An einem Samstag rief K. R. Jayanth, der Taschendieb, Sartaj spätabends an. »Ich hab den Chokra mit dem roten T-Shirt«, sagte er. Der Junge war zwar nicht bei ihm, aber Jayanth wußte seinen vollen Namen und die Namen der anderen Jungen, mit denen er zusammenarbeitete, und er wußte auch, wo sie nachts schliefen. Er beschrieb des langen und breiten, wie scharf er nach einem roten T-Shirt Ausschau gehalten, wie er pausenlos aufgepaßt und sich noch über seine normale Arbeitszeit hinaus am Kino aufgehalten hatte. Und an diesem Samstagabend, nachdem der Andrang zur Spätvorstellung abgeebbt war, hatte er Rotes T-Shirt beim Parkplatz hin und her laufen und die Nachzügler anbetteln sehen. Jayanth war schlau genug gewesen, in einiger Entfernung stehenzubleiben. Als es auf dem Weg und dem Parkplatz still geworden war, hatte er Rotes T-Shirt herangewinkt. Flankiert von seinen beiden Yaars, war der Junge vorsichtig näher gekommen. Jayanth hatte darauf geachtet, sich im richtigen Winkel zu postieren, und kaum hatte Rotes T-Shirt den Mund aufgemacht, hatte Jayanth den schwarzen Zahn gesehen. Es war der richtige Chokra. Die drei waren ein abgebrühter kleiner Trupp, barfuß, zäh, mißtrauisch. Aber Jayanth hatte sie eingewickelt, mit Geld vor allem. Er habe einen Freund, hatte er gesagt, der suche ein paar clevere Jungs für einen Job. »Was für einen Job?« hatte Rotes T-Shirt gefragt und seinen Mittelfinger in einen Ring aus Daumen und Zeigefinger der anderen Hand gesteckt. Jayanth hatte sie beruhigt: Nichts mit Sex, der Freund handle mit diversen Waren und brauche ein paar aufgeweckte Jungen für Kurierdienste und Transport. Er hatte ihnen hundert Rupien gegeben und gesagt, es werde noch mehr Cash dabei herausspringen, und zwar haufenweise.
»Sie haben den Jungen gesagt, ich sei ein Bhai?« fragte Sartaj.
»Nein, nein, nur so ein Import-Export-Mensch. Sonst hätte ich nie was aus denen rausgekriegt. Und wie Sie sehen, hat es ja bestens funktioniert. Wir haben sie, die kleinen Scheißer. Morgen bring ich sie Ihnen.«
Informanten wollten noch mehr gelobt werden als Zeugen, also lobte Sartaj Jayanth. Manche bildeten sich ein, ihre Zuträgerei mache sie zu Mitgliedern eines Teams der Verbrechensbekämpfung: sie und Sartaj gegen die kriminellen Schweine. Sartaj hatte das x-mal erlebt, und er staunte immer wieder, wie sich noch die mickrigsten Diebe als Detektive fühlten, mit welcher Selbstverständlichkeit sie die eigenen Untaten mit dem billigen Gold der Moral überzogen. Wir alle stinken, dachte er, aber keiner von uns will den eigenen Gestank riechen. Und er sagte: »Ja, wir haben sie, die kleinen Scheißer. Gut gemacht.«
Sartaj notierte sich die Namen der Chokras und vereinbarte mit Jayanth ein Treffen am Nachmittag darauf. Er legte auf und spürte eine leise Erregung, wie immer, wenn es in einem Fall voranging, wenn man an den steilen Klippen des Unbekannten einen höchst unsicheren Halt fand. Doch schon im nächsten Augenblick überfiel ihn wie ein Monsunfieber wieder die Angst vor Bomben, Gurus und Vernichtung. Er kam sich töricht vor, weil er sich über Jayanth freute, weil er an seinen anderen Fällen weiterarbeitete. Was für einen Zweck hatte es, sich mit dem täglichen Einerlei von Erpressung, Diebstahl und Mord zu befassen, wenn diese massive Angst wie eine schwarze Wolke über einem hing? Es war eine abstrakte Gefahr, dieses Feuer, das alles hinwegfegen würde, es war nicht real. Doch mit seinen eindringlichen Bildern verdrängte es das Banale. Sartaj blinzelte. Er saß an seinem Schreibtisch, in seinem schmuddeligen kleinen Büro mit den abgewetzten Bänken und dem Durcheinander in den Regalen. Kamble arbeitete an einem Bericht. Im Flur draußen lachten zwei Polizisten. Durch eines der Fenster fiel ein Fleck Sonnenlicht auf den Boden, und auf dem Fensterbrett hüpfte ein Spatzenpärchen hin und her. Sartaj sah alles wie im Traum, wie hinter einem Schleier aus hauchdünnem Morgendunst. Gestattete man sich, an dieses Ungeheuerliche zu glauben, und sei es nur ein klein wenig, dann trat die normale Welt mit ihren Schmiergeldern, ihren Scheidungen und Stromrechnungen in den Hintergrund. Sie wurde verschluckt.
Halte dich an die Details. Sartaj rieb sich die Augen und schüttelte den Kopf. Halte dich an die Details. Die Einzelheiten sind real. Irgendwie war es wichtig, sich um Mrs. Kamala Pandey und ihren schäbigen Ehebruch zu kümmern, um den Chokra mit dem roten T-Shirt. Sartaj empfand Loyalität gegenüber dem Normalen, eine plötzliche Zuneigung für Mrs. Pandey mit ihrer glatten Schönheit, ihrem geschminkten Gesicht und ihrer Gier nach Glamour. Doch immer wieder drängte sich die Frage auf: Wer war Gaitondes Guru? Sartaj tappte im dunkeln. Gurus gab es überall, an jeder Straßenecke. Es gab muslimische Gurus, vedische Gurus, Gurus, die als Kinder japanischer Eltern auf Hawaii geboren waren, und Gurus, die behaupteten, es gebe keinen Gott. Es gab Gurus, die Kräuterpulver verkauften, und andere, die Krebs heilten, indem sie ihren Patienten magische Goldfische zu schlucken gaben. Jeder von ihnen konnte Gaitondes Guru sein. Vielleicht war sein Guru für andere gar kein Guru, vielleicht war Gaitonde Schüler eines Privatgurus gewesen. Sartaj hatte einmal einen Yogi gekannt, einen leitenden Angestellten eines Pharmaunternehmens in Chembur, der ausschließlich von Obst lebte, als Schüler nur die eigenen Kinder und enge Freunde akzeptierte und keine Geschenke annahm; am Guru Purnima254 umgebe ihn ein goldener Schein, hatte es geheißen. Gaitondes geheimer Guru konnte ein gänzlich unbekannter Guru sein. Die Menschen fanden spirituelle Bindungen an den seltsamsten Orten, fanden Beistand und Trost bei Bauern und Postbeamten. Es gab Polizisten, die sich als Wahrsager betätigten und linkshändiges Tantra praktizierten. Wo sollte Sartaj nach Gaitondes Guru suchen? Er wußte es nicht.
»Haben Sie einen Guru?« fragte er Kamble, als sie sich am Sonntagnachmittag in der Nähe des Apsara-Kinos trafen. Sie saßen bei einer Cola in einem Restaurant ein Stück die Straße hinunter und warteten. Kamble trug seinen Sonntagsstaat, einen silbergrauen Bandhgalla-Anzug053; er mußte später noch zu einer Hochzeit.
»Klar hab ich einen Guru.« Kamble zog seine Jacke aus. Darunter trug er ein silberglänzendes Hemd mit Nehru-Kragen. »Er wohnt in Amravati. Einmal im Jahr gehe ich zu einem Darshan zu ihm. Hier.« Er beugte sich vor und zog eine seiner beiden goldenen Halsketten hervor. Der sechseckige Anhänger umschloß ein kleines Bild seines Gurus, eines rundgesichtigen Mannes mit buschigem Bart. »Er heißt Sandilya Baba. Er verehrt Ambadevi. Sie hat ihm viele Darshans gegeben.«
»Sie kommt zu ihm und spricht mit ihm?« Sartaj konnte sich nur mit Mühe einen ironischen Unterton verkneifen.
»Ja, sie spricht mit ihm. Er ist der zufriedenste Mensch, dem ich je begegnet bin. Immer gut drauf.« Kamble steckte den Anhänger wieder in sein Hemd. »Ihr Sardars habt doch auch Gurus, oder nicht? Außer den Ursprünglichen?«
»Ja, wir haben Babas verschiedenster Art. Manche Leute folgen ihnen.«
»Sie nicht?«
»Nein, ich nicht.«
»Sie haben keinen Guru! Warum nicht?«
Es war eine völlig berechtigte Frage, auf die Sartaj jedoch keine Antwort wußte. Er tippte auf seine Uhr. »Es ist gleich soweit«, sagte er. »Wir sollten uns bereitmachen.«
Kamble schob sich aus der Nische heraus und nahm seine Flasche. »Sie sollten sich einen Guru suchen«, sagte er. »Kein Mensch kommt ohne einen Führer durchs Leben.«
Er ging zu einem Tisch nahe der Tür, nahm Platz und schlug eine Zeitung auf. Sie wollten so tun, als würden sie sich nicht kennen, und Kamble fungierte als stille taktische Reserve für den Fall, daß die Jungen die Flucht ergriffen. Er hätte diesen Zweck besser erfüllt, wenn sein Anzug und sein Hemd nicht so auffällig gewesen wären, aber das war nun einmal sein Stil. Sartaj wischte die narbige Resopalplatte seines Tischs mit einer Papierserviette sauber und fragte sich, was Baba Sandilya wohl von glänzenden Hemden hielt, von Schmiergeldern und Schießereien. Vielleicht hatte er die Aufgabe, Verfehlungen im Rahmen der höheren Gerechtigkeit des Himmels wiedergutzumachen, vielleicht sah er es nicht so eng, wenn da und dort Regeln gebrochen wurden. Er war ein Führer für das Kaliyug, dieser Sandilya Baba.
Der Besitzer des Restaurants stand auf einem Stuhl und drehte an den Knöpfen des Radios, das in einem kleinen Regal über einem Schrank stand. Endlich bekam er einen Sender herein, und ein Song aus dem Film Guide tropfte in das leise Klappern und Schwirren der Deckenventilatoren. Sartaj trank seine Cola aus und bestellte noch eine. Kamble glaubte also an Ambadevi, und zwar durch Vermittlung Sandilya Babas. Glaube muß etwas Schönes sein, dachte er. Er selbst hatte nie geglaubt. Schon als Kind, wenn er neben Papa-ji im Gurudwara gestanden, die Augen geschlossen und die vorgeschriebenen Gebete gesprochen hatte, war es ihm schwergefallen, sich wirklich zu versenken. Für Papa-ji war Vaheguru eine lebendige Kraft gewesen, die an jedem Tag seines Lebens bei ihm war, er hatte jeden Morgen zu Vaheguru gebetet, und er hatte seinen Namen geflüstert, wenn die Gicht seinen Zeh anschwellen ließ. Für Sartaj aber war Vaheguru immer ein ferner, verschwommener Begriff gewesen, eine Idee, an die er gern geglaubt hätte. Wenn er sich an ihn wandte, stellte sich nur ein schmerzhaftes Gefühl des Verlustes ein. Trotzdem ging er mit Ma in den Gurudwara, ließ seine Haare wachsen, trug einen Kara und hatte einen Miniaturkirpan in der Tasche. Er tat es der tröstlichen Wirkung der Tradition wegen, aus Liebe zu seinen Eltern und aus Stolz darauf, daß er Sikh war. Aber er trug diesen geheimen Verlust, diese Abwesenheit Vahegurus in sich. Ja, es wäre schön gewesen, einen Guru zu haben, einen Mittler, der mit dem Allmächtigen persönliche Gespräche führte. Doch Papa-ji hatte nichts von diesen neumodischen Babas, diesen Scharlatanen gehalten: Die Khalsa330 habe das Guru Granth Sahib253, hatte er gesagt, und dieses Buch sei der einzige Guru, den ein Sikh brauche. Er war in diesem Punkt sehr strikt gewesen.
Drei Jungen betraten die Dhaba, gefolgt von Jayanth. Sie gingen an Kamble vorbei, und Sartaj nickte Jayanth zu. »Setzt euch«, sagte er.
Die Chokras setzten sich dicht nebeneinander ihm gegenüber, der Kleinste als letzter. Er griff nach einem Löffel und begann ihn zu drehen, wieder und wieder. Jayanth schob sich neben Sartaj in die Nische und stellte ihm die Jungen von links nach rechts vor: Ramu, Tej, Jatin. Das ist Singh-saab, von dem ich euch erzählt habe.«
»Worum geht's?« fragte Ramu, der Alteste und offensichtlich der Anführer. Er trug ein schwarzes T-Shirt mit silbernen Sternen darauf, nicht das rote, in dem Jayanth ihn gesehen hatte. Er war so mager wie die beiden anderen, seine Haut war von der gleichen Schmutzschicht überzogen, seine Haare wie ihre steif von Staub, aber er wirkte souverän und blickte Sartaj aus seinen schwarzen Augen gerade an. Er hatte keine Angst, er war nur mißtrauisch. Sartaj hätte ihn ohne weiteres als Kurier angeheuert.
»Eine Cola?« fragte Sartaj. »Was zu essen?« Ramu schüttelte den Kopf. Die beiden anderen taten es ihm schweigend nach, aber Sartaj spürte ihren Hunger wie Hitzeflimmern über der Tischplatte. Er hob die Hand. »He!« rief er. »Vier Cola und drei mal Chicken biryani. Schnell.«
Ramu gefiel diese Verzögerung nicht, aber Reißaus nehmen wollte er dennoch nicht. Er schwieg weiter, und wieder taten es ihm Tej und Jatin gleich. Sie waren zwölf, dreizehn Jahre alt, rauhe Burschen voller frühreifer Klugheit. Tej hatte eine Narbe, die über seinen Hals bis in die Haare hinauflief. Kaum standen die Teller vor ihnen, machten sie sich über die Reis- und Hühnerfleischberge her. Jatin, der Kleinste, aß genauso schnell wie die anderen, drehte aber zugleich sein Wasserglas, das ihn zu faszinieren schien, zwischen den Bissen schnell im Kreis, ohne auch nur ein einziges Mal aufzuschauen. Über ihre Köpfe hinweg tippte Kamble auf seine Uhr. Er mußte zu seiner Hochzeit.
Ramu drehte sich um. »Wer ist das?« Er hatte Sartajs Blick aufgefangen. Als er sich wieder Sartaj zuwandte, sah dieser den schwarzen Zahn. Beachtlich, daß Kamala Pandey diesen Schönheitsfehler bemerkt hatte, obwohl sie Ramu nur wenige Sekunden gesehen hatte. Ja, Kamala war ein schlaues Mädchen, immerhin hatte sie vor der Nase ihres Mannes eine Affäre laufen. Ramu hielt einen Hähnchenschlegel in der Hand und wirkte sehr nervös.
»Ein Freund von mir«, sagte Sartaj.
»Warum sitzt er nicht bei uns am Tisch?«
»Dem gefällt es da besser. Hör zu, Ramu. Weißt du, wer ich bin?«
Ramu legte den Schlegel weg.
»Saab hat dich was gefragt«, sagte Jayanth. Er hatte seine Cola ausgetrunken und tupfte sich mit einem sauberen weißen Taschentuch die Mundwinkel. »Ob du weißt, wer Saab ist.«
Ramu und Tej vergaßen ihr Essen und sahen Sartaj aus großen Augen prüfend an. Ramu schaute erneut über die Schulter zurück. Kamble saß jetzt hinter ihm, den Arm auf der Rückwand der Nische.
»Bhenchod«, sagte Ramu zu Jayanth mit einer Stimme voller Härte und Bitterkeit. »Du hast uns zur Polizei gebracht, du altes Arschloch. Aber wir sprechen uns noch, Bhenchod, und dann kannst du was erleben!«
»Eßt weiter«, sagte Sartaj. »Niemand will euch was tun.«
Ramu wollte die Flucht ergreifen, aber Kamble legte ihm die Hand auf die Schulter und drückte sie sanft. »Hört auf Saab«, sagte er. »Eßt.«
Tej und Jatin warteten auf Anweisungen ihres Anführers. Ramu nahm die Ellbogen vom Tisch und lehnte sich mit zusammengebissenen Zähnen zurück. Ein störrischer Junge. Sartaj mochte ihn.
»Okay«, sagte er. »Wie wär's mit einem Deal?« Er legte einen Fünfzig-Rupien-Schein auf den Tisch und strich ihn glatt. »Der gehört dir, wenn du mir zuhörst. Ich bin nicht daran interessiert, dir Ärger zu machen. Ich bring dich nicht ins Jugendgefängnis. Ich will nur ein paar Informationen von dir. Ich werde dich zu nichts zwingen. Ich geb dir jetzt das Geld, und du hörst mir einfach zu. Klar?«
Sartaj schob die fünfzig Rupien über den Tisch. Ramu verharrte noch eine Weile in kalter Feindseligkeit, dann nahm er den Schein. Er inspizierte ihn, hielt ihn gegen das Licht, drehte ihn um. Kamble grinste breit. Schließlich steckte Ramu das Geld ein. »Reden Sie«, sagte er.
Sartaj stieß leicht gegen Ramus Teller. »Immer mit der Ruhe, entspann dich erst mal. Ich hab keinen Grund, dich zu schikanieren. Los, dein Hähnchen wird kalt.« Ramu nickte, und die beiden anderen machten sich wieder über ihr Essen her. Ramu aber hielt den Blick auf Sartaj gerichtet; sein Hähnchen interessierte ihn nicht mehr. »Folgendes«, sagte Sartaj. »Vor vier, fünf Wochen hast du vor dem Apsara einen kleinen Auftrag ausgeführt. Du hast bei einer Frau in einem Auto ein Päckchen abgeholt und es dann jemandem abgeliefert. Erinnerst du dich?«
Ramu schüttelte den Kopf. »Nein, überhaupt nicht.«
»Bist du sicher?«
»Klar bin ich sicher. Selbst wenn es so war - ich mach jeden Tag zehn solche Jobs. Wie soll ich mich da an was erinnern, was so lange her ist?«
Tej und Jatin hielten den Kopf über ihren Teller gesenkt, aber Sartaj war sich sicher, daß sich Tejs Schultern einen Moment lang angespannt hatten, eine kaum wahrnehmbare Unterbrechung im gleichmäßigen Rhythmus des Kauens.
»Denk mal scharf nach«, sagte Sartaj. »Du hattest ein rotes T-Shirt an. Es war abends.« Ramu behielt seine undurchdringliche Miene eisern bei, aber Tej, der an dem Abend auch dabeigewesen sein mußte, wurde nervös und hatte Mühe weiterzuessen.
»Nein«, sagte Ramu.
»Warum bringen wir sie nicht hinters Haus?« fragte Kamble. »Und geben ihnen eins mit dem Lathi hintendrauf? Dann werden sie sich schon erinnern.«
Sartaj holte ein Foto aus der Tasche und legte es zwischen Ramu und Tej auf den Tisch. »Das ist die Frau, die dir das Päckchen gegeben hat. Klingelt's jetzt vielleicht?«
»Ich hab Ihnen doch gesagt«, erwiderte Ramu übertrieben geduldig, »ich hab so was nicht gemacht.« Er schien sich in seiner Rolle einzurichten. Er hob die Hände und ließ sie wieder fallen.
Doch Tej hatte aufgehört zu essen und starrte auf das Hochglanzfoto von Mrs. Kamala Pandey, eine Studioaufnahme.
»Du selber erinnerst dich vielleicht nicht«, sagte Sartaj zu Ramu. »Aber Tej scheint die Frau zu kennen.«
Jetzt legte sich Tej ins Zeug, das Kinn mit Reis und Fett verschmiert. »Nein, nein«, sagte er, »ich kenn sie auch nicht.«
Sartaj schob einen Fünfzig-Rupien-Schein neben seinen Teller. »Doch. Ich hab deinen Blick gesehen. Sie sieht aus wie ein Filmstar, stimmt's?«
»Halt die Klappe«, sagte Ramu zu Tej, der sehnsüchtig das Geld fixierte, während er eine große Portion Reis mit den Fingern aufnahm.
»Ramu«, sagte Sartaj. »Warum willst du dich mit mir anlegen? Sind die Leute, denen du das Päckchen gegeben hast, Freunde von dir? Meinst du, du mußt sie decken? Oder hast du Angst vor ihnen? Meinst du, du kriegst Probleme, wenn du's mir sagst?«
»Ich hab vor niemandem Angst.«
Ramu sprach leise, den Kopf gesenkt, die Schultern hochgezogen. Sartaj erkannte die Wut: Das war Amitabh Bachchan in Deewar oder Shah Rukh in einem seiner Filme. »Ich wollte dich nicht beleidigen, Yaar«, sagte Sartaj. »Aber du hast Informationen, die ich brauche. Nenn mir deinen Preis.«
Ramu lehnte sich zurück und rieb sich mit dem Handrücken die Nase. Er dachte angestrengt nach. Wahrscheinlich hatte er schon einen Preis im Sinn, aber seinen beiden Trabanten spielte er den Geschäftsmann vor. Schließlich verkündete er: »Fünfhundert Rupien.«
»Zuviel«, sagte Sartaj. »Ich geb dir zweihundert.«
Ramu beugte sich vor, stützte die Ellbogen auf und sah ihn scharf an. »Dreihundertfünfzig.«
»Sagen wir dreihundert. Vorschlag zur Güte.«
»Okay. Erst das Geld.«
Sartaj verkniff sich ein Lächeln und legte das Geld auf den Tisch. »Jetzt die Information«, sagte er. »Also, wer waren die Leute?«
Ramu nahm die Scheine, blätterte sie routiniert durch und legte sie weg. »Das weiß ich nicht. Sie haben uns vor dem Kino angesprochen.«
»Wie viele waren es?«
»Zwei.«
»Alt? Jung?« »Alt.«
»Wie alt? Wie der Onkel hier? Oder wie ich?«
Ramu zeigte mit dem Daumen geringschätzig auf Kamble. »Nein, wie der da.«
Kamble versetzte ihm eine Kopfnuß, so kräftig, daß Ramu zusammenzuckte. Tej und Jatin grinsten. »Nimm dich in acht, Chutiya«, sagte Kamble. »Ich bin nicht so nett wie der Saab da. Also, diese beiden Männer - hast du die Namen?«
»Nein. Die haben sie uns nicht gesagt.«
»Wie ist das Ganze abgelaufen?« fragte Sartaj.
»Kurz vor der Abendvorstellung sind sie zu uns hergekommen und haben gesagt, sie zahlen uns was dafür, daß wir ein Päckchen holen.«
»Und dann?«
»Dann sind wir mit ihnen mitgegangen.«
»Die Straße runter?«
»Ja, ein Stück. Da haben sie uns das Auto gezeigt. Sie sind stehengeblieben, und ich bin über die Straße. Ich hab ans Fenster geklopft, und die Frau hat es aufgemacht und mir das Päckchen gegeben.«
»Hast du irgendwas gesagt?«
»Ja, ›Geben Sie mir das Päckchen‹. Die Männer hatten sie auf dem Handy angerufen, und sie hat schon auf mich gewartet.«
»Und dann hast du den Männern das Päckchen gebracht?«
»Ja. Der eine hat noch mit seinem Handy telefoniert, und dann sind sie weg. Bas, das war's.«
»Hast du sie noch mal wiedergesehen?«
»Nein.«
»Wie haben sie ausgesehen?«
»Ganz normal.«
»Deine Information ist das Geld nicht wert, Ramu. Los, versuch's noch mal.«
»Mehr gibt's nicht. Sie hatten Hemd und Hose an. Bas, was soll ich noch sagen?«
»Was Brauchbares, Ramu, was Brauchbares. Wie groß waren sie?«
»Nicht so groß wie Sie. Eher wie der.« Ramu zeigte mit dem Daumen auf Jayanth.
Mehr wußte Ramu nicht. »Tej, ist dir irgendwas aufgefallen?« fragte Sartaj.
Tej zuckte die Schultern. »Nein, die waren so, wie Ramu gesagt hat.«
»Sag trotzdem: Was hast du gesehen?«
Doch Tejs Befragung ergab dasselbe vage Bild zweier normaler Männer in normaler Kleidung. Jatin, der Kleinste, hatte bisher geschwiegen. Mit gesenktem Blick drehte er sein Glas.
»Jatin, erzähl du auch mal. Wie haben die Männer ausgesehen?«
»Die hatten beide schwarze Jeans an«, sagte Jatin. Kamble beugte sich blinzelnd über die Rückwand der Nische, um Jatin besser sehen zu können. Und Jatin fuhr unbeirrbar fort: »Der eine war ein halber Glatzkopf. Der mit dem Handy.« Jatin tippte sich an die Stirn. Er redete, ohne aufzuschauen, mit ruhiger, leiser Stimme. »Jeans« sprach er »Dschinns« aus, aber er war sich sehr sicher, was die beiden Männer betraf.
»Sehr gut«, sagte Sartaj. »Und dieser Glatzkopf, was für ein Hemd hatte der an?«
»Ein weißes T-Shirt. Und der andere, der hatte ein langärmeliges blaues Hemd an.«
Jatin hatte knochige Schultern und ein unterernährtes kleines Mausgesicht. Er neigte beim Sprechen den Kopf zu Sartajs Brusttasche hin, und Sartaj fing seinen unsteten Blick auf. Jatin sah seinem Gegenüber nicht in die Augen, und deswegen bemerkte man ihn kaum. Sartaj nahm eine Papierserviette und begann sie zu falten, immer noch kleiner, den Blick darauf gesenkt. »Okay, Jatin«, sagte er. »Was hast du noch bemerkt?«
Jatin wurde ängstlich. Er wandte den Kopf ab und drehte die Arme ineinander. Doch Ramu mit seinen Scheinen in der Tasche zeigte sich großmütig. »He, Jatin«, sagte er. »Wenn du noch was weißt, dann sag's. Das geht schon in Ordnung.« Und an Sartaj gewandt, fügte er mit einem kurzen Kreisen des Zeigefingers an der Schläfe hinzu: »So ist der immer. Aber er vergißt nichts.«
Sartaj löste die Serviette und faltete sie von neuem. »Hatten die Männer ein Auto, Jatin? Wie sind sie gekommen?«
»Das haben wir nicht gesehen«, antwortete Ramu an seiner Stelle. »Aber wie Leute, die ein Auto haben, sahen die nicht aus. Vielleicht sind sie mit dem Bus gekommen.«
Kamble warf Sartaj einen Blick zu und schüttelte den Kopf. Jayanth schaute jetzt skeptisch drein, nicht mehr ganz so enthusiastisch, was die Möglichkeiten erfolgreicher Aufklärung betraf. Sartaj spürte die Enttäuschung ebenfalls: Vielleicht war aus den Jungen nicht mehr herauszuholen. Vielleicht war das Ganze eine Sackgasse. »Haben sie irgendwas dabeigehabt, Jatin?« fragte er. »Ein Buch, eine Zeitung?«
Ramu schüttelte geduldig den Kopf. »Ich sag ja, dem sein Gehirn ist besoffen.« Mit schräggelegtem Kopf ahmte er Jatins Haltung übertrieben nach. Tej kicherte. Jatin saß ganz still da.
»Na, gut«, sagte Sartaj. »Möchtest du ein Faluda, Jatin?«
Kamble hob die Hand. »Ich geh dann«, sagte er. »Okay, Boß?«
»Ja. Wir sehen uns morgen auf dem Revier.« Sartaj winkte einen Kellner heran. »Drei Royal Faludas für uns, schnell.«
Jatin faßte über den Tisch und nahm eine Papierserviette. Kamble schob sich aus seiner Nische heraus, ging zur Tür und drückte dabei die Tasten seines Handys. Jatin faltete die Serviette.
»Piep-piiiep-piiiep-piep«, sagte er. Die Serviette war jetzt ein Dreieck.
»Was?« fragte Sartaj.
»Piep-piiiep-piiiep-piep-piep.« Jatin stellte das Dreieck aufrecht hin. Es blieb stehen.
Ramu faßte hinter Tej vorbei und gab Jatin einen Klaps auf den Hinterkopf. »Er ist mein Bruder, aber er ist ein Yeda.«
Jatin begann die nächste Serviette zu falten. »Piep-piiiep-piiiep-piep-piep-pap.«
Sartaj beobachtete Jatins Finger. Das erste Dreieck stand wunderbarerweise noch immer. »Kamble!« rief Sartaj so laut, daß der Besitzer des Restaurants, die Kellner und die drei anderen Gäste zusammenfuhren. »Kamble!«
Jatin hatte sein Dreieck fertig, als Kamble an den Tisch zurückkam, sichtlich verärgert. »Was ist?«
»Geben Sie mir Ihr Handy.« Sartaj nahm es, löschte das Display und legte es vor Jatin und seinen Dreiecken auf den Tisch.
Jatin drückte mit einem sehr dünnen, sehr schmutzigen Finger einige Tasten. Plötzlich kam eine Verbindung zustande, und Sartaj drückte schnell auf die Ende-Taste.
Kamble lehnte sich über Sartajs Schulter. »Das ist eine Handynummer«, sagte er in dem ehrfürchtigen Ton, den er normalerweise sechzehnjährigen Neuzugängen in der Delite Dance Bar vorbehielt. »Die hab ich gerade gewählt.«
Sartaj nickte und drückte noch einmal die Ende-Taste, um die Nummer zu löschen. »Jatin, erinnerst du dich an die Nummer, die der Glatzkopf gewählt hat?«
»Piep-piiiep-piiiep-piep-piep-pap«, sagte Jatin. Er gab noch mehr Pieps und Paps in unterschiedlichen Tonlagen von sich, dann nickte er, und drückte von neuem die Tasten, bewegte den Finger ohne Eile und mit absoluter Sicherheit von einer zur nächsten. Schließlich nahm er ihn mit einer schwungvollen Bewegung fort und begann eine neue Serviette zu falten.
Sartaj drehte das Handy zu sich her. »Das ist die Nummer, die der Glatzkopf gewählt hat, Jatin? Nachdem ihr ihm das Päckchen gegeben habt?«
»Ja.« Jatin stellte das dritte Dreieck auf den Tisch. Zusammen mit den beiden anderen bildete es ein perfektes größeres Dreieck.
Kamble stemmte die Hände in die Hüften. »Maderchod«, sagte er. »Erstaunlich. Geben Sie dem Kerl ein Faluda.«
»Sehr oft«, sagte Sartaj zu Mary, »ist Verbrechensaufklärung reine Glückssache. Meistens sogar. Man sitzt herum, und plötzlich fällt einem etwas in den Schoß. Und dann tut man so, als sei man die ganze Zeit gezielt vorgegangen.«
»In diesem Fall stimmt das aber nicht«, sagte Mary. »Sie haben nicht herumgesessen. Sie haben den Taschendieb aufgespürt. Sie haben ihn auf die Jungen angesetzt. Sie haben den Jungen ein Essen spendiert. Sie waren nett zu ihnen, statt sie zu schlagen, wie dieser Idiot es wollte.«
»Kamble«, sagte Sartaj. Sie saßen auf einer Bank an der Strandpromenade in der Carter Road, vor einem wahrhaft grandiosen Sonnenuntergang mit rot angestrahlten, fedrigen Wolkenkringeln. Spaziergänger gingen zügig vorbei, und einen Moment lang schnüffelte ein angeleinter junger Hund an Sartajs und Marys Knöcheln. »Er hat nur seine Rolle gespielt. Jedenfalls wird es bestimmt nicht einfach werden, den Apradhi zu fassen. Wir haben ihn von zwei verschiedenen Telefonkabinen aus anzurufen versucht, aber er ist nicht rangegangen. Der Kerl ist vorsichtig, das spüre ich.«
»Sie werden ihn schon erwischen. Und dieser Kamble - der hätte die Jungen garantiert hart angefaßt, wenn Sie ihn gelassen hätten, und der Kleine hätte Ihnen die Nummer nie gesagt. Sie hatten diesen Aufklärungserfolg, weil Sie offen dafür waren. Sie haben hingehört. Das wissen Sie doch selbst.«
Ja, Sartaj wußte es. Er glaubte seit vielen Jahren daran, hatte es von seinem Vater gelernt, noch ehe er zur Polizei gegangen war, und er hatte es an so manchen Polizeischüler weitergegeben. Aber es war schön, daß Mary es sagte und dabei beruhigend sein Handgelenk umfaßte. Der junge Hund kam wieder herangesprungen, und Mary beugte sich hinab, um ihm die Ohren zu kraulen. Sartaj spürte noch ihre Hand auf seiner Haut, stärker als zuvor. »Ja«, sagte er abwesend. »Ja.«
»Was, ja?« Der Hund tappte auf seinen viel zu großen Pfoten davon, und Mary sah Sartaj spitzbübisch-belustigt an.
»Nichts«, sagte Sartaj schnell. »Man muß hinhören, das stimmt, das Problem ist nur, daß man manchmal nicht weiß, worauf man achten muß. Das ist wie mit einem Lied, von dem man die Melodie nicht kennt. Also kann man nur herumgehen und schauen und hören. Manchmal kommt man sich dabei vor wie ein Idiot.«
Sie sah ihm gerade in die Augen und hielt seinen Blick fest. »Sie sind kein Idiot«, sagte sie.
Es war eine Liebeserklärung, und jetzt zögerte Sartaj nicht länger. Er nahm ihre Hand, und sie blieben händchenhaltend nebeneinander sitzen. Er hätte sie zu gern geküßt, aber vor ihnen gingen Großmütter spazieren, Babys wurden vorbeigeschoben, Straßenkinder rannten umher, und so saßen sie nur da. Sartaj dachte an Marys Worte: »Sie sind kein Idiot.« Wenn er das Kamble erzählte, würde Kamble sich über Sartajs bescheidene Romanze lustig machen, über das zweifelhafte kleine Kompliment, das ihn und Mary schließlich zusammengebracht hatte. Aber Kamble war noch sehr jung. Gewiß, in keiner Gasele wurde je inbrünstig beteuert, daß der Geliebte kein Idiot sei, kein Liebeslied von Majrooh Sultanpuri hatte es je für nötig befunden, dergleichen zu erklären. Kamble glaubte fest an große Liebesgeschichten und große Tragödien. Doch Sartaj war es zufrieden: Den anderen von seiner Idiotie zu erlösen war ein Akt größter Zärtlichkeit. Wir alle sind Idioten, dachte er. Ich weiß, daß ich einer bin. Es ist wunderbar, einen Menschen zu finden, der einem das verzeiht. Es ist großartig.
Sie blieben an der Strandpromenade, bis die Dämmerung sich verdichtete, das Meer sich ins Dunkel zurückzog und die Wellen zu glatten weißen Bändern wurden. Plötzlich drückte Mary Sartajs Hand und fragte: »Was wird aus den Jungen?«
»Welchen Jungen? Dem Roten T-Shirt und seiner Gang?«
»Ja.«
»Die schlagen sich schon durch.«
»Ja, aber wie?«
Sartaj zuckte die Schultern. »Wie alle anderen auch.«
Sie nickte, doch Sartaj merkte, daß die Jungen sie weiter beschäftigten. Er legte seinen Arm um ihre Schultern. Was Kamble gesagt hatte, nachdem sie die Jungen, Jayanth und das Restaurant verlassen hatten, erzählte er ihr besser nicht. Sie hatten sich über den erstaunlichen, verrückten kleinen Jatin unterhalten, und dann hatte Kamble gemeint: »Dieser Ramu ist der geborene Anführer. In zehn Jahren wird uns der Bastard Probleme machen, Sie werden sehen.« Sartaj hatte zugestimmt. Ramu war gescheit, mutig und gierig. Er würde ein guter Apradhi werden, ein Killer vielleicht. Und dann hatte Kamble gesagt: »Wir sollten ihn auf die Gasse rausholen und ihn fertigmachen, jetzt gleich. Uns die Mühe ersparen, ihm später hinterherjagen zu müssen, und ihm die Mühe ersparen, erwachsen zu werden.« Sartaj hatte gelacht und Kamble mißbilligend auf den Rücken geklopft, aber wahrscheinlich hatte Kamble recht. Manchen Kindern stand ihre Zukunft ins Gesicht geschrieben. Man konnte sehen, wie sehr sie sich nach einem guten Leben sehnten und wie dieses Leben sie fliehen würde. Doch Sartaj wollte nicht an Ramu denken, an dessen Probleme, dessen künftiges Unglück - nicht jetzt. Er hielt Mary im Arm und erzählte ihr von seiner eigenen Kindheit, erzählte ihr, daß er nie Polizist hatte werden wollen wie sein Vater und es schließlich doch geworden war.
Dann schwiegen sie. Über die ganze Breite der Straße hinweg hörte Sartaj das Geträller, Gelächter und Gejohle einer Gruppe Teenager, Jungen und Mädchen. Sie saßen in der Nähe der Bushaltestelle auf Kühlerhauben und Motorradsitzen, und sie waren jung und selbstbewußt, vergnügt und reich. Sie flirteten, und später am Abend würden sich einige von ihnen vielleicht einen Winkel suchen, in dem sie sich berühren, einander gierig erkunden konnten. Sartaj aber war glücklich, daß er einfach Marys Hand halten konnte und daß sie sich, als er sie später mit dem Motorrad nach Hause brachte, an seinen Rücken schmiegte. Als er an einer Kreuzung hielt, tönte aus einem Auto neben ihnen der berühmte Refrain eines alten Songs: »Tu kahan yeh bataa, is nasheeli raat mein.«642 Mary summte an seiner Schulter mit.
»Kennst du das Lied?« fragte Sartaj.
»Natürlich. Das ist Dev Anand, oder?«
Ja, es war Dev Anand, es war Dev-saab, wie er in einem alten Schwarzweißfilm durch eine neblige Nacht wanderte. An den Titel erinnerte sich Sartaj nicht mehr - Missouri oder Nainital vielleicht, oder nein, Shimla, ja, Shimla mußte es sein -, und Dev schritt schwerelos wie die Melodie dahin, leichtfüßig und geschmeidig, und die schöne Nutan wartete auf ihn. Als die Ampel grün wurde, fuhr Sartaj langsam neben dem Auto her, weg von Marys Haus, damit sie noch zuhören konnten. »He, chand taaron ne suna, in bahaaron ne suna, dard ka raag mera, rehguzaron ne suna267.« Der Wind strich sacht über Sartajs Wangen, Mary sang ihm ins Ohr, und er lachte und dachte, das ist Glück, dieses wenige: durch die vertrauten chaotischen Straßen zu fahren, mit einem alten Song, mit einer Hand auf deiner Hüfte, mit einer neuen Liebe. Dieses wenige, zwischen Vergangenheit und Zukunft: diese Frau, dieses Lied, diese schmutzige, schöne Stadt.
Als der Song endete, scherte Sartaj aus, gab abrupt Gas und hängte das Auto ab. Bei Mary angelangt, küßte er sie zweimal und dann noch einmal. Es war ganz leicht. Sie stieg ab und legte ihm die Hand auf die Schulter. Sie stand dicht vor ihm, und er beugte sich vor und küßte sie. Sie schloß die Augen, und er küßte sie wieder. Sie sah ihn unter langen Wimpern hervor an, sie lächelte breit, und er küßte sie. »Geh«, sagte sie und stieß ihn sanft gegen die Brust. Er ging, und er sang - schlecht, das wußte er - auf der ganzen Heimfahrt.
Er spürte Marys Küsse noch am nächsten Morgen, als er zu Katekars Familie fuhr. Er stellte das Motorrad ab und stieg über den Rinnstein. Es war noch früh, noch nicht einmal sieben, und in der engen Gasse war es ruhig. Shalini aber saß schon in der Tür und las Steinchen aus einem Berg Reiskörner. Sie stand auf, als sie Sartaj sah, nickte ihm zu und ging ins Haus. Rohit brachte einen Stuhl für Sartaj heraus. Er hatte jetzt einen Schnurrbart, einen zarten Flaum, mit dem er noch jünger wirkte. »Hi«, sagte er.
Sartaj unterdrückte ein Lächeln über Rohits cooles Englisch und antwortete ebenfalls mit einem Hi. »Was macht dein Kurs?« fragte er. Er setzte sich und zog einen Umschlag aus der Gesäßtasche. Rohit besuchte neuerdings einen Computer-Abendkurs und hatte Sartaj am Telefon allerlei von E-Mails, Linux und anderen für Sartaj unverständlichen Dingen erzählt.
Rohit nahm den Umschlag und blätterte die Hundert-Rupien-Scheine darin durch. »Thank you«, sagte er. »Gut geht's mit dem Kurs. Ich finde alles sehr interessant.«
Aber er wirkte ernst. Er trug neue Jeans und ein Banian, und seine Haare sahen irgendwie anders aus. Offensichtlich wollte er durch sein Äußeres einen anderen Menschen aus sich machen, einen der »Hi« und »Thank you« sagte, der einen Computerkurs sehr interessant fand. Aber es klappte nicht recht. Die Jeans waren aus billigem Stoff, mit lockeren orangefarbenen Nähten, die weit hinter dem internationalen Schick zurückblieben, und die blauen Sneakers, die im Haus an der Tür standen, wirkten genauso verzweifelt hoffnungsvoll. Bestimmt gab es in dem Kurs Jungen und Mädchen, die fließend Englisch sprachen und sich in den Feinheiten von T-Shirts und dunklen Sonnenbrillen auskannten, und wahrscheinlich machten sie Rohit das Leben schwer. Sartaj empfand einen Anflug von Mitleid, als Rohit so an der Wand lehnte und ihm berichtete, wie hart in den Kursen gearbeitet wurde und daß einige der Absolventen in Bahrain Arbeit gefunden hatten.
Shalini brachte ein Glas Tee heraus. Sartaj richtete sich auf: Auch sie sah anders aus. Er trank von dem Tee, hörte ihr zu und versuchte herauszufinden, was sich an ihr verändert hatte. Sie erzählte von ihrer Arbeit, nicht von den Putzjobs, mit denen sie ihr Geld verdiente, sondern von der ehrenamtlichen Mitarbeit in ihrer Organisation. Die Gruppe nannte sich SMM als Abkürzung von Shakti Mahila Manch580 und kümmerte sich in den Bastis um die Aufklärung der Frauen. »Wir sprechen mit ihnen über Hygiene und Familienplanung«, sagte sie zu Sartaj. »Aber wenn wir ihnen sagen, sie sollen ein eigenes Bankkonto eröffnen, rasten ihre Männer aus.«
Sartaj lachte. »Die denken, ihr wollt ihnen die Zigaretten und den Alkohol streitig machen. Paßt bloß auf.«
Jetzt lachte auch Shalini. »Die spucken große Töne, aber sie tun uns nichts. Dafür schlagen sie ihre Frauen. Schöne Helden! «
»Da ist doch kürzlich diese Sache passiert«, sagte Rohit. »In Bangalore.«
»Ja. Unsere Gruppenleiterin hat uns davon erzählt. Letzten Monat war das. Die Frauen aus der Sektion Bangalore wurden in einem Basti von ein paar Männern bedroht, Mitgliedern einer religiösen Organisation. Sie haben sich bei der Polizei beschwert, aber die wollte nichts unternehmen, und sie mußten sich an die gesetzgebende Versammlung wenden. Das gibt noch Ärger.«
Sartaj dachte an Mary, spürte nach, wie sich ihre Oberlippe an seiner angefühlt hatte. Und plötzlich wußte er es: Shalini hatte sich die Augenbrauen gezupft. An die Stelle einfacher, grober Pinselstriche waren klar umrissene, zarte Bögen getreten. Die Veränderung betonte ihre Wangenknochen, ihre Augen. Sartaj hatte Shalini nie wirklich wahrgenommen, für ihn war sie immer Bhabhi gewesen, Katekars Frau. Jetzt betrachtete er sie genauer. Sie trug einen dunkelblauen Sari und eine Bluse aus demselben Stoff, aber mit blauer Stickerei an Ausschnitt und Ärmeln. Nie mehr würde sie Rot, Gelb oder Grün tragen, es sei denn, sie heiratete wieder. Sie trug keinen Schmuck, und ihr Haar war zu einem ordentlichen Knoten gebunden. Sie war alles andere als hübsch, hatte aber eine sparsame Eleganz an sich, die Sartaj bisher nicht aufgefallen war. »Probleme gibt es immer«, sagte er, und plötzlich überfiel ihn schmerzhaft der Gedanke an seinen toten Freund Katekar. Ob Shalini einen Freund hatte, einen Liebhaber? Sie wirkte ruhig, auch als er von Männern und ihrem Zorn sprach, von möglicher Gewalt.
»Wir müssen weitermachen«, sagte sie mit Bestimmtheit. »Da können die sich auf den Kopf stellen.«
Mohit erschien in der Tür, schmalbrüstig, nur mit braunen Shorts bekleidet. Er rieb sich die Augen. Unter der linken Brustwarze hatte er ein schwarzes Muttermal. Um den Kopf trug er eine schwarze Schnur mit einem silbernen Amulett daran. Sartaj erinnerte sich, wie Katekar gegen das Amulett protestiert, wie er gegen Unwissenheit und Aberglauben gewettert hatte. Shalini aber hatte darauf bestanden, daß Mohit es trug, als Schutz vor Unglück und Leid. »Na, Mohit?« sagte Sartaj.
Mohit fuhr zusammen. Er hatte geschlafen, und in dem kurzen Moment zwischen Schlaftrunkenheit und Wachheit sah Sartaj seine Wut. Mohit hegte einen tiefen Abscheu gegen ihn, den glühenden Haß eines Kindes. Die anderen hatten es nicht bemerkt, aber Sartaj war erschrocken. Rohit, der am Türpfosten lehnte, tätschelte Mohit den Kopf und sagte: »Wach auf, Kumbhkaran, Onkel Sartaj ist da.«
Mohit zog den Kopf ein, und als er wieder aufsah, wirkte er lieb und harmlos. »Ich hab Hunger, Aai«, sagte er.
»Geh und mach dich für die Schule fertig«, erwiderte Shalini. »Du bist spät dran. Ich bring dir was.« Eine gewisse Schärfe lag in ihrer Stimme, ein sorgenvoller Unterton.
»Ich bin auch spät dran«, sagte Sartaj. »Ich muß los.«
Rohit ging mit Sartaj die Gasse hinunter bis zur Ecke. »Er prügelt sich andauernd«, sagte er unvermittelt. »Und diesen Monat hat er schon zweimal die Schule geschwänzt.«
» Mohit?«
»Ja. Ich passe auf ihn auf, so gut ich kann, aber Aai und ich haben so viel zu tun. So war er vorher nie.«
Vorher - vor dem Ereignis, vor dem Tod, vor dem Moment, als ein flüchtender Apradhi an einem Zaun in der Falle saß. Vor alldem. Mohit würde sein Leben in vorher und nachher einteilen. Und er würde wissen, wer schuld war. »Das gibt sich schon wieder«, sagte Sartaj. »Es braucht Zeit. Das ist alles noch so frisch. Es braucht Zeit.«
Rohit nickte. »Das sagt Aai auch. Sie betet jeden Morgen, besonders für ihn.«
»Wie geht's ihr?«
»Aai?« fragte Rohit abwesend. »Gut.«
Gar so gut wohl kaum, dachte Sartaj. Sie und Katekar hatten viele Jahre zusammen gelebt, und sie hatten zwei Kinder großgezogen. Dennoch hatte sie heute einen Eindruck von Stärke vermittelt. Diese Augenbrauen, ihre Arbeit beim SMM - war das eine neue Shalini, oder hatte er sie bisher nicht richtig gesehen? Frauen waren belastbar, das wußte er. Ma hatte Papa-jis Tod überwunden, sie hatte zwei Tage lang geweint und dann erklärt, es sei unerträglich schmutzig im Haus. Und dann hatte sie saubergemacht, nicht nur drinnen, sondern auch in dem kleinen Vorgarten und im Hof. Sie hatte die Rückwand des Hauses abwaschen und frisch tünchen lassen. Sie hatte weitergelebt, ein wenig karger als zuvor, aber um so leistungsfähiger, um so zäher. Ein paarmal war es Sartaj so vorgekommen - und ihm war nicht ganz wohl dabei gewesen als sei sie nach Papa-jis Tod ruhiger geworden, ausgeglichener, beherrschter.
Sartaj startete sein Motorrad und wendete es. Dann mußte er warten. Ein Mann mit einem Gipsbein hatte Mühe, um die abschüssige Linkskurve herumzukommen. Er mußte seine Krücken in genau die richtige Position bringen, um den Gips über den Rinnstein hieven zu können, aber die Gasse senkte sich zur Mitte hin ab, sie war uneben und sehr schmal. Die Frau neben ihm faßte ihn am Arm und wollte ihm helfen, doch er beschimpfte sie nur mit wutverzerrter Miene, und seine Krücke rutschte im Rinnstein ab.
»Moment«, sagte Rohit.
Er half dem Mann mit dem gebrochenen Bein über den Rinnstein hinweg und ein Stück die Gasse hinunter. Rohit war ein guter Junge. Er übernahm Verantwortung, er war ruhig und zuverlässig, und er liebte seine Mutter.
»Das ist Amritrao, ein Nachbar von uns«, sagte er, als er zu Sartaj zurückkam. »Er ist im Bahnhof Andheri betrunken aus einem Schnellzug gefallen. Und er hat noch Glück gehabt, daß ihm die Beine nicht abgefahren worden sind. Er ist auf den Bahnsteig gefallen, rumms, auf den Zementboden. Und jetzt humpelt er.«
»Und beschimpft seine Frau.«
Rohit grinste. »Die beschimpfen sich gegenseitig. Sie sind berühmt für ihre Kräche. Und Arpana ist besser im Schimpfen als er. Einmal hat sie gesagt, seinem Vater könnte man mit einem Doppeldeckerbus in den Gaand fahren, so geschwollen sei der von den Prügeln, die ihm seine Geldverleiher verpaßt hätten. Im Moment ist sie nett zu ihm, weil er kaum laufen kann. Aber in ein paar Tagen geht's ihm besser, und dann gibt sie's ihm wieder.«
Noch kehrte Arpana die pflichtgetreue Ehefrau heraus, die ihren Mann am Ellbogen stützte. Wankend und schwankend war er am tiefsten Punkt der Gasse angelangt, die dann zu Katekars Haus hin wieder leicht anstieg. »Er wird stürzen und sich auch noch das andere Bein brechen«, sagte Sartaj. »Sie sollte ihm einen Rollstuhl besorgen.«
Rohit sah zweifelnd drein. »Einen Rollstuhl? In den Gassen hier, bei dem Auf und Ab? Das letzte Stück da würde der nicht schaffen, das wäre zu steil und zu holprig.« Er sah zu Boden, prüfte Neigung und Zustand der Gasse. Er war wirklich ein ernsthafter Junge.
Sartaj brachte den Motor auf Touren. »Mit einem computergesteuerten Rollstuhl ginge es«, sagte er über das Dröhnen hinweg. »Ich hab mal einen gesehen, der wäre wie ein Rennwagen die Steigung hier raufgefahren. Unwahrscheinlich.«
»Ein computergesteuerter Rollstuhl?« Rohit staunte. »Der muß einen starken Elektromotor gehabt haben. Wurde da jedes Rad einzeln gesteuert?«
»Ich weiß nicht.« Sartaj erkannte in dem strahlenden jungen Gesicht Katekars großen Glauben an die Wissenschaft wieder, sein Vertrauen in die Wunderwerke der Technologie. Zuneigung zu Rohit erfüllte seine Brust mit einem ziehenden Schmerz. »Aber es hat funktioniert. Der Typ, dem der Rollstuhl gehört hat, konnte damit sogar Treppen rauf und runter, hat er gesagt.«
»War das ein ausländisches Modell? Hier hab ich so was noch nie gesehen. Toll.«
»Ja, der war importiert. Aber für indische Verhältnisse, für Schmutz und Monsun war er wohl nicht konstruiert. Der arme Kerl bekam keine Ersatzteile dafür. Der Rollstuhl war sehr schwer instand zu halten.«
Rohit schüttelte den Kopf. »Unser Land ist so was von primitiv.« Und als er das sagte, sah er seinem Vater so verblüffend ähnlich, daß Sartaj den Kopf zurückwarf und lachte.
»Lern schön, Guru«, sagte er, versetzte ihm einen kräftigen Stoß gegen die Brust und fuhr dann die Gasse hinauf zur Hauptstraße. Inzwischen herrschte mehr Betrieb, die Leute gingen zur Arbeit, er kam nur im Schrittempo vorwärts. Auf den Hauswänden lag noch ein morgendlicher Schimmer, und aus den kleinen Häusern strömten Kinder in Schuluniform auf den Weg hinaus. Um sie vorbeizulassen, mußte Sartaj so oft mit den Füßen auf dem Boden anhalten, daß ihm die Waden wehtaten. Was würde aus Katekars Söhnen werden? Was würde aus Mohit werden? Sartaj dachte an Mohits Raufereien, an seine Wut, seinen Haß. Wo würde er in zehn Jahren stehen?
Endlich kam Sartaj an die Kreuzung. Er schoß auf die breite Asphaltstraße hinaus, daß sich sein Motorrad aufbäumte, bog nach links und gab erleichtert Gas. Er war froh, aus dem Basti, aus dem Gäßchengewirr herauszukommen, und beschleunigte weiter. Doch die Furcht folgte ihm, das Bild eines älteren Mohit, der quer über dem Rinnstein in einer schmutzigen Gasse lag. Das Gesicht konnte Sartaj nicht sehen, dort war nur Leere, aber er wußte, daß es Mohit war. Er blutete aus mehreren Schußwunden, und er war tot. Sartaj schüttelte den Kopf und versuchte an seine Ermittlungen zu denken. Nein. Mohit würde sein Trauma überwinden, er würde vergessen, er würde gesunden. Er würde kein Tapori werden, kein Gangster, kein Bhai. Nein. Kamble würde keinen Ärger mit ihm haben, nein, nicht in zehn Jahren, überhaupt nie. Dafür würde Sartaj sorgen.
Er fuhr Richtung Süden, schlängelte sich mit hoher Geschwindigkeit durch den Morgenverkehr. Doch weder sein Tempo noch seine riskanten Manöver erlösten ihn von Mohits Haß, von der Gewißheit über Mohits Zukunft. Mohit in einem karierten Hemd, aus drei Wunden in der Brust blutend von Schüssen, die aus nächster Nähe abgegeben worden waren. Das Bild war sehr real. Du siehst zu schwarz, sagte er sich, das ist idiotisch. Mohit wird es schon schaffen. Mohit wird es schon schaffen. Er fuhr weiter.
Parulkar erwartete Sartaj in der Wohnung seiner Nichte in Santa Cruz. Die Geldlieferungen an Homi Mehta, seinen Finanzberater, hatten eine Zeitlang stagniert, zogen nun aber wieder an. Er mußte Unsummen dafür ausgegeben haben, sich seinen Weg zurück in die Gunst der Politiker zu bahnen, und nun faßte er wieder Tritt. Sartaj hatte zuletzt vor knapp vier Wochen Geld bei ihm abgeholt, und jetzt bestaunte er wie immer den grünen Marmor in der Lobby des Apartmenthauses der Nichte. Der Stein schien jedesmal, wenn er kam, noch stärker zu glänzen - vielleicht hatte italienischer Marmor das so an sich. Die Stahlwände des Aufzugs waren noch unversehrt, so daß Sartaj sich darin spiegeln und seinen Schnurrbart glattstreichen konnte. Er sah besser aus als seit langem, fand er und fragte sich, wie das bei all dem Streß der letzten Zeit möglich war. Vielleicht bildete er es sich auch nur ein.
Doch Parulkar bemerkte es ebenfalls. »Du siehst gut aus, Sartaj. Bestens, bestens.« Er klopfte Sartaj auf den Rücken und führte ihn in die Wohnung. Der Eßtisch mit der Glasplatte war gedeckt, die Teller standen auf spitzengesäumten weißen Platzdeckchen. »Wie wär's mit Poha und Chai? Das Poha ist ganz besonders gut.«
»Ich hab schon gegessen, Sir.«
»Probier wenigstens mal, Beta. Ab und zu sollte man auch die kleinen Dinge des Lebens genießen. Ich trinke eine Tasse Tee mit.«
Das Poha war in der Tat sensationell. Sartaj aß eine kleine Portion und tat sich dann noch einmal auf. Parulkar trank Chai und schaute ihm wohlwollend zu. Sie unterhielten sich über Sartajs laufende Fälle und über Parulkars Familie. Die Renovierung seines Hauses war endlich abgeschlossen, so daß seine Tochter Mamta - deren Scheidung beim Familiengericht anhängig war - und ihre Kinder bequem bei ihm wohnen konnten. Das Leben ging weiter. Parulkar schien zufrieden, seine alte Kraft war wiedergekehrt, hatte sich verdoppelt. »Nächsten Monat nehmen wir einige neue gruppenübergreifende Projekte in Angriff«, sagte er. »Nach Diwali. Neue Arbeit für das neue Jahr.« Und dann hörte er sich an, was Sartaj über den Fall Gaitonde zu berichten wußte. Seiner Meinung nach hatte es mit alldem nichts auf sich, er schüttelte den Kopf und sagte: »Das sind unnötige Ängste. Es gibt doch so gut wie keine Beweise. Die Frau verknüpft Dinge von hier und dort miteinander und erfindet einen Fall, an dem sie dann arbeiten kann. So was macht man, wenn es mit der Karriere nicht vorangeht. Gurus und Bomben! Blödsinn.«
Sartaj war nicht ganz überzeugt, doch Parulkars Bestimmtheit wirkte beruhigend. Immerhin war Parulkar der Mann mit dem untrüglichen Instinkt, mit einer unübertroffenen Bilanz an Verhaftungen und Ermittlungserfolgen. »Ja, Sir«, sagte Sartaj, »das sind alles nur Gerüchte, mehr nicht.« Er schob seinen Teller zurück. »Köstlich war das.«
»Komm mal mit«, sagte Parulkar, »ich hab was für dich.«
Sartaj erwartete das übliche Bargeld, aber Parulkar führte ihn ins Schlafzimmer und zeigte auf einen grauen Karton.
»Mach auf, mach auf«, sagte er.
Sartaj nahm den Deckel ab, in den ein ihm gänzlich unbekanntes Logo eingeprägt war, und fand darin, einzeln in samtweiches Seidenpapier gehüllt, die elegantesten Schuhe, die er je gesehen hatte. Sie waren einfach, aber geschmeidig, und jede Naht verriet Sorgfalt und Qualität. Die Farbe war vollkommen, Braun mit einem Hauch Rot, nicht protzig, aber vielsagend. Die perfekten Schuhe.
»Das ist ein italienisches Modell, Sartaj«, sagte Parulkar, »direkt aus Italien. Du hast doch Größe neun?«
Sartaj mußte sich anstrengen, um aus seiner Versunkenheit aufzutauchen. »Ja, Sir.«
»Komm, probier sie an. Ein Freund von mir hat sie aus Mailand mitgebracht, ich hatte ihm die Größe und alles gesagt. Mal sehen, ob sie passen.«
Sartaj setzte sich aufs Bett und löste seine Schnürsenkel. Schon während er in den rechten Schuh schlüpfte, wußte er, daß er passen würde. »Der ist gut, Sir.« Er zog den anderen an und stand auf. »Die sitzen perfekt.« Er ging von einem Ende des Raumes zum anderen und schüttelte staunend den Kopf, nicht nur über die Paßform der Schuhe, die eng anlagen, ohne zu drücken, sondern auch über ihr geringes Gewicht, ihre Machart. Er ging hin und her. Der Schuh machte seinem Herkunftsland alle Ehre.
»Okay«, sagte Parulkar. »Dann wirf die alten Schuhe weg. Ich hab mich schon gewundert, daß du sie überhaupt noch trägst.«
»Ich soll damit auf die Straße?«
»Natürlich, Sartaj. Gute Sachen sind nicht dafür da, daß sie im Schrank stehen. Das Leben ist eine unsichere Sache, man muß es genießen. Laß sie gleich an.«
Sartaj schaute auf die Schuhe hinab. Ja, man konnte sie im Dienst tragen. Sie waren nicht weiter auffällig, nur ein geschultes Auge würde ihre wahre Qualität erkennen. »Vielen Dank, Sir.«
»Keine Ursache.« Parulkar nickte befriedigt. »Jetzt siehst du wieder aus wie Sartaj Singh.«
Homi Mehta zählte Parulkars Banknotenbündel durch, wie immer präzise und ohne Eile. Sartaj saß in einem Bürosessel zurückgelehnt, angenehm entspannt, die Hände hinterm Kopf verschränkt, die Beine ausgestreckt. Erstaunlich, mit welch heiterer Gelassenheit ihn ein Paar Schuhe erfüllen konnte, aber schließlich waren es die kleinen Dinge im Leben, auf die es ankam. Auch wenn es in der Welt drunter und drüber ging - gute Handwerkskunst war immer noch möglich, ja sogar notwendig. Sartaj bewegte die Zehen und stieß einen Seufzer aus, der Homi Mehta und ihn selbst überraschte.
»Zwanzig. Alles komplett und korrekt.« Homi Mehta klopfte auf die Geldstapel. »Sie sind ja heute so vergnügt.«
Sartaj zuckte die Schultern, konnte aber ein Lächeln nicht unterdrücken. »Ich fühl mich nur wohl.«
»Haben Sie auch eigenes Geld mitgebracht?«
»Nein, heute nicht, Onkel.«
»Are, wie oft soll ich es Ihnen noch sagen? Spare, solange du jung bist.«
»Ja, ich weiß, ich muß an die Zukunft denken. Nächstes Mal vielleicht.«
»Nächstes Mal, nächstes Mal, und das Leben vergeht! Eines Tages wachen Sie auf und sind alt, lassen Sie sich das von mir gesagt sein. Was ist mit Ihrer Absicherung? Wie wollen Sie Ihre Frau ernähren?«
»Ich bin nicht verheiratet.«
»Ja, ja, noch nicht. Man will doch nicht auf seine Kinder angewiesen sein. Heutzutage schon gar nicht.« Homi Mehta erhob sich und begann das Geld in eine schwarze Plastiktüte zu schichten. Sein schneeweißes Leinenhemd hatte genau denselben Farbton wie sein ordentlich geschnittenes Haar. »Sie werden tüchtige Kinder bekommen, zweifellos, aber es ist eine Schande, wenn man sie um etwas bitten muß.«
»Sie sehen mich schon als Familienvater, Onkel. Und bis zu meinem Ruhestand ist es noch lange hin. Bis dahin vergeht noch viel Zeit.«
»Ja, eben, das sag ich ja. Nutzen Sie die Zeit sinnvoll, Sartaj. Entwickeln Sie eine Strategie. Legen Sie Ihre Ziele fest, machen Sie einen Plan. Ich helfe Ihnen dabei.«
Sartajs Borniertheit war Homi Mehta ein Rätsel. Er war ein Mann, der nach langfristigen Strategien und ausgeklügelten Plänen lebte. »Okay, Onkel. Sie haben völlig recht. Wenn ich das nächste Mal komme, setzen wir uns hin und sprechen alles durch. Wir schreiben Ziele auf und machen ...« Sartaj beschrieb mit den Händen eine Folge von Stufen.
»Diagramme.«
»Genau, Diagramme. Keine Sorge, das machen wir alles. Wir kümmern uns um alles. Wir werden Pläne entwerfen.«
Im Aufzug wurde Sartaj von einem Sabji544-vaala mit einem Korb voller Tomaten und Zwiebeln in die Ecke gedrängt. Er betrachtete den faltigen Hals des Liftboys. Der Fahrstuhl hielt in vielen Stockwerken, und der Mann öffnete scheppernd die Türen und ließ Dienstboten und Saabs, Mütter und Dhobis168 herein. Sartaj dachte darüber nach, was für ein unheimliches Wesen das Leben war, man mußte es packen und zugleich loslassen, man mußte es genießen und doch auch planen, man mußte jede Minute leben und jeden Moment sterben. Und wenn es zu einer Katastrophe kam? Angenommen, das Seil riß und der Aufzug stürzte in die Tiefe, beförderte seine Fracht an Männern und Frauen in den dunklen Abgrund - würden sie sich während des Fallens über die versäumten Tage und Jahre grämen oder sich um ihre Hinterbliebenen sorgen? Das Licht, das durch das Türgitter drang, zuckte weiß und schwarz über Sartajs Augen, und er fühlte sich leicht und schwerelos und doch voller Blut, Kraft und Bewegung.
Der Aufzug bremste ab und kam im Erdgeschoß zum Stillstand. Sartaj schüttelte all die Fragen, Annahmen und Phantasien ab und trat ins grelle Tageslicht hinaus. Er mußte wieder an die Arbeit. Als er fast am Tor angelangt war, klingelte sein Handy.
»Sartaj-saab, salaam.«
»Salaam, Iffat-bibi. Alles in Ordnung?«
»Ja. Aber Sie könnten mir den Tag versüßen.«
»Und wie?«
»Wie ich höre, sind Sie gerade in unserer Gegend. Wollen Sie uns nicht Gelegenheit geben, Ihnen unsere Gastfreundschaft zu erweisen?«
Sartaj stutzte. »Woher wissen Sie, wo ich bin?«
»Are, Saab, nicht, daß wir Sie verfolgen würden. Nein, nein. Wir machen nur selbst Geschäfte mit dem Mann, dem Sie Parulkars Geld bringen. Einer von unseren Jungs hat Sie gesehen und es mir gesagt, das ist alles.«
Sartaj war inzwischen auf der Straße angelangt. Er drehte sich schnell um, sah aber nur die üblichen Passanten, niemanden, der wie ein Außendienstmann aussah. »Sie haben Ihre Leute wirklich überall.«
»Wir haben viele Angestellte, das stimmt, Saab. Wir sind in Fort, das wissen Sie ja, gar nicht weit weg. Kommen Sie vorbei, und essen Sie mit uns.«
»Wieso?«
»Wieso? Weil mir Ihr Wohl am Herzen liegt und Ihnen hoffentlich auch meins.«
»Wieso wollen Sie mich plötzlich sehen?«
Iffat-bibi atmete geräuschvoll aus. Mit einemmal war sie nicht mehr die freundliche alte Dame. »Ich habe Ihnen ein großes Angebot zu machen«, sagte sie mit einer Stimme, so glatt und hart wie Stein. »Und das würde ich lieber unter vier Augen tun.«
»Ich bin nicht interessiert.«
»Hören Sie sich's doch erst mal an.«
»Nein.«
»Warum nicht? Wir haben doch schon mal zusammengearbeitet.«
»Bei kleinen Dingen, und ich bin ein kleiner Mann. Ich hab nicht das Format für große Angebote.«
»Und Sie wollen klein bleiben? Befriedigt Sie das?«
»Ich bin glücklich.«
Ihr Lachen klang unverhohlen spöttisch. »Das Glück eines Feiglings. Wie lange wollen Sie noch Botengänge für Parulkar erledigen? Der Mann macht Crores, und Sie, was machen Sie? Ihre Beförderung ist überfällig, aber er unterstützt sie nicht. Er ist nicht Ihr Freund, Sartaj-saab.«
»Ich will nichts über ihn hören.« Sartajs Hand zitterte, und er mußte sich anstrengen, um nicht laut zu werden. »Ich will nichts über ihn hören, verstanden?«
»Sie sind ziemlich loyal ihm gegenüber.« Sartaj wartete ab. Plötzlich konnte er sich vorstellen, daß die alte Kutiya führendes Mitglied einer Company war, daß sie Mörder und Erpresser ausschickte. »Aber er ist nicht loyal Ihnen gegenüber. Er war's nicht mal Ihrem Vater gegenüber ...«
»Halten Sie den Mund, Bhenchod!« Sartaj legte abrupt auf. Er ging mit großen Schritten die Straße hinunter, bis er merkte, daß er bereits an dem Gypsy vorbei war. Er kehrte um, hievte sich auf den Fahrersitz, umfaßte das Lenkrad und versuchte sich zu beruhigen. Es gab keinen Grund, wütend zu werden. Diese Randi wollte ihn nur manipulieren. Und es war ihr beinahe gelungen. Ruhig, ganz ruhig.
Endlich ließ Sartaj den Motor an und fädelte sich in den Verkehr ein. Jetzt konnte er wieder klar denken. Die Frage war: Warum sagte Iffat-bibi so etwas über Parulkar, und warum ausgerechnet ihm? Wann und warum hatte Parulkar ihr und ihrer Company übel mitgespielt? Es stimmte vermutlich, daß er der derzeitigen Regierung nahestand, aber das war für ihn eine Frage des Überlebens. Iffat-bibi und ihre Leute mußten das verstehen. Warum also war Suleiman Isa neuerdings Parulkars Feind?
Sartaj wußte es nicht, und Parulkar selbst wollte er nicht fragen. Er hatte sich aus Parulkars großen Geschäften immer herausgehalten, hatte nichts wissen wollen über sein ausgeklügeltes Netzwerk aus Protektion, Geld und Beziehungen. Er wollte nichts wissen, weil er nicht dazugehören wollte. Er fürchtete die Anziehungskraft dieses weitverzweigten Systems aus Ehrgeiz, Reichtum und Macht, er hatte Angst, hineingezogen zu werden und nichts dagegen tun zu können. Ja, vielleicht hatte Iffat-bibi recht, vielleicht war er ein Feigling. Er hatte nicht den Mut, auf dieses Karussell aufzuspringen.
Eine Sache ließ ihm keine Ruhe, während er durch Mahim fuhr: Hatte Papa-ji auch Angst gehabt? Vielleicht hatte seine Integrität in Wirklichkeit auf Angst beruht, und vielleicht galt das auch für Sartajs eigenes bescheidenes Maß an Integrität. Vielleicht hatten sie beide nicht genug Format, um allzuviel zu verlangen. Kleine Belohnungen für kleine Herzen. Doch es führte kein Weg um dieses dornige Hindernis herum. Sartaj wollte nichts mit Iffat-bibi zu tun haben. Er wollte nichts über Parulkar wissen, Punktum. Er beschleunigte und versuchte alles hinter sich zu lassen.
Sartaj traf sich mit Kamala Pandey in einem Café in der S. V. Road. Sie wolle am Nachmittag in Bandra shoppen, hatte sie gesagt, und das Café sei für sie günstig gelegen. Sie saß an einem der hinteren Tische, neben sich zwei volle Einkaufstüten und Umesh. Sartaj hatte den Piloten nicht erwartet, aber nun war er da, blendend aussehend in seinen schwarzen Jeans und dem weißen T-Shirt. Er hatte den Arm um Kamalas Schulter gelegt, und Sartaj fragte sich, ob die beiden wieder ein Paar waren. Jedenfalls hatten sie garantiert eine Haramkhori262 hinter sich, wie Kamble es genannt hätte.
»Hallo«, sagte er.
Er zog einen Stuhl heran und nahm Platz, nickte und schwieg. Kamala rutschte ein wenig hin und her und sagte dann mit Kleinmädchenstimme: »Ich hab Umesh gesagt, er soll auch kommen. Ich dachte, er kann uns helfen.«
Sartaj sprach leise und in neutralem Ton. »Wenn der Fall vertraulich behandelt werden soll, dann behandeln Sie ihn auch vertraulich.«
Umesh beugte sich lächelnd vor. »Inspektor-saab«, sagte er, »Sie haben völlig recht. Aber Kamala steht ganz allein mit der Sache da. Sie braucht Unterstützung, und ich bin der einzige, mit dem sie darüber reden kann. Eine Frau braucht Hilfe, verstehen Sie?«
Er war wirklich äußerst charmant, auf eine vertraulich-jungenhafte Art. Die Haare fielen ihm in die Stirn, und er hatte ein bezauberndes, jugendliches Lächeln. Das alles konnte Sartaj nicht leugnen. »Ja«, sagte er, »aber ...«
»Einen Kaffee, Saab?« fragte Umesh. »Nehmen Sie einen, der ist sehr gut hier.«
»Nein, ich bin in Eile.«
»Probieren Sie den Cappuccino.« Umesh streckte den Finger in die Luft und rief dem Jungen hinter der Theke zu: »Einen Cappuccino, Harish.«
Sartaj ließ ihn gewähren. Er hatte nur eine vage Vorstellung davon, was ein Cappuccino war, und er wollte keinen, aber er hatte keine Lust, sich mit dem charmanten Umesh zu streiten. »Wir machen Fortschritte in dem Fall«, sagte er zu Kamala. »Es hat einen Durchbruch gegeben. Jetzt müssen wir sehen, was dabei herauskommt.«
»Was für einen Durchbruch?« fragte Kamala aufgeregt.
»Einzelheiten kann ich Ihnen nicht sagen, Madam, die Ermittlungen sind noch nicht abgeschlossen.«
»Bitte, sagen Sie's mir!«
Sartaj schüttelte den Kopf. »Ich gebe Ihnen Bescheid, sobald wir Konkreteres wissen. Bisher ist es nur ein Kontakt.«
»Hat es was mit Rachel zu tun?«
»Möglicherweise.«
»Sie können es Kamala ruhig sagen«, schaltete sich Umesh ein. »Unter den gegebenen Umständen.«
»Unter welchen Umständen?«
Umesh zuckte die Schultern. Er deutete mit dem Kopf auf eine von Kamalas Einkaufstüten. Ein brauner Umschlag sah zwischen den verschwenderischen Seidenpapierhüllen der Boutiquen hervor.
»Ah, die Umstände.« Sartaj faßte über den Tisch und zog den Umschlag mit spitzen Fingern heraus. Das unverkennbare Rechteck eines Banknotenbündels zeichnete sich unter dem Papier ab. Sartaj ließ den Umschlag wieder in seine weichen Polster fallen und erhob sich.
»Wo wollen Sie hin?« fragte Kamala.
»Lassen Sie sich eins gesagt sein.« Sartaj sah Umesh an. »Ich bin nicht Ihr Angestellter, und Sie sind nicht mein Chef. Ich bin Ihnen gegenüber nicht verantwortlich. Behalten Sie Ihr Geld.« Und dann auf englisch: »Good luck.«
»Warten Sie!« rief Kamala in Panik.
»Are, Yaar«, sagte Umesh, »ich wollte Sie nicht beleidigen.« Er war aufgestanden. »Sorry, tut mir leid.« Er legte Sartaj die Hand auf den Arm und nahm sie schnell wieder fort.
Sartaj hatte seine furchteinflößende Miene aufgesetzt und Kamala damit Angst eingejagt. Seinen kalten Polizistenblick, die unverhohlene Gewaltbereitschaft darin kannte sie noch nicht. Einen Moment lang bedauerte er, die schöne Kamala erschreckt zu haben, aber Umesh war angesichts seiner Feindseligkeit ganz klein geworden, und Sartaj genoß seine Benommenheit. Plötzlich stand jemand neben ihm. »Ihr Cappuccino«, sagte der Junge von der Theke strahlend; er schien die Spannung am Tisch nicht zu bemerken. Sartaj betrachtete den Schaum in der Tasse, und als er aufsah, war Umeshs Charme wieder da.
»Inspektor-saab«, sagte der Pilot, »es tut mir leid, wirklich. Ich bin ein Idiot. Ich bin ein solcher Idiot. Das darf nicht auf Kamalas Kosten gehen.«
Harish, der Cappuccino-Junge, verfolgte das Drama mit großen Augen. Sartaj kam sich selbst wie ein Idiot vor. Am Morgen hatte ihn Mohits Wut erschreckt, seine Befürchtungen, was Mohits Zukunft anbelangte, hatten ihm Angst gemacht. Dann hatte ihn Iffat-bibi beunruhigt. Und jetzt ließ er das alles an Kamala aus. Umesh ließ traurig und reuevoll den Kopf hängen und verriet damit eine Verletzlichkeit, die Sartaj bisher nicht an ihm bemerkt hatte. Sartaj schüttelte den Kopf und nahm Harish die Tasse ab. »Okay«, sagte er, setzte sich wieder und wartete, bis Harish außer Hörweite war. »Also, wie gesagt«, wandte er sich an Kamala, »wenn wir etwas Konkretes wissen, gebe ich Ihnen Bescheid.«
Kamala nickte eifrig. »Ja. Ja, gut.«
Umesh lehnte sich zurück. »Probieren Sie den Cappuccino, Sir«, sagte er. »Der ist wirklich gut.«
Sartaj nahm einen Schluck. Ein voller, kräftiger Geschmack, so wie der fremdländische Name. Er sah sich in dem Café um, betrachtete die pastellfarben glänzenden Wände mit den Bildern europäischer Straßen. Harish bediente an der Theke eine Gruppe Achtzehnjähriger. An den Tischen ganz vorn saßen Studenten, prächtig herausgeputzt mit ihren klobigen Schuhen und dem kunstvoll zerzausten Haar. In solche Lokale sind wir als Studenten nicht gegangen, dachte Sartaj. Megha und er hatten sich in iranischen Restaurants aneinandergekuschelt, abgestandenen Chai getrunken und die Blicke kahlköpfiger Geschäftsleute erduldet.
»Zucker?« fragte Umesh.
»Der ist süß genug«, antwortete Sartaj. Ein kleines grünes Auto stand neben Umeshs Tasse, an einem Schlüsselanhänger befestigt. »Was ist das für einer?«
»Ein Ferrari.«
Sartaj drehte den Wagen mit der Fingerspitze herum und schob ihn auf dem Tisch hin und her. Es war ein perfektes Modell mit Lenkrad und kleinen Buchstaben und Zahlen an den Seiten. »Hatten Sie letztes Mal nicht einen anderen?«
»Ja. Einen Porsche.«
Sartaj nickte. »Dann gefällt Ihnen der Ferrari jetzt besser?«
Umesh hob mit einer Miene ungläubiger Verblüffung die Hände. »Are, Inspektor-saab, ein Mann kann sich doch nicht nur auf einem Gaddi203 ausruhen. Ein Mann braucht mehr.« Die Ironie war so offenkundig wie die Anspielung. Doch er war sich seiner Rolle als ungezogener Junge vollauf bewußt, und man konnte ihm einfach nicht böse sein. Kamala verdrehte die Augen, aber auch ihr merkte man die Belustigung an.
»Also besitzen Sie diese Autos?« fragte Sartaj. Eine gemeine Frage, aber er mußte sie einfach stellen. Er kam sich alt vor gegen Umesh. Es hatte einmal einen Sartaj gegeben, der viele tolle Frauen und viele tolle Autos gewollt hatte und überzeugt gewesen war, sie stünden ihm auch zu.
»Ja, also«, begann Umesh, »äh ...«
Kamala klopfte ihm auf die Schulter. »Sei still«, sagte sie. Und dann zu Sartaj: »In seinen Träumen besitzt er sie. Er kauft sich jeden Monat sechs Autozeitschriften, und in seiner Wohnung hängen Autoposter an der Wand.«
»Das ist eben mein Hobby«, sagte Umesh ergeben. »Es gibt so tolle Kisten.« Leidenschaft schwang in seiner Stimme mit, die gedämpfte Glut des Fanatikers. »Das stimmt übrigens gar nicht, was du da sagst. Ich hab keine Poster mehr an der Wand. Da ist jetzt ein Projektionsschirm.«
»Ach ja«, lachte Kamala. »Das neue Heimkino.«
»Sie haben ein Kino in der Wohnung?« fragte Sartaj. »Mit Projektor und allem Drum und Dran?«
»Kein Filmprojektor«, antwortete Umesh mit einem nachsichtigen Lächeln angesichts Sartajs technischer Ahnungslosigkeit. »Ein Beamer, der an einen hochwertigen DVD-Player angeschlossen ist. Die Bildwand hat eine Diagonale von über vier Metern.« Umesh breitete die Arme aus. »Das Bild ist besser als in den meisten Kinos hier. Ich hab auch einen neuen Sanyo-Verstärker und Bose-Lautsprecher. Wenn man die Lautstärke aufdreht, spürt man es hier.« Er klopfte sich auf die Brust, und seine Augen wurden feucht vor Begeisterung. »Sie müssen mal kommen und sich einen Film anschauen.«
»Da langweilt er Sie nur mit irgendeinem amerikanischen Rennfahrerfilm«, sagte Kamala. »Wo stundenlang nur Autos rumrasen.«
»Nein, nein.« Umesh tat ihren Einwand mit einer männlich knappen Handbewegung ab. »Wir können uns auch einen Krimi anschauen. Ich hab Ihnen ja gesagt, ich seh gern Krimis.«
Sartaj versuchte noch immer, sich eine über drei Meter breite Bildwand und einen Beamer in einer Bombayer Wohnung vorzustellen. »Haben Sie einen eigenen Raum für Ihr Heimkino?« fragte er.
»Nein, Yaar, das ist in meinem Schlafzimmer. Der Beamer ist nur so groß, der braucht nicht viel Platz.« Er zeigte es mit den Händen. »Sehen Sie sich's einfach mal an.«
»Vielleicht, irgendwann mal.« Sartaj stand auf. »Zuviel Arbeit im Moment. Was kostet so was, DVD-Player, Beamer, Stereoanlage und so weiter?«
»Gar nicht mal so viel. Das kommt natürlich alles aus dem Ausland, man muß also schon einiges rechnen. Aber weniger, als man denken würde.« Er tippte sich mit den Fingerspitzen ins Gesicht.
»Was ist?« fragte Sartaj.
»Sie haben Schaum am Schnurrbart, mein Freund«, sagte Umesh liebenswürdig. Er hielt ihm eine Papierserviette und den braunen Umschlag hin. »Nehmen Sie.«
Sartaj nahm beides. »Machen Sie sich keine Sorgen«, sagte er zu Kamala und wischte sich das Gesicht ab. »Wir bleiben am Ball.« Kamala versuchte beruhigt dreinzuschauen, aber hinter dem schönen Glanz ihrer Wangen verbargen sich Zweifel. Sartaj zögerte und fügte dann hinzu: »Zum Teil haben unsere Fortschritte tatsächlich mit Rachel zu tun. Wie gesagt: Machen Sie sich keine Sorgen.«
Kamala straffte sich, nickte und lächelte. Auch Umesh schien erfreut. Vielleicht liebte er Kamala wirklich, auf seine Weise, dachte Sartaj. Ein Schönling, aber sympathisch. »Okay«, sagte Kamala. »Danke.«
Umesh flüsterte ihr etwas ins Ohr, als Sartaj ging. Zärtlichkeiten vielleicht oder Erinnerungen an ihre gemeinsame Zeit. Nein, bestimmt sprach er von der zweifelhaften Kompetenz des Ermittlers, den sie angeheuert hatte. Als Sartaj das Bein über sein Motorrad schwang, erhaschte er einen Blick auf sein Spiegelbild in der Glastür des Cafés. Es war eine elegante Bewegung, aber der Mann, der sie vollführte, war nicht in Form und trug ein hoffnungslos unmodernes kariertes Hemd zu seinen Bluejeans. Der Turban war noch straff und akkurat, das Gesicht darunter aber mit den Jahren erschlafft. Die Kriminalbeamten in Umeshs ausländischen Filmen sahen zweifellos besser aus, waren besser gekleidet, waren überhaupt besser. Soviel stand fest.
Auf der Fahrt Richtung Norden, am Flughafen Santa Cruz vorbei, dachte Sartaj an andere Dinge. Im Grunde war er Kamalas Angestellter. Zwar wurde er vom indischen Staat bezahlt, nach den bescheidenen Tarifen des öffentlichen Dienstes, Tatsache war aber, daß sein Einkommen teilweise von Kamala Pandey stammte, einer wohlhabenden Bürgerin. Ihre Zahlungen in den braunen Umschlägen machten ihn einmal mehr zu ihrem Untergebenen, und doch hatte er aufbegehrt und erklärt, er sei nicht ihr Arbeiter, ihr Tagelöhner, ihr Kuli. Zu seiner Linken hob ein helles Flügzeug ab, und er schaute zu, wie es an ihm vorbei in den blauen Himmel stieg. Der Verkehr floß jetzt schneller, und für einen Augenblick hatte er die Illusion, mit dem Flugzeug Schritt halten zu können. Dann war es weg. Er hatte geglaubt, er habe es nicht mehr nötig, mit Leuten wie Umesh und Kamala zu konkurrieren, er sei fortgestolpert von dem Sirenengesang von Erfolg und Sieg, aber offensichtlich war sein Stolz noch lebendig. Er konnte noch wütend werden, wenn er daran erinnert wurde, was er nun einmal war: ein Staatsdiener, ein Diener, nicht mehr und nicht weniger. Verdammter Sardar, dachte er. Verdammter Polizist.
Kamble genoß es an diesem Nachmittag, Polizist zu sein. Er hatte einen Einbruch aufgeklärt - der Wachmann des Gebäudes und zwei Freunde von ihm waren die Täter -, und er hatte mit einem Fall von Unterschlagung Geld gemacht, auf Kosten des Angeklagten. Sartaj fand ihn im Verhörraum, wo er einen Bericht schrieb.
»Kommen Sie rein, Saab, kommen Sie rein«, sagte er. »Bitte, setzen Sie sich.« Während er schrieb, trank er mit der anderen Hand laut schlürfend seinen Chaas und erzählte Sartaj ausführlich von seinen Triumphen. Nachdem er seinen Bericht beendet und abgeheftet hatte, gingen sie hinaus und schlenderten hinter dem Gebäude an der Mauer entlang und um den Tempel herum. Unter einem jungen Baum mit tief herabhängenden Zweigen blieben sie stehen.
»Die Telefonnummer, die der Glatzkopf angerufen hat, läuft auf den Namen -«, begann Kamble. »Oder nein, raten Sie - Sie werden's nicht glauben.«
Kamble hatte Beziehungen zu dem Mobilfunkanbieter. Er hatte viel Aufhebens darum gemacht, wie schwierig es sein würde, an Informationen zu gelangen, da es sich ja um inoffizielle Ermittlungen handle, und daß er mehr Geld brauche, um die Sache voranzubringen. Jetzt war er hochzufrieden mit sich, mit der schnellen Reaktion seiner Gewährsleute und ihrer Zuverlässigkeit. »Gehen wir wieder rein«, sagte Sartaj. »Es ist zu heiß hier draußen.«
Die Bäume, die Parulkar gepflanzt hatte, spendeten kaum Schatten. Sie waren zwar gewachsen, aber sie hatten ihr Laub abgeworfen und sahen überhaupt ziemlich kläglich aus. Ein Sonnenstreifen lag auf Kambles Schultern, er schwitzte. »Im Ernst, Boß, da kommen Sie nie drauf«, sagte er. Er zog feierlich ein Bündel Endlospapier aus der Tasche, noch mit den Lochstreifen, und schüttelte die Blätter auseinander. »Lesen Sie.«
Sartaj zuckte die Schultern. »Minister Bipin Bhonsle?«
Kamble beugte sich vor und stieß ein hartes Lachen aus. »Ja, der würde am liebsten alle leichten Mädchen in ganz Indien einsperren. Aber um den geht's hier nicht. Hören Sie zu. Die Adresse in Colaba ist erfunden, die gibt es gar nicht. Aber der Name ist ... Kamala Pandey.«
»Nein.«
»Doch. Da steht's. Kamala Sloot Pandey.«
»Zeigen Sie her.« Sartaj nahm den obersten Ausdruck. »Das heißt nicht ›sloot‹«, sagte er, »sondern ›slut‹.«
»Und das bedeutet?«
»Soviel wie Randi. Ein englisches Wort.«
»Randi?« Kamble fuhr sich über sein kurzgeschorenes Haar. »Der Glatzkopf ruft seinen Boß an, diese Kutiya Rachel, und die Saali lacht sich kaputt über uns.«
»Über Kamala wohl eher«, sagte Sartaj. »Rachel hat bestimmt nicht damit gerechnet, daß jemand an die Nummer kommt. Die hält sich für sehr gerissen. Für die ist das alles ein Spaß.«
»Bhenchod. Jetzt schnapp ich sie mir«, sagte Kamble. »Und gar nicht mal wegen des Geldes.«
Sartaj gab Kamble den braunen Umschlag, der inzwischen um die Hälfte leichter geworden war. »Die kriegen wir schon. Was haben Sie sonst noch?«
»Vier Wochen Telefonate unter der Nummer. Eingehende und ausgehende. Alle vom selben Handy und alle an dieses Handy. Es muß das von dem Glatzkopf sein, mit dem er auch am Kino telefoniert hat.«
Der Glatzkopf und sein Partner hatten also ein Handy und riefen damit ausschließlich diese Nummer an, um mit ihrem Boß zu sprechen. Und ihr Boß - es war, dem zickigen »Kamala Slut Pandey« nach zu schließen, Rachel Mathias - rief mit ihrem Handy nur die beiden an. Sehr effizient, sehr umsichtig. »Das andere Handy, das von dem Glatzkopf, auf welchen Namen läuft das?«
»Auf denselben, also ihren. Das ist alles eins, mit slut und allem.«
Kamala war demnach eine doppelte »slut«. Jetzt wollte auch Sartaj Rachel schnappen, und auch nicht wegen des Geldes. Doch die beiden Handys, die sich gegenseitig anriefen, waren ein Problem. Sie waren unter erfundenen Adressen registriert und wurden vermutlich per Baraufladung betrieben. Es war ein geschlossenes System.
Kamble hatte einen raubtierhaften Zug um den Mund, wie ein Wolf, der gerade eine Portion Frischfleisch vertilgt hat. »Schauen Sie nicht so besorgt, mein Freund. Jemand hat einen Fehler gemacht. Ein Anruf vom Handy des Glatzkopfs ging an eine Festnetznummer. Vor drei Wochen, ein einziger nur, anderthalb Minuten lang. An einen Privatanschluß. Ich hab Namen und Adresse. Und die gibt's wirklich.«
Am Abend fuhren sie zu der Adresse. Es war eine lange Fahrt, im Stoßverkehr bis nach Bhandup. Kamble saß auf dem Soziussitz, und Sartaj spürte sein Gewicht und seine Ungeduld. Immer wieder entdeckte er Lücken zwischen den Fahrzeugen und trieb Sartaj zur Eile an. Doch Sartaj behielt sein gewohntes gleichmäßiges Tempo bei und ließ sich nicht auf Abkürzungen ein, auf denen sie letzten Endes nur noch langsamer vorwärts kommen würden. An einer Kreuzung hielten sie hinter einer langen Schlange leuchtend bunt bemalter Lastwagen an, und Sartaj drehte das Gesicht weg von dem heißen Strom der Abgase. Der Schein der Laternen hing wie eine orangefarbene Lichtblase vor dem harten Schwarz des Himmels über der Straße. Rechts, hinter und über den Autos, zog sich ein Lichtermeer nach Norden und Osten. Jenseits davon waren gerade noch die Hügel zu erkennen. Hier draußen sah man, wie die Stadt sich ausdehnte, sich in die Erde grub und in das Umland vorschob. Vielleicht lebten in den Hügeln noch Volksstämme, die an ihrem Stück Land und ihren eigentümlichen Gebräuchen festhielten. Vermutlich brachten die Laster ihnen Zement und Maschinen, Geld und lange juristische Dokumente, und die Stammesangehörigen unterschrieben und verkauften oder wurden umgesiedelt. So machte man das.
Kamble lachte, und Sartaj drehte sich zu ihm um. Kamble betrachtete blinzelnd die Aufschrift auf dem Laster vor ihnen. »Gar ek baar pyaar kiya to baar baar karna212«, stand dort in kunstvoller weißer Hindi-Schrift unter dem üblichen HORN-OK-PLEASE-Schild, »agar mujhe der ho jaye to mera intezaar karna.« Die Kotflügel waren rot und orange gestrichen und mit einem grünen Rankenmuster eingefaßt. »Da sind vier Rechtschreibfehler drin«, sagte Kamble. »In zwei Zeilen.«
So war es. »Armer Dichter«, sagte Sartaj.
»Aber kein schlechter Vers«, meinte Kamble.
Die Ampel schaltete auf Grün, und die Laster setzten sich hupend und dröhnend wieder in Bewegung. Sartaj fuhr hinter dem poetischen Lastwagen her und sann über die Sorgen von Poeten und superschlauen Gesetzesbrechern nach. Man konnte noch so vorsichtig und elegant vorgehen und seine Verbrechen hinter noch so vielen Handys verstecken - man war leider gezwungen, mit Idioten zusammenzuarbeiten. Gute Helfer waren schwer zu finden. Es gab immer jemanden, der die einfachsten Anweisungen mißachtete, der einen Fehler machte, viele Fehler. Ermittler wirkten bei ihren Ermittlungen so clever, aber die Lösung war oft das Geschenk eines Idioten. Papa-ji hatte sich oft über den allgemeinen Niedergang der Verbrecherkaste ausgelassen. Die Jüngeren hätten jede Menge Muskeln, aber es fehle ihnen an Raffinesse, hatte er erklärt. Wer ein AK-47 statt eines glatten Rampuri-Messers523 benutze, sei nichts weiter als ein kleiner Ganove. Papa-ji hatte stets Beispiele parat gehabt, die bis ins neunzehnte Jahrhundert zurückreichten, von legendären Dieben und Schwindlern, die ihre Verbrechen mit Witz und Bravour begangen hatten. Jede Generation habe die Apradhis, die sie verdiene, hatte er immer gesagt.
Es war später Abend, als Sartaj und Kamble zu dem Kholi ihres Apradhis am Ende einer gewundenen Gasse im hinteren Teil des Satguru Nagar Basti gingen. Sie folgten einem Inspektor namens Kazimi, der seine Haare mit Henna gefärbt hatte und steif vor ihnen herstolzierte. Kamble verdrehte die Augen über Kazimis gezierten Gang, die umständliche Vorsicht, mit der er über einen Haufen Wasserrohre hinwegstieg. Kazimi war der Freund eines Freundes, und Satguru Nagar gehörte zu seinem Revier. Er hatte ihnen keine Fragen zu ihren Ermittlungen gestellt, und tausend Rupien hatten seine Flexibilität, was den Termin des Unternehmens anbelangte, deutlich gesteigert. Er war Polizist auf einem wenig einträglichen Posten, und bestimmt hatte er Kinder, fast erwachsene Kinder, die ihn einiges kosteten. Das verrieten der gehetzte Eindruck, den er vermittelte, und seine wie unter einer schweren Last gebeugten Schultern. Aber er war effizient. Er hatte den Namen Shrimati Veena Mane sofort erkannt und führte sie nun zielsicher durch die namenlosen Gassen.
»Wie weit ist es noch?« fragte Kamble. Er war stehengeblieben und kratzte sich an einer Hausecke die Schuhsohle ab. »Ich hasse diese Bastis. Bhenchod.«
»Nicht mehr weit«, sagte Kazimi. »Ein paar Minuten noch.« Er rieb sich die Hüfte.
»Was ist?« fragte ihn Sartaj.
»Ein Streifschuß«, sagte Kazimi. »Während der Unruhen. Tut weh, wenn ich den ganzen Tag herumlaufe. Auch nach der langen Zeit noch.«
Sartaj brauchte nicht nachzufragen, welche Unruhen er meinte, und er wollte auch nicht wissen, wie und warum er sich die Verletzung zugezogen hatte. Kamble hatte sich wieder aufgerichtet, und sie gingen weiter.
»Dieses Basti ist in den letzten zwei Jahren mächtig gewachsen«, sagte Kazimi. Sein Profil zeichnete sich vor den erleuchteten Türöffnungen ab. »Fast fünfhundert Kholis gibt es hier inzwischen.«
Fünfhundert enge kleine Behausungen aus Backstein, Holz, Plastik und Blech, wenig Raum für viele Menschen. Vermutlich trennten Kamble höchstens zwei Generationen von einem solchen Zuhause, aber er schaute mit der Überheblichkeit des Entkommenen, des Emigranten darauf herab. Er war zu anderen Ufern unterwegs, und er mochte es nicht, wenn er wieder zurück mußte. Auch Sartaj versuchte seine italienischen Prachtstücke zu schonen, aber wenn die Schuhe schmutzig wurden, mußte man sich eben damit abfinden. Hier lebten Menschen, und so sah ihr Leben nun einmal aus. Es war im übrigen ein besseres Basti als viele andere, die Sartaj kannte. Die Bewohner hatten es weiter gebracht, sie hatten die dürftigen Verschläge der Neuankömmlinge, die provisorