, welche Handlungsoptionen wir hatten. Wir wußten jetzt, daß die Polizisten, die auf uns geschossen hatten, keine Polizisten, sondern Suleiman Isas Männer gewesen waren, daß sie die Uniformen bei Maganlal Dress-vaala gekauft hatten und der Transporter - das behauptete zumindest die Polizei vom Hauptquartier des dreizehnten Bezirks - gestohlen war. Wir wußten verläßlich, daß das Supari für dieses Selbstmordkommando zwei Crores betragen hatte, also fünfzig Lakhs pro Nase. Nur daß zwei von diesen elenden Maderchods, die bei mir aufgekreuzt waren, ihren Anteil nicht mehr kassierten, der eine starb in meinem Hof, der andere hustete den Transporter voll Blut und starb noch am selben Tag. Trotzdem hatten meine Feinde ihr Ziel fast erreicht. Zwar konnten sie nicht behaupten, daß sie Ganesh Gaitonde in seinem eigenen Basti, seinem eigenen Haus getötet hatten, aber sie hatten mir auf meinem eigenen Grund und Boden einen schweren Schlag versetzt, ich war vor ihnen geflüchtet, ein Feigling mit einer Wunde am Gaand. Sie schämten sich, gegen das ungeschriebene Gesetz der Companys verstoßen zu haben, dem zufolge Familienmitglieder nicht zu Schaden kommen durften, doch das ließ sich als Unfall hinstellen.

Ich lebte noch. Das war das entscheidende. Egal, was geredet wurde, ich lebte noch. Und letztlich ist das überhaupt das entscheidende. Ehre und Stolz sind die Träume, die Männer antreiben und für die sie zu sterben bereit sind, doch meine Jungs begriffen, daß es auch für sie besser war, daß ich überlebt hatte. Ich war noch da, um Pläne schmieden, Rache üben, das Blatt wenden zu können. Und ich mußte weiterhin am Leben bleiben. Also ging ich wieder ins Gefängnis zurück. Es war leicht zu bewerkstelligen. Ich fuhr mit ein paar Jungs im Auto nach Mulund. Wir hielten an der Kontrollstelle von Mulund, und meine Jungs fingen Streit mit den Polizisten dort an. Ich stieg ebenfalls aus und brüllte herum, und die Jungs nannten mich mehrmals unüberhörbar »Ganesh-bhai«, damit die dämlichen Mamus auch garantiert merkten, wer ich war. Dann stiegen wir alle wieder ein und fuhren weit über die Stadtgrenze hinaus.

Ich hatte also gegen die Bedingungen meiner Haftverschonung verstoßen und mußte wieder an meinen einzigen sicheren Zufluchtsort zurückgebracht werden. In dieser Stadt verbarg sich hinter jeder Tür ein Mörder, und jeder Tag war ein Kampf. Ich war zu stark geworden, sie konnten mich nicht mehr am Leben lassen. Und so wurde das Gefängnis zu meiner uneinnehmbaren Burg, wo mir die Mauern, die Regeln und Vorschriften ein Zuhause schufen, die Gefängniswärter mich beschützen mußten und ich ungehindert meine Geschäfte führen konnte.

Ich fand mich wieder in den wohlbekannten Tagesablauf ein. Es gab eine Reihe neuer Gesichter in der Baracke, aber wie gehabt, gruppierten die Männer gemäß ihrem Dienstalter ihre Daris um meinen. Dennoch fühlte ich mich allein, so allein. Meine Jungs waren meine Familie, und sie waren gut zu mir, nahmen Rücksicht, kümmerten sich um mich. Im Herzen jedoch blieb ich allein. So viele Menschen waren gestorben, nicht nur bei diesem letzten Angriff, sondern auf meinem ganzen Weg, bei all den Kämpfen. Und ich war noch am Leben. Warum? Wofür? Ich wartete auf eine Antwort. Morgens übte ich Yoga, nachmittags Pranayama495. Doch meine hart erarbeitete Ruhe wurde mir durch Abhis Gelächter genommen, das ich im nachmittäglichen Sonnenschein perlen hörte. Nachts legte ich mich begierig auf mein Kissen, da ich wußte, daß er im Schlaf zu mir kommen würde, doch gerade mein Warten hielt den Schlaf fern.

»Es ist so ein komisches Gefühl«, erzählte ich Jojo spätabends am Telefon. »Ich fühle mich wie ein verirrtes Gespenst. Als würde irgendwo ein Projektor vor sich hin rattern und ich mich auf einer Leinwand zu der Geschichte eines anderen Menschen bewegen.«

»Das geht vorbei, Gaitonde«, sagte sie. »Schmerz vergeht. Irgendwann vergeht er immer.«

Sie klang ganz nah, als läge sie im Nachbarbett. Sie hatte sich auf meine Veranlassung hin ein neues Mobiltelefon gekauft, ich hatte ebenfalls ein neues, und wir benutzten diese beiden Handys nur für unsere Gespräche. Fürs Geschäftliche benutzte ich andere Telefone. Ich wußte, daß meine Feinde nicht vorgehabt hatten, meine Familie umzubringen, und trotzdem hatte ich Angst um Jojo. Ich sagte ihr, daß wir unsere Verbindung noch besser geheimhalten müßten, daß es schlecht für ihr Image in der Medienindustrie wäre, wenn allgemein bekannt würde, daß wir befreundet waren. Das sah sie ein, und sie wurde noch diskreter, als sie es ohnehin schon war. Wir telefonierten spät am Abend miteinander, immer nur mit unseren speziellen Handys.

»Gaitonde?« sagte sie. »Hallo?«

»Ja«, sagte ich. »Ich bin da.« Aber ich war mir nicht mehr so sicher, ob ich wirklich da war. Durch einen Sohn ist ein Mann im Leben verwurzelt. Wird diese Verbindung durchtrennt, treibt er ziellos dahin. »Weißt du, was mir fehlt? Mir fehlt der Duft seiner Haare nach seinem Bad.«

»Ich weiß. Was fehlt dir, wenn du an Subhadra denkst?«

Ich hatte Mühe, mir Subhadras Gesicht vor Augen zu rufen, mich an ihr Aussehen zu erinnern. Aber das sagte ich Jojo natürlich nicht. »Sie hat mir abends immer ein Glas Milch gebracht«, sagte ich, doch ich wußte, daß Jojo mein Zögern bemerkt hatte. Aber sie ging nicht darauf ein, hielt mir keinen ihrer Vorträge über Männer und Frauen.

»Gaitonde. Du redest nie von deinen Eltern.«

»Nein.«

»Wer war deine Mutter?«

»Eine Frau, was sonst?«

»Und sonst? Wie war sie?«

»Sie war meine Mutter. Vergiß es. All dieses maderchod Gerede.«

Sie schwieg. Ich hatte ihr nicht über den Mund fahren wollen, und ich wollte kein Schweigen, ich ertrug es nicht. »Erzähl mir von deinen Eltern.« Ich hörte sie atmen. »Jojo?«

»Ich versuche gerade, dich nicht zu beschimpfen. Du bist schon angespannt genug.«

»Wenn ich nicht so angespannt wäre, würde ich Gaalis von dir zu hören kriegen?«

»Wer so mit mir redet, kriegt Gaalis von mir zu hören.«

Ich lag in einer Ecke der Baracke auf dem Boden. Ich mochte das Gefühl des kalten Betons an meinem Nacken. Durchs Fenster sah ich die Mauer, die sich schwarz erhob, und die Glasscherben darauf, die im Mondlicht grell glitzerten. Ich mußte lächeln. Irgendwie brachten mich Jojos Unerschrockenheit und ihre Wut immer wieder zum Lächeln. Ich glaube, im täglichen Leben hätte ich sie gehaßt. Aber am Telefon, ich hier, sie da, konnte ich nicht anders als lächeln. »Hör zu, meine Gute«, sagte ich. »Ich bin wirklich angespannt. Also verzeih mir. Erzähl mir von deiner Mutter.«

Jojo erzählte mir von ihrem Vater, der Kapitän gewesen war. Er führte kleine Schiffe für eine große Firma und war oft monatelang weg. Wenn er nach Hause kam, wollte er, daß im Haus Ruhe herrschte. Die Papageien in den Obstgärten hinter dem Haus versetzten ihn in rasende Wut, er warf Knallfrösche in die Baumkronen und kaufte sich schließlich ein Gewehr. Doch so viele Kuckucke und Schwalben er auch mordete, die Vögel verschwanden nicht, sie hockten sich auf die Köpfe seiner Vogelscheuchen und nisteten in deren Bäuchen. Irgendwann zog er sich in den Armsessel im Wohnzimmer zurück, steckte sich rote Stöpsel in die Ohren und legte sich ein schwarzes Tuch über die Augen. Seine Töchter schlichen auf Zehenspitzen herum und versuchten möglichst lange wach zu bleiben, um von den Unterhaltungen ihrer Eltern etwas aufzuschnappen. Doch sie hörten nie etwas, das ihnen geholfen hätte, ihn zu verstehen, nicht einmal beim Essen, bei dem er allenfalls sagte, daß das Fischcurry versalzen war und sie nicht genug Geld für neue Kleider zu Ostern hatten. Und so ging es weiter, bis er wieder für ein paar Monate wegfuhr. Als Jojo elf war, starb dieser rauschebärtige Vater auf der Brücke seines letzten Schiffs an einem Herzinfarkt, an einem regnerischen Tag im Persischen Golf. Er starb auf seinem Kapitänsstuhl, ein schwarzes Tuch über den Augen, so daß seine Männer dachten, er schlafe. Jetzt hat er endlich Ruhe, dachte Jojo damals. Für sie dagegen gab es keine Ruhe, denn wie sich herausstellte, war seine Rente äußerst bescheiden. Sie waren arm. Doch Jojos Mutter ließ sich davon weder niederdrücken noch ängstigen. Ich habe mein Land, sagte sie, und ich weigere mich, geduckt und kummervoll durchs Leben zu gehen, weil Gott meinen Mann zu sich genommen hat. Gott ist gnädig und wird sich unser annehmen. Und so zog sie ihre Töchter allein auf, mit harter Arbeit, Entbehrungen und straffer Disziplin. Ihr müßt euch in dieser Welt selbst versorgen können, sagte sie, vergeßt das nicht.

»Ich habe sie einmal nach ihnen beiden gefragt, nach ihrem gemeinsamen Leben«, sagte Jojo. »Wie sie es all die Jahre mit ihm ausgehalten hat, in diesem ständigen Schweigen.«

»Und was hat sie gesagt?«

»Nichts. Sie hatte so eine Art, den Mund zu verziehen, ihn ganz klein zu machen, als wäre sie verärgert, und dazu winkte sie ab. Als hätte man eine furchtbar dumme Frage gestellt. Und dann arbeitete sie weiter. Sie hat immer gearbeitet.«

»Wann ist sie gestorben?«

»Nachdem ich diesen Ärger mit meiner Schwester hatte. Ich erfuhr erst ein Jahr später davon.«

Den Ärger hatte sie eigentlich mit dem Mann ihrer Schwester gehabt, aber ich ließ das durchgehen. Wenn Frauen von ihren Problemen berichteten, war es das beste, manches zu ignorieren. Das hatte ich aus meinen langen Gesprächen mit Jojo, der Anwältin der Frauen, gelernt. Wenn man etwas einwandte, erntete man lautstarken Widerspruch und dann Schweigen. Und ich wollte, daß Jojo weiterredete, ich brauchte es. An diesen späten Abenden rettete sie mich durch ihr Reden.

Morgens las ich Zeitung. Ich begann mit den auf Marathi verfaßten Blättern, ging dann zu denen auf Hindi und schließlich den englischen über. Englisch las ich immer noch sehr langsam und stockend, und ich mußte die Lektüre oft unterbrechen, um meine Jungs nach der Bedeutung eines Wortes oder einer Konstruktion zu fragen. Ich hatte mein Englisch-Marathi-Wörterbuch, doch es war immer ein langwieriges Unterfangen, und gegen Ende wurde ich jedesmal ärgerlich. »Gaitondes Truppe erholt sich nur mühsam von Verlusten«, hieß es in der Times of India, und als ich am Ende des Artikels angelangt war, hätte ich den anonymen »Sonderkorrespondenten« umbringen können. Nicht nur wegen der schlampigen Berichterstattung, sondern vor allem wegen des hämischen Untertons, mit dem der Verfasser vorgab, alles zu wissen, was in Gaitondes Kopf vorging: »Während Gaitonde in seiner Zelle um seine Frau trauert und seine Wunden leckt, konsolidiert Suleiman Isa seine Macht.« Diese englischen Vaalas standen immer über allem, sie lebten in einer anderen Welt, fern meiner Baracke, meiner Straßen, meiner Heimat. Wenn ich mich aufregte, grinsten die Jungs jedesmal und sagten: Wenn Sie sich so darüber ärgern, Bhai, warum lesen sie diesen Unsinn dann überhaupt?

Ich sagte es ihnen nicht, aber ich las diesen Unsinn, weil ich mich dadurch lebendig fühlte. Der Gaitonde, der in diesen Zeitungsspalten beschrieben wurde, besaß eine Vitalität, die ich selbst nicht verspürte. Er war ein Mann von steinerner Miene und ausgeprägtem Selbstbewußtsein, angeschlagen, aber skrupellos plante er sein Comeback. Wenn ich ihn betrachtete, war ich stolz auf ihn. Ein echter Mann. Also brachte ich keine Journalisten um, sondern gab statt dessen Interviews. Ich schickte den Presseleuten Scotch und schmeichelte ihnen mit vertraulichen Mitteilungen. Sie wollten alle die Geschichte meines Lebens hören, also erzählte ich ihnen Geschichten. Sie druckten jede einzelne davon ab. Unsere Einkünfte stiegen, und mehr Jungs denn je wollten bei uns anfangen.

In dieser Zeit meines wachsenden Ruhms kam eines Tages einer der Aufseher zu mir. »Bhai«, sagte er, »in Baracke fünf gibt es so einen verrückten Chutiya, der behauptet, er hätte Sie gekannt, bevor Sie Ganesh Gaitonde wurden.«

»Bevor ich so hieß? Ich habe nie anders geheißen. Ich bin schon immer Ganesh Gaitonde.«

»Ich weiß nicht, was er meint, Bhai. Er ist irr. Aber er behauptet das immer wieder.«

»Dann vergiß es. Warum belästigt du mich damit?«

»Tut mir leid, Bhai.« Er wandte sich mit eingezogenem Kopf ab und kicherte. »Tut mir leid. Das ist ein echter Vediya658, der hält sich für Dev Anand. Aber dabei hat er immer den Finger in der Nase, dieser verrückte Mistkerl.«

»Moment mal«, sagte ich. »Moment mal. Dieser Typ ist bei den alten Knackern?«

»Ja, Bhai. Richtig alt ist er nicht, aber er hat schneeweiße Haare. Er trägt sie hochgekämmt wie Dev Anand.«

Ich machte den Mund auf, schloß ihn wieder. Ich sagte leise: »Bring ihn zu mir.«

»Ich werde ihm sagen, daß Sie ihm Papier geben wollen, Bhai. Dann wird er nur so gerannt kommen.«

»Papier?«

»Er zeichnet, Bhai.«

»Er zeichnet? Egal, hol ihn einfach. Los, los, mach schon.«

Es gab eine etwa zehnminütige Verzögerung, weil verschiedene Wachen erst Anweisungen erhalten mußten. Aber dann war er da. Ich erkannte ihn sofort. Er war gebeugt und noch dünner als früher, doch es war Mathu, keine Frage. Genau der Mathu, der vor langer Zeit mein Kumpan auf dem Boot gewesen war, der mit mir übers Meer gefahren war, um mit Gold zurückzukehren, der mit mir zusammen Salim Kaka getötet hatte. Er kam langsam auf mich zu, von zwei meiner Jungs flankiert, äugte unter zotteligen Augenbrauen hervor. Er hatte einen Stoppelbart, sein einst gepflegtes Äußeres war völlig dahin. Kein Talkumpuder mehr auf seiner Rattennase, nur seine Dev-Anand-Tolle hatte er noch. Seine Haare waren weiß, schlohweiß. Seine nackten Knie und Knöchel waren schmutzverkrustet, und als er näher kam, mußte ich mich gegen den Gestank von Alter, Schweiß und Traurigkeit stählen.

»Mathu«, sagte ich und winkte die Jungs fort.

Er umkrampfte einen Stoß Zettel, wiegte den Kopf hin und her und sagte: »Doch, es ist Ganesh.« Dann verstummte er. Er sah mich prüfend an, nicht feindselig oder ängstlich, er begutachtete mich lediglich. Dann schien er zufriedengestellt, verlor das Interesse an mir und bohrte in der Nase. Er schnipste ein grünes Klümpchen weg, sah sich in der Baracke um und begann seine Blätter zu sortieren.

»Mathu, du alter Mistkerl«, sagte ich. »Wo warst du die ganze Zeit? Was ist mit dir passiert?« Ich hatte mich damals, vor langer Zeit, über ihn geärgert, doch jetzt verspürte ich Zuneigung, Überraschung und Sorge, ich stand auf und klopfte ihm auf den Rücken, jedoch nur kurz, weil mir seine Schulterblätter in die Hände schnitten. Er war völlig verhungert und zitterte. »Mathu, möchtest du etwas essen?«

Damit gewann ich seine Aufmerksamkeit. »Ja, Ganesh.«

Also besorgten wir ihm etwas zu essen. Er kauerte über seinem Bhakri mit Knoblauch-Chutney und aß. Seine Zettel hatte er sorgsam unter den rechten Oberschenkel geschoben. Ich rief den Aufseher herein und befragte ihn zu Mathu. »Er war schon eine ganze Weile hier, bevor ich gekommen bin«, sagte er. »Das heißt, seit mindestens fünf Jahren. Er ist aus der Arthur Road hierher verlegt worden, wo er auch über ein Jahr gesessen hat.«

»Und weswegen?«

»Soviel ich weiß, Bhai, ist er wegen Mordes an seinem Bruder angeklagt.«

»Und warum wurde er noch nicht vor Gericht gestellt?«

»Seine Verwandten behaupten, er sei psychisch nicht in der Lage, die Verhandlung durchzustehen, Bhai. Sie haben irgendeinen Arzt an der Hand, der ihnen das brav immer wieder bescheinigt. Und so lassen sie ihn von einem Gefängnis ins andere verlegen.«

Sie würden dadurch erreichen, daß Mathu länger im Gefängnis blieb als im Falle einer Verurteilung wegen Mordes. Diese Dreckskerle. »Wer sind diese Leute, die ihn unbedingt hier drin schmoren lassen wollen?«

»Er hat noch einen Bruder und eine Schwester. Es geht um Besitz.«

Wie sich herausstellte, war Mathu mit seinem Gold nach Hause zurückgegangen, nach Vasai. Er hatte seinen Geschwistern erzählt, er sei in Dubai gewesen, habe unerwartete Einnahmen gehabt und werde sich nun um alle kümmern. Sie hatten ihn natürlich zum großen Mann des Haushalts erklärt, obwohl er der Jüngste war. Dieser Gaandu gab sein ganzes Geld für sie aus: Er kaufte ihnen allen Häuser auf demselben Grundstück, und sie gründeten zusammen ein kleines Unternehmen. Die anderen sorgten dafür, daß er heiratete. Irgendwann gerieten sich die Geschwister, der Schwager und die Schwägerinnen erwartungsgemäß in die Haare. Sie stritten um Land, um Bargeld, um den jeweiligen Anteil am Gewinn des Unternehmens und um die Frage, wer für die Verluste verantwortlich war. Schließlich wurde beschlossen, sowohl das Unternehmen als auch den Grundbesitz aufzuteilen. Mathu wollte das nicht, er sah sein ganzes Gold dahinschwinden, aber er hatte die Besitzurkunden auf die Namen seiner Geschwister ausstellen lassen, und das Unternehmen hatte viele Partner. Man verbündete sich untereinander, verschwor sich gegeneinander, und Mathu ging von einem zum anderen und bat alle, gut zueinander zu sein, ihre Wut fahrenzulassen, an ihre Eltern zu denken. Doch die Auseinandersetzungen wurden nur heftiger, und schließlich wurde der älteste Bruder ermordet. Mit zweiunddreißig Messerstichen. Man fand ihn eines Morgens in seinem Büro, ein Lampenkabel um den Hals, das so fest zusammengezogen war, daß es ins Fleisch einschnitt. Es war nichts gestohlen, nichts angerührt worden. Die einzige Tür zu dem Raum war verschlossen. Die ermittelnden Polizisten kamen zu dem Schluß, daß der Mörder jemand gewesen sein mußte, den das Opfer kannte. Hinter Mathus Haus wurde ein blutverschmiertes Messer gefunden. Es gab keine Zeugen, die ihn an dem betreffenden Abend irgendwo gesehen hatten. Seine Frau war zu Besuch bei ihren Eltern gewesen. Seine Verwandten sagten alle, er habe sich in der letzten Zeit wie ein Irrer aufgeführt, sei über den verstorbenen Bruder hergezogen und habe geschimpft und gedroht, ihn umzubringen. Also wurde Mathu verhaftet, kam ins Gefängnis, wo er immer noch auf seine Verhandlung wartete. Er hatte kein Geld mehr und hätte sich ohnehin keinen Anwalt nehmen können. Er war ja verrückt.

»Was ist auf all dem Papier, Mathu?« fragte ich.

Er zuckte zusammen, krümmte sich und begann leise zu wimmern.

»Er hat Angst, daß Sie es ihm wegnehmen. In den Barakken für die normalen Häftlinge haben sich die anderen immer über ihn lustig gemacht und ihm seine Blätter und Stifte geklaut. Deshalb haben wir ihn zu den Alten gesteckt. Er sitzt den ganzen Tag da und zeichnet.«

»Und was, Mathu? Was zeichnest du?« Ich strich ihm über die Schulter. »Komm. Du weißt doch, wer ich bin. Wir waren zusammen auf dem Boot. Du hast selbst gesagt, daß du mich kennst. Du kennst mich. Ich bin Ganesh Gaitonde.«

Jetzt drehte er sich zu mir um und ließ zu, daß ich ihn aufrichtete und die Zettel unter seinem Bein hervorzog. Es waren Papierreste, auseinandergeklappte Umschläge, Ausschnitte aus alten Zeitungen, Fetzen von Quittungen, Gefängnisformularen. Jedes freie Fleckchen auf diesen Zetteln war mit winzigen Zeichnungen von Männern, Frauen, Gebäuden und Tieren bedeckt. Er war ein guter Zeichner, unser Mathu. Man erkannte, was eine Person fühlte, ob ein Tier Angst hatte. Die Bäume bogen sich unter einem starken Wind, und auf einer dunklen Straße leuchteten Straßenlaternen. Die Leute unterhielten sich in Sprechblasen miteinander, allerdings waren die Zeichnungen so gedrängt, so winzig, daß man kaum entziffern konnte, was gesagt wurde, selbst wenn man sich das Blatt direkt vor die Augen hielt. Eine Art verrückter Comicstrip - allein vom Hinschauen wurde einem schwindlig, all die Figuren, die sich auf dem Blatt nach oben und unten bewegten und vom einen aufs nächste übergingen, jeder Quadratzentimeter war mit irgendeiner Diskussion, einem Streit oder Liebe ausgefüllt, aber man erkannte trotzdem, daß das alles zusammenhing, daß es irgendwie einen Sinn ergab.

»Das ist wirklich gut, Mathu. Was ist das, was du da gezeichnet hast?«

Es verzückte ihn regelrecht, daß ich das fragte. Einen Moment lang erkannte ich den alten Mathu wieder, den Mathu, der selbst in den Tagen von Amitabh Bachchan017 seinem Dev Anand treu geblieben war, der von morgens bis abends hatte Drachen steigen lassen, bis Sakranti548, und gern Marineblau trug, weil ihm ein Freund seiner Schwester einmal gesagt hatte, es stehe ihm gut. Er lächelte breit, entblößte ein lückenhaftes gelbliches Gebiß und sagte: »Mein Leben, Ganesh.«

Und plötzlich erkannte ich einen kleinen Jungen, vielleicht fünf Jahre alt, der in Shorts und Chappals und mit einer Schultasche am Rand eines zerrissenen Briefumschlags entlanglief. »Bist du das?«

»Ja.«

»Und du willst dein ganzes Leben zeichnen?«

»Ja, ja.«

»Warum?«

Das verschlug ihm die Sprache. Er wußte keine Antwort darauf. Er ließ den Kopf hängen, und nach einer Weile begann er zu weinen. Ich umarmte ihn, dann setzte ich ihn neben mich und schickte einen der Jungs einen Block holen. »Da, Mathu. Da hast du einen ganzen Stapel Papier. Willst du noch mehr?«

»Ja.« Seine Nase lief, der Rotz tropfte ihm auf das Blatt. Er griff nach dem linierten Papier. »Und Stifte. In verschiedenen Farben.«

»Das werde ich dir alles besorgen. Mach dir keine Gedanken.«

Er nickte fröhlich. Ich veranlaßte, daß er gewaschen wurde, und schickte ihn mit einem Berg Papier in seine Baracke zurück, von zwei meiner Jungs eskortiert. Dann überlief mich ein Schauer, und ich zog die Knie an und dachte nach. Ich hätte ihn natürlich in die Welt hinausschicken können, aber der Aufseher hatte mir gesagt, Mathu komme selbst im Gefängnis kaum allein zurecht. Er verschenkte sein Essen, wenn er dafür einen Stift bekam, und oft vergaß er schlichtweg zu essen. Er wollte nichts anderes tun als sein Leben zeichnen. Wenn er in seinem derzeitigen Tempo weitermachte - nach sieben, acht Jahren war er bei seinem ersten Tag in der zweiten Klasse angelangt -, würde er erst in zwanzig oder dreißig Jahren zu unserer Fahrt mit Salim Kaka kommen. Er stellte keine Bedrohung für mich dar. Also erteilte ich am nächsten Morgen einige Anweisungen und beauftragte den Aufseher, der Mathu zu mir gebracht hatte, sich bis in alle Ewigkeit um ihn zu kümmern. Ich sprach Mathu eine monatliche Rente zu, eine nicht unbeträchtliche, wenn man bedachte, daß er nichts für die Unterbringung zahlen mußte und eigentlich außer Papier und Schreibwerkzeug nichts brauchte. Er sollte gut ernährt, ordentlich gekleidet und einmal im Monat ins Krankenhaus gebracht werden. Und wer ihn beim Zeichnen störte, hatte sich mir zu verantworten.

Mathu zeichnete also sein Leben. Ich wiederum hatte im Gefängnis Zeit, über das meine nachzudenken. Trotz all der Tragödien hatte ich ein gutes Leben gehabt, das erkannte ich wohl. Ich war berühmt, mächtig und auf dem besten Wege, noch berühmter und noch mächtiger zu werden. Ich hatte Niederlagen erlitten, aber ich wußte, wie man sich davon erholt und darauf reagiert. Ich lernte aus meinen Fehlern. Ich machte weiter. Aber mit welchem Ziel? Wohin war ich unterwegs? Wenn ich mein Leben zeichnen sollte, wohin würde ich es nach diesem Treffen mit Mathu lenken?

Bunty unterbrach meine Grübeleien mit einem dringlichen Bericht. Er wollte mir nicht am Telefon davon erzählen und mir auch nichts Schriftliches zukommen lassen. Es war Praxis bei uns, daß die Controllers nicht zu mir ins Gefängnis kamen. Gegen Bunty waren mehrere Verfahren anhängig, und trotzdem saß er nun im Büro des Aufsehers, schloß die Türen und zog einen Stuhl neben meinen. »Bhai«, sagte er. »Es geht um Sharma-ji.«

»Habt ihr endlich herausgefunden, für wen er arbeitet?^

»Zunächst einmal haben wir ihn gefunden, Bhai. Hier etwas Geld, da ein paar Fragen ... Sharma-ji heißt eigentlich Trivedi. Er besitzt mehrere Zapfsäulen in Meerut und hat langjährige Beziehungen zu allen Politikern dort. Er war früher mal ein Jana Sanghi283, ist jedoch Anfang der Achtziger aus der Partei ausgetreten. Mit einem Cousin und ein paar anderen zusammen hat er dann eine neue Partei gegründet, Akhand Bharat079. Diese Partei gibt es noch, aber sie hat nur bei den Kommunalwahlen ein paar Sitze ergattern können, nie auf höherer Ebene.«

»Und?«

»Er lebt sehr gut, Bhai. Er hat ein Haus, drei Stockwerke hoch, ganz aus weißem Marmor, wie ein Kinopalast - sie nennen es Janki Kutir. Akhand Bharat, die Partei, ist noch aktiv und gibt dafür, daß sie so unbedeutend ist, zuviel Geld aus. Das stammt nicht alles von den Zapfsäulen. Und auch für unsere Lieferungen würde ihr Geld nicht ausreichen. Also habe ich ein bißchen weitergeforscht. Wir haben ihn ein paar Monate lang beschattet. Nichts. Er führt ein sehr geregeltes Leben, morgens in den Tempel, dann zu den Zapfsäulen, nachmittags ins Parteibüro. Neun Kinder, viele Enkel, eine Großfamilie. Er hat ein Büro im Haus, dort verbringt er seine Abende.«

»Und weiter?«

»Wir haben eine Quelle im Fernmeldeamt auf getan, das war nicht sehr teuer. Wir bekommen Listen von allen Gesprächen, die von seinem Telefonanschluß im Büro ausgehen. Die meisten öfter gewählten Nummern haben wir identifiziert, aber es gibt da eine Handynummer, die er jeden Samstagnachmittag anruft. Um den Zeitpunkt unserer letzten Lieferung herum hat er sie jeden Tag angerufen. Wir mußten also einen Informanten in seiner Mobiltelefongesellschaft gewinnen. Das hat länger gedauert und mehr gekostet.«

»Mit dem Ergebnis ...?«

»Mit dem Ergebnis, daß dieses Handy einem gewissen Bathia gehört, Jaipal Bhatia, der in Delhi lebt, in South Extension. Auch dieser Bhatia hat einen hübschen Bungalow. Seine Arbeit besteht einzig und allein darin, der Privatsekretär von Madan Bhandari zu sein.«

»Und wer ist Bhandari?«

»Bhandari ist ein Niemand. Ein normaler Geschäftsmann, mit Interessen in der Kunststoff- und Textilindustrie. Hat einen Jahresumsatz von zwanzig bis dreißig Crores. Er ist nur deshalb interessant, weil es neben seinen Fabriken noch eine große Liebe in seinem Leben gibt, die ihm sogar wichtiger ist als Frau und Kinder: Er ist der Hauptunterstützer und Bhakt075 von Shridhar Shukla.«

»Dem Swami Shridhar Shukla?«

»Genau. Er ist ihr Boß. Er ist der Kopf des Ganzen. Da bin ich mir sicher.«

Das veränderte die Sache von Grund auf. Shridhar Shukla war ein internationaler Swami, er aß mit Präsidenten und Premierministern zu Mittag, sagte Ministern die Zukunft voraus, und zu seinen Darshans kamen Dutzende von Filmstars. Ich hatte ihn oft im Fernsehen gesehen, lächelnd, in seinem Rollstuhl sitzend. Er sprach ein perfektes Brahmanen-Hindi und ein schnelles Englisch. Ein äußerst beeindruckender Mann. Und mit sehr guten Verbindungen.

»Maderchod«, sagte ich. »Maderchod.«

Bunty nickte. Er erkannte unser Problem, das darin bestand, daß wir nicht die geringste Idee hatten, was unser verdammtes Problem war. Wir kannten das Gewässer nicht, in dem wir schwammen. Ich stand auf, ging einmal im Büro rundherum. Nehru schaute auf mich herab. Ich starrte ihn kurz an: Ich weiß mittlerweile einiges über dich, du Mistkerl, du hast diesem Land nicht eben gutgetan. »Wir gehen ganz direkt an die Sache ran«, sagte ich. »Du rufst diesen Typen an, wie hieß er noch gleich?«

»Trivedi.«

»Genau, Trivedi. Sag ihm, daß ich mit diesem Shukla sprechen will. Spätestens morgen abend. Keine Diskussionen, kein Hin und Her. Ich rede direkt mit Shukla. Sonst gibt es Ärger.«

Ich umarmte ihn. Er hatte gute Arbeit geleistet. Dann ging ich zur Baracke zurück, und in dieser Nacht war ich ruhelos, erregt. Jojo bemerkte es. »Du klingst anders als sonst«, sagte sie. »In letzter Zeit war es schwierig, mit dir zu reden. Du warst immer weit weg. Heute bist du anders.«

»Ich liege nicht.« Ich durchquerte gerade die Baracke, ging vom einen Ende zum anderen, vorbei an dem widerwärtigen Haufen schlafender Häftlinge jenseits des Bereichs meiner Company.

»Das ist es nicht. Es ist etwas anderes. Du bist wütend.«

Wut war es nicht direkt, aber so etwas Ähnliches. Ich war aufgeregt, als wäre ich im Begriff, eine Schwelle zu überschreiten. Ich telefonierte noch ein wenig mit Jojo, dann sank ich in einen sehr leichten Schlaf. Am nächsten Morgen um sechs klingelte mein anderes Handy, und ich nahm sofort ab.

»Ganesh«, sagte eine Stimme.

Ich schwieg. Ich kannte die Stimme, konnte sie aber nicht einordnen.

»Ganesh«, sagte er noch einmal. Es war eine volle, tiefe Stimme. Eine glamouröse, generöse Stimme, sehr liebenswürdig.

»Swami-ji.« Ich hatte das »-ji« eigentlich nicht anhängen wollen, doch es rutschte mir heraus.

»Nenn mich am Telefon nicht beim Namen, Beta.«

»Hat mein Freund Ihnen diese Nummer gegeben?«

»Ja, sie wurde an mich weitergeleitet.«

»Wir müssen miteinander reden.«

»Richtig. Aber nicht so. Sondern von Angesicht zu Angesicht.«

»Das kann aber noch eine Weile dauern.«

»Keine Sorge. Ich habe mir dein Horoskop angeschaut. Die Zukunft bringt dir Freiheit, Beta.«

»Wie denn?«

»Ich weiß keine Einzelheiten, Beta. Was das angeht, bin ich immer ehrlich. Aber ich sehe es. Du wirst sehr bald aus diesem Gefängnis herauskommen. Und dann werden wir uns treffen.«

»Sie haben mein Horoskop?«

»Ich beobachte dich schon seit einer Weile. Ich habe auf dich gewartet. Und jetzt hast du mich gefunden.«

»Sie haben gewartet?«

»Ja. Und jetzt bist du bereit. Erst mußte dir das Leben seine Lektionen erteilen, und das Yoga mußte dein Bewußtsein vertiefen. Dann warst du bereit. Also bist du zu mir gekommen.«

Es war unmöglich, ihm zu widersprechen. Im sanften Fluß seiner Stimme lag eine unwiderstehliche Kraft. Ich hatte ein Gefühl der Enge in der Kehle, versuchte die Verschwommenheit aus meinen Augen zu blinzeln. »Ja«, sagte ich. »Ja.«

»Mach dir keine Sorgen, Ganesh«, sagte er. »Sei ruhig, sei still. Übe Yoga. Warte. Die Zeit wird sich wenden, eine andere Richtung einschlagen. Die Zeit wird sich wenden und abermals wenden. Hab Geduld.«

Und dann war er weg. Am selben Nachmittag sah ich ihn im Fernsehen. Er saß mit gekreuzten Beinen auf einem Podium, gegen runde weiße Kissen gelehnt, und sprach in ein silbern schimmerndes Mikrofon. Im Hintergrund, hinter seinem Kopf, sah ich unscharf die metallisch glänzenden Radspeichen seines Rollstuhls. Mir war noch nie aufgefallen, was für ein attraktiver Mann er war, mit seinem dichten weißen Haar, das schwungvoll über den Kopf zurückgekämmt, jedoch nicht zu lang war und die gesunde Straffheit seiner glattrasierten Kinnpartie hervorhob. Ich konnte nicht einschätzen, wie alt er war. Seine Anhänger saßen in ordentlichen Reihen vor ihm, die Männer auf der einen und die Frauen auf der anderen Seite. An diesem Tag sprach er vom Erfolg. Warum, fragte er, quält und piesackt es uns so, wenn wir scheitern? Und warum fühlen wir uns manchmal ebenso unbefriedigt, wenn wir erfolgreich sind? Warum ist das Ankommen enttäuschend, obwohl wir doch so lange davon geträumt, so sehr darum gekämpft haben auf dem unbarmherzigen Weg dorthin? Warum? Die Antwort auf beide Fragen, sagte Shukla-ji, lautet: Weil wir an die Illusion des Ich glauben. Ich bin der Handelnde, glauben wir. Wir rufen es in die Welt hinaus: Ich tue dies, ich tue das, ich, ich, ich. Da wir an diese trügerischste aller Illusionen glauben, halten wir unser Scheitern für unsere eigene Schuld, denken, es entspringe unserem Ich. Wir denken, unsere Siege gehörten uns. Doch wenn wir erfolgreich sind, stellen wir fest, daß diese Ich-Illusion nur in der Zukunft oder der Vergangenheit bestehen kann. Das Ich ist auf ewig von der Gegenwart getrennt, und solange wir daran glauben, empfinden wir nur Verlust. Erst wenn wir diese Illusion transzendieren und über sie lachen, können wir das Vergnügen des Augenblicks erleben - lacht, dann seid ihr wirklich lebendig. »Meine Kinder«, sagte Swami-ji, »gebt euer Tun aus der Hand, und entdeckt euer wahres Wesen. Erkennt euch selbst.«

Ich mußte mich vom Fernseher abwenden. Es war, als spräche er zu mir, zu mir allein. Aber ich mußte mich zusammenreißen, mußte beim Zuhören ganz locker sein, über Gurus und Swamis Witze reißen, und durfte mich nicht zu lange mit ihm aufhalten. Wir hatten eine geheime Verbindung, er und ich, und deshalb durfte ich keine öffentliche Verbindung zu ihm haben. Es war zu riskant, zu gefährlich. Nicht nur für mich, sondern auch für ihn. Also stand ich auf und ging weg. Die Jungs schalteten zu einer Filmi-Song-Hitparade um.

Ich ließ sie ihre Songs anhören, doch ich folgte Swami-jis Rat. Ich intensivierte meine Meditation, übte sie länger und konzentrierter. Die Jungs waren von meiner tieferen Ruhe, meinem besseren Gedächtnis, meiner ungewohnten Liebenswürdigkeit beeindruckt. Ich fragte sie nach ihren Familien, erinnerte mich an die Namen ihrer Frauen und Freundinnen, erkundigte mich nach ihren Kindern. Wir hatten dafür gesorgt, daß Date aus dem Gefängnis in Nashik zurückverlegt wurde, damit er bei mir in der Baracke sein konnte. Er umarmte mich, als er mich wiedersah, drückte mich lange an sich. Und das erste, was er sagte, war: »Sie sehen jünger aus als vorher, Bhai. So frisch und gesund.«

Ich fühlte mich verwittert, wie ein altes Feld, das noch einmal gepflügt worden ist. Was er sah, waren die jungen Schößlinge, die erst vor kurzem eingepflanzt worden waren. Draußen hatte der Monsunregen eingesetzt, und wir saßen an den Fenstern und schauten zu, wie das Wasser von den Dächern stürzte. Die Geschäfte liefen gut. Geld ging ein, Geld wurde ausgegeben, mehr Geld ging ein. Unser Krieg mit Suleiman Isa holperte vor sich hin. Ich wußte, daß die Jungs einen entscheidenden Schlag erwarteten, eine fürchterliche Vergeltungsmaßnahme gegen den Feind. Ich sagte ihnen, sie sollten geduldig sein. Man soll das Korn ernten, wenn es reif ist. Warten, warten. Also wartete ich. Und war ganz ruhig.

Ende Juli wurde ich zu Advani einbestellt. »Der Saab will Sie in seinem Büro sehen«, sagte der mit der Botschaft Betraute. »Es ist sehr dringend.«

Es war früher Morgen, meine Gebetszeit, und mich packte die Angst. Advani würde mich nie von selbst um diese Zeit stören, es mußte etwas sehr Schlimmes passiert sein, damit er mich zu sich rief. Ich zog meine Chappals an, und wir hüpften im Hof, der jetzt ein See aus Regenwasser war, von Stein zu Stein. Die schwarzen Wolken über uns hingen tief, und es war fast still, die ganze Welt war nur vom Fallen des Wassers erfüllt. Vor Advanis Büro standen drei Männer in weißen Hemden in einer Reihe. Ich ging an ihnen vorbei ins Büro, wo Advani in aufrechter Haltung und mit offizieller Miene an seinem Schreibtisch saß. Er stand nicht auf.

»Saab«, sagte ich demutsvoll. Ich war ein guter Schauspieler, wenn meine Untergebenen es brauchten.

Ein Mann rechts von Advani beobachtete mich aufmerksam. Als erstes sah ich seinen rundlichen Kopf, kahl und braun im Dämmerlicht des Monsunregens. Und dann seine Augen, die mich fixierten.

»Das ist Mr. Kumar«, sagte Advani. »Er möchte mit Ihnen reden.«

Advani stand auf und verließ den Raum ohne ein weiteres Wort oder einen Blick in meine Richtung. Dieser Mr. Kumar war also ein mächtiger Mann. Vielleicht ein hoher Beamter. »Setzen Sie sich«, sagte er.

Ich tat wie geheißen.

»Ich arbeite für eine bestimmte Abteilung der Regierung, der Zentralregierung«, sagte er. »Ich verfolge schon seit geraumer Zeit Ihren Kampf gegen Suleiman Isa.«

Ich blieb stumm, nickte nicht einmal. Er sollte sich ruhig erst erklären. Er war sehr dünn, hatte eine scharfe Nase und ähnelte einer Statue des hungernden Buddha, die ich einmal im Fernsehen gesehen hatte. Aber er strahlte Kraft aus, Gewißheit. Er war ein Mann, der wußte, wer er war.

»Mir sind Ihre derzeitigen Schwierigkeiten bekannt. Aber ich weiß Ihr Engagement gegen Suleiman Isa und seine pakistanischen Freunde sehr zu schätzen.«

Er wartete darauf, daß ich etwas sagte. Ich lieferte ihm eine Antwort: »Ja, Saab. Dieser Dreckskerl ist ein Verräter. Ein Hund, der vom Abfall der Pakistanis lebt.« Er nickte. »Ein Staatsfeind«, sagte ich.

»Und Sie, Ganesh Gaitonde? Sind Sie ein Patriot?«

»Ja«, sagte ich.

Ja. So einfach war das. In diesem Moment wurde mir klar, daß ich tatsächlich ein Patriot war. Ich war einmal ein unwissender Junge gewesen, nur an Geld und meinem Traum von Ruhm und Luxus interessiert. Doch seither hatte ich viel gelernt, vieles begriffen. Es gibt keinen Menschen auf dieser Welt, der allein stehen kann, der sagen kann, ich bin frei von allem, was mich umgibt.

»Ich kann Ihnen helfen«, sagte er, »wenn Sie uns helfen.«

»Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Wenn Sie in Indien bleiben, werden Sie weiterhin brutalen Angriffen ausgesetzt sein. Außerdem werden die ganzen rechtlichen Probleme fortbestehen. Der TADA ist zwar außer Kraft gesetzt, aber für Sie wird er bis in alle Ewigkeit gelten. Sie werden Ihre Freilassung erwirken, und wenig später werden Sie wieder ins Gefängnis kommen. Vielleicht wird man auch ein neues, noch radikaleres Gesetz erlassen, das man ebenfalls auf Sie anwenden wird.«

»Zweifelsohne.«

»Deshalb sollten Sie ins Ausland gehen.«

»Aber meine Basis ist hier. Ich habe durchaus Verbindungen und eine gewisse Infrastruktur außerhalb des Landes, aber das reicht nicht, Saab. Es würde sehr viel Geld, Zeit und Mühe kosten, mich woanders zu etablieren.«

»Was das angeht, können Sie auf uns zählen. Wir können Ihnen die nötigen Informationen, die nötige Unterstützung bieten. Die Logistik. Möglicherweise auch Geld. Und natürlich würden wir das Ganze in die Wege leiten.«

Der Mann bot viel. Und er bot es mir an, als sei er in der Lage, seine Versprechen tatsächlich einzulösen. »Und was wollen Sie dafür von mir, Saab?«

»Ihre Mitarbeit. Sie werden uns Informationen über staatsfeindliche Aktivitäten liefern. Was getan wird, was geplant wird. Manchmal werden wir auch andere Aufträge für Sie haben. Wir brauchen einen Partner, der die verschiedensten Dinge erledigen kann.«

Die verschiedensten Dinge, genau. Sie brauchten zweifellos jemanden, der die wirklich schmutzige Arbeit tat. Sie brauchten einen starken.verlängerten Arm, den sie offiziell jedoch verleugnen konnten. Es war an der Zeit, ihm klarzumachen, daß er seine Hilfe keinem Vollidioten anbot. Ich beugte mich vor. »Aber Kumar-saab«, sagte ich, »Sie haben doch schon Chhota Madhav, der für Sie arbeitet.« Chhota Madhav war einer von Suleiman Isas Jungs gewesen, der aber nach den Bombenexplosionen ausgestiegen war und seine eigene Company gegründet hatte. Er operierte jetzt von Indonesien aus und kämpfte gegen Suleiman Isa, und da er ein Feind meines Feindes war, pflegten wir einen höflichen Umgang, es war keine Freundschaft, aber auch kein Haß. Uns war bekannt, daß Chhota in irgendeiner Beziehung zu der Organisation stand, die sich RAW nannte. Das wollte ich Mr. Kumar vermitteln - daß es kein sonderlich heftiges Nachdenken erforderte, darauf zu kommen, wer er war und für wen er arbeitete.

Mr. Kumar war amüsiert. Sein Lächeln war wie eine kleine Welle, die blitzschnell seinen Schädel überlief. »Er arbeitet für uns?«

»Allerdings. Genauso wie Suleiman Isa für den ISI arbeitet.«

»Möglicherweise arbeitet Madhev tatsächlich für uns. Aber wir leben in einer Zeit äußerster Gefahr. Wir brauchen mehr Patrioten.«

Ich nickte. »Was liegt also an, Saab?«

Er sagte es mir. Draußen fiel der Regen. Wir schmiedeten Pläne. Und so wurde ich zum Kämpfer für mein Land und mein Volk.