Ganesh Gaitonde
erforscht sein Selbst

Auf der Yacht schauten wir uns eine Menge Filme an, Hunderte von Videos, Laserdiscs und DVDs. Das Schiff, 130 Fuß lang (ich mußte erst lernen, es als Yacht zu bezeichnen), hatte drei Decks und einen geräumigen Salon, in dem ich einen riesigen Fernseher aufstellte sowie mehrere Filmabspielgeräte und einen Receiver. Nicht, daß wir nicht auch gearbeitet hätten: Ich stand jeden Morgen um sechs auf, machte meine Yogaübungen und hielt meine Puja ab, und spätestens um halb acht saß ich beim Frühstück und nahm meine Anrufe entgegen. Meine Company aus der Ferne zu führen war ein schwieriger Lernprozeß - ich mußte loslassen, mußte aufhören, mir über Details den Kopf zu zerbrechen und den Männern zu sagen, wie sie ihre Arbeit zu tun hatten, mußte Verantwortung abgeben. Ich fühlte mich wie ein Gott, der fern von der Welt ist und sie zugleich von oben lenkt. Zwischen halb elf und elf hatte ich die dringenden Angelegenheiten für gewöhnlich erledigt, um die Zeit etwa meldete sich dann Bunty aus Bombay mit den neuesten Informationen über die eingetriebenen Gelder und Gesamteinnahmen des vorangegangenen Tages. Um zwölf nahm ich mit den Jungs ein leichtes Mittagessen ein und legte mich anschließend für eine halbe Stunde hin. Ab und zu, wenn wir nah genug bei der Küste waren, ließ ich mich von einem Mädchen aus meinem Mittagsschlaf wecken, einer Indonesierin oder Chinesin oder Thailänderin. Doch um zwei war ich in jedem Fall wieder auf, und der restliche Tag erstreckte sich vor mir.

Also schauten wir uns Filme an: Hum Apke Kaun, Dilwale Dulhaniya Le Jayenge und zum wiederholten Male Sholay, Dil To Pagal Hai, Hero269 No. 1 und Auzaar. Auch Mother India, Anarkali und Sujata sowie unzählige andere, von denen ich noch nie gehört hatte, Bahu Begum, Anjaam, Halaku. Ich sah mir auch gern englischsprachige Filme an, nicht nur die Sex-&-Crime-Streifen, die meine Jungs mochten, sondern auch dialoglastigere Filme, mit denen ich mein Englisch verbessern wollte. Doch dabei langweilten sich meine Jungs immer, diese Bauerntrampel. Sie wurden unruhig und bettelten darum, wieder zu einem dieser maderchod Schrottfilme überzuwechseln - vorwiegend indische, aber auch punjabische oder tamilische -, in denen Raveena Tandon wie eine wild gewordene Maschine ihr Becken vorstößt und die Hüfte schwingt. Einer meiner Jungs, Mukund, der Tamile war, übersetzte Nayakan für uns, und tatsächlich war die tamilische Version des Films mit Kamalahasan deutlich besser. Es war seltsam, Bombay durch tamilische Augen zu sehen, aber der Film hatte Dum, er war authentisch. Wir schauten uns Varadarajans Lebensgeschichte in völligem Schweigen an, seine frühen Tage im Slum, seinen Aufstieg zu Macht und Ruhm. Als sein Sohn umgebracht wurde und dieser erstickte Schrei aus Kamalahasans Kehle aufstieg, spürten wir den Schmerz wie unseren eigenen. Auch wir hatten geliebte Menschen verloren. Mir liefen die Tränen über die Wangen - uns allen.

Am nächsten Tag trug ich Bunty auf, Kamalahasan und Mani Ratnam Blumen zu schicken, ohne Absender, nur mit einer Karte, auf der stand: »Von einem Nayakan-Fan.« Und als Jojo mich am Abend anrief, erzählte ich ihr, wie sehr den Jungs und mir der Film gefallen hatte.

Sie brach in schallendes Gelächter aus. »Da saß ein ganzer Haufen von euch toughen Bhais herum und hat geflennt?«

»Kutti357, das war eine großartige schauspielerische Leistung und eine großartige Geschichte!«

»Bei dieser letzten Szene, der Beerdigung von Nayakan, da hast du bestimmt geheult.«

»Es waren Tausende von Leuten auf dieser Beerdigung. Natürlich habe ich geheult. Es war sehr bewegend.«

Sie prustete wieder los. Schließlich riß sie sich zusammen. »Oje, ihr Männer seid ja dermaßen sentimental. Keine Sorge, zu deiner Beerdigung werden auch Tausende kommen.«

»Randi, mach dir mal keine Gedanken um meine Beerdigung. "Wann und wie sie auch stattfinden wird, Parmatma480 hat das alles bereits festgeschrieben. Es ist schon passiert, wir erliegen lediglich der Illusion der Zeit. Er hat seinen Plan. Wir sind nur Schauspieler in seinem Stück.«

»Aha, Schauspieler in seinem Stück.«

»Ja. Wir tanzen gemäß den Vorgaben seines Lila. Die Geburt, das Leben, der Tod, das alles hat eine Gestalt, selbst wenn wir sie nicht sehen können.«

»Was bist du heute für ein Philosoph, Ganesh Gaitonde. Du hast dich verändert, du redest dauernd über Schicksal und Karma318 und lauter solchen Scheiß. Was ist bloß in dich gefahren?«

»Nichts, ich habe nur angefangen, der Wahrheit des Universums ein wenig näherzukommen.« Niemand außer Bunty wußte von meinen Gesprächen mit Guru-ji. Ich mußte all diese verschiedenen Bereiche meines Lebens voneinander getrennt halten: Jojo von Guru-ji, Guru-ji von Mr. Kumar und ein Stück meiner selbst von allem anderen.

»Chutiya, du bist einer dieser superfrommen Hindus geworden.« Sie machte ein Geräusch, als spuckte sie etwas Widerwärtiges aus.

»Jojo, auch du solltest dir über diese Fragen Gedanken machen. Geh in deine Kirche, vielleicht findest du dort Frieden.«

»Jetzt redest du wie meine Mutter, Gaitonde. In was für wirren Zeiten wir doch leben.«

»Genau. Deshalb ist auch die spirituelle Suche ...«

»Are, Maderchod, du willst, daß ich in die Kirche gehe, damit mir irgendein stinkender Priester in den Kopf schauen und mir sagen kann, daß ich eine böse Frau bin, und mich bestraft? Und was wird sein Gott, oder deiner, mir geben? Frieden? Ich will keinen Frieden. Ich will eine Wohnung, ich will, daß mein Geschäft floriert. Frieden! Warum gibst du nicht den Mädchen, die du jeden Nachmittag vögelst, ein bißchen Frieden, mein spiritueller Lehrmeister?« Sie wälzte sich lachend auf ihrem Bett herum. Dann fragte sie abrupt: »Hältst du denen auch spirituelle Vorträge?«

Ich mußte lächeln. »Are, nein.«

»Sag mir die Wahrheit, Gaitonde.«

»Saali, wie soll ich ihnen denn Vorträge halten, wenn sie gar kein Hindi sprechen?«

»Und dein toota-phoota Englisch verstehen sie nicht.«

»Mein Englisch wird täglich besser.«

»Weich nicht aus, Gaitonde. Hast du versucht, mit ihnen über den Weg zur - wie nennt ihr das ... Mokha? - zu reden?«

»Moksha.«426

»Und?«

»Nein.«

»Komm schon, Gaitonde. Sag mir die Wahrheit. Das hast du immer getan, auch wenn du alle anderen anlügst.«

Ich schwieg. Sie hatte recht, ihr erzählte ich immer wieder von meinen Ängsten und Sorgen, Dinge, die ich niemandem sonst verriet.

»Gaitonde.«

»Also gut. Ein einziges Mal.«

»Ich sehe schon die Schlagzeile im Mid-Day von morgen: »Internationaler Mafiaboß bekehrt die Huren dieser Welt!‹« Gute fünf Minuten lang war sie außerstande, noch einen zusammenhängenden Satz hervorzubringen. Endlich hatte sie sich wieder gefaßt: »Siehst du, ich hab's dir doch gesagt, irgendwas ist in dich gefahren.«

»Das war nur, weil ... Hör zu, da war so eine Thailänderin, die hatte eine kleine Buddha-Figur in ihrer Handtasche. Also habe ich versucht, mit ihr über das Nirwana zu reden. Sie hat nur das Wort Nirwana verstanden, sonst nichts.«

Sie hatte schon so viel gelacht, daß sie jetzt nur noch schwach kichern konnte. »Ich kenne dich besser als sonst jemand auf dieser Welt. Das mußt du zugeben.«

»Ich gebe es zu, Yaar.« Ich lächelte. Wenn Jojo gute Laune hatte, konnte sie mich heiter und fröhlich stimmen wie sonst niemand. »Wenn du mich so gut kennst, dann komm und lern mich noch besser kennen. Mach ein paar Tage Urlaub auf der Yacht.«

»Fang nicht wieder damit an, Gaitonde. Du läßt mich doch nur deshalb so viel über dich wissen, weil ich dich nicht an mich heranlasse.«

»Jojo, ich werde dich nicht anrühren. Darauf gebe ich dir mein Wort. Kasam319

»Ums Anfassen geht es nicht, Gaitonde. Du weißt genau, daß bei einem Treffen zwischen uns der Gedanke, uns anzufassen, in der Luft liegen würde. Und zwar durchaus auch von meiner Seite. Das würde unsere Freundschaft ruinieren. Glaub mir.«

»Können denn Männer und Frauen nicht ans Anfassen denken und trotzdem Freunde bleiben?«

»Manche Männer und Frauen auf irgendeinem anderen Kontinent vielleicht schon. Aber nicht du und ich.«

»Haramzadi263, das ist nicht wahr.«

»Natürlich ist es wahr, und das weißt du auch.« Sie lächelte ebenfalls, das spürte ich. »Das ist von deinem Parmatma festgeschrieben. Es ist Teil seines Plans.«

»Und du bist mein täglicher Kopfschmerz. Ich weiß wirklich nicht, warum ich mich mit dir abgebe.« Aber ich grinste, während ich das sagte, und das wiederum bemerkte sie.

»Dafür kriegst du von mir mehr gute Ficks als von jeder denkbaren Freundin.«

»Stimmt.« Alle ein, zwei Monate schickte sie uns ein paar Mädels aus Bombay. Sie wurden mit Künstler-Visa nach Singapur oder Jakarta ausgeflogen, als Mitglieder irgendeiner Gesangs- oder Tanztruppe. Die meisten waren tatsächlich Tänzerinnen. Nach der Show wurden sie mit dem Bus an den Küstenabschnitt gefahren, vor dem die Yacht gerade lag. Ein paar waren für die Jungs, aber die besten bekam immer ich. Jojo kannte inzwischen meinen Geschmack. »Du bist wie eine Freundin, die jeden Monat eine neue Version von sich schickt. Du bist die großzügigste Chawi aller Zeiten.«

»Ich bin die erstrebenswerteste Freundin in der Geschichte der Menschheit, Gaitonde. Und nach der besonderen Leckerei, die du nächste Woche von mir bekommst, wirst du mich jeden Morgen in deine Gebete an Parmatma einschließen.«

»Was für eine Leckerei?«

»Sag erst Dankeschön.«

»Wofür?«

»Du solltest mir jeden Tag danken - für alles, was ich für dich getan habe. Aber für das, was ich als nächstes tun werde, ganz besonders.«

»Ein Mädchen?«

»Nicht nur ein Mädchen, Gaitonde. Diese ist ... Sie ist einfach erstaunlich.«

»Laß hören.«

»Also, erstens ist sie Jungfrau.«

»Ja, ja - so wie alle Randis in Bombay.«

»Nein, im Ernst. Laß sie ärztlich untersuchen, wenn du willst. Sie stammt aus einer strenggläubigen Familie in Lucknow.«

»Wenn sie strenggläubig ist, was hat sie dann bei jemandem wie dir verloren?«

»Are, Baba, sie will Schauspielerin werden.«

»Natürlich.«

»Natürlich. Sie ist einen Meter achtzig groß, Gaitonde.«

»Du willst mir wohl das Qutub Minar506 schicken, Saali.«

»Du bist ein großer Bhai, du brauchst eine große Frau. Und hast du nicht all die ausländischen Models gesehen? Einsachtzig ist gar nichts.«

»Sie ist so schön wie ein Model?«

»Sie wird es einmal sein.«

»Maderchod, und jetzt ist sie häßlich, oder wie? Und dafür soll ich Dankeschön sagen?«

»Gaitonde, die meisten Männer sind dumm. Aber du hast das nicht nötig. Denk mal nach. Ein Mädchen aus einer ganz normalen Familie in Lucknow. Der Vater hat ein kleines Familienrestaurant, die Mutter ist einfach Mutter. Es gibt eine Großmutter, die bei ihnen wohnt. Brüder, sowohl jüngere als auch ältere. Die Eltern schaffen es, alle Kinder auf weiterführende Schulen zu schicken.«

»Na und?«

»Stell dir dieses Mädchen vor - wie ihr Leben in Lucknow aussieht. Sie besucht eine Mädchenschule, kommt zu ihrer Mutter und Großmutter nach Hause. Sie redet nicht mit Jungs, nicht einmal mit denen, die sich auf der Straße über sie lustig machen, weil sie in der sechsten Klasse schon einen Meter siebzig groß ist. Aber dieses Mädchen ist sehr intelligent. Sie liest, sie beobachtet. Irgendwie kommt sie zu dem Schluß, daß ihr das alles nicht reicht. Lucknow und eine Heirat mit Achtzehn, das ist nicht das, was sie will.«

»Ganz Indien ist voll von solchen Idiotinnen«, sagte ich. »Das ist der schlechte Einfluß von Film und Fernsehen.« Jojo ließ ein paar Sekunden von ihrem Vortrag ab und lachte mit mir. Dann fuhr sie fort.

»Sei still, Gaitonde. Sie faßt also einen Entschluß. Entscheidet sich. Mit Achtzehn. Irgendwie schafft sie es, fortzugehen, in die Welt hinauszuziehen. Irgendwie findet sie ihren Weg zu mir. Weißt du, was das erfordert?«

»Ja, sie ist eine Heldin. Ich sollte ihr die Jungs in Bombay unterstellen.«

»Gaitonde, du bist und bleibst ein Mann. Ein Mann versteht einfach nicht, wieviel Mut es kostet, als Frau gegen den Strom zu schwimmen, als Frau einzufordern, daß man seine Träume leben darf. All deine Jungs zusammen bringen nicht ein Tausendstel von diesem Mut auf.«

»Okay, sie ist also die Rani von Jhansi. Und?«

»Kapierst du das denn nicht? Dieses Mädchen will alles. Und sie hat die Kraft und den Mut, es zu bekommen. Sie sieht schon jetzt nicht schlecht aus, aber weil sie es will, wird sie einmal eine Schönheit sein. Sie möchte Model und Schauspielerin werden, und sie wird es auch werden. Glaub mir. Mir ist das nicht gelungen, ich bin gescheitert, aber sie wird es schaffen.«

»Wieso bist du dir da so sicher?«

»Weil sie mich an dich erinnert.«

»Spinnst du? Eine Frau erinnert dich an mich?«

»Das ist ein Kompliment, Gaitonde. Du wirst schon sehen, wie ich das meine. Sie erinnert mich an dich, weil sie ein bißchen furchterregend ist.«

»Ich dachte, du hättest vor gar nichts Angst. Nicht mal vor mir.«

»Ich habe keine Angst vor dir, Chutiya. Was ich meine, ist, daß sie mit ihrer Größe und Zielstrebigkeit wie eine dieser Rakshasa-Frauen aus der Ramayana-Serie wirkt. Du bist der einzige, der mit ihr umgehen kann. Das ist ein Kompliment.«

»Du meinst wohl, ich bin der einzige, der für diese riesige Jungfrau bezahlen kann. Wieviel?«

»Viel.«

»Schon klar. Nenn mir den Preis.«

»Sie ist nicht unbedingt an Bargeld interessiert.«

»Sondern?«

»Ich habe selbst eine Weile gebraucht, um es zu begreifen ... Sie will nicht einfach nur einen Mann. Sie will einen Investor.«

»Der in was investiert?«

»In sie. In ihre Zukunft.«

In diesem Moment verspürte ich die erste Regung echten, warmen Interesses für dieses Geschöpf, das Jojo mir anpries. Vielleicht war diese Randi wirklich so gescheit, wie Jojo behauptete. »Das hat sie selbst gesagt?«

»Ja. Sie ist sich im klaren darüber, daß eine Laufbahn in diesem ganzen Model- und Film-Busineß nicht einfach so aus dem Nichts kommt. Wenn man reiche Eltern hat, können die vielleicht für die Kleider, den Schauspiel- und Tanzunterricht, das Fitneßstudio, ein Handy, eine Wohnung in Andheri und ein Auto aufkommen. Aber wenn man bloß ein mittelloses Mädchen aus Lucknow ist, dann ist man eine von Tausenden, die mit der Autorikscha von Produzent zu Produzent fahren. Und jeder Fotograf, der einem auch nur eine Aufnahme für die Bewerbungsmappe macht, will einen für ein Nümmerchen in seinen Loft abschleppen. Was bei alldem herauskommt, sind ein Haufen Ficks und vielleicht ein oder zwei Tanzeinlagen in einem Video. Bas. Wer ein Star werden will, muß zuallererst in der Lage sein, nein zu sagen. Außerdem braucht man Geld, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten und sich so zu präsentieren, daß diese bhenchod Männer aus der Filmindustrie einen respektieren. Deshalb wird die Filmbranche mittlerweile auch von den Kindern der Stars dominiert, weil die nicht nur die Verbindungen haben, sondern auch die nötigen Mittel.«

»Sie braucht also die nötigen Mittel, um Profit zu machen. Gut, daß sie das begriffen hat.«

»Ja. Aber sie braucht mehr als das, Gaitonde. Sie will eine Menge an sich machen lassen. Und das ist teuer.«

»An sich machen lassen?«

»Kosmetische Operationen. Sie hat recherchiert und eine kleine Karte von ihrem Körper angelegt, auf der alles markiert ist. Mit dem jeweiligen Preis an den einzelnen Stellen. Und sie weiß genau, zu welchem Arzt sie will und wie das alles abläuft. Sie hat Fotos von Schauspielerinnen, Models und reichen Frauen, Gaitonde, und sie weiß von jeder, was sie hat machen lassen. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was für Operationen all diese berühmten Menschen hinter sich haben und wie gut sich dieses Mädchen auskennt. Diese Nase ist gut, sagt sie, aber diese da ist noch besser. Sie ist eine echte Expertin. Sie hat alle Informationen in einem Ordner mit dem Titel ›Körper‹ gesammelt.«

Sehr interessant, dachte ich. Eine Frau, die systematisch denkt. »Gut«, sagte ich. »Führ mir dieses sagenhafte Wesen vor. Wieviel?«

»Gaitonde, probier nicht, irgendwelchen Unfug mit diesem Mädchen zu machen. Wenn sie den Eindruck hat, daß du versuchst, sie übers Ohr zu hauen, bringt sie sich eher um, als daß sie dich an sich heranläßt.«

»Ja, ja. Wieviel?«

»Für ein erstes Treffen nichts. Triff dich mit ihr, und entscheide selbst. Das Flugticket bezahle ich.«

Das war nun wirklich erstaunlich. »Jojo, du klingst, als wärst du verliebt. Bist du etwa im fortgeschrittenen Alter noch zur Mösenlutscherin geworden? Bidu, in diesem Fall übernehme ich die Rechnung. Nimm sie, nimm sie.«

»Gaitonde, hör auf, so einen Schwachsinn zu reden. Wenn ich auf Mädchen stehen würde, hätte ich dir das längst gesagt. Ich investiere schlichtweg selbst in sie. Nicht nur, um dich zu überzeugen. Ich glaube an dieses Mädchen. Sie kann sich verkaufen.« Jojo benutzte das englische Wort für verkaufen, sell. Der Zischlaut klang bei ihr richtig sexy, wie in ebendiesem anderen englischen Wort: sexy.

»Du hast ihre Aktien gekauft? Sogar noch vor dem Börsengang?«

»Du solltest auch welche kaufen, Gaitonde. Wenn du klug bist, tust du es. Aber da ist noch etwas.«

»Was denn?«

»Bist du wirklich so weltlich, wie du immer behauptest?«

»Schließlich gebe ich mich mit dir ab, oder? Ich muß also weltlich und tolerant sein.«

»Das Mädchen ist nämlich Muslimin. Sie heißt Jamila Mirza.«

»Jojo, in Indien arbeiten immer noch ein paar muslimische Jungs für mich. Und wann hatte ich je ein Problem mit muslimischen Mädchen?« Mir waren Mädchen jeder Form, Größe und Religion recht. Ich nahm sie alle, ich war unparteiisch.

»Dieser Fall ist anders gelagert, Gaitonde. Was Mädchen betrifft, denkt selbst dein Freund Suleiman Isa ausgesprochen weltlich, er hat keine Probleme damit, es mit Hindumädchen, Jainas oder Christinnen zu treiben. Unter der Gürtellinie sind alle Männer weltlich. Aber, noch einmal: wenn du in sie investierst, mußt du ihr wirklich helfen. Dann bist du mit ihr verbunden. Nicht nur für ein oder zwei Tage oder eine Woche auf deinem Schiff, sondern langfristig.«

»Okay, verstehe. Laß mich darüber nachdenken. Wann ist sie geboren?«

»Fängst du jetzt wieder mit diesem Astrologiekram an?«

»Ja.«

»Du bist verrückt.«

»Sag mir Datum, Uhrzeit und Ort.«

Sie gab mir die Geburtsdetails, und ich schrieb mit. Sie war genauso abgebrüht und skeptisch, wie ich es einst gewesen war, aber Guru-ji hatte meinen Widerstand zunichte gemacht. Ich war dabei, mich neu zu erschaffen.

Jojo fragte: »Und was ist mit den Jungs?«

Wir sprachen noch ein paar Minuten über Mädchen für meine Jungs. Dann mußte Jojo zu einer Produktionssitzung, und ich ging an Deck. Die Jungs spielten unter einem blauen Baldachin Karten. Ich hatte sechs Jungs an Bord, außerdem einen Buchhalter und einen Computerfachmann, einen Koch aus Maharashtra sowie eine fünfköpfige Besatzung, allesamt Goanesen (darunter drei ehemalige Marinesoldaten). Die Jungs waren in zwei Schichten aufgeteilt, drei von ihnen schoben immer Wache, was bedeutete, daß sie endlos Tin-Patti um niedrige Einsätze spielten. Arvind brauchte die üblichen zehn Minuten, um abzuwerfen, und Ramesh und Munna beschimpften ihn wortreich. Wie immer. Wir lagen in Sichtweite der bunten Sonnenschirme am Patong Beach vor Anker.

Die Jungs standen auf, als ich mich ihnen näherte. »Bhai«, sagten sie alle und berührten meine Füße.

»Wer gewinnt?«

»Dieser schneckenhafte Gaandu hier. Wegen dem dauert das Spiel Jahre.«

Auch das gehörte zur Tagesordnung: Arvind gewann. Er war langsam, aber gründlich. Doch die Stimmung war gereizt, das merkte ich. Zu Hause in Bombay bettelten sie alle um einen Auslandseinsatz. Sie wollten die ausländischen Jeans, die ausländischen Mädchen und den Lohn in ausländischer Währung. Sie konkurrierten darum, nach Thailand mitkommen zu dürfen, auf meine Yacht und zu meinen Operationen in Übersee, und demonstrierten unentwegt ihren Eifer, ihren Fleiß und ihr Engagement. Doch nach ein, zwei, fünf Monaten in diesen Gewässern wurden sie mürrisch. Sie vermißten Bombay körperlich. Ich konnte das nachvollziehen, denn obwohl ich Mumbai schon seit einem Jahr verlassen hatte, bekam auch ich noch regelrechte Sehnsuchtsanfälle. Ich sehnte mich nach den vollgespuckten Straßen dieser unbändigen Hure von einer Stadt, spürte beim Aufwachen das beißende Stechen der Autoabgase und brennenden Müllhaufen in der Nase, hörte das anschwellende Dröhnen des Verkehrs, wie es vom Dach eines hohen Hotelgebäudes aus klingt, dieses ferne Geräusch, bei dem man sich fühlt wie ein König. Wenn man von der gewaltigen Blechlawine, dem Dickicht der Slums, den langen, verschlungenen Bahngleisen, den Menschenmengen und der Radiomusik auf den Bazaaren weit entfernt war, konnte man ein schmerzliches Verlangen nach der Stadt empfinden. Es gab Nachmittage, an denen ich das Gefühl hatte, ein Teil von mir stürbe. Ich spürte unter dem fremden Himmel, wie meine Seele mehr und mehr verkümmerte. Und ich fühlte eine Einsamkeit, wie ich sie früher nicht einmal im Traum für möglich gehalten hätte. Erst nachdem ich Indien hinter mir gelassen hatte, wurde mir klar, daß ich dort nie allein gewesen war, daß ich gut aufgehoben im Netz meiner Familie, meiner Company, meiner Jungs gelebt hatte. Ich war ganz gewesen. Selbst allein in der Anda-Zelle, war ich noch in dieses weitläufige, unsichtbare Netz eingebunden gewesen. Auf indischem Boden kann man nicht wirklich einsam sein, selbst wenn man in einem übelriechenden Loch sitzt, das an ein Grab erinnert. Erst nachdem ich über die schwarzen Wasser davongesegelt war, hatte ich die Bedeutung des Wortes »allein« erfahren.

Ich ließ also indische Mädchen und indische Filme für die Jungs einfliegen, und zweimal die Woche durften sie nach Indien telefonieren. Im ersten Monat waren die meisten total scharf darauf, jedes Chinesenmädchen zu besteigen, das sie nur kriegen konnten. Sie gaben ihr gesamtes Geld für thailändisches, indonesisches und chinesisches Maal aus und waren ganz verrückt nach den deutschen Blondinen, die am Strand ihre Mangos zeigten. Doch nachdem sich die erste Begeisterung gelegt hatte, freuten sie sich auf die indischen Mädchen wie hungernde Flutopfer in Bihari auf die staatlichen Lebensmittelabwürfe. Es tat gut, eine mollige Ghaatan zu vögeln, es tat gut, einen Kishore-Kumar-Song für ein kicherndes Punjabi-Mädchen zu summen, das ihn mühelos verstand. Es war wie Daheimsein.

Ich erzählte meinen drei Kartenspielern also von den Mädchen, die in zwei Wochen kommen würden, woraufhin sich ihre Mienen deutlich aufhellten. Jetzt hatten sie wieder etwas, worauf sie sich freuen konnten. »Verliert nicht den Kopf, wenn sie kommen«, sagte ich. »Seid nicht dumm, diese Mädchen wissen genau, wie sie einem Mann das Geld aus der Tasche ziehen können. Wenn so eine Chappan-Churi108 sagt: »Kauf mir nur ein paar schöne Saris‹ oder ›Sieh mal, wie gut mir diese Goldkette steht‹, versucht nicht, den großen Bhai zu mimen. Denn irgendwann fahren sie wieder nach Hause, und ihr steht mit leeren Händen da. Amüsiert euch, aber bewahrt einen kühlen Kopf.«

»Ja, Bhai«, sagten sie wie brave Schuljungen zu einem Lehrer.

»Chutiyas, sooft ich es auch sage, es kommt ja doch nicht an. Warten wir mal ab, wie ihr in vier Wochen dasteht.«

Vier Wochen später war der langsame, aber gründliche Arvind verheiratet. Unter den Mädchen befand sich eine gewisse Suhasini, die ein bißchen an Sonali Bendre erinnerte, weshalb sie sich den Künstlernamen Sonali zugelegt hatte und die entsprechenden Starallüren gleich dazu. Wir holten die Mädchen am Flughafen von Phuket ab, und als der Transporter vor dem Orchid Seaside Hotel vorfuhr, hängte sich Arvind sofort an diese Suhasini. Es war nicht unüblich, daß sich die Jungs und Mädels zu Paaren zusammentaten: Diese hier war Mukunds Mädchen, und diese da nahm Munna. Ramesh wollte es immer mit allen treiben, aber er hielt sich zurück, wenn er sah, daß einer der anderen Jungs auf nur eines der Mädchen abfuhr. Und so konnten Munna oder Mukund zumindest für ein paar Tage tun, als hätten sie eine Chawi, ohne sich bedroht zu fühlen. Das also kannten wir, doch so eine Verbindung wie die zwischen Arvind und diesem Mädchen hatten wir noch nie erlebt. Sicher, diese Suhasini hatte schöne Haut und eine Nase, die, aus einem bestimmten Winkel und in einem bestimmten Licht betrachtet, durchaus an Sonali Bendre denken ließ. Aber letzten Endes war sie einfach nur ein schlaksiges Ding aus Ghatkopar. Außerdem war sie eine Randi. Und Arvind wußte das ganz genau. Schließlich bekam er jeden Abend seinen Lauda gelutscht.

Als er und das Mädchen zu mir kamen, um meinen Segen für ihre Heirat zu erbitten, lautete der Kommentar der übrigen Jungs, sie könne eben mit Engelszungen reden und Arvind sei ein absoluter, unübertrefflicher Vollidiot. Sie bade jeden Morgen und jeden Abend seinen Chhota-bhai, was zu einem Kurzschluß in seinem Gehirn geführt habe. Ich beruhigte sie, sagte ihnen, sie sollten die Klappe halten und keinen Streit anfachen. Arvinds Blut war in Wallung, und wenn er auf seine höchst gemächliche Art erst einmal in Fahrt kam, war er gefährlich. Genau deshalb hatten wir ihn eingestellt. Ich setzte mich allein mit ihm zusammen und sagte: »Denk doch mal nach. Es gibt zwei Sorten von Mädchen, eine fürs Mauj-Maja407 und eine fürs Heiraten. Es ist eins, sich zu amüsieren, ja selbst für ein oder zwei Wochen verrückt nach einem Mädchen zu sein. So was kommt vor. Und wenn man morgens und abends einen wegsteckt, übernimmt der Lauda die Kontrolle über das Gehirn, das ist einfach so. Aber eine Heirat ist eine große Sache. Darüber muß man mit klarem Verstand nachdenken. Denk an deine Eltern, an die Leute. Ihr müßt schließlich weiter mit euren Verwandten klarkommen, du und deine Familie. Man kann nicht ewig geheimhalten, wer sie ist. Laß dich nicht hinreißen, nur weil sie aussieht wie Sonali Bendre. Hab deinen Spaß, und dann laß sie ziehen.«

»Bhai, das mit Sonali Bendre ist mir völlig schnurz. Für mich sieht sie einfach nur aus wie Suhasini. Und ich habe sehr wohl darüber nachgedacht. Ich weiß, daß sie die Richtige ist.«

»Woher?«

»Ich weiß es einfach. Ich spüre es hier.« Er legte die Hand auf die Brust: ein sehr junger Mann, der verliebt war, verliebt mit großen, dramatischen Gesten. Er hatte keine Vorstellung, wie komisch er wirkte. Doch selbst wenn er es geahnt hätte, wäre es ihm, glaube ich, egal gewesen.

»Du weißt es nach ganzen - wieviel waren es? - zehn Tagen?«

»Wenn man es weiß, dann weiß man es.«

Er war stolz. Er gehörte jetzt zu der kleinen Gruppe von Auserwählten, die es wußten, sah sich in der Gesellschaft von Majnu, Farhad192 und Romeo. Er war ganz ruhig. »Na gut«, sagte ich. »Laß mich darüber nachdenken. Wann und wo ist sie geboren?«

Mit strahlendem Lächeln zog er einen Zettel aus seiner Hemdtasche. »Hier, Bhai. Da stehen alle Daten drauf, ihre und meine.«

Ich nahm den Zettel entgegen und schickte Arvind fort. Als Anhänger Guru-jis hatte ich gewisse Kenntnisse in der Kunst der Astrologie erworben, auch wenn ich Guru-ji natürlich nicht im allerentferntesten das Wasser reichen konnte. Doch er selbst hatte mir einmal gesagt: »Du lernst schnell. Du hast ein Gespür für diese Kunst, ein Wissen, das bereits in dir ist. Durch mich entdeckst du es nur wieder.« Deshalb hätte ich auch so lange überlebt, während viele andere gestorben seien. Ich hätte ein Gefühl für die Zukunft, meinte er, ich könne durch die Spiralen der Zeit sehen und wisse deshalb, wann Gefahr im Anzug sei. Diese Eigenschaft versuchte ich mir nun dienstbar zu machen. Ich übte an den Jungs, sie vertrauten mir. Als ich nun Arvinds und Suhasinis Horoskope betrachtete, schien mir, daß die beiden zusammenpaßten, daß zwischen der Einwirkung der Sterne in ihrem und seinem Leben Parallelen bestanden und sie sich, wo nötig, bestens ergänzten. Die beiden waren, von ihren Begierden getrieben, durch die Welt getaumelt, und auf meiner Yacht hatten sie sich gefunden. Warum konnte oder sollte auf meinem Schiff, das immerhin Lucky Chance hieß, nicht ein perfektes Paar zusammenfinden? Ich hatte ein gutes Gefühl, was Arvind und Suhasini betraf, und eine Hochzeit wäre ein gutes Omen. Aber ich würde natürlich nicht zustimmen, ohne vorher Guru-jis Rat einzuholen. Bis auf Bunty wußte keiner der Jungs von Guru-ji, er hingegen wußte alles über sie. Die Jungs hier auf dem Schiff gehörten zum engeren Kreis, sie standen mir nah, also war es wichtig, daß sie von einem überlegenen Geist auf Herz und Nieren geprüft wurden. Diese kleine Vorsichtsmaßnahme konnte womöglich einmal mein Leben retten.

Normalerweise wartete ich um fünf Uhr nachmittags in meinem Büro auf Guru-jis Anruf, und wenn es sich einrichten ließ, rief er auch an. Ich hatte ein allein für ihn bestimmtes Satellitentelefon mit eingebautem Scrambler571. Auch er hatte auf seinen Reisen immer einen Scrambler dabei, so daß wir vollkommen abhörsicher miteinander sprechen konnten. All diese neue Sicherheitstechnologie einzusetzen, diese außerordentliche Vorsicht walten zu lassen, hatte ich von meinem fast kahlen Freund Mr. Kumar vom RAW gelernt. Er hatte mich mit einem abhörsicheren Telefon versorgt, und über meine eigenen Leute hatte ich zwei weitere organisiert, eins für Guru-ji und eins für Jojo. Ich genoß also dreifachen Schutz: in bezug auf meinen Patriotismus, meine Spiritualität und mein Sexleben. Auch die Lucky Chance war auf größtmögliche Sicherheit ausgerichtet. Meine treuen Freunde Gaston und Pascal hatten dieses Khatara für mich aufgetrieben, das vorher einem Ölscheich gehörte, einem degenerierten alten Knacker, den wir mit Scotch und jungen Burschen versorgt hatten und den es langweilte, über derart lächerliche Beträge zu streiten, so daß er uns das Schiff für den Spottpreis von sieben Crores überließ. Gaston und Pascal hatten es zu einer Werft in Cochin geschleppt und es mit Gewehrschränken, Sicherheitstüren und einem speziellen Nahbereichsradar aufgerüstet, alles unter der technischen Aufsicht des milde dreinblickenden Mr. Kumar. In Bombay hieß es, Gaitonde wolle eine Yacht, weil Chhota Madhav schon seit Jahren eine habe, aber das war völliger Unsinn. Ich wollte auf einem Schiff leben, weil ich mich dort sicher fühlte: Auf einem Schiff wußte ich, wer kam und wann er kam. Außerdem hatte mir Guru-ji gesagt, daß ich zu Wasser sicher sei, daß mein Schicksal auf den Wellen ruhe und dort seinen Lauf nehmen werde.

Abgesehen davon, hatte Chhota Madhav nur eine normale Neunzig-Fuß-Yacht, mit der er rund um Malaysia schipperte. Ich dagegen fuhr mit meiner waffenstarrenden Lucky Chance, wohin ich wollte, auch durch die Meerengen Indonesiens, wenn es erforderlich war, und wir hatten zweimal mit schwerem Maschinengewehrfeuer die Schnellboote von Piraten versenkt. Diese Idioten dachten, wir hätten sie in der Dunkelheit nicht kommen sehen. Mit der nötigen Technologie und Guru-ji im Hintergrund konnten mir auf dem Wasser nichts und niemand etwas anhaben.

Wie immer verbrachte ich die Zeit, während ich auf Guru-jis Anruf wartete, mit meinem Buchhalter. Er war ausgebildeter Wirtschaftsprüfer, mein guter Partha Mukherjee, ein Bengale, der in Bandra East aufgewachsen war. Er war bei mir zu Geld gekommen, hatte seinen Eltern und seiner Schwester eine Wohnung in Lokhandwalla besorgt und auch schon einen Mann für seine Schwester gefunden. Die Hochzeit sollte im November stattfinden, es war ein Fünf-Sterne-Empfang geplant. Ich bezahlte Partha Mukherjee gut, mit doppelten Prämien, das war er mir wert. Der Jahresumsatz meiner Company betrug damals dreihundert Crores, und allein dieses Geld im Blick zu behalten und von hier nach da zu leiten, es zu investieren und zu vermehren war eine Aufgabe für zwei. Natürlich hatten wir immer noch unsere altmodischen Einnahmequellen: etwa die Abgaben, die wir von Geschäftsleuten und Filmproduzenten forderten, oder die Vergütungen von braven Bürgern, die ihre als Altersruhesitz vorgesehene Wohnung von hartnäckigen Mietern befreit haben wollten, wir nahmen Geld über die Ein- und Ausfuhr verschiedener Substanzen und Materialien ein und über Buchmacher wie Kundenschlepper. Daneben tätigten wir auch völlig legale Geschäfte in Bombay und ganz Indien, investierten in Aktien und andere Wertpapiere, in Immobilien und Start-up-Unternehmen. All das managte Partha Mukherjee mit seinen Computern und seinen diversen Assistenten in diversen asiatischen Städten. Ich räumte ihm jeden Abend eine halbe Stunde ein, in der er mir einen aktuellen Bericht über das Woher und Wohin meines Geldes abstattete. Er zeigte mir Tabellen, malte Pfeile auf handgezeichnete Landkarten, um mir zu demonstrieren, welchen Weg das Geld nahm - von Kuala Lumpur über Bombay nach Bangkok. Ich begriff und lenkte diesen Geldfluß selbst. Der fette alte Paritosh Shah wäre stolz auf mich gewesen.

Wenn Guru-jis Anruf kam, warf ich Partha Mukherjee raus. Doch an diesem Tag war es nicht das für Gespräche mit Guru-ji bestimmte Handy, das klingelte, sondern eines der beiden anderen abhörsicheren Telefone. Mukherjee erhob sich unaufgefordert und sammelte seine Papiere zusammen. All meine Jungs wußten, daß sie mich allein lassen mußten, wenn das graue Telefon klingelte. Als die Tür mit jenem Sicherheit verheißenden, satten Geräusch, auf das ein metallisches Klicken folgte, ins Schloß gefallen war, tippte ich meinen Code ein, um den Scrambler zu aktivieren.

»Ganesh.« Es war Mr. Kumar, so diskret und sanft wie immer.

»Kumar-saab.«

»Die Information aus Bhavnagar war gut. Wir haben vier von ihnen erwischt.«

»Auch den Verbindungsmann? Alle tot?«

»Ja. Shabash, Ganesh.«

»Ich tue nur meine Pflicht, Sir.« Es würde weder für mich noch für Kumar öffentliches Lob geben. Vielleicht würde die örtliche Polizei melden, daß man eine Zelle von ISI-Agenten gesprengt und ein Waffenlager ausgehoben hatte. Doch für uns, die wir die ganze Aktion gedeichselt hatten, gab es nur dieses bescheidene Shabash unter Kollegen, über eine private Telefonleitung. So war das beim Geheimdienst. Mr. Kumar hatte es mir erklärt: Wenn wir unsere Arbeit gut machen, erfährt keiner davon. Wenn wir scheitern, erfahren es alle.

»Als nächstes knöpfen wir uns dann Maulana Mehmood Ghouse vor.«

»Ein dicker Fisch, Saab.« Mehmood Ghouse war ein pakistanischer Mullah, ein Prediger, der im Kaschmirtal sehr aktiv war. Er prahlte öffentlich damit, wie viele Kafirs er mit eigenen Händen umgebracht habe, und schon seit einer Weile strahlten sämtliche Fernsehsender immer wieder eine körnige Aufnahme von ihm aus, auf der er bei einem Jehadi-Gebetstreffen289 in Multan den verwesenden Kopf eines indischen Soldaten an den Haaren hochhielt.

»Ja, das ist er«, sagte Mr. Kumar. »Und er wird immer einflußreicher. Er kandidiert bei der nächsten Wahl. Ganz plötzlich ist er zum Politiker geworden und behauptet, der Mann in dem Multan-Video sei gar nicht er.«

»Wer soll denn das glauben?«

»Die britische Regierung. Die zeigt sich zutiefst beeindruckt davon, daß er früher Elektroingenieur war und Computer benutzt, daß er ein moderner Mullah ist. Sie haben ihm ein Visum gegeben.«

»Maderchod.«

»Er wird eine Woche dort sein. Er wird öffentlich sprechen und versuchen, sich mit englischen Politikern zu treffen.«

»Darauf wird sich keiner einlassen, Saab.«

»Mag sein, mag auch nicht sein. Jedenfalls tritt er an die Öffentlichkeit. Er glaubt, daß er mit säckeweise englischen Pfund, Scharen neuer Chelas115 und einem internationalen Profil zurückkehren wird. Also werden wir dafür sorgen, daß er in die internationalen Nachrichten gelangt. Postieren Sie ein paar Teams in London.«

»Wie sieht der Zeitplan aus?«

»Wir glauben, daß er in vier Wochen in London eintreffen wird.«

»Vier Wochen - kein Problem.« Wir hatten eine Basis in Cannes und verfolgten in Europa routinemäßig gewisse Geschäftsinteressen. Seit kurzem waren auch Slowenien und das Baltikum in unser Blickfeld gerückt. Wir lernten dazu und expandierten.

»Wir werden jegliche neuen Informationen unmittelbar an Sie weiterleiten.«

»Wir stehen bereit. Aber warum gerade jetzt, Saab?«

»Es ist als Botschaft gedacht. Diese Leute denken, sie könnten das Fernsehen als Plattform nutzen.«

»Und von wem soll die Botschaft kommen?«

»Vorläufig soll sie anonym sein. Aber warten wir mal ab, wie die Operation läuft. Vielleicht können auch Sie der Absender sein.«

»Selbstverständlich, Saab.«

»Auf Wiederhören, Ganesh.«

»Salaam, Saab.«

Er war immer sehr knapp und sachlich, der gute Mr. Kumar. Es wurde nur das Nötigste gesagt, kein Wort zuviel. Wir waren nicht befreundet, obwohl wir nun schon seit Monaten miteinander im Gespräch waren. Dieser Auftrag jedoch war ein Vertrauensbeweis, gegen ihn erschien alles, was ich bisher getan hatte, unbedeutend. Ich war froh darüber - nicht nur, weil ich nun, mit delikateren Aufgaben betraut, größere Gegenleistungen erwarten konnte, sondern auch, weil ich mich mit diesem Krieg wirklich identifizierte. Und jetzt kämpfte ich auf einer höheren Ebene. Chhota Madhavs Männer hatten vor ein paar Jahren einem nepalesischen Politiker, der als einer der Hauptunterstützer der Pakistanis in Nepal galt, einen Schlag versetzt, aber das war in Kathmandu gewesen. Ich hingegen sollte im Herzen von Europa agieren, im Vilayat, im schicken London. Und ich würde es erfolgreich durchziehen, trotz der Bataillone von Leibwächtern und Scotland Yard. Ich kümmerte mich unverzüglich um die Logistik.

Dazu bestellte ich Arjun Reddy ein, meinen Computer-vaala, der meine Befehle per verschlüsselter E-Mail verschickte. Wie jede Woche versicherte er mir auch heute, daß wir die fortschrittlichsten Verschlüsselungstechniken verwendeten und wöchentlich die Chiffre wechselten, und selbst wenn die CIA und die gesamte amerikanische Regierung eine Milliarde Dollar ausgäben und all ihre Computerfachleute auf eine unserer Mails ansetzten, werde es zweihundert Jahre dauern, unseren Code zu knacken. Trotzdem machten mich E-Mails immer nervös. Sooft mir Reddy auch versichern mochte, daß unser Schutz praktisch undurchdringlich war, ich wurde das Bild nicht los, wie meine Mails allein und verwundbar durch die Bäuche der Computer dieser Welt schwammen. Nichtsdestoweniger schrieb ich nun meinen Leuten in Cannes: »London mein fielding lagao. Do team bhedzjo. Sachin aur Saurav dono. Ready rehna, Instructions baad mein.«377 Die Operation sollte zwar erst in vier Wochen stattfinden, doch ich hatte aus Erfahrung gelernt, daß es sinnvoll war, meine Jungs möglichst früh am Einsatzort zu positionieren. Manchmal beschleunigten sich die Ereignisse unversehens, außerdem war es gut, wenn die Jungs ihren Jagdgrund schon frühzeitig erkunden konnten, sich an die Sprache, die Busverbindungen, die Nachbarn gewöhnten -und die Nachbarn sich ihrerseits an sie.

Als die E-Mails versendet waren, fuhr Reddy mit meiner Computereinweisung fort. Ich konnte inzwischen mit Windows umgehen und wußte im Prinzip auch, wie man ein Dokument öffnet oder ein neues anlegt. Doch manchmal fand ich das gesuchte Dokument nicht oder blieb in irgendeinem Fenster auf dem Bildschirm hängen und kam beim besten Willen nicht mehr weiter. Es war nicht nur die englische Sprache, die mich aus dem Konzept brachte, sondern überhaupt diese ganze Welt hinter meinem Bildschirm, ich begriff einfach nicht, wo der Boden und wo der Himmel war. Reddy zeichnete mir Diagramme auf, aber ich bekam diese Geographie nicht in den Griff. Das machte mich wahnsinnig, besonders wenn er mit seinen dreiundzwanzig-jährigen Fingern - tipptipptipp - durchs Internet sauste und sowohl das Gerät als auch das gesamte weltweite System dazu brachte, zu tun, was er wollte. Ich hatte ein paarmal mit Kaffeetassen und Tellern nach dem Computer geworfen, mich aber jedesmal wieder beruhigt und erneut an den Rechner gesetzt. Ich mußte diese kleinen Kisten verstehen lernen. Deshalb hatte ich Reddy eingestellt, und wenn nötig, würde ich noch hundert andere wie ihn einstellen.

An diesem Abend forderte ich Reddy auf, den Mund zu halten und kommentarlos zuzusehen, wie ich den Computer einschaltete, mein Paßwort eingab, eine Verbindung zum Netz herstellte und verschiedene Websites aufsuchte. Er war mucksmäuschenstill, bebte jedoch vor Ungeduld angesichts meines langsamen Klickens und mühseligen Tippens nach dem Einfingersystem. Ohne den Blick von www.myindianbeauties.com abzuwenden, sagte ich: »Okay, Chutiya. Du machst mich nervös. Raus.«

»Tut mir leid, Bhai.«

»Bleib in der Nähe. Wenn ich dich brauche, rufe ich.«

»Natürlich, Bhai.«

Er schlurfte davon. Er hatte große Ambitionen und versuchte mich schon seit einer Weile dazu zu bringen, mit ihm und seinem Bruder in eine Website zu investieren. Doch er hatte mir noch nicht gezeigt, wie er damit Geld verdienen wollte - ich für mein Teil hatte noch nie für eine indische Schönheit im Netz gezahlt. Trotzdem redete er immer wieder davon und kam jeden zweiten Tag mit einer neuen Idee an. Als die Tür klickend ins Schloß gefallen war, lehnte ich mich zurück und verriegelte sie. Dann begab ich mich auf Guru-jis Website: www.eternalsacredwisdom.com.

Guru-ji war beständig auf Reisen, durch die ganze Welt. Er hatte in hundertzweiundvierzig Ländern eigene Zentren, und in zwölf weiteren Ländern wurden gerade welche aufgebaut. Doch wo immer auf der Welt er sich gerade befand, was immer er gerade tat, auf seiner Website erschien alle drei Tage ein neuer Pravachan497. Man konnte seine Unterweisungen in hundert verschiedenen Sprachen lesen, darunter natürlich auch Marathi und Hindi. In letzter Zeit allerdings las ich Guru-jis Worte immer auf englisch. Es dauerte eine Weile und kostete mich beträchtliche Mühe, aber ich kam immer bis zum Ende. Ich hatte ein Fenster mit der Version in Marathi offen, um zur Not dort nachschauen zu können, im großen und ganzen hielt ich mich jedoch an die englische Version und absorbierte so nicht nur Weisheit, sondern auch Sprache. Guru-ji hatte mich für meinen Fleiß gelobt und mich im vergangenen Sommer sogar in einer seiner Unterweisungen über Zeitmanagement erwähnt, natürlich ohne meinen Namen zu nennen. »Ein erfolgreicher Mensch ist jemand, der nie aufhört zu lernen«, hatte er geschrieben. »Ich habe einen Bhakt, der außerordentlich erfolgreich ist, der weltweit Geld verdient und Respekt erntet. Doch trotz all seiner irdischen Errungenschaften ist er nicht arrogant. Er weiß, was er nicht weiß. Ein weiser Mann hat vor langer Zeit einmal gesagt: ›Zu erkennen, daß man nichts weiß, ist der Beginn aller Weisheit.‹« Und dann hatte er ausgeführt, daß ich, ebenjener Bhakt, seine Texte in einer Sprache las, die ich noch nicht beherrschte.

Heute ließ sich Guru-ji über Sex aus. Er hatte keine Angst vor kontroversen Themen und scheute sich nicht, über Dinge zu sprechen, die womöglich Anstoß erregten. Er war furchtlos. »Das Zölibat wird in allen geistlichen Traditionen als Ideal hochgehalten.« Ich mußte den Begriff Zölibat in meinem Englisch-Marathi-Wörterbuch nachschlagen. »Aber es ist ein Fehler, das Zölibat anzustreben, wenn man nicht bereit dafür ist. Wenn man bereit ist, wird es sich von selbst einstellen. Ein Zölibat, das man sich aufzwingt, wird zu einer Form von Sinnlichkeit erblühen. Der Kampf mit dem eigenen Körper wird zur Passion. Und die fleischliche Begierde wird sich in jedem Fall Ausdruck verschaffen, sie läßt sich nicht eindämmen, sie läßt sich nicht verhindern, sie läßt sich nicht abtöten. Selbst das Bild, das man sich vom Zölibat macht, wird schön sein wie die Rundungen einer Frau, und die Hymnen, die man auf das Zölibat singt, werden sein wie der Kuß einer Liebenden.«

Ich brauchte eine Viertelstunde für diese sieben Sätze, und zwar nicht nur, weil ich sie auf englisch las. Ich hielt zwischendurch inne, um über sie nachzudenken, sie wirken zu lassen, Guru-ji zu bewundern. Seine Sprache war so schlicht, so direkt, so kraftvoll, und zugleich gingen seine Worte so tief. Ich spürte sie im Herzen, spürte sie im Bauch. Was für ein endloses Tauziehen wir doch mit der Begierde veranstalten, dachte ich. Was für ein Ziehen und Zerren, was für ein Hin und Her. Welche Qualen und welche Ekstase in der Qual!

Ja, auch für mich war es merkwürdig, daß ich, Ganesh Gaitonde, der ich einst schon bei der Erwähnung des Göttlichen Verachtung verspürt und all das Gerede vom Trost der Religion als Schwäche betrachtet hatte, nun treuer Anhänger eines Gurus war. Wie hatte das geschehen können?

Es war dazu gekommen, weil Guru-ji und ich irgendwann begonnen hatten, uns ernsthaft zu unterhalten. Nach unserem ersten Gespräch, als ich ihn genötigt hatte, mich im Gefängnis anzurufen, hatte ich nicht damit gerechnet, je wieder von ihm zu hören. Schließlich mußte er sein Image schützen, seine weltweite Mission. Doch zehn Tage nach meiner Entlassung und meiner Ausreise aus Indien meldete er sich. Er hatte seine Leute gebeten, über Bunty meine Nummer in Erfahrung zu bringen, und plötzlich hatte ich ihn an der Strippe, Shridhar Shukla höchstpersönlich, mit seiner volltönenden Stimme und seiner exquisit akzentuierten Sprache. Millionen rissen sich um diesen Mann, und trotzdem nahm er sich die Zeit, sich nach meinem Wohlbefinden zu erkundigen. Ich war zynisch, wartete darauf, daß er mich um etwas bat, wie es noch jeder, der bei mir anrief, getan hatte. Doch er hatte nichts zu regeln, wollte weder Geld noch Rache, er wollte einfach nur mit mir reden.

»Soso, Sie wollen mit mir reden«, sagte ich. »Und worüber?«

Er hörte zweifellos den Hohn in meiner Stimme, antwortete jedoch ganz ruhig: »Was immer dich gerade beschäftigt.«

»Na gut. Ich habe eine Frage.«

»Bitte.«

»Ich glaube nicht, daß Sie ein echter Guru sind.«

Er lachte. »Das ist keine Frage. Aber es ist völlig in Ordnung. Was meine Person betrifft, mußt du überhaupt nichts glauben.«

Dann schwieg er. Es machte mich wütend, daß er sich nicht provozieren ließ. Ich wartete ab, war kurz davor, das Gespräch abzubrechen, doch schließlich redete ich weiter, denn ich war tatsächlich neugierig. »Sie können kein echter Guru sein, weil ich in Ihrem Auftrag diese Arbeit tue.« Ich meinte natürlich die vielen Waffen, die ich für ihn ins Land schmuggelte. »Menschen, die in ihrer spirituellen Entwicklung weit fortgeschritten sind, sind friedlich. Sie sind gegen Gewalt.«

»Wer hat dir denn das erzählt?«

»Das weiß doch jeder.«

»Du glaubst also, daß du selbst in deiner spirituellen Entwicklung noch nicht sehr weit gediehen bist?«

Ich errötete und richtete mich auf. »Wir reden gerade über Sie.«

»Gut, Ganesh, gut. Es hat mich einfach nur interessiert, woher du diese Vorstellung von spiritueller Entwicklung hast. Man hört das heutzutage überall, jeder wiederholt es, aber niemand kann erklären, warum er das glaubt.«

»Es ist doch offensichtlich, oder?«

»Nein.«

Wieder schwieg er. Dieser Mistkerl. »Hören Sie«, fauchte ich. »Lassen Sie diese Spielchen, und sagen Sie es mir einfach. Ich formuliere es Ihnen gern als Frage: Wie können Sie ein echter Guru sein und zugleich tun, was Sie tun?«

»Weißt du denn, was ich tue?«

»Teilweise schon. Ich weiß es, soweit ich selbst daran beteiligt bin, und dieser Teil ist alles andere als friedlich.«

»Ja, du weißt über deinen Teil Bescheid. Du weißt das wenige, was du sehen kannst. Und du hast gelernt, daß ein Mahatma friedlich sein muß. Aber siehst du den Gesamtzusammenhang?«

»Ich kenne natürlich Ihren Plan nicht.«

»Denk an einen noch größeren Zusammenhang. Denk an das Leben. Meinst du denn, im Leben gäbe es keine Gewalt? Das Leben speist sich aus dem Leben, Ganesh. Und der Ursprung des Lebens ist pure Gewalt. Weißt du, wo unsere Energie herkommt? Von der Sonne, wirst du sagen. Alles hängt von der Sonne ab. Wir leben wegen der Sonne. Aber die Sonne ist kein friedlicher Ort. Sie ist ein Ort unglaublicher Gewalt. Sie ist eine einzige Explosion, eine Kette von Explosionen. Wenn diese Gewalt endet, geht die Sonne zugrunde, und damit auch wir.«

»Das ist etwas anderes. Es ist nicht vergleichbar mit dem Mord an einem Menschen. Oder gar an vielen.«

»Alle Menschen müssen sterben.«

»Aber nicht, weil ihnen jemand Ihre Kugeln in den Kopf jagt.«

»Man schafft also Frieden, indem man nicht tötet?«

Ich wußte, daß das nicht stimmte. Ich wollte ihm widersprechen, aber ich wußte, daß Gewaltlosigkeit nie Frieden brachte. Wenn etwas auf der Hand lag, dann das. Er frustrierte mich, dieser Mistkerl von einem Guru. »Das ist etwas anderes«, sagte ich wieder. »Wir leben im Kaliyug, wir sind zum Kämpfen verdammt. Aber Sie gelten doch als heiliger Mann, Sie sollten uns ermahnen, nicht zu kämpfen.«

»Warum, Ganesh? Warum? Du bist sehr intelligent, aber selbst du bist in diese Falle gegangen. Selbst du. Allerdings ist das nicht deine Schuld, diese Propaganda ist derzeit weit verbreitet und auf der ganzen Welt populär. Aber halte dir unsere Geschichte vor Augen, Ganesh. Haben heilige Männer nicht auch früher schon gekämpft? Haben sie nicht Krieger in den Kampf geschickt? Bedeutet eine fortgeschrittene spirituelle Entwicklung etwa, daß man nicht zu den Waffen greifen sollte, wenn man mit dem Bösen konfrontiert ist?«

Und dann erinnerte er mich an Parshurama, den großen Weisen, der zu seiner Axt gegriffen hatte, um die Erde zu läutern. Und an Rama, den vollkommensten aller Menschen, der allen Widerständen zum Trotz zum Bogen gegriffen und gekämpft hatte. »Und was ist mit dem Rat, den Krishna auf dem Schlachtfeld Arjuna gab?« fragte mich dieser seltsame Guru. »Arjuna wollte friedlich sein. Er wollte sich von der Welt abwenden. Hätte er das tun sollen? Hätte Krishna ihn gehen lassen sollen?«

Ich mußte ihm recht geben: Es war offensichtlich, daß Krishna das Richtige getan hatte. Das sagte ich Guru-ji auch, woraufhin er mir von dem großen Shankaracharya und dessen Sieg über Krakacas Kapalika-Armee313 erzählte. Und von dem Sannyasi-Aufstand, bei dem Sadhus und Fakire gegen die Ostindische Kompanie gekämpft hatten. »Wir müssen diesem sogenannten Frieden, der die Spiritualität nur schwächt und verwässert, widerstehen, Ganesh«, sagte er. »Wir müssen den Gesamtzusammenhang betrachten. Wir müssen erkennen, wann es nötig ist, zu kämpfen, um Frieden zu schaffen. Wir müssen stark in unserem Glauben sein. Unsere gesamte, Tausende von Jahren zurückreichende Geschichte liefert uns Beispiele dafür. Und wenn ich ein heiliger Mann bin, Ganesh, dann bist du auch einer.«

»Ich?«

»Ja, du.«

Ich war zu benommen und erschöpft von diesem Gespräch, um zu erwidern, daß ich an Religion und Spiritualität nicht glaubte. Ich legte auf und versuchte zu arbeiten, doch dieses Rätsel verfolgte mich den ganzen Tag: ich, ein heiliger Mann, ich, ein Mahatma. In dieser Nacht träumte ich von den großen Versammlungen der Naga Sadhus, die während der Kumbh Mela351 nach Nashik kamen, von ihren mit Asche bedeckten, nackten Körpern, ihren verfilzten, langen braunen Haaren, die sich über ihre Schultern bis zu ihren Dreizacken und Schwertern hinunterringelten. Ich träumte von dem gewaltigen Gebrüll, das sich erhob, wenn die unzähligen Naga Sadhus zu ihrem Bad an die heiligen Wasser eilten, und von dem wilden Glitzern in ihren Augen. Ich sah einen kleinen Mann, einen friedlichen Mann, inmitten dieser guten und großen Sadhus, und empfand bittere Verachtung für ihn. Als ich aufwachte, raste mein Herz. Ich wandte meine Gedanken von Nashik ab, doch die Frage verfolgte mich die ganze Nacht: Was bedeutet es, heilig zu sein? Wer ist tugendhaft?

Als Guru-ji das nächste Mal anrief, sprachen wir über Gott. Ich sagte ihm, daß ich an so etwas nicht glaubte, die Religion sei ein Instrument, mit dem Politiker ihre Wähler geißelten und in Herden zum Schlachthof trieben. Ich sagte, der Glaube sei etwas für Männer, die nicht an sich selbst glaubten. Er widersprach mir nicht. Er hörte mir ruhig zu und sagte: »Das sind vernünftige Argumente. Es ist logisch gedacht.«

Damit nahm er mir völlig den Wind aus den Segeln. Ich hatte erwartet, daß er mit mir streiten, mich scharf zurechtweisen, mich womöglich einen sündigen Menschen schimpfen würde. Doch er tat nichts dergleichen, er respektierte meine Meinung. Er hörte mir ruhig zu und sagte: »Aber Ganesh, was ist mit all den Symmetrien auf der Welt?«

Ich hatte keine Ahnung, was er meinte. Er erklärte es mir: Für jedes Feuer gab es Wasser, für jedes Raubtier eine Beute, für jede Liebe Haß. Er sprach von Elektronen und ihrer Ladung, von seltsamen Anziehungen und Abstoßungen. Zwischenzeitlich vernahm ich seine Worte nur als sonores Psalmodieren, trotzdem verstand ich sie unmittelbar und tief in meinem Innern. Ja, zu jedem Ganesh Gaitonde gab es einen Suleiman Isa, zu jedem Sieg einen Verlust.

»Ja«, sagte ich also, »das verstehe ich. Alles existiert paarweise, in zweifacher oder noch häufigerer Wiederholung. Alles kollidiert, driftet auseinander und bewegt sich in großem Bogen wieder aufeinander zu.«

»So ist es, Ganesh, so ist es«, bestätigte er mit freudig dröhnender Stimme, »siehst du, du hast es bereits verstanden. Ich hätte es dir gar nicht erklären müssen. Du weißt es schon. Du bist schon auf dem Weg.«

»Auf dem Weg zu Ihrem Gott? Nein, das glaube ich nicht.«

»Du darfst nicht denken, daß ich mich für Vishnu oder irgendeinen anderen Schöpfergott stark mache, Ganesh. So schlicht bin ich nicht gestrickt, das weißt du. Hör mich an: Erhebe dich durch diese Symmetrien noch höher. Erkennst du die Muster, die der Welt, dem Universum zugrunde liegen? Die Wellen unter dir, unter deinem Schiff, mögen chaotisch erscheinen, aber sind sie es? Nein, höchstens in einem unwesentlichen Sinne. Es gibt eine Ordnung, die sich uns manchmal zeigt und manchmal entzieht. Doch sie ist da. Eine grundlegende Ordnung jenseits des Hier und Jetzt. Geh an Land, Ganesh, und betrachte eine Wiese. Schau dir an, wie die Sonne dem Gras Kraft gibt und die Erde es nährt. Sieh, daß das Gras andere Geschöpfe beherbergt und sie ihrerseits nährt. Erkennst du, daß das alles zusammenpaßt? Und erkennst du schließlich und endlich die Schönheit in alledem?«

Mir barst schier der Kopf. Ich glaubte in vagen Umrissen zu begreifen, was er meinte, doch mit jedem Atemzug entglitt es mir wieder. Er wußte das. Er sagte, ich solle mir keine Sorgen machen, sondern bis zur folgenden Woche einfach die Augen offenhalten. »Geh mit allem ganz normal um. Doch versuche gleichzeitig, darüber hinauszublicken. Und nächste Woche erzählst du mir dann, was du gesehen hast, ob es nur Beliebigkeit war oder Form. Chaos oder Ordnung.«

Schon fünf Minuten nach unserem Telefonat lachte ich mich selbst aus. Du Schwächling, dachte ich, hörst auf das Gebrabbel eines alten Mannes. Doch er hatte ein Samenkorn in mich gepflanzt. Wider Willen begann ich nach Verbindungen und Spiegelungen Ausschau zu halten. Und ich fand sie. Ich dachte darüber nach, auf welche Weise Männer und Frauen einander brauchten und daß es mit der Menschheit immer weiterging, trotz all der Streitereien und gebrochenen Herzen. Das war offensichtlich, ja banal, wenn man mal einen Schritt zurücktrat. Dann aber dachte ich an Empfängnis und Geburt, an das winzige Würmchen, das sich zappelnd zu dem gigantischen Ei vorarbeitet, an die Vermischung der jeweiligen geschmuggelten Informationen - das alles, um ein neues Geschöpf hervorzubringen, das eines Tages selbst seine Emissäre losschicken würde. Ganz alltäglich und zugleich so kompliziert und erstaunlich. Ich kam mir albern vor, weil es mich mit solchem Staunen erfüllte, die profane Oberfläche wahrzunehmen, hinter der sich die kompliziertesten Universen verbargen. Doch ich sagte nichts und schaute weiter, so wie er es mir aufgetragen hatte. Gegen Ende der Woche verlagerte sich meine Aufmerksamkeit von einzelnen Dingen auf Entwicklungen. Ich hatte Fernsehsendungen über die Dinosaurier und ihr Aussterben gesehen, über den Aufstieg der Säugetiere (meine Jungs hatten gestöhnt und um einen zweiten Fernseher gebettelt, damit sie zu ihren tänzelnden Heldinnen zurückkehren konnten), hatte mir angeschaut, wie vor langer Zeit behaarte Affen in der afrikanischen Savanne ihre ersten Tiere erlegten. Dies war die große Kurve des Lebens auf unserem Planeten, die bis zu den Menschen reichte, bis zu mir. Sie hatte eine Richtung und eine eigene Geschwindigkeit, strebte nach oben und würde es weiter tun, zum Mond und dann zu den Sternen. Doch was war mit meinem eigenen Leben? Besaß es eine Form? Lag Schönheit in seinem Fortschreiten, erkannte man sie, wenn man nur weit genug zurücktrat? Ich dachte darüber nach, war voller Sorge. Konnte es wirklich sein, daß ich von den Wogen der Ereignisse planlos herumgeworfen wurde? Daß ein Tag auf den anderen folgte, nur weil es eben so war, ohne Grund? Ich konnte das nicht akzeptieren. Dieses wirre, wabernde Chaos bereitete mir körperliche Schmerzen, ein krampfartiges Ziehen im Magen, Kopfweh, und auch meine Hämorrhoiden meldeten sich wieder, so daß ich schwindlig und zitternd auf der Toilette saß. Mein Körper wehrte sich gegen die Behauptung, mein Leben habe keinen Sinn. Doch, mein Leben hatte Form. Ich hatte allein und arm begonnen, ich hatte gekämpft, ich hatte gewonnen, ich war aufgestiegen, ich hatte eine Heimat gefunden und viele Menschen, die mich liebten. Und selbst jetzt lernte ich noch, ich entwickelte mich fort, ich hatte eine Mission für mein Land, ich hatte einen Lehrer, ich bewegte mich. Ich hatte eine Geschichte.

Das alles sagte ich Guru-ji, als wir uns das nächste Mal unterhielten, und er lobte mich. »Du hast einen unfehlbaren Instinkt, Ganesh. Das Atman034 kennt das Wesen des Universums, es versteht dessen komplexe innere Verbindungen, von den kleinsten bis hin zu den größten. Das Atman versteht sie, weil es das Universum ist. Doch unser Verstand funkt dazwischen. Diese unvollständige Struktur, die wir als wissenschaftliche Logik bezeichnen, verstellt uns die Sicht und sorgt paradoxerweise dafür, daß wir unwissend bleiben. Denn wie könnte man sonst dieses immense Netz von Verbindungen sehen und nicht glauben, daß es einen Urheber hat?«

»Sie meinen Gott, Guru-ji?«

»Ich meine das Bewußtsein.«

So hatten wir angefangen. Er hatte mir auf meinen Weg zum Wissen geholfen - nein, er hatte mich aufgehoben und auf den Berg der Weisheit getragen. Er trug mein Gewicht ohne Mühe, und während unseres Aufstiegs offenbarte er mir die ungeborenen Wahrheiten, die ewigen Tatsachen. Er wies mich auf die Zyklen der Geschichte hin und, darüber hinausgehend, auf die Rhythmen der Evolution, auf die Sterne, die geboren werden und ihrer unvermeidlichen Auflösung entgegenstreben, auf das Universum, das expandiert und irgendwann in sich zusammenstürzt, nur um aufs neue zu explodieren.

Und dann, Monate nach Beginn unserer Gespräche, demonstrierte er die besondere Fähigkeit, die all diese Einblicke ihm verliehen hatten: Er sagte mir meine Zukunft voraus. Auf seiner Website konnte man die Erfahrungsberichte Hunderter von Menschen lesen, denen zufolge er das konnte, es für sie getan hatte. Ich hatte einige dieser Berichte studiert und mich über das dringende Bedürfnis der Menschen nach Trost und Beruhigung gewundert. Die Berichte waren ziemlich detailliert, mitsamt Namen und den genaueren Umständen: Da war etwa ein Arzt aus Siliguri, dessen Tochter an Leukoderma litt und immer noch unverheiratet war. Ihm hatte Guru-ji gesagt, er solle sich keine Sorgen machen, im letzten Jahresviertel werde sich eine Lösung für dieses Problem finden - und tatsächlich war im Winter ein deutscher Ingenieur, der zur Mitarbeit an einem landwirtschaftlichen Projekt nach Indien gekommen war, von der Anmut und weißen Schönheit des Mädchens völlig bezaubert gewesen und hatte sie nach Düsseldorf ins Glück mitgenommen. So ging es auf der Website Seite um Seite, doch Guru-ji hatte keineswegs nur Glück prophezeit, er sprach auch offen von schlechten Zeiten, von Unfällen im oder am Wasser, von Scheidungen und geschäftlichen Umschwüngen. Ich kam zu dem Schluß, daß es sich bei all diesen Geschichten nur um die Obsessionen kleiner Leute handelte, die weder die materiellen noch die mentalen Ressourcen besaßen, um im Kampf mit dem Leben zu triumphieren. Doch dann sagte Guru-ji eines Abends zu mir: »Hüte dich vor den Thais.«

»Was?«

»Ich sehe, daß du in den kommenden Tagen versuchen wirst, ein Geschäft mit einigen Thais abzuwickeln. Sei vorsichtig. Trau ihnen nicht. Sie wollen dir übel.«

Es stimmte, daß wir im Begriff waren, einen Deal mit ein paar Typen aus der Provinz Krabi unter Dach und Fach zu bringen, wir hatten vier Millionen Methamphetamin-Tabletten für sie ins Land geschmuggelt, aber Guru-ji hätte das auch auf Verdacht gesagt haben können. Wir machten immer mal wieder Geschäfte mit Thais, das verriet keinen besonderen Einblick. Ich nahm ihn also nicht sonderlich ernst, bedankte mich trotzdem höflich und vergaß das Ganze bis zum Morgen der Übergabe, an dem ich, von der Erinnerung an Guru-jis Vorhersage in ein gewisses Unbehagen versetzt, meine Jungs, die schon unterwegs waren, anrief und ihnen sagte, sie sollten vorsichtig sein und einen Scharfschützen in Reserve halten. Und die Thais, diese Idioten, probierten es tatsächlich mit dem abgedroschensten plumpen Raubversuch, den wir seit fünfzehn Jahren erlebt hatten. Sie hatten ein paar zusätzliche Männer in einem Haus am Strand versteckt und dachten, das reiche, um unsere Einheit zu überwältigen. Wir machten sie natürlich nieder, unser Reservescharfschütze erwischte ihre Männer, als diese wie auf ein Stichwort aus dem Haus getappt kamen, und damit war die Sache erledigt.

Die Frage nach Guru-jis Vorhersage hing jedoch ungeklärt in der Luft, sie schwebte über meinem Kopf wie eine im Fall aufgehaltene Bombe. Ich traute mich nicht, sie anzunehmen, die Bombe einschlagen und mein Denken in den Grundfesten erschüttern zu lassen. Die Sache mit den langen Zyklen der Schöpfung und Zerstörung war ja schön und gut, aber - maderchod! - wie konnte ein Mensch in die Zukunft blicken? Das war ausgeschlossen. Die Zeit floß in einer Richtung, vom Vorher zum Nachher, und es war physikalisch unmöglich, sich in das, was erst noch bevorstand, hineinzukatapultieren.

Guru-ji hörte mir ruhig zu und sagte: »Du meinst also zu wissen, was die Zeit ist?«

»Was gibt es da zu wissen, Guru-ji? Die Zeit ist die Zeit. Sie geht von hier nach dort, und wir leben in ihr. Der Weg ist markiert, man kann keine Kehrtwende machen.«

»Aber weißt du auch, Ganesh, daß die Wissenschaftler Teilchen entdeckt haben, die sich rückwärts durch die Zeit bewegen? Und weißt du, daß die Zeit nicht konstant ist, sondern sich krümmt und ausdehnt und wieder zusammenzieht? Wenn ein Jet schnell über dich hinwegfliegt, altert der Pilot nicht ganz so schnell wie du. Für ihn vergeht die Zeit im Vergleich zu deiner Zeit langsamer.«

»Nein. Das kann nicht sein.«

»Aber es ist so. Den Wissenschaftlern ist das schon seit über hundert Jahren bekannt. Sie geben zu, daß ein Lichtteilchen, das vor Milliarden von Jahren beim Urknall entstanden ist, seit damals um keine Sekunde gealtert ist. Das heißt, Ganesh, wenn du dich mit Lichtgeschwindigkeit fortbewegen könntest, würdest du immer jung bleiben.«

Ich verstand kein Wort. Ich verstand weder die Artikel, die er mir mailte, noch die Videos, die er mich anschauen hieß, all dieses Zeug über Einstein, die Relativität, schwarze Löcher und das in sich gekrümmte Universum - ich starrte darauf und sah überhaupt nichts mehr, wie ein kleines Kind, das in die Sonne schaut. Doch er überzeugte mich davon, daß die Welt, die ich zu kennen glaubte, nur eine seichte Illusion und das, was man sah und fühlte, nur ein Traum war, zwar nicht irrelevant, aber auch nicht wesentlich. Und ebenso überzeugte er mich davon, daß manche Menschen, Männer und Frauen und manchmal sogar Kinder, durch die Spirale der Zeit hindurchsehen konnten. »Es ist eine angeborene Fähigkeit«, sagte er. »Horoskope, Handlesen, das alles sind Hilfsmittel, um diese Fähigkeit zu realisieren, sie in Gang zu setzen und zu energetisieren. Wer diese Fähigkeit besitzt und sie trainiert, sie übt, sie stark und geschmeidig macht, kann die Erzählung des Universums lesen und manchmal auch erkennen, wie sie weitergeht, einen Blick auf den weiteren Handlungsablauf erhaschen, denn die Zukunft besteht bereits. Einem wahren Meister bleibt nichts verborgen. Ich selbst besitze eine bescheidene Gabe. Und wenn es dir Unbehagen bereitet, auf einen Jyiotishi302 zu hören, wenn du das Gefühl hast, in die Klauen eines bösartigen Scharlatans geraten zu sein, dann betrachte mich einfach als einen Freund, der dir hin und wieder mit den besten Absichten einen Rat gibt. Nimm mich nicht zu ernst. Manchmal irre ich mich vielleicht auch, interpretiere meine sporadisch auftauchenden Bilder und Intuitionen falsch. Nimm es für das, was es ist, Ganesh. Vielleicht nützt dir die jeweilige Information etwas. Aber traue ihr nicht, ohne sie noch einmal zu überprüfen, behandele sie wie jede andere Information.«

Das waren seine Worte. Und dann begann er, mir Fragmente künftiger Geschehnisse zukommen zu lassen. Er tat es nicht jeden Tag, und nicht immer hatte er entscheidende, lebensrettende Informationen für mich. Er sagte voraus, an welchem Tag eine verzögerte Lieferung aus Rotterdam eintreffen werde, und genau dann kam sie. Oder er sagte, einer meiner Jungs werde Ende Juli gesundheitliche Probleme bekommen, und natürlich mußte sich einer von ihnen, dieses Ferkel, einen derartigen Fußpilz heranziehen, daß er schließlich nicht mehr laufen konnte. Guru-ji ging auch fehl: Zweimal sagte er etwas voraus, das nicht eintraf. Aber die anderen zweiundfünfzigmal trafen seine Prophezeiungen ein. Ja, ich zählte mit, ich notierte mir alles. Die Zahlen bewiesen mir, daß das, was er tat, kein Hokuspokus war, daß er mich nicht angelogen hatte. Er besaß eine Gabe. Man mag das glauben oder nicht, aber ich hatte lang genug Widerstand geleistet. Jetzt glaubte ich.

Das Guru-ji-Handy klingelte. Ich wischte die Hände an meiner Hose ab und griff nach dem Telefon. Ich tippte meinen achtzehnstelligen Verschlüsselungscode ein, und dann sprach er zu mir.

»Ich habe an dich gedacht, als ich den heutigen Prava-chan geschrieben habe, Ganesh.«

»Pranaam494, Guru-ji. Ich habe ihn eben gelesen.«

»Ich weiß.«

So etwas kam öfter vor. Er wußte, was man gerade getan hatte, was man dachte, was man wollte, sich aber nicht einmal selbst eingestand. Mein früherer felsenfester Unglaube war von dem Blitz und Donner seiner Einblicke zerschmettert worden. Er kannte einen besser, als man sich selbst kannte, er blickte einem ins Leben, kannte dessen Zukunft und Vergangenheit, und dabei urteilte er nie. Das war das erstaunlichste an Guru-ji: Er war ein ausgesprochen sattvischer567 Mann, begehrte die niederen Dinge des Lebens noch weniger als der Buddha selbst, doch er schaute nie auf diejenigen von uns herab, die noch im Netz der Begierden zappelten. Ich hatte ihn einmal gefragt, ob er sich nicht an meiner Dhanda stieß, an den diversen Geschäften, denen ich nachging, um mir mein Brot zu verdienen. Ich wollte wissen, warum er nicht versuchte, mich von denjenigen Aktivitäten abzubringen, die gemeinhin als kriminell bezeichnet wurden. »Ein Tiger ist als Tiger formidabel«, antwortete er, »aber ein Tiger, der versucht, zu einem vegetarischen Schaf zu werden, ist jämmerlich und abscheulich.« Im Kaliyug gebe es keine einfachen Handlungen, hatte er hinzugefügt, und ein eindeutiger Weg zur Erlösung habe nie existiert.

»Soso, Guru-ji«, sagte ich jetzt grinsend, »Sie haben an mich gedacht. Und was meinen Sie? Bin ich bereit für das Zölibat?«

Er lachte sein übliches herrliches Lachen, gurgelnd und entspannt wie das eines Babys im Arm seiner Mutter. »Beta, du bist ein Krieger. Du bist mein Arjun. Du brauchst nicht nur deine Draupadi181 , sondern auch alles, was dir die Erde auf deinen Wanderungen sonst noch schenkt. Deine Natur zu unterdrücken wäre ein Verbrechen und würde nur dazu führen, daß du zu der Arbeit, die du tun mußt, nicht mehr fähig bist.«

All das sagte er mir nicht zum ersten Mal, doch ich hörte ihm immer wieder gerne zu. Seine Stimme hatte etwas Kompaktes, Goldenes, sie erzeugte ein wohliges Gefühl in meiner Brust. Ich wurde ruhig, wenn ich ihm zuhörte, deshalb stellte ich ihm manchmal Fragen, nur um ihn reden zu hören. Heute allerdings hatte ich eine echte Frage.

»Haben Sie sich die Unterlagen angeschaut, Guru-ji?« Ich meinte Horoskop und Lebenslauf der einen Meter achtzig großen Jamila; beides hatte ich ihm nach Dänemark gefaxt. Er hatte natürlich kein Problem damit, daß sie Muslimin war, wollte jedoch einen Blick auf ihre Sterne und ihre Zukunft werfen.

Ich spürte, daß er lächelte. »Du bist ungeduldig, Ganesh.«

»Nein, nein, Guru-ji. Ich weiß, wie beschäftigt Sie sind. Es besteht keine Eile.«

»Ich verstehe dich, Ganesh. Es ist schon eine Weile her. Zu lange.«

Es war wirklich eine Weile her, daß ich eine Frau gehabt hatte. Von den gewöhnlichen Mädchen, die ich für die Jungs kommen ließ, nahm ich natürlich keines. Für mich schickte Jojo besondere Mädchen, und die ließ ich mir alle erst von Guru-ji absegnen. Aber so schwach war ich nicht, daß ich ihm gegenüber ungeduldig geworden wäre. »Nichts dergleichen, Guru-ji. Diese ist einfach interessanter als die anderen, das ist alles.«

»Da stimme ich dir zu, Ganesh. Ihre Sterne, Zeichen und Linien sind wirklich sehr interessant. Diese Frau wird es weit bringen. Sie ist intelligent, vor allem aber hat sie Glück. Jedesmal wenn sie etwas braucht, wird jemand in ihr Leben treten, der es ihr geben kann. Ihr Weg wird ihr geebnet werden.«

»Aber bringt sie mir Glück?«

»Da bin ich mir noch nicht ganz sicher. Ich habe eure Horoskope verglichen, und zum größten Teil passen sie zusammen. Aber ich kann noch kein klares Bild sehen. Irgend etwas muß da erst noch geschehen.«

»Keine Eile, Guru-ji«, sagte ich. »Kein Problem.«

Premierminister und CEOs standen Schlange, um seinen Rat einzuholen, doch er nahm sich Zeit für mich. Er dachte über mich nach, ich war ihm wichtig. Manchmal, wenn mir das bewußt wurde, hatte ich einen richtigen Kloß im Hals, so auch jetzt. Er hörte meine gefühlsgeladene Stimme und fragte sanft: »Und, was gibt's Neues?« Er meinte das fortlaufende Drama meiner Jungs und ihres Lebens. Er hörte gern von ihnen, von ihren Vergnügungen und Leidenschaften, ja selbst von den Problemen ihrer Mütter und Schwestern oder dem Prozeß, den ein Onkel gegen seinen Bruder angestrengt hatte. Er war ein Meister, doch er interessierte sich für diese Dinge in ihrer ganzen Gewöhnlichkeit. Ich erzählte ihm regelmäßig von den Jungs, und er lauschte voller Hingabe und steuerte Kommentare und Vorschläge bei. »Guru-ji, heute habe ich eine unterhaltsame Episode zu bieten. Mein lahmer Esel Arvind hat erkannt, daß er eine der Randis liebt. Er will sie heiraten.«

»Tatsächlich? Und was hältst du davon?«

»Ich habe mir ihre Horoskope angeschaut. Ich sehe keine größeren Probleme.«

»Nenn mir die Details.«

Ich las ihm die Daten, Uhrzeiten und Orte vor, und als ich damit fertig war, hatte er bereits beträchtlichen Einblick gewonnen.

»Dieses Mädchen ist sehr dynamisch«, sagte er. »Arvind besitzt Kraft und Intelligenz, aber er ist ziemlich passiv. Eine sehr tamasische616 Persönlichkeit. Das Mädchen bringt ihn in Bewegung. Du hast recht, es gibt keine größeren Probleme. Aber sie werden nur Töchter bekommen. Und ihm wird seine Leber zu schaffen machen. Ansonsten passen die Horoskope gut zusammen. Laß sie heiraten, Ganesh. Die anderen Jungs mögen sich darüber lustig machen, aber wir als Führer müssen nach vorne blicken. Sie hat die Schulden von ihren früheren Geburten beglichen, es ist an der Zeit, daß sie aus diesem Dasein des Sich-verkaufen-Müssens erhoben wird. Das ganze Leben ist eine Vorwärtsbewegung, vom Niedrigen zum Hohen, es ist unsere Pflicht, dieser Entwicklung nachzuhelfen. Eine Hochzeit ist immer ein gutes Omen, und diese Ehe wird glücklich werden.«

Sobald er das gesagt hatte, war es eine offensichtliche, strahlende Wahrheit. Und gegenüber den Jungs verfolgte ich dann genau diese Linie. Noch am selben Abend, nach dem Telefonat mit Guru-ji, rief ich Arvind und Suhasini zu mir, erteilte ihnen meine Erlaubnis und redete mit ihnen. Ich sagte, daß sie sich auf eine große Reise begäben und ganz besonders stark und diskret sein müßten, weil viel über sie geklatscht werden würde. Ich versuchte vor allem, ihr zu vermitteln, was sie ihrem künftigen Mann schuldig sei, was für eine großartige Sache er da für sie tue. Diese Suhasini hatte wirklich Sonali Bendres schlanken und hohen Wuchs, die gleichen langen Beine, doch ihr Gesicht war gröber und dunkler. Sie hörte mir mit niedergeschlagenen Augen zu, doch ich spürte die enorme Energie in ihrem Innern, von der Guru-ji gesprochen hatte. Da war wirklich Bewegung.

Und so wurde alles in die Wege geleitet. In weniger als einer Woche waren sie verheiratet. Natürlich rief ich vor der Hochzeit Jojo an und erzählte ihr von meiner Entscheidung.

»Da tust du ausnahmsweise einmal etwas durch und durch Gutes, Gaitonde.« Auch sie gab den beiden ihren Segen und schickte ein Geschenk, Diamantringe für beide mit angemessen großen, in Weißgold gefaßten Steinen. Wir organisierten einen Saal und ließen einen Pandit aus Bangkok kommen. Ich hatte den Jungs ins Gewissen geredet, sie sollten den feierlichen Anlaß respektieren, doch ich merkte, daß die Shloka-Rezitation589 sie ohnehin beruhigte. Die ernste Entschlossenheit, mit der sich Arvind und Suhasini aneinander banden, brachte selbst den betrunkenen Ramesh zum Schweigen. Die Jungs saßen mit überkreuzten Beinen in einem kleinen Kreis und sahen zu. Ich für mein Teil wurde melancholisch. Die Flammen knisterten, ich versank in der Erinnerung. Meine Brust schmerzte vor Sehnsucht nach Abhi, und mir fiel wieder ein, wie er mit seinen kleinen Fäusten gegen meine Wangen getrommelt und wie er mich geküßt hatte, wenn ich ihn darum bat.

Meine Stimmung hielt auch noch an, nachdem wir das glückliche Paar für eine Woche nach Ko Samui auf Hochzeitsreise geschickt hatten. An diesem Abend meditierte ich, ließ meinen Atem im Bauch kreisen, doch es gelang mir nicht, die scharfzähnige Trauer, die mich verfolgte und immer wieder in die Fersen zwickte, loszuwerden. Ich schaltete den Fernseher ein und fand einen indischen Sender. Eine blonde VJ, die Hindi mit Akzent sprach, kündigte schnelle Songs an. Ich schaltete wieder aus. Ich lag wach im Bett und dachte: Obwohl ich meine Jungs bei mir habe, bin ich allein. Sie waren nur ein paar Meter von mir entfernt, bloß durch etwas Holz und Metall von mir getrennt, und trotzdem war ich allein. Meinen Jungs gegenüber mußte ich immer stark sein, ich mußte ihr Vater sein, fern und mächtig und manchmal auch zornig. Guru-ji und Jojo, die Menschen, denen ich von meiner Unzufriedenheit, meinen Sehnsüchten erzählen konnte, waren weit weg. Unsere Nähe bestand nur aus Worten, über Funkwellen und Fernsehsendungen.

In diesem Moment rief er an. Mein Guru-ji rief an. Ich sprang aus dem Bett und hatte ihn schon beim zweiten Klingeln dran. »Guru-ji?«

»Komm zu mir«, sagte er.

»Was?«

»Du bist ein folgsamer Schüler gewesen, Beta. Ich habe darüber meditiert, und ich glaube, daß du für ein tieferes Wissen bereit bist. Doch um dich auf diesem Weg, dem Weg zu den Geheimnissen des Parmatma, weiterzubringen, muß ich dich initiieren. Ich bin ab nächste Woche, zu Ganesha Chathurthi207, in Bombay. Ich werde zwei Wochen dort sein, ich halte ein großes, sehr wichtiges Yagna670 ab. Das wichtigste Yagna meines Lebens, um genau zu sein. Danach reise ich für eine Woche nach Singapur. Komm mich dort besuchen.«

Ich war ihm in all den Monaten seit unserem ersten Gespräch nie persönlich begegnet. Ich hatte mit ihm geredet, vielleicht mehr als jeder andere seiner Schüler, und ich hatte ihn im Fernsehen gesehen, doch ich hatte ihm nie von Angesicht zu Angesicht gegenübergesessen. Jetzt lud er mich ein, und ich war wütend. Nicht auf ihn, sondern auf mein Leben, auf mich selbst. Wenn er zu Ehren Ganapatis205 in Bombay das wichtigste Yagna seines Lebens durchführte, warum sollte ich mich dann nicht dort mit ihm treffen? Warum Singapur, diese Sauberkeitshölle, die mich mehr langweilte als jeder andere Ort auf Erden? Bombay war der Ort, nach dem ich mich sehnte, ja, und es war zwar ein gefährlicher Ort für mich, doch zugleich war es mein Kurukshetra355. Und er war mein Guru-ji.

»Ganesh«, fragte Guru-ji leise. »Kannst du kommen?«

In diesem Moment begriff ich schlagartig. Die Wahrheit traf mich mit voller Wucht, fuhr mir in den Magen und stieg als Lachen in meiner Kehle auf. Er stellte mich auf die Probe. Dies war meine letzte Bewährungsprobe. Ich lachte und sagte: »Natürlich, Guru-ji. Ich werde es einrichten. Ich komme zu Ihnen. Nach Singapur.«

»Nach Singapur«, wiederholte er. »Ich erwarte dich dort.«

»Pranaam, Guru-ji.«

Ich beendete das Gespräch, weckte Arvind aus seinem Flitterwöchnerschlaf und begann Pläne zu schmieden. Nur Arvind sowie Bunty in Bombay wußten, wo ich hinfuhr. Die übrigen Jungs dachten, ich führe in einer dringenden Angelegenheit nach Jakarta. Und Guru-ji dachte, ich würde ihn in Singapur besuchen. Doch mein Entschluß stand fest. Ich würde nach Bombay fahren und an seinem Yagna teilnehmen. Alles war bis ins kleinste Detail durchdacht. Ich war mir sicher, daß der gerissene Mr. Kumar mich beobachten ließ. Da ich für Mr. Kumars Organisation ein wichtiger Mann geworden war und mir in Indien von Suleiman Isa und anderen große Gefahr drohte, war es mir nicht gestattet, indischen Boden zu betreten. Zugleich stellte ich auch für Mr. Kumar und seine Leute ein Risiko dar: Wenn ich in Indien festgenommen würde, würde ich unter dem Druck der Polizei womöglich reden, würde berichten, was ich alles für Mr. Kumar getan hatte. Ich wußte um diese tausendarmigen Gefahren, zugleich war ich von Bewunderung für Guru-ji erfüllt, weil er sich mit mir treffen wollte: Ich hatte nichts als mein Leben zu verlieren, er dagegen setzte seine wichtige Arbeit aufs Spiel, seine Position in dieser Welt, seine Verbindungen zu den Kleinen wie den ganz Großen. Wenn er erwischt würde, wenn seine Beziehung zu mir bekannt würde, wäre es vorbei mit seinem guten Namen und seiner unbefleckten Ehre. Ich war ein Gangster, und er war ein Heiliger. Weshalb dieser hohe Einsatz für mein klägliches, niederes Leben? Es gab nur eine Antwort: Er liebte mich. Trotz Arvinds und Buntys Gegrummel über das Risiko - über die Polizei, meine Feinde, Schüsse, die Einwanderungsbehörde - war ich daher unbeschwert. Ich war furchtlos und zuversichtlich in der sanften Umarmung von Guru-jis Liebe. Drei Tage später flog ich mit der Lufthansa von Frankfurt nach Bombay, mit frisch geschorenem Schädel, Stoppelbart, Nickelbrille, einem neuen Paß und einem Koffer voller Babykleidung für eine nicht existierende Nichte. Ich hatte Geschäftspapiere und Rechnungen dabei, meine Deckung war lückenlos, und bei der Einreise stempelte man mir ohne Zögern, ohne Fragen meinen Paß ab, und ich konnte gehen. Ehe ich auch nur begriffen hatte, daß ich wirklich wieder in Bombay war, stand ich draußen in der brütenden Hitze. Ich winkte Bunty über Scharen wartender Angehöriger hinweg zu, und er schrak zusammen, als er mich erkannte. Wir redeten kein Wort miteinander, bis wir den Parkplatz verlassen hatten und an den Flughafenhotels vorbeisausten.

»Das ist wirklich purer Wahnsinn«, sagte Bunty. »Heute werden überall Polizeikontrollen durchgeführt. Ich bin auf dem Weg hierher zweimal unter die Lupe genommen worden.«

Ich legte ihm die Hand auf die Schulter. »Begrüß mich doch wenigstens erst mal.«

Er gab ein angespanntes, gereiztes Geräusch von sich, das entfernt an ein Lachen erinnerte, und nahm meine Hand. »Tut mir leid, Bhai«, sagte er. »Ich kann es einfach nicht glauben, daß Sie wieder da sind, und dann auch noch so.«

»Wie hätte ich denn sonst kommen sollen, Chutiya? Auf einem fliegenden Teppich?«

Er schüttelte den Kopf. »Das ging einfach zu leicht.«

Er hatte Angst, weil er allein unterwegs war, ohne seine Bodyguards. Ich hatte ihn gebeten, allein und unbewaffnet zu kommen. »Leicht gefällt es mir am besten. Wieso werden Sicherheitskontrollen durchgeführt?«

»In den letzten Tagen sind zwei große Raubüberfälle auf Geschäfte verübt worden. Anscheinend hat die Polizei Informationen über die Täter, ehemalige Angestellte. Kleine Fische, Bhai.«

Es hatte also nichts mit uns zu tun. Trotzdem standen an einigen Kreuzungen von Polizisten bewachte Absperrungen; bis wir zur Schnellstraße kamen, hatten wir zwei Kontrollen passiert. Die Polizisten spähten in die langsamer fahrenden Autos, und bei der zweiten Kontrolle leuchtete mir einer mit einer Taschenlampe direkt ins Gesicht. Dann winkte er uns durch. Bunty stieß mit einem dünnen Pfeifen den Atem aus.

»Beruhige dich, Bunty. Die werden mich nicht erkennen, die denken doch alle, ich wäre weit weg.«

»Sie haben abgenommen, Bhai, aber trotzdem ...«

Ich ernährte mich auf dem Schiff gut und bewegte mich viel, ich zwang mich zu einer gesunden Lebensweise, um meinen Körper zu läutern, und hatte dadurch die überflüssigen Pfunde aus dem Gefängnis und meiner Ehe verloren.

»Dafür hast du zugenommen«, antwortete ich. Das hatte er wirklich. Wir kamen an einer Gruppe von Ganesha-Verehrern vorbei, die einen anderthalb Meter hohen Ganesha auf einem Wagen hinter sich herzogen. Sie tanzten zum Rhythmus von zwei Trommeln, Männer, Frauen und Kinder. Sie waren glücklich. Ich spürte diesen altbekannten, lärmenden Trommelschlag im Nacken und in den Schultern. »Es gibt mehr Jhophadpatties296 als früher«, stellte ich fest. »Schau doch nur.« Die Hütten waren bis an die Schnellstraße vorgekrochen, die in meiner Erinnerung von leeren Seitenstreifen und Buschland gesäumt war.

»Tatsächlich? Für mich sieht es aus wie immer.«

Ich war mehr als zwei Jahre weg gewesen. Für mich sah nichts aus wie immer. Unter dem orangefarbenen Licht der Straßenlampen lagen die Slums verschachtelt im Schlaf, dunkler und zahlreicher als früher. Wir fuhren an einer Reihe wuchtiger, leuchtend rot und grün gestrichener Lastwagen vorbei und durchquerten dann einen Markt, an dessen Ausgängen jeweils ein Berg triefender Gemüseabfälle lag. Diese Abfallberge waren bestimmt schon immer dort gewesen, doch sie fielen mir erst jetzt auf. Es war viel gebaut worden, höhere Gebäude, darunter ein weißes, das von gigantischen Betonpfeilern umgeben war, die drei zusätzliche, auf den ursprünglich vierstöckigen Bau aufgesetzte Stockwerke abstützten.

»Das ist einer dieser Extra-Geschoßflächenzahl-Fälle«, sagte Bunty.

Ein paar Bauunternehmer hatten ein paar Bürokraten geschmiert, woraufhin diese eine Lücke in den Vorschriften entdeckt hatten, die es ermöglichte, die höchstzulässige Geschoßflächenzahl zu manipulieren, so daß die ganze Stadt jetzt voll von diesen seltsamen storchenbeinigen Konstruktionen war. »Drei neue große Stockwerke«, sagte ich. »Das ist ein Haufen Geld.«

»Wir kennen den Besitzer«, sagte Bunty grinsend. »Er ist jetzt ein Freund von uns.«

Dieser GFZ-Käufer hatte also zu meinem Umsatz beigetragen, trotzdem war mir dieser neue Trend irgendwie unheimlich. »Ich würde nicht im Erdgeschoß von so einem Ding wohnen wollen«, sagte ich zu Bunty. »Die Stützen sind ja dünn wie Streichhölzer.«

Er lachte knurrend. »Um so besser, wenn das Ding zusammenbricht, Bhai«, sagte er. »Dann kann man nämlich ganz neu bauen, ohne das alte Haus darunter. Vielleicht sollten wir ein bißchen nachhelfen. Die neuen Wohnungen können sie nämlich doppelt so teuer verkaufen, und das ist nur gut für uns.«

»Chutiya«, sagte ich, doch ich lächelte dabei. Auf den Reklametafeln wurde in knalligen, nach vorn geneigten Lettern, die Tempo verhießen, für Internetanbieter und Websites geworben. Autorikschas standen Schnauze an Schnauze da wie bauchige Insekten. Als ich mich bei diesem Gedanken - Insekten - erwischte, dachte ich: Ich bin zu lange weg gewesen.

»Hier«, sagte Bunty. Er hatte uns ein Zimmer im hinteren Teil eines Wohnhauses in Santa Cruz besorgt. Es war eine ruhige Straße, der Vermieter war ein Möbelhändler mit zwei Töchtern im Schulalter, strenggläubig und sehr ehrenwert. Wir hatten zwei Einzelbetten, einen Kaffeetisch und ein sauberes Bad. Bunty rümpfte die Nase. »Ist es recht, Bhai?« fragte er, vorgeblich um mich besorgt. Tatsächlich war er derjenige, der mit seinem neuen Einkommen und seiner neuen Statur gewisse Ansprüche entwickelt hatte.

»Absolut«, sagte ich. »Laß uns schlafen gehen.«

Am nächsten Morgen weckte ich ihn um sechs. Er stöhnte, als er sah, wieviel Uhr es war, aber ich kannte kein Erbarmen. Ich holte ihn aus dem Bett, und wir gingen hinaus zu einem Restaurant in der Nähe. Wir tranken Chai aus der ersten Kanne des Tages und aßen Idlis. An einer Bushaltestelle wartete eine Schlange von Büroangestellten im staubigen Dunst der Autos und Busse. Schulkinder gingen, ihre Schultasche schwingend, an uns vorbei. Es stimmte mich froh, das alles zu beobachten, es war wie ein Festumzug für mich. Doch um halb neun schickte ich Bunty los, damit er mir einen Motorroller besorgte. Er protestierte. »Are, warum denn, Bhai? Ich fahre Sie mit dem Auto.«

»Du wirst mich nicht fahren«, sagte ich. »Ich will einen Motorroller.«

Er wollte mir widersprechen, aber ich brachte ihn mit einem Blick zum Schweigen. Natürlich sorgte er sich um seine Zukunft und sein Auskommen, das deutlich bescheidener werden würde, wenn ich wieder im Gefängnis landete oder gar umgebracht wurde. Doch andererseits liebte er mich. Wir hatten mittlerweile so manche Schlacht zusammen geschlagen, und durch mich war er zu einem Mann mit geregeltem Leben, mit Frau und zwei Kindern, mit Verpflichtungen, Investitionen und Geld geworden. Deshalb haßte er mich jetzt ein wenig, denn ich zwang ihn, das alles in einem Zimmer in Goregaon ohne Waffen und Bodyguards aufs Spiel zu setzen. Trotzdem erschien er um halb zehn mit einem Motorroller vor unserer Unterkunft, einer grünen Vespa mit schicken versilberten Rückspiegeln.

»Ich mußte ihn von jemandem ausleihen«, sagte er entschuldigend.

»Die Mamus werden mich schon allein wegen dieser Rückspiegel anhalten«, sagte ich. »Dein Freund hält das Ding wohl für eine Rennmaschine?« Doch selbst diese Vespa zu fahren bereitete mir Schwierigkeiten, denn ich hatte das schon ewig nicht mehr gemacht. Ich geriet schon beim Anfahren ins Schleudern, und Bunty lief mir nach, bis ich ihn wegscheuchte. Die ersten zehn Minuten waren furchterregend, und doch mußte ich grinsen, wie ich so dahinbrauste, und sog den Fahrtwind durch die Zähne ein. Ich kam an drei Mandaps mit hoch aufragenden Ganeshas vorbei, alle in einem leuchtenden Orange. Als ich Juhu erreichte, hatte ich mich eingefahren, ich schlängelte mich souverän zwischen den Autos hindurch und schaltete flüssig. Ich war eine schnittige Erscheinung, das sah ich in den Rückspiegeln -ein Mann, der vormittags zielstrebig und wohlgelaunt unterwegs war. Ich war in Bombay, und ich hatte keine Angst. Ich war auf dem Weg zu meinem Guru-ji.

Doch als ich zur Yagna-Sthala601 in Andheri West kam, ging es nicht mehr weiter. Schon sechzig Meter davor begannen die Polizeikontrollen, für einen x-beliebigen Taklu614 auf einem Motorroller war da kein Durchkommen mehr. Ich mußte die Vespa abstellen und mich mit mehreren hundert anderen Guru-ji-Anhängern zu Fuß der Villa nähern. Das Haus gehörte einem Filmproduzenten und Anhänger Guru-jis, einem Mann mit guten politischen Verbindungen und umfangreichem Immobilienbesitz in Bombay. Man hatte die freie Fläche vor dem Haus eingezäunt und eine Reihe an den Seiten offener Shamianas aufgestellt. Alles war bestens organisiert, zwischen den Shamianas führten breite, gerade Wege hindurch, auf denen Sadhus die Neuankömmlinge zu freien Sitzplätzen geleiteten. In den Shamianas hatte man Fernseher und Lautsprecher aufgestellt, damit auch diejenigen, die - wie ich - weit von dem großen Podium entfernt saßen, Guru-ji und das, was er tat und sagte, gut würden sehen und hören können. Doch noch war er gar nicht da, einige seiner Sadhus richteten gerade auf dem Podium die Utensilien für das Yagna. Er erschien Punkt elf, rollte sich kraftvoll durch den mittleren Gang, gefolgt von einer Gruppe Sadhus. Man hatte eine Rampe zum Podium gebaut, über die er hinauffuhr. Und eh ich's mich versah, stand ich, tanzte, Ellbogen an Ellbogen mit seinen anderen Anhängern, und rief: »Jai Gurudev.« Er hörte unserem Sprechchor eine Weile zu, dann hob er die Hand. Wir verstummten. Er hievte sich allein von seinem Rollstuhl vor die Mikrophone und sagte: »Setzt euch«. Er hatte kräftige Arme, das konnte ich sehen.

Er sprach über Opfer, über den Altar. Die Größe des Altars müsse auf einem bestimmten Maß des Opfernden basieren: Das mittlere Glied des Mittelfingers messe ein Angula, und hundertzwanzig Angulas ergäben ein Purusha. Die Sadhus müßten nun ein Quadrat mit einem Seitenmaß von zwei Purushas beziehungsweise zweihundertvierzig Angulas auslegen. »Wer aber«, fragte Guru-ji, »ist der Opfernde? Wir sind nur die Priester, doch wer wird der Yajman671 sein?« Er hielt kurz inne, dann beantwortete er seine Frage selbst: »Früher waren die Charkravartins, die Weltherrscher, die Opferherren des Sarvamedha564. Doch die Zeit der Weltherrscher ist vorbei. Wer ist heute der Herrscher? Wer hat die Macht, die Führung inne? Ihr. Ihr, die Allgemeinheit. Von euch, von euren Wählerstimmen geht die Macht aus. Heute seid also ihr, die Allgemeinheit, die Opfernden, der Yajman. Jeder einzelne von euch ist der Yajman. Deshalb haben wir ein statistisches Durchschnittsmaß ermittelt: Unsere Arzte haben bei zweitausend Männern aus ganz Indien Maß genommen, und der Mittelwert wird unser Angula sein. Ihr, meine Freunde, seid unser Purusha.«

Nun legten die Priester mit Schnüren und Stäben ihr nach der Sonne ausgerichtetes Quadrat aus, seine Ränder, die sich überschneidenden Kreise. Unterdessen sprach Guru-ji weiter. Er erzählte uns, daß das Universum durch ein Opfer geschaffen worden sei: Die Götter hätten Purusha geopfert, und aus seinem Fleisch, seinen Gliedern sei die Schöpfung erstanden. Alles Seiende, alles, was jemals existiert habe oder existieren werde, sei durch dieses erste Opfer entstanden. Und jeder, der ein Opfer darbringe, eifere darin jener ersten Selbstopferung nach. Der Opfernde wiederhole jenes erste Opfer, und indem er das tue, erhalte er das Universum aufrecht. »Der Opfernde wird zu Purusha, er wird jenes ursprüngliche Wesen, das sich selbst teilte, um alles andere zu erschaffen. Da das so ist, müßte sich der Yajman, genau genommen, selbst opfern - wenn er Purusha ist, müßte er sich selbst opfern, um Leben zu spenden. Doch das werden wir nicht von euch verlangen, so werden Opfer schon seit vielen Jahren nicht mehr vollzogen. Anstelle unser selbst geben wir bestimmte Dinge ins Feuer, die opferungswürdig sind. Einst wurden statt Menschen Kühe geopfert oder Pferde, Ziegen, Widder. Wir werden bestimmte Getreide, bestimmte Blumen, bestimmte Gräser verwenden. Aber vergeßt nicht, daß wir, wenn wir diese ins Feuer werfen, eigentlich uns selbst opfern. "Wenn ihr der Yajman seid, ihr alle, dann opfert ihr euch selbst, eure Körper. Was wir ins Feuer werfen, ist nur ein Ersatz, den die Götter akzeptieren. Aber eigentlich werdet ihr geopfert. Ihr seid Purusha. Ihr müßt sterben, damit das Universum weiterbestehen kann.«

Die Priester bauten unterdessen den Altar. Wir sahen ihnen auf den Bildschirmen zu. An einer bestimmten Stelle auf der exakt ausgemessenen und ausgerichteten Fläche legten sie eine Seerose nieder, und auf diese legten sie eine goldene Scheibe. Dies waren die ersten Gewässer und die Sonne. Darauf stellten sie vorsichtig eine kleine goldene Figur: Purusha, der der Yajman war, der wir waren. Und über Purusha errichteten sie aus fünf Lagen Ziegel den Altar, der die Form eines großen Adlers besaß. »Ein Adler hat den heiligen Soma599 vom Himmel auf die Erde gebracht«, erklärte uns Guru-ji. »Und so werden wir durch das Opfer wieder von dieser göttlichen Glückseligkeit trinken. Durch den Flug des Opfers werden wir Erkenntnis kosten. Wir werden das Selbst und das Universum erkennen.«

Unter dem bunten Segeltuch der Zeltdächer hing ein weißes, strahlendes Licht. Draußen war es bedeckt, recht kühl für einen Tag lange nach Ende des Monsuns. In der Menge herrschte eine ganz eigene Ruhe. Die Leute kamen, traten umeinander herum, die Hand freundlich auf die Schulter des Sitzenden gelegt, setzten sich, gingen wieder, wenn sie gehen mußten. Guru-jis Stimme, die tief war wie das Meer, und die langsame Dünung der Shlokas, ewig, beständig, unaufhaltsam, hielten uns alle in Bann. Guru-ji übersetzte und erklärte uns einige der Shlokas.

Das Opfer ist ein Webrahmen,
Seine vielen Fäden sind diese Rituale.
Die Väter sitzen am Webrahmen
Und weben den Stoff.
Sie rufen: Hin! Her!

Ein Mann wickelt den Faden ab
und bespannt den Webrahmen damit,
Er legt den Faden in die Kerben des Himmels.
Die Stifte sind an diesem Altar befestigt.
Auf diesem himmelüberspannenden Webrahmen
Sind die Sama-Verse die Schiffchen,
Sie sausen hin und her.

»Jeder Gott hüllte sich in ein Versmaß«, sagte Guru-ji, »und dieses Versmaß wurde zur Quelle seiner Kraft als Opfernder. Agni tauchte in das Versmaß Gayatri ein, Savitar in die Usnih. Indra gewann seine Energie aus der Trishtubh. Und die Jagati durchströmte sämtliche Götter. So erstand aus Versmaß und Opfer, Kette und Schuß, aus dieser Form, dieser Poesie, das Universum.« Während ich mit gekreuzten Beinen auf dem Boden saß, allein und anonym, sah ich - auf der Filmleinwand meiner Imagination - diesen Moment der Schöpfung, die Hymnen, die übereinanderflossen wie Ghee über Sandelholz, die funkensprühenden Versmaße, die auflodernden Flammen des Universums. »Wenn wir opfern«, sagte Guru-ji, »wenn wir Hymnen singen, wenn wir die Versmaße durch uns hindurchfließen lassen, weben wir die Welt. Wir sind Schöpfer. Wir erhalten alles Seiende aufrecht, wir erschaffen es. Wir sind das Universum.«

In unserem Zimmer erwartete mich Bunty mit einem guten Abendessen, das er von zu Hause mitgebracht hatte. Beim Essen besprachen wir Geschäftliches, ich erteilte Anweisungen und beantwortete Fragen. Die Jungs auf der Yacht hatten inzwischen vermutlich gemerkt, daß ich nicht in Jakarta war, schließlich war ich telefonisch dort nicht zu erreichen, doch niemand wäre im Traum daraufgekommen, daß ich hier war, daß ich in Andheri an einem Yagna teilnahm oder in Santa Cruz Parathas aß. Sie schickten mir Berichte, und Bunty leitete meine Befehle an sie zurück. Was unsere Arbeit für Mr. Kumar betraf, so waren unsere Jungs bereits in London postiert und warteten auf den Mullah. Ich wies Bunty an, sichere Verbindungswege einzurichten und sich um Waffen und Logistik zu kümmern. Dann sank ich in einen tiefen und entspannten Schlaf, schlief so zufrieden und vertrauensvoll wie ein Kind, das weiß, daß Zuwendung und Liebe es empfangen werden, wenn es wieder aufwacht. Ich erwachte mit einem Lächeln auf den Lippen.

Und dann fuhr ich wieder zu Guru-ji. An diesem zweiten Tag war ich früh dran, war einer der ersten auf dem Maidan, abgesehen von den Polizisten und den freiwilligen Helfern. Ich ging zum vordersten Shamiana vor und fand einen Platz direkt hinter dem VIP-Bereich, ganz nah am Altar. Die Sadhus saßen am Feuer, das nicht ausgegangen war und auch die nächsten zwölf Tage nicht ausgehen würde. Das Yagna war über Nacht von mehreren Gruppen von Priestern fortgeführt worden. Jetzt, am Morgen, schalteten sie gerade die Lautsprecher wieder an. Auf die Sekunde genau um elf erschien Guru-ji. Diesmal konnte ich ihn von nahem sehen. Bei seinen Fernsehauftritten trug er manchmal Nehru-Anzüge, exquisit geschneiderte, aber schlichte Jacketts aus Leinen oder Seide. Auch ich hatte mir mehrere solche Jacketts schneidern lassen. Doch heute trug er ein weißes Dhoti und ein strahlend weißes Tuch, das er über die eine kräftige Schulter geworfen hatte, so daß die andere nackt blieb. Seine Haare waren nach hinten gekämmt. Er sah gut aus. Er war vierundsechzig Jahre alt, doch seine Haut war straff und rein, und seine Augen waren lebendig und aufmerksam.

»Dies ist ein Opfer für alle Menschen«, erklärte er uns heute. »Es ist nicht nur Rishis oder Munis434 oder Herrschern vorbehalten. Ob ihr der obersten oder der niedrigsten Gesellschaftsschicht angehört, ihr könnt alle an unserem Sarvamedha teilnehmen. Wir laden euch alle dazu ein. Ihr seid der Yajman. Aber ihr müßt geben. Denn das ist der Sinn des Sarvamedha: Ihr müßt alles opfern. Sarvamedha ist das allumfassende Opfer, das All-Opfer. Früher hat man den Göttern bei diesem Opfer Tiere aller Art dargebracht, und Menschen aller Schichten, aller Berufe schenkten sich dem heiligen Feuer. Brahmanen und Schneider, Wäscher und Krieger starben während des Sarvamedha und wurden gesegnet. Früher gab der Yajman seinen gesamten Besitz als Opfergabe, alles, was er besaß. Als der Vater von Nachiketas angesichts dieses ›alles‹ zögerte, erinnerte ihn Nachiketas selbst daran, daß er, der Sohn, seines Vaters letzter Besitz war. Nachiketas schenkte sich dem Tod und bescherte seinem Vater dadurch den Himmel, und uns offenbarte er durch seinen Tod das Geheimnis des Lebens. Die Weisheit gehört denen, die sich selbst verbrennen und so ihr wahres Selbst entdecken.« In den Shamianas herrschte absolute Stille, kein Atemzug war zu hören. Guru-ji lachte. »Keine Angst«, sagte er. »Ich werde nicht von euch verlangen, daß ihr eure Söhne aufgebt, und ich werde auch nicht verlangen, daß ihr in dieses Feuer hier springt.« Die Flammen loderten über den Köpfen der Priester. »Die Zeiten haben sich geändert. Wir werden dieses Sarvamedha durchführen und dabei Tiere und Menschen opfern, alles, was lebt. Doch wir werden es symbolisch tun. Ihr werdet brennen, aber nur in Form einer Figur. Einer Figur wie dieser.«

Er hob die Hand und zeigte eine auf seinem Handteller liegende kleine menschliche Figur. Als ich seiner Geste folgte, fiel mir jenseits der Flammen ein Polizist auf, ein Sardar mit einem hohen khakifarbenen Turban und einem grünen Patka darunter. Er hatte gerade jemanden zum VIP-Bereich geleitet und war im Begriff hinauszugehen, drehte sich jedoch noch einmal um und hörte Guru-ji zu. Für einen kurzen Moment, die Dauer des Aufzüngeins einer Flamme, trafen sich unsere Blicke. Dann wandten wir uns beide wieder Guru-ji zu.

Während die Priester rezitierten, warf Guru-ji die kleine Figur ins Feuer. Und so wurden den ganzen restlichen Tag kleine Figuren - Kühe und Bullen, Männer und Frauen aus kristallisiertem Zucker oder Kalk - in das heilige Feuer geworfen. Es war ein gewaltiges, duftendes Feuer. Ich saß nah genug, um seine Musik, seinen gleichmäßigen Rhythmus hören zu können.

Spätabends wartete ich in einer langen Schlange auf eine Begegnung mit Guru-ji. Um elf Uhr hatte er den Altar verlassen und sich zur Nacht in das Haus des Filmproduzenten zurückgezogen. Doch von elf bis Mitternacht empfing er noch Leute aus der Bevölkerung zu einer Privataudienz. Die Schlange begann vor dem Tor des Hauses und wand sich zweimal um den gesamten Maidan. Ich stand ungefähr in der Mitte. Um Mitternacht kamen die Polizisten und sagten uns, Guru-ji müsse jetzt schlafen, wir sollten nach Hause gehen. Ein großes Seufzen ging durch die Menge, doch dann zerstreuten sich die Leute schnell und ohne Protest. Wir konnten uns vorstellen, wie müde Guru-ji war, wie sehr es ihn trotz seiner enormen Kraft strapaziert haben mußte, den ganzen Tag mit uns zu reden, uns auf seinem Weg mitzunehmen. Die Polizisten sahen erleichtert aus. Auch sie waren müde, doch sie waren das energiegeladene Getümmel und Gedränge der Ganapati-Prozessionen gewohnt, bei denen Tausende junger Männer in Shorts und Banians für Ganesha tanzten, berauscht von Schweiß und Kameradschaft und verstohlenen Schlucken Bier oder Bhang076. Aber wir, die Anhänger Guru-jis, traten wohlgeordnet den Heimweg an.

Bunty erwartete mich in unserem Zimmer mit Essen und seinen Mobiltelefonen.

»Bhai«, sagte Bunty, als wir die geschäftlichen Anrufe erledigt hatten, »meine Frau denkt schon, ich hätte eine Freundin. Ich sage ihr immer wieder, daß wir im Moment einfach unheimlich viel zu tun haben, daß es eine Reihe von Nachtaktionen gibt, aber sie hat gesehen, wie ich etwas von ihrem eingelegten Ingwer eingesteckt habe, und jetzt ist sie überzeugt, daß ich meine Freundin mit ihrem Essen verwöhne.«

Er grinste, doch ich kannte seine Priya, eine mollige Punjabi und einstige Klosterschülerin, die aussah wie ein Patton-Panzer. Bunty hatte natürlich Freundinnen nebenher, aber er handhabte das sehr diskret. Daß er eine tobende Priya hinnahm, weil er sich um mich kümmern mußte, war ein Beweis seiner absoluten Ergebenheit. »Da ist wohl zu Diwali eine doppelte Zulage fällig, Beta«, sagte ich. »Kauf ihr ein paar schöne Armreife.«

»Eine dreifache«, sagte er. »Heute abend hat sie echt was geboten. Mitten im Roten Fort197 , Bhai. Und sie hat sich nicht zurückgehalten. Ich mußte ihr eine runterhauen, damit sie endlich still ist.«

Wir hatten dieses Jahr anläßlich des Fests für anderthalb Crores das Rote Fort von Agra nachbauen lassen, mitsamt einem glitzernden Pfauenthron für Ganesha. Die Böden waren aus echtem Marmor, und selbst die Schnitzereien waren nach Fotos exakt reproduziert. Die Leute kamen aus ganz Bombay nach Gopalmath, um unser Rotes Fort zu sehen, es war ein Riesenhit, größer und besser als jedes andere Pandal471 in der Stadt. Die Vorstellung, wie sich Bunty und Priya mitten im Audienzsaal beharkten, war zum Brüllen. »Die Großmoguln drehen sich noch mal im Grab herum wegen deiner Priya. Wir sollten sie nach Pakistan schicken, sie würde diese Dreckskerle von der S-Company locker fertigmachen.«

Bunty hielt sich den Bauch vor Lachen, als er sich ausmalte, wie seine Priya über die Grenze rollte. Als er wieder reden konnte, sagte er: »Alle in Gopalmath denken an Sie, Bhai. Die Jungs glauben, Sie wären irgendwo in Europa, aber sie wollen Ihnen alle danken, wenigstens telefonisch.«

Ich schüttelte den Kopf. »Sag ihnen, daß ich sie nicht vergessen habe. Aber keine Außenkontakte, Bunty. Diese paar Tage gehören allein Guru-ji.«

Es war wirklich so: Ich hatte auch Jojo kein einziges Mal angerufen, sie machte sich bestimmt schon Sorgen. Sie wußte, daß ich verreist war, aber bisher hatte ich sie auch auf meinen Reisen immer angerufen. Diesmal nicht. Es ging nicht anders. Ich mußte mich konzentrieren, mich läutern. Und so vergingen die Tage in Gebet und Kontemplation. Ich ging immer früh zum Maidan, um einen guten Platz zu kriegen. Und ich blieb bis spätabends und stellte mich wie ein ganz normaler Anhänger Guru-jis in die Schlange, um ein persönliches Darshan von ihm zu ergattern. Doch wir waren einfach zu viele, viel zu viele, und die Zeit vor Mitternacht reichte nie für uns alle. Aber ich war geduldig und kam am nächsten Tag wieder. Guru-ji führte uns durch das Opferritual, und ich hörte ihm Stunde um Stunde zu, während er uns die Veden und die Brahmanas erklärte. Ich wußte, daß ich täglich Neues lernte, und fühlte mich mit jedem Tag leichter, so als würde ein dickes Sediment aus meinem Körper hinausgespült. Oder, wie Guru-ji es formulierte, als würde ein Teil meines Karmas in der Hitze des Opfers verbrannt.

»Sie riechen sogar besser«, sagte Bunty am Morgen des elften Tages zu mir.

»Soll das heißen, ich habe vorher gestunken, du Mistkerl?« Doch ich lächelte. Ich bemerkte die Verbesserung selbst. Vielleicht war es nur der Rauch der brennenden Samagri553, der in meine Poren gedrungen war, oder vielleicht roch so eine von ihrer Last befreite Seele. Ich umarmte Bunty und sauste auf meinem Motorroller davon. Während der Fahrt summte ich einen Filmsong, ein Koli-Lied347: »Vallavh re nakhva ho, vallavh re Rama.«653 Auf dem Gelände machte ich es mir auf meinem angestammten Platz bequem. Morgens um diese Zeit, wenn die Zelte noch leer und die Lautsprecher und Monitore noch nicht eingeschaltet waren, fühlte ich mich wirklich wie der Yajman, als wäre das alles nur für mich da.

»Heute sind Sie ja noch früher dran als sonst.«

Es war der Sardar-Inspektor. Er stand direkt hinter mir, die Daumen hinter den Gürtel geschoben, so daß sein Hemd straffgezogen wurde. Ja, das waren natürlich Sie, Sartaj. Sie in einer gestärkten khakifarbenen Uniform und einem hohen Pagdi, mit einem Lächeln auf den Lippen. Damals allerdings waren Sie für mich nur der Sardar-Inspektor. Und er war amüsiert, dieser Inspektor, freundlich.

»Ich muß so früh kommen«, sagte ich. »Sonst sitze ich wieder ganz hinten.« Ich sprach in bewußt mildem Ton.

»Auch wenn Sie weit weg sitzen, können Sie über die Monitore alles verfolgen«, sagte er. »Auf den Nahaufnahmen erkennt man bei denen doch jedes Nasenhärchen.« Er machte eine Kopfbewegung in Richtung der Priester. Dieser Sardar war wirklich attraktiv und sehr schick mit seinem blauen Patka und den passenden Socken.

»Das ist etwas völlig anderes«, versetzte ich, und noch während ich es sagte, wurde mir bewußt, daß ich zu scharf, zu barsch war. Ich mußte ehrerbietig sein, wie jeder Normalbürger gegenüber einem Polizisten. Es war ewig her, daß ich vor einem Inspektor Angst gehabt hatte, doch jetzt mußte ich so tun, als ob. »Was ich damit meine, Sardar-saab, ist, daß die Leute heutzutage glauben, das Darshan wäre auch übers Fernsehen oder Telefon möglich. Aber die volle Wirkung des Darshan entfaltet sich nur von Angesicht zu Angesicht, von Auge zu Auge. Guru-jis Blick muß in einen eintreten, seine Stimme muß einen erfüllen. Ich habe ihn hier zum ersten Mal persönlich gesehen, und ich kann Ihnen sagen, die letzten paar Tage haben mich wirklich verändert. All die Fernsehsendungen, die ich angeschaut habe, sind nichts gegen einen einzigen Moment echten Darshans. Den Goldenen Tempel auf einem Foto zu sehen ist eines. Nach Amritsar zu fahren ist etwas völlig anderes.«

»Sie kommen nicht aus Bombay?« Der typische Polizistentrick, diese unvermittelte Frage, und dazu der übliche abschätzende Blick. Hinter der filmstarmäßigen Attraktivität dieses Chiknya119 verbarg sich die erbarmungslose Brutalität, die aus Tausenden von Verhören erwachsen ist. Ich kannte diese Sorte Mann.

»Ursprünglich nicht. Aber ich bin vor ein paar Jahren hierhergezogen.«

»Was machen Sie denn?«

»Ich arbeite in einer Import-Export-Firma.« Er hatte unsere Unterhaltung schließlich doch zum Frage-Antwort-Spiel gemacht, dieser mißtrauische Drecksack. Typisch, typisch. Ich wandte mich dezent wieder dem Yagna zu. Aber er ließ nicht locker.

»Irgendwo habe ich Sie schon mal gesehen«, sagte er. »Sie kommen mir irgendwie bekannt vor.« Ich hielt mich ganz ruhig, ließ nicht zu, daß mein Körper sich anspannte. Dann sah ich ihn über die Schulter noch einmal an und lächelte. »Ich habe ein ziemliches Allerweltsgesicht, Saab.« Ich hatte meinen Bart wachsen lassen, schor mir weiterhin den Kopf und sah inzwischen schon selbst aus wie einer dieser afghanischen Mullahs. Wenn ich mich im Spiegel betrachtete, erschien ich mir alles andere als vertraut. Aber dieser Maderchod hatte einen scharfen Blick. »Mir sagen ständig Leute, daß ich aussehe wie irgend jemand, den sie kennen. Meine Frau fand das immer sehr lustig.«

»Fand? Lebt sie nicht mehr?«

Wie aufmerksam er doch war, dieser Chiknya-Inspektor, genau das Gegenteil von dem begriffsstutzigen Sardar aus all den Witzen. Bei ihm mußte man auf der Hut sein. »Sie ist tot«, sagte ich sehr leise. »Sie ist bei einem Unfall ums Leben gekommen.« Er nickte, schaute weg. Als er sich mir wieder zuwandte, war er der maderchod Inspektor von zuvor, doch ich hatte dieses kurze Aufblitzen von Mitgefühl wohl wahrgenommen. Auch ich konnte sehr aufmerksam sein. Auch ich hatte in meinem Leben gelernt, die Menschen zu lesen. »Sie haben auch jemanden verloren«, sagte ich. »Ihre Frau?«

Er warf mir einen harten, finsteren Blick zu. Er war natürlich ein stolzer Mann und zudem in Uniform. Er würde mir nichts erzählen. »Jeder verliert irgendwann mal jemanden«, sagte er. »So ist das im Leben halt.«

»Wenn Sie sich Guru-jis Schutz anvertrauen, wird dieser Schmerz vergehen.«

»Behalten Sie Ihren Guru-ji ruhig für sich«, sagte er, doch er war wieder freundlich, grinste sogar ein wenig. Er hob die Hand und machte sich zum Ende der Zeltreihe auf, um seiner Pflicht nachzukommen. Guru-ji erschien pünktlich um die übliche Zeit, und heute führte er uns zum Ende des Opfers, zu dessen Erfüllung.

»Wir haben eine bedeutende Wegstrecke zusammen zurückgelegt«, sagte er. »Ihr habt mich über viele Tage hinweg begleitet. Durch die Teilnahme an diesem großen Yagna habt ihr die Trägheit Hunderter früherer Leben weggebrannt. Der Nutzen dieses Opfers und seine Kraft werden euch, den Yajmans, zuteil werden. Doch vergeßt nicht, was ich euch über das Sarvamedha erzählt habe: Der Yajman gibt alles. Um euch selbst zu opfern, müßt ihr alles opfern, woran ihr hängt. Heute also, wenn denn je: gebt. Gebt von euch selbst.«

Es war ein heißer Tag, der letzte Tag des Sarvamedha. Nach vielen trüben Tagen brannte die Sonne jetzt den Dunst weg, schlüpfte zwischen die Zelte, ließ breite Flammenstreifen über unsere Beine, unsere Köpfe wandern. Der duftende Rauch sammelte sich und wurde dichter, die Shlokas wogten durch uns hindurch, und Guru-jis Stimme sank in meine Brust, die Leute standen heute dichtgedrängt, mir rann der Schweiß über die Schultern, und viele von uns weinten. Auch ich weinte. Ich war nicht traurig, empfand keinen Schmerz. Ich war glücklich und schluchzte. Ich gab, gab alles, was in meiner Brieftasche war, und meine Uhr. Während der vorangegangen Tage des Opfers hatten Guru-jis Anhänger immer wieder gespendet, hatten Geld und Wertsachen in die zwischen den Zelten stehenden Kästen geworfen. Doch heute gaben wir alles. Ich sah Frauen ihren Schmuck, ihre Mangalsutras geben, sah Männer Gold- und Diamantringe von ihren geschwollenen Fingern zerren. An diesem Nachmittag wurden wir wirklich zu Yajmans und spürten die Kraft des Samarvedha.

Und dann war es vorbei. Um zehn legte Guru-ji die Hände zu einem Pranaam an uns alle zusammen und neigte den Kopf. An diesem Abend stand ich fast vorne in der Schlange für das Darshan. Ich hatte das geplant, hatte alles darauf angelegt, doch nach einstündigem Warten kristallisierte sich heraus, daß ich es womöglich trotzdem nicht schaffen würde. Heute kamen die ganzen VIPs, ein Innenminister, zwei Schauspieler, drei Schauspielerinnen, Industriemagnaten und Fernsehansager, Filmproduzenten und ein General. Ihre Wagen fuhren einer nach dem anderen vor, eine glänzende Ansammlung vor der Villa, und in der Schlange ging es kaum voran. Für die gewöhnlichen Leute hieß es warten, und heute gehörte ich zu den gewöhnlichen Leuten. Es war kurz vor Mitternacht.

»Haben Sie Ihren Guru-ji inzwischen getroffen?« Es war der Sardar-Inspektor. Er war groß, einen Kopf größer als ich. Auf dem schwarzen Schild an seiner Uniform stand in weißen Buchstaben sein Name: Sartaj Singh.

»Nein«, antwortete ich. »Zu viele hohe Tiere heute.«

Ich zuckte mit den Achseln. Ich war ruhig, aber ziemlich ausgelaugt, meine Beine fühlten sich an wie Faluda, und mir war leicht schwindlig. Auch der Inspektor sah erschöpft aus. Sein Hemd war von den Schweißflecken des Tages bedeckt, und im weißen Neonlicht hatte er gar nichts mehr von einem Chikniya, er war nur noch hager, hochgewachsen und müde. Er musterte mich mit dem unpersönlichen Mißtrauen des Policiya. Dann sagte er: »Kommen Sie.«

Er führte mich ganz nach vorne, zwischen den geparkten Toyotas und BMWs hindurch, an Reihen von Polizisten und privaten Wachleuten vorbei. Er nickte einem Inspektor zu, der neben der hohen Flügeltür der Filmproduzenten-Villa stand, dann gingen wir durch den vollen Salon und einen mit Marmor ausgekleideten Korridor. Sartaj Singh sprach kurz mit einem Polizeibeamten, wir bogen in einen weiteren Korridor voller Sadhus und Anhänger, traten in einen Garten und an den Anfang der Schlange. Dort saßen drei Sadhus, die die Anhänger einzeln durchließen. Hinter ihnen, in der Mitte des Gartens, erkannte ich das unverwechselbare Profil von Guru-ji, der in seinem Rollstuhl saß und mit einer Frau sprach.

»Okay«, flüsterte mir Sartaj Singh ins Ohr. »Bis hierher habe ich Sie gebracht. Jetzt müssen Sie selbst übernehmen.« Er raunzte die Sadhus an: »Er kommt als nächster dran.«

Ich spürte, wie er mir auf den Rücken schlug, doch ehe ich mich umdrehen und ihm danken konnte, war er schon weg. O ja, ich würde selbst übernehmen. Ich betrachtete Guru-jis Assistenten ruhig, trat einen Schritt nach rechts und baute mich vor ihnen auf. Ich würde als nächster drankommen. Ein großer, flachsblonder firangi Sadhu schien der Chef zu sein, ich lächelte ihn nett an und wandte den Blick so lange nicht von ihm ab, bis er mit einem unsicheren Grinsen reagierte. Mochte ich auch für Guru-ji Schlange stehen, diesem kleinen Lakaien würde ich schon zeigen, daß ich es ernst meinte.

Nach all den Tagen des Wartens war es jetzt eine Sache von zwei Minuten. Die Frau neben Guru-ji stand auf, drehte sich um, und ich schlüpfte an dem firangi Sadhu vorbei. Im Nu war ich bei Guru-ji, war endlich mit ihm allein. Ich kniete mich vor ihn, berührte seine Füße mit den Händen, mit dem Kopf.

»Jite raho, Beta«, sagte er und legte mir die Hand auf den Kopf. »Komm, komm.«

Er hob mich auf, wies auf einen Stuhl. Ich setzte mich. Ich wußte, daß ich lächelte wie ein glücklicher Säugling. Wie ein fröhlicher, unbeschwerter Irrer. Ich saß da, die Hände im Schoß gefaltet, und strahlte ihn an.

»Sag mir, was du möchtest«, sagte er. »Was du brauchst.«

Ich lachte auf. »Ich brauche jetzt gar nichts mehr, Guru-ji. Ich wollte nur bei Ihnen sein.«

Er wußte sofort, wer ich war. Wir hatten viele Stunden miteinander telefoniert, und er kannte meine Stimme so gut wie ich seine. Seine Selbstbeherrschung war perfekt, kein Zusammenzucken, kein Anzeichen von Überraschung, nichts. Nur ein sehr langer Moment, in dem er mich musterte, mit einem harten Blick, der mir durch Mark und Bein ging. Ich hielt seinem Blick stand. Er neigte sich in seinem Rollstuhl ein wenig zur Seite, um mich im vollen Licht zu sehen, und ich hob den Kopf, damit er mir direkt ins Gesicht blicken konnte.

»Ganesh«, sagte er. »Ganesh.«

»Ich bin gekommen, Guru-ji«, sagte ich, doch jetzt war ich nervös. Er war in diesem Moment undurchdringlich, vollkommen still, hart wie Donner. Man konnte nicht behaupten, daß er sich gefreut hätte, und ich hatte Angst, er könnte zornig sein. Ich hatte selbst natürlich einiges riskiert, aber ich hatte auch ihn in Gefahr gebracht. Ich hatte unsere Beziehung auf die Probe gestellt. »Ich bin gekommen, weil ich an Ihrem Yagna teilnehmen wollte.«

»Und du warst die ganze Zeit da?«

»Jeden Tag. Vom ersten bis zum letzten.«

Jetzt veränderte er sich. Er wurde warm, wie eine plötzlich aufgehende Sonne. Er hatte sich nicht gerührt, und doch war mir, als würde ich umfangen. »Du bist ein Narr, Ganesh«, sagte er. »Aber ein guter Narr.«

»Sie haben gesagt, es wäre das wichtigste Yagna Ihres Lebens«, sagte ich. »Ich mußte kommen, Guru-ji.«

Er gab mir einen sanften Klaps auf die Wange. »Bachcha, du bist gekommen, weil ich dich gerufen habe.«

»Ja.«

»Dieses Samarvedha war eine Art Initiation für dich.«

»Ja.«

»Es freut mich, daß du gekommen bist, Ganesh. Aber jetzt mußt du weg von hier, du mußt das Land verlassen. Es ist zu riskant.«

»Ja.«

»Bevor du gehst, möchte ich dich allerdings noch etwas fragen.«

»Fragen Sie, Guru-ji. Ich werde antworten.«

»Was ist mit deinem Vater geschehen?«

Seine Worte wurden zu einem Inferno in meinem Innern, zu einem roten Flammenmeer, das sich von einem harten Punkt aus explosionsartig in mir ausbreitete, in meine Augen stieg und mich völlig ausbrannte. Nicht einmal Asche blieb zurück, keine Asche, die ich vom Altar hätte mitnehmen können, ich verbrannte, und wo vorher ich gewesen war, war nur mehr ein großer Hohlraum. Kein Ganesh Gaitonde mehr. Ich hatte etwas so tief in mir verborgen, hinter undurchdringlichen Mauern so sicher verschanzt, daß ich es beinahe vergessen hatte. Wie hatte sich dieser Mann, der vor mir saß, durch mein Fleisch gegraben und diesen winzigen gepanzerten Raum gefunden, der die gewaltige Energie einer detonierenden Bombe in sich barg? Mir war in diesem Augenblick nicht danach, zu fragen oder zu antworten - Ganesh Gaitonde war zerstört worden. Er existierte nicht mehr. Ich hatte meinen Vater auf ewig versteckt, sogar vor mir selbst, und meine Mutter hatte ich vergessen. Doch jetzt fragte Guru-ji nach, er wußte, daß etwas geschehen war. Und meine übliche Antwort - mein Vater ist tot, meine Mutter ist tot - war nicht mehr möglich. Er hatte den Panzer aufgebrochen, und der Spalt ließ sich nicht mehr schließen. Also schwieg ich.

Er zog mich an sich. Ich war schlaff, hatte keine Kraft, mich ihm zu widersetzen. Ich setzte mich auf den Boden, meine Schulter an seinem Knie. Er legte seine breite Hand behutsam auf meinen kahlen Schädel.

»Ich sehe eine gelbe Wand«, sagte er. »Ich sehe Blut, ein dünnes Blutrinnsal, das die Wand hinunterläuft und auf den Boden tropft.«

Ich weinte. Er wußte es, Guru-ji wußte es, und ich konnte mich nicht vor ihm verstecken.

»Aber mehr sehe ich nicht, Ganesh. Erzähl es mir. Was ist passiert?«

Und so erzählte ich ihm von meinem Vater, Raghavendra Gaitonde, Sohn eines armen Tempelpriesters in Karwar und selbst ein armer Brahmane, verheiratet mit Sumangala. Ich wollte mich weder über den unglückseligen Mann noch über die betrügerische Frau länger auslassen, deshalb erzählte ich die häßliche Geschichte zügig. Raghavendra nagte in Karwar am Hungertuch, denn er erhielt nur selten die Gelegenheit, Pujas abzuhalten und Trauungen vorzunehmen, weil er jung und mild und nicht sehr kompetent war. Daher ging er nach Nashik, als sein Cousin Suryakant Shenoy ihn zu sich rief. Dieser Suryakant Shenoy besaß etwas Ackerland, war an diversen staatlichen Bauvorhaben beteiligt und versuchte sich außerdem ein wenig in Lokalpolitik. Eine Weile war er Geschäftsführer der örtlichen Bezirksstelle der Kongreßpartei gewesen. Er hatte kurz zuvor in einem Dorf namens Digadh ein staatliches Schulgebäude fertiggestellt, und nach Abschluß des Bauprojekts spendete er eine beträchtliche Summe für einen neuen Lakshmi-Narayan-Tempel im Dorf. Raghavendra wurde als Priester in diesem Tempel eingesetzt, bekam ein kleines, aber hübsches und stabiles Haus, das er ebenfalls seinem Cousin verdankte, und wenn sie auch nicht reich waren, so hatten sie doch ihr Auskommen, und Sumangala war endlich zufrieden. Die Lebensbedingungen der Dorfbewohner verbesserten sich nach und nach, nicht zuletzt durch ein Bewässerungsprojekt, das Suryakant Shenoy genehmigt hatte, und als die Spenden an den Tempel stiegen, lebten Raghavendra und Sumangala sogar in einem gewissen Komfort. Außerdem kam Suryakant Shenoy oft zu Besuch und brachte immer einen Sack Gemüse, Ghee, Butter, einen halben Beutel Reis mit. Er habe in den umliegenden Dörfern viel zu tun, freue sich, seine Verwandtschaft zu sehen, und es gebe keinen Anlaß für irgendwelche Förmlichkeiten, schließlich sei es seine Pflicht zu helfen. Unter seiner gütigen Protektion ging das Leben seinen Gang, und nach anderthalb Jahren wurde im Haus ein Sohn geboren. Natürlich gab es Feiern und Rituale, und Suryakant war immer dabei. Der Junge wurde Kiran genannt, auf Suryakants Vorschlag hin. Kiran war ein intelligentes und energisches Kind. Im Alter von acht Monaten und einer Woche konnte er bereits laufen, mit Zwei konnte er sprechen, mit Vier lesen, und zwar nicht nur einzelne Buchstaben, sondern ganze Wörter. Doch in diesem Jahr verlor der Junge auch ein Gutteil seiner natürlichen Fröhlichkeit, er wurde verschlossen und wachsam. Er war jetzt alt genug, um wahrzunehmen, wie die Außenwelt seinen Vater sah. Er bemerkte die scherzhaft-verächtliche Haltung, die die Kinder, mit denen er befreundet war, und deren Eltern gegenüber dem Pandit an den Tag legten, spürte, daß sie ihn als vernachlässigbare Größe abtaten, nicht dumm, aber glücklos, ein Objekt mitleidigen Bedauerns, nicht aber echten Mitgefühls. Kiran hatte für all das keine Worte, aber er wußte es so sicher, wie er wußte, daß seine Mutter als schön galt. In diesem Jahr kam die Kumbh Mela nach den üblichen zwölf Jahren wieder nach Nashik. Natürlich ging Kiran mit seiner Mutter, Suryakant-kaka und einigen Nachbarn hin, um ins Wasser des heiligen Flusses einzutauchen, ungläubig und benommen angesichts der unvorstellbaren Mengen von Pilgern, voller Staunen über die Moschusbeutel, die von den Zigeunerinnen verkauft wurden. Suryakant-kaka kaufte Kiran ein Eis, was noch nie vorgekommen war und Kiran mit heller Freude erfüllte, so daß er sich an Suryakant-kakas breites Handgelenk hängte. Schließlich kamen sie nach Ramkund, wo angeblich Shree Ram sein tägliches Bad genommen hatte, und hier erspähte Kiran durch ein Dickicht aus sich bewegenden Ellbogen und Hüften seinen Vater. Er stand auf dem rutschigen nassen Stein, der ins Wasser führte, in der einen Hand ein Thali627 mit weißem Kumkum353, in der anderen einen kleinen metallenen Stempel. Raghavendra hielt sich bereit, um den Pilgern Tilaks635 zu verabreichen, so wie er selbst eines auf der Stirn hatte. Ein Pilger blieb stehen, und Raghavendra brachte ihm das Naamam437 auf, und da bemerkte Kiran plötzlich, wie dünn sein Vater war, die Haut an seinem Arm war ganz schlaff, und seine gebeugte Haltung drückte eine Ehrerbietigkeit, eine Demut aus, die Kiran wütend machte. Der Pilger legte Raghavendra ein paar Münzen in die Hand, und zum ersten Mal in seinem Leben spürte Kiran, wie ihm bittere Verachtung in die Kehle stieg, er empfand Abscheu für seinen Vater. Dieser Mann war schwach, er war unfähig. Jetzt begriff er, warum die Nachbarn über seinen Vater lachten, warum sie auf diese bestimmte Weise »Ay, Pandita« riefen, wenn sie ihn sahen, und als er es begriff, wurde ihm übel. Er weigerte sich, noch näher zum Fluß zu gehen, was immer die anderen auch sagen mochten, und ab diesem Tag hieß es in der Familie, Kiran habe Angst vor dem Wasser. Diese Geschichte hielt sich und Kirans Verachtung ebenso, bis er eines Nachmittags, es war der erste Tag seines zweiten Schuljahrs, nach Hause kam und eine Menschentraube vor dem Haus stehen sah. Irgend etwas war passiert. Hände griffen nach ihm, doch er riß sich los, trat und biß sich seinen Weg ins Haus frei. Drinnen fand er die Dorfältesten vor, verängstigt und zugleich von prickelnder Erregung erfüllt. Einer von ihnen zeigte nach oben: Blut rann die Wand herunter und sammelte sich unten in einer Pfütze. Kiran schrie, rannte die Treppe hinauf, hämmerte gegen die Knie eines Mannes, der die Tür versperrte, und stürmte hinaus aufs Dach. Doch es war nicht Kirans Vater, der tot auf dem Dach lag, sondern Suryakant-kaka. Er lag bäuchlings auf dem Charpai, mit nacktem Oberkörper. Kiran erkannte den breiten Rücken, die massigen Schultern. Doch Surya-kant-kakas Hinterkopf war nur noch eine breiige Masse, rot und schwarz und cremefarben mit weißen Splittern. Ein weiterer unsicherer Schritt, und dann sah Kiran, daß Suryakant-kakas Gesicht noch völlig intakt war, er starrte mit einer Art konzentrierter Verwunderung auf den Boden, als enthielte der löchrige Backstein ganze Bedeutungswelten. Suryakant-kaka hatte Kiran die Namen der Sterne gelehrt und ihm die Sternbilder gezeigt. Jetzt war er zur Hälfte zerstört.

Ein Nachbar faßte Kiran an den Schultern und versuchte ihn wegzuführen. Wer war dieser Mann? Kiran kannte seinen Geruch, dieses vergilbte Hemd, die langen Hände, doch er erinnerte sich nicht an seinen Namen. »Wer hat das getan?« fragte Kiran, obwohl er es bereits ahnte. Der Mann schüttelte den Kopf, versuchte ihn wegzuführen. Kiran brüllte, riß sich los und fragte wieder: »Wer hat das getan? Wer? Wer?« Eine heisere Stimme stieß hervor: »Sagt es ihm«, und trotzdem war es danach wieder einen Moment lang still. Dann sagte der Mann, der Kiran festhielt: »Dein Vater. Er ist verschwunden.« Und er setzte hinzu: »Deine Aai000 ist unten, bei den Frauen.«

Die Polizei kam, die Frauen gingen, die Leiche wurde abgeholt, und dann war Kiran allein mit seiner Mutter, die im Schlafzimmer zusammengekauert neben einem Holzschrank hockte, das verfilzte Haar im Gesicht.

»Tja«, sagte Gaitonde zu Guru-ji, »mein Vater hat also diesen Suryakant umgebracht und ist verschwunden. Keiner hat ihn je wiedergesehen. Ich weiß nicht, wo er ist.«

»Und deine Mutter?«

»Ich bin bei ihr geblieben, bis ich zwölf war. Dann bin ich weggelaufen, nach Bombay.«

»Du weißt nicht, wo sie ist?«

»Nein.«

Die andern im Dorf hatten sie gemieden. Bis auf die Männer, die vorbeikamen und Sumangala versicherten, sie habe nichts zu befürchten, sie würden sich um sie kümmern, es werde ihr an nichts fehlen. Die Männer brachten - wie zuvor Suryakant - Gemüse, Saris und Geld mit. Zurück zu ihren Eltern konnte sie nicht gehen, denn die wollten sie nicht bei sich haben. Also blieb sie in dem Haus, das einer ihrer Kunden inzwischen hatte neu tünchen lassen. Denn das waren sie: Kunden. Und Kiran bekam nun die geballte Verachtung des Dorfes zu spüren. Sie nannten ihn ganz offen einen Harami261, und die älteren Jungs machten anzügliche Witze über seine Mutter, über ihren Körper, ihre Praktiken und Neigungen. Es verging kein Tag, an dem sein eigener Körper nicht von blauen Flecken übersät gewesen wäre, alten wie neuen. Er unterlag in jeder Prügelei, doch als er eines Tages einen großen Stein nach einem seiner Peiniger schleuderte und nur knapp dessen Kopf verfehlte, begriff die Bande, daß er einen von ihnen hatte umbringen wollen, und nun riefen sie ihm ihre Beleidigungen aus einer gewissen Distanz zu. Er begann ein Messer zu tragen, und sie nannten ihn einen Irren. Er wartete ab, und als er irgendwann seine Angst vor der unbekannten weiten Welt überwinden konnte und das Gewicht des Messers unter seinem Hemd ihm ein Gefühl der Stärke gab, ging er zu Fuß die vierundzwanzig Kilometer zum nächsten Bahnhof und wartete auf einen Zug. Name, Fahrtziel und Abfahrtszeiten des Zuges hatte er schon in Erfahrung gebracht. Als der Zug kam, quetschte er sich in einen der vollen Wagen. Keiner beachtete ihn. Es gab nirgendwo eine Sitzgelegenheit, also lehnte er sich gegen einen Stapel großer Metalltruhen im Gang und wartete abermals. Die Kanten der Truhen schnitten ihm in Rücken und Beine, aber es war ein guter Schmerz. Er fuhr weg. Bei jeder Haltestelle fragte er: »Ist das Mumbai?« Als ein Mann »ja« sagte, stieg er aus. Doch der Mann hatte ihn zum Narren gehalten. Am liebsten wäre er mit dem Messer auf ihn losgegangen, aber der Zug war schon fort. Kiran wartete auf den nächsten Zug. Schließlich kam die Stadt, und jetzt wartete er, bis die Gebäude hoch wurden und eng zusammenrückten und die Straßen voller Autos waren. Er fragte nicht noch einmal. Als er sich seiner Sache sicher war, stieg er aus.

»Und dann warst du zu Hause«, sagte Guru-ji leise. »Wann bist du zu Ganesh geworden?«

»Als mich das erste Mal jemand nach meinem Namen gefragt hat. Ich weiß nicht, warum. Ich habe es einfach gesagt.«

»Ganesh ist der Überlebende. Er übersteht alles, egal was. Er triumphiert.«

Ich saß lange schweigend da, Guru-jis Hand auf dem Kopf. Ich war völlig erschöpft, als hätte ich einen Gipfel erklommen und wäre wieder ins Tal hinabgestiegen, doch zugleich war ich von Ruhe erfüllt. Und mit jedem Pulsschlag wurde ich stärker.

»Ganesh, Beta«, sagte Guru-ji, »du solltest jetzt gehen. Sonst machen sich meine Assistenten noch Gedanken.«

»Ja, Guru-ji.«

»Es war riskant, aber ich bin froh, daß du gekommen bist. Besuch mich in Singapur, wie geplant.«

»Ja, Guru-ji.«

Er zog mich an sich, drückte meinen kahlen Schädel an seine Wange. Dann schickte er mich fort. Ich berührte noch einmal seine Füße und ging. Doch ich verließ nur seinen Körper, seinen verkrüppelten Leib. Er hatte mich angesehen, in mich hineingesehen. Er hatte mir Darshan gegeben und sein Darshan von mir bekommen. Er war jetzt in mir. Er schlug in meinem Herzen. Ich nahm seine große Kraft mit, spürte, wie sie durch meine Arme floß, so konkret wie mein eigenes Blut. Ich sauste auf meinem Roller durch die Stadt, schwebte geradezu durch die vertrauten Straßen, durch einzelne nächtliche Verkehrsballungen hindurch, mühelos und entspannt. Ich konnte vorhersehen, wann die PKWs und Autorikschas sich ins Gehege kommen und wann sie wieder auseinanderdriften würden, ich erkannte die Geometrie ihrer Fahrt. Ich wußte, wo sie hinfuhren, wo die vorbeisausenden Scheinwerfer erlöschen würden. Ich begab mich in den schimmernden Strom hinein und war ohne Furcht, denn mein Körper kannte das Fließen dieses Flusses. Seine Wasser strömten durch mich hindurch.

Ich kam nach Hause, aß mit Bunty zu Abend und bat ihn, mir den nächstmöglichen Flug nach Singapur zu buchen. Doch erst hatte ich noch einen weiteren Gang zu erledigen. Ich wischte Buntys hausmütterliches Gegrummel weg, setzte mich noch einmal auf die Vespa und flitzte davon. Wieder kam ich gut voran, hatte grüne Welle, und schon nach fünfundzwanzig Minuten war ich in der Yari Road. Danach mußte ich zweimal Taxifahrer nach dem Weg fragen, doch nach dem letzten Abbiegen an der Ecke mit dem Tabakgeschäft wußte ich, wo ich war. Ich hatte mir die Gegend tausendmal von Jojo beschreiben lassen, damit ich mir ihr Viertel, ihr Zuhause vorstellen konnte. Ich folgte der Linkskurve und parkte vor ihrem Haus. Ihr blauer Honda stand auf dem zweiten Parkplatz rechter Hand, Nummer 36 A. Ich zählte die Stockwerke ab, eins, zwei, drei, und fand die Eckwohnung. Das Licht war an. Ich wählte ihre Nummer.

»Ganesh?« fragte sie. »Ganesh?«

»Wer sollte es auf diesem Handy denn sonst sein?«

»Werd nicht frech. Wo warst du die ganze Zeit?«

»Ich mußte verreisen.«

»Und das heißt, daß du mich nicht anrufen kannst? Was ist bloß los mit dir?«

»Alles ist in bester Ordnung, Jojo. Warum bist du so wütend?«

»Weil du ein gedankenloser Idiot bist.«

Ich mußte lachen. Kein anderer Mensch auf dieser Welt redete so mit mir. »Ich glaube, du magst mich, Jojo.«

»Nur minimal. Und selbst bei dem bißchen frage ich mich, warum. Ich muß verrückt sein.«

Vor einem der Fenster bewegte sich ein Schatten. Ich konnte mir nur zu gut vorstellen, wie sie durchs Zimmer stampfte und ihre freie Hand gegen diesen fernen Idioten schwang. »Wenn du mich wenigstens ein bißchen magst, Jojo, hätte ich einen Vorschlag.«

»Nämlich?«

»Wir könnten uns treffen.«

»Gaitonde, ich dachte, das hätten wir alles schon durchgekaut.«

»Jetzt ist die Lage aber anders.«

»Warum?«

»Weil ich mich verändert habe.«

»Inwiefern?«

»Da mußt du dich schon mit mir treffen. Sonst wirst du es nie erfahren.«

Sie dachte darüber nach. Der Schatten schob sich wieder an ihrem Fenster vorbei. Dann sagte sie: »Bei mir hat sich nichts verändert, Gaitonde.«

»Du möchtest dich also nicht mit mir treffen?«

»Ich möchte mich nicht mit dir treffen.«

»Letzte Gelegenheit.«

»Diskutier nicht mit mir herum, Gaitonde. Ich bin zu müde.«

Ich diskutierte nicht mit ihr herum. Ich plauderte noch zehn Minuten mit ihr, über ihre Arbeit, ihren neuen Thoku, ihre Mädchen. Es tat gut, mit ihr zu reden, wieder in unser Geplänkel, unsere Freundschaft einzusteigen.

»Du klingst glücklich«, sagte sie.

»Das bin ich auch«, sagte ich. »Das bin ich.« Ich hob die Hand in Richtung der beiden Wachleute vor ihrem Haus, die mich schließlich und endlich bemerkt hatten, sich von ihren bequemen Stühlen erhoben und ans Tor kamen. »Ich muß aufhören, Jojo«, sagte ich und schaltete das Handy aus.

»Hey, Chef«, sagte der eine Wachmann durchs Tor. »Du blockierst die Einfahrt.«

Ich blockierte überhaupt nichts, und sie nervten, aber ich war in freundlicher Stimmung. »Ich fahre schon«, sagte ich leise. Ich drehte den Zündschlüssel um und machte den Scheinwerfer an. Da kam Jojo ans Fenster. Sie muß den einzelnen schwachen Lichtstrahl im Dunkeln gesehen haben. Ich sah sie, sah, wie das Licht auf ihrem Kopf und ihren Schultern spielte. Aber ich bin mir sicher, daß sie mich nicht gesehen hat.

Ich war in Singapur, als wir den Mullah in London liquidierten. »Maulana Mehmood Ghouse in London ermordet«, titelte die Straits Times. Der BBC World Report widmete der Ermordung einen eigenen Beitrag, dem eine Podiumsdiskussion mit zwei Reportern und einem Professor folgte. Sie diskutierten über die möglichen Folgen des Mordes und zählten die in Frage kommenden Täter auf: rivalisierende militante Organisationen in Pakistan, afghanische revolutionäre Zellen, diverse Geheimdienste, die Israelis, die Inder, die Amerikaner. Man kam zu dem Schluß, daß es wahrscheinlich die Israelis gewesen waren.

Der Termin für den London-Besuch des Mullahs war vorverlegt worden, und Mr. Kumar hatte den ersten Besuchstag als Termin für die Operation bestimmt. »Wenn möglich, schlagt zu, bevor er sich in den Medien äußern kann«, hatte er gesagt. Und das taten wir. Trotz der Eile leisteten wir saubere Arbeit. Leicht war es allerdings nicht. Der Mullah wurde durch doppelte Sicherheitsmaßnahmen geschützt, von seinen eigenen Leuten und von der britischen Polizei. Wir durften keine große Bombe einsetzen, in der Hauptstadt eines befreundeten Landes sollte es keine zivilen Opfer geben. Also verwendeten wir eine kleine. Sein Hotelzimmer war durchgecheckt worden und das Auto, das er benutzen würde, ebenfalls. Das volle Programm. Mr. Kumar wußte schon lange im voraus, in welchem kleinen, aber exklusiven Hotel der Mullah absteigen würde und daß es in diesem Hotel nur zwei Suiten gab, im obersten Stockwerk. In den detaillierten Hintergrundinformationen, die Mr. Kumar uns hatte zukommen lassen, wurde besonders hervorgehoben, daß der Mullah früher Elektroingenieur gewesen war und daß er immer mit einem Laptop reiste, damit er überall auf der Welt Zeitung lesen und - vermutlich - verschlüsselte E-Mails an seine Leute schicken konnte. Laut unseren Informationen tat er das am liebsten abends im Bett, Pistazien knabbernd. Deshalb hatten wir in beiden Suiten die Steckdosen neben dem Bett manipuliert. Die Sicherheitsteams suchten die Suite nach Wanzen und Bomben ab, aber die Steckdosen gingen durch. An seinem ersten Abend im Hotel schloß der Mullah seinen Laptop an, woraufhin Kabel und Gerät sofort durchschmorten. Er fluchte und tobte und befahl seinen Leuten, an der Rezeption anzurufen. Die Frau an der Rezeption entschuldigte sich und bot an, ihm das Business Center im Erdgeschoß aufzuschließen, damit er dort ins Internet gehen konnte. Der Mullah schimpfte noch etwas herum, griff nach seiner Schale Pistazien und ging hinunter ins Business Center. Seine Sicherheitsleute checkten den Raum durch, doch der Mullah stand wutschnaubend vor der Tür und machte ihnen Druck. Der Computer war bereits hochgefahren, und der Mullah wollte unbedingt ins Netz. Er war ungeduldig. Er ging hinein und setzte sich an den Rechner. Zehn Minuten lang sah er seine Zeitungen durch und verteilte Pistazienschalen auf dem Boden. Dann führte ein Europäer, der in der Lobby saß, ein kurzes Telefonat mit einem Handy. Woraufhin ein anderer Mann, ein Inder, der in einem vor dem Hotel geparkten Wagen saß, auf einen Knopf drückte. Und dann explodierte unter den Händen des Mullahs die Tastatur, beide Arme wurden ihm unterhalb des Ellbogens abgerissen, und kleine Plastiktasten mit englischen Buchstaben bohrten sich in sein Gehirn.

Unsere Operation war so brillant wie elegant, das fand selbst Mr. Kumar. »Kein Mensch wird glauben, daß das Inder waren«, sagte er.

»Wieso, halten die meine Jungs für zu blöd, um so was durchziehen? Meinen die, wir wären zu dehati155, um mit Computern umgehen zu können?«

»Nicht nur Sie, Ganesh, wir«, sagte Mr. Kumar. »Die ganze Welt, unsere eigene ausgesprochen freie Presse eingeschlossen, wird es für unmöglich halten, daß wir das waren.«

»Saab, ich kann eindeutige Beweise ...«

»Lassen Sie mal, Ganesh«, sagte Mr. Kumar. »Die sollen ruhig denken, daß das die mächtigen Israelis waren. Die sollen uns ruhig unterschätzen. Ein verwirrter Feind ist besser als ein beeindruckter, aber vorsichtiger Feind. Lassen Sie mal. Ich habe Ihnen ja gesagt, wir sind die unsichtbaren Soldaten, wir kriegen keine Orden.«

Und so beließen wir es dabei. Es war frustrierend, für solch einen großen Sieg keine Anerkennung zu erhalten, aber ich akzeptierte Mr. Kumars Standpunkt. Er hatte sein Leben lang auf Anerkennung verzichtet, uns allerdings fiel das nicht so leicht. Ich zahlte allen, die an der Operation beteiligt gewesen waren, eine dreifache Zulage und schickte sie nach Bali in Urlaub. Und natürlich verkniff ich es mir, Guru-ji, der die Umstände des Anschlags faszinierend fand, von der Operation zu erzählen. »Diese Israelis erfassen die Psychologie ihrer Opfer sehr genau«, sagte er. Manchmal war ich froh, daß seinen hellseherischen Fähigkeiten gewisse Grenzen gesetzt waren. Was er allerdings deutlich sah, das waren Bilder von gewalttätigen Männern, die ihn suchten, die Jagd auf ihn machten, und deshalb verschärfte er seine persönlichen Sicherheitsvorkehrungen. Ich beriet ihn dabei. Schließlich war es mir in Bombay gelungen, bis zu ihm vorzudringen, ohne auch nur einmal durchsucht zu werden.

Ich für mein Teil erfaßte die Psychologie von Guru-ji nicht einmal ansatzweise, ich wußte bloß folgendes über ihn: Er war in der Nähe von Sialkot geboren, am 14. Februar 1934 um 21 Uhr 42. Aufgewachsen war er an verschiedenen Orten im westlichen Punjab, die Familie war mit dem Vater, einem Flugzeugtechniker, von einem Luftwaffenstützpunkt zum anderen gezogen. Durch die Teilung des Landes verschlug es sie in den Osten; sie legten ihren Weg unter dem Schutz der Streitkräfte wohlbehalten zurück und ließen sich erst in Jodhpur, dann in Pathankot nieder. Guru-ji wurde zu einem gefeierten Sportler, von der achten Klasse an war er der Kapitän jeder Kricketmannschaft, für die er spielte. Man hoffte, ja rechnete damit, daß er einmal für die Nationalmannschaft spielen würde. Einen Tag vor seinem achtzehnten Geburtstag lieh er sich in Pathankot das Motorrad seines Vaters aus, um sich zu einem Kinobesuch mit seinen Freunden zu treffen. Nicht weit vom Haupteingang des Stützpunkts entfernt, in der Nähe des erbeuteten pakistanischen Panzers mit dem nach unten zeigenden Geschützrohr, geriet er ins Schleudern und kam von der Straße ab. Es war ein sonniger, schöner Tag, und die Straße war weder naß noch ölverschmiert gewesen. Man fand nie heraus, warum es passierte. Die Militärpolizei entdeckte ihn und brachte ihn ins nahe Militärkrankenhaus, wo man sich sofort um ihn kümmerte. Doch einer seiner Lendenwirbel war zerstört, und seine untere Körperhälfte blieb gelähmt. »An meinem ersten Tag als Mann erwachte ich«, erzählte er mir in Singapur, »und mußte feststellen, daß ich nur noch ein halber Mann war. Aber dafür, Ganesh, hatte ich etwas anderes.«

Dieses andere waren seine Visionen. Vor dem Unfall war er ein ganz normaler Punjab-Junge gewesen, der sich für Kricket, schnelle Motorräder und gutes Essen, für seine Yaars und seine Prüfungen interessierte. Er glaubte auf eine eher allgemeine Weise an den furchtlosen Hanuman, ging mit seiner Mutter in den Tempel und tratschte bei Hochzeiten, während die Priester sangen. Dies war das ganze Ausmaß seiner Spiritualität. Doch nach seinem Unfall hatte er Visionen. Er sah die Vergangenheit und die Zukunft. Es waren keine traumartigen, wirren und veschwommenen Bilder. Er sah Details, sah die Farbe der Zunge eines Mannes, die Stickerei auf dem Taschentuch einer Frau. Er roch Bratöl, hörte Wasser auf Backstein tropfen. Zwei Tage nachdem er das Bewußtsein wiedererlangt hatte, sagte er zu einer Krankenschwester: »Dieser Mann - Fred? Phillip? -, der Ihnen eine Goldkette geschenkt hat, denkt immer noch an Sie.« Wer im Krankenhaus arbeitet, ist an phantasierende Menschen gewöhnt. Aber diese Krankenschwester hatte eine Liebesbeziehung zu einem deutlich älteren angeheirateten Cousin gehabt, von der nie jemand erfahren hatte - und diesem verletzten Jungen hatte sie nun ganz gewiß nicht davon erzählt. Auf dieser Episode gründete Guru-jis Ruf, der sich erst in der Stadt und bald über ihre Grenzen hinaus ausbreitete. Und dieser Zwischenfall war auch der Beginn seiner großen Reise nach innen, seines Versuchs, das Wesen des Selbst, der Zeit und des Universums zu verstehen. »Ich mußte versuchen zu begreifen, was da mit mir geschah, Ganesh«, sagte er. Sein Krankenhausbett war der Ausgangspunkt seiner Meditationen und Lektüre, seiner späteren Treffen mit Philosophen, Sadhus, Tantrikern und Pandits. Seiner langen, unablässigen Suche. »Durch meine Verletzung habe ich zu mir selbst gefunden«, sagte er. »Ich wurde von außen nach innen gewendet.«

Was nicht bedeutete, daß er am Außen nicht interessiert gewesen wäre. Er hatte eine Passion für die Naturwissenschaften, für modernes Wissen. Er las jedes wissenschaftliche Magazin, das er in die Finger bekam, und dicke Bücher darüber, was auf der Erde kreuchte und fleuchte, bevor es den Menschen gab, und was durch die Räume der Zukunft fliegen würde. Er verfolgte aufmerksam die Neuerungen und Neuheiten im Computerwesen und unterhielt sich mit mir über Medizin, Lasertechnik und das Klonen. Er hatte einen Rollstuhl, der Treppen hochfahren, auf zwei Rädern um die Ecke biegen und auf einem Rad balancieren konnte. Seine Augen leuchteten, wenn er über Gyroskope, Software und umweltfreundliche Energiegewinnung sprach. Er saß im Verwaltungsrat von drei Universitäten. Er war ein weltlicher Mann. Er war frei von jenem blinden Haß auf Muslime, den ich in Indien und auch im Ausland so oft erlebt hatte, jenem Abscheu gegen Burkas, das Essen von Rindfleisch und mangelnde Körperhygiene. Muslime waren Guru-ji bei seinen Predigten und in seiner Gefolgschaft stets willkommen. Was er nicht mochte, war ihre Neigung zur Expansion, ihr Wunsch, alles an sich zu reißen, immer zu herrschen. Er wies mich darauf hin, daß sie in jedem Land, in dem sie lebten, soziale Unruhe stifteten, und daß sie sich gegen den Lauf der Welt stemmten. Natürlich sagte er mir das nur unter vier Augen. Wenn er öffentlich sprach, war er sehr vorsichtig. Doch als wir allein waren, sagte er: »Seit dem Fall der Moschee und den Tumulten importieren die Moslems Waffen.« Das stimmte. Meine eigenen Quellen bestätigten es. Gewaltige Mengen von Automatikgewehren und Granaten waren ins Land geschmuggelt worden. Sogar von Panzerabwehrwaffen und Stingers war die Rede. Wenn die Moslems einfach nützliche Mitglieder unserer Gesellschaft wären, sagte Guru-ji, wenn sie wüßten, wo ihr Platz ist, und sich anzupassen versuchten, dann gäbe es keine Probleme. Aber in ihrer Religion gibt es eine Tendenz, die sie gefährlich macht. »Und deshalb«, sagte Guru-ji, »müssen wir gewappnet sein. Wir müssen uns ebenfalls bewaffnen, mögen unsere Politiker auch noch so feige sein.« Und genau das taten wir. Wir rüsteten auf, und Guru-ji steckte weiterhin Geld sowohl in diese geheimen Aktivitäten als auch in seine Bemühungen, die Öffentlichkeit über die bevorstehenden Umwälzungen, das Ende des Kaliyug, zu informieren und sie darauf vorzubereiten.

Wir saßen auf einem Dach in Singapur, als er mir von seiner Arbeit für die Universitäten berichtete, über seine pädagogischen Hoffnungen für die Zukunft. Da wir in Singapur waren, mußte ich mich immer wieder bremsen, um nicht über das Geländer zu spucken, auf die Straße und die ordentlichen Bürger da unten. Aber Guru-ji liebte Singapur. Er mochte die Hygiene und die strengen Regeln und die Menschen dort, und er nutzte die Stadt auf seinen Reisen als Ruhe- und Angelpunkt. Er hatte hier einen reichen Anhänger, einen Immobilienmagnaten, der ein geräumiges Penthouse in der Tanglin Road für ihn bereithielt. Das Penthouse hatte eine große Dachterrasse mitsamt ausgewachsenen Bäumen und echtem Rasen. Von dieser Terrasse aus blickten wir auf die glitzernde Skyline. Guru-ji gefiel dieser hochgelegene Garten. »Wenn unser Land gut geführt würde, Ganesh«, sagte er, »dann könnten wir alle so leben. Was fehlt uns? Wir haben die Ressourcen. Und wir haben mehr als genug fähige Leute. Aber es fehlt uns an politischem Willen und an der richtigen Struktur. Uns fehlt es an Disziplin, innerlich wie äußerlich.«

»Sie werden uns zur Ram rajya führen, Guru-ji.«

»Willst du mir schmeicheln, Ganesh?« Er knabberte Karottenschnitze und zwinkerte mir zu.

»Ganz gewiß nicht, Guru-ji.« Ich fläzte mich auf einem Liegestuhl neben ihm, die nackten Füße hochgelegt. Ich hatte Indien von Delhi aus mit einem anderen Paß und neuem Namen verlassen, hatte mir den Bart abrasiert, und nun kam ich jeden Abend als angeblicher Unternehmensberater zu Guru-ji, und wir aßen im Garten zusammen zu Abend. Wir unterhielten uns über alles mögliche - die Welt, mein Leben. Ich erzählte ihm von meinen Anfängen in Gopalmath, vom Tod meines Sohnes. Er kannte mich besser, als mich je ein Mensch gekannt hatte.

»Wirst du langsam ungeduldig?« fragte er.

»Ungeduldig, ich?«

»Du bist jetzt schon fünf Tage hier. Du willst die Initiation hinter dich bringen, willst nach Hause und dich wieder deiner Arbeit widmen.«

»Nein, Guru-ji, das nicht. Meine Arbeit läuft auch so weiter, die erledige ich ohnehin übers Telefon. Und ich erlebe hier bei Ihnen einen Frieden, den ich noch nie erlebt habe. Aber ich mache mir Sorgen.«

»Worüber?«

»Über unsere Sicherheit. Je länger ich bleibe, desto riskanter ist es. Für Sie wie für mich. Wenn mich jemand erkennt ...«

»Ja.«

»Und irgend jemand sucht immer nach mir.«

»Deine Feinde.«

»Ich will Sie nicht in Gefahr bringen, Guru-ji.«

»Ich verstehe. Und ich stimme dir zu. Aber diese Tage hier sind notwendig.« Er nagte an einem weiteren Karottenstück. »Hast du irgendeine Vorstellung, worin deine Initiation bestehen könnte, Ganesh? Was wir tun werden?«

»Irgendeine Puja. Ein geheimes Mantra. Ein Ritual.«

Er grinste wieder. »Ein Ritual mit einem Menschenopfer? Ein Baby, das auf dem Altar irgendeiner fürchterlichen Göttin getötet wird?«

»Wenn es denn nötig ist ...«

Er warf die Hände in die Luft. »Are, sei still, Ganesh. Nein, nichts dergleichen. Rituale sind sehr wirkungsvoll, aber du hast schon ein Ritual mit mir vollzogen. Du hast mich bei dem Opfer begleitet. Nein, was du jetzt brauchst, ist kein Ritual. Weißt du, worin deine Initiation besteht? Bitte schön: Diese letzten fünf Tage waren deine Initiation.«

»Guru-ji?«

»Du hast hier gesessen und mir von dir erzählt. Du hast mir alles von dir gegeben. Du hast mir Dinge erzählt, die du nie zuvor jemandem gestanden hast.«

Er hatte recht. Ich hatte ihm von meiner Angst vor Pistolenkugeln erzählt, von meinem Verlangen nach Frauen, von dem Gold, mit dem ich meine Laufbahn begonnen hatte, von allem außer meiner Arbeit für Mr. Kumar. Das war ein anderes Ich, und dieses Ich konnte ich Guru-ji nicht geben.

Am nächsten Tag verließ ich Singapur. Auf dem Weg zum Flughafen traf ich mich ein letztes Mal mit Guru-ji, nur für fünf Minuten. Auch er war im Begriff zu verreisen, diesmal nach Südafrika. Wir trafen uns in der Küche eines Konferenzzentrums, wo er vor einer Gruppe von Hindu-Historikern einen Vortrag hielt. Ich berührte seine Füße. »Ich fühle mich leicht, Guru-ji«, sagte ich. »Ich fühle mich, als wäre ein Vorhang aufgezogen worden. Oder ein Fenster geöffnet.«

Er war stolz auf mich, strahlte eine ruhige, innere Freude aus. Allein mich zu sehen stimmte ihn froh. »Ich weiß«, sagte er. »Du bist wirklich ein Vira662. Nichts erfordert soviel Mut wie die Reise nach innen. Und du bist wahrhaft furchtlos gewesen. Jetzt bist du bereit, den nächsten Schritt zu tun.«

Er hatte einen Plan, das merkte ich. Auch ich kannte ihn jetzt besser. Es war eine Folge des Darshan. Wir hatten jeder in den anderen hineingeschaut. »Den nächsten Schritt? Wohin, Guru-ji?«

»Dieses Mädchen.«

»Was für ein Mädchen?«

»Schon vergessen? Das Mädchen, von dem du mir erzählt hast - du hast mir ihre Geburtsdetails geschickt.«

»Ah, die Große.«

»Die muslimische Jungfrau, genau. Laß sie kommen, Ganesh.«

»Unsere Sterne passen also zusammen, Guru-ji?«

»Du hast auf die Sterne eingewirkt, Ganesh. Du bist ein mutiger Mann. Hol dir das Mädchen. Jetzt werden wir die Welt wirklich in Bewegung setzen. Hol dir dieses Mädchen. Und von nun an darfst du nur noch Jungfrauen nehmen.«

»Jungfrauen?«

»Du bist ein Vira, und Jungfrauen werden dir die größte Kraft verleihen. Du wirst aus dem Wissen um ihre Reinheit immer neue Energie beziehen. Und Energie wirst du in den bevorstehenden Zeiten brauchen.«

Dann mußte er zu seinen Historikern zurück. Wir verabschiedeten uns mit einer Umarmung im Essens- und Blumenduft. Ich fuhr nach Hause, in mein schwimmendes Schloß. Und ließ die große Jungfrau kommen.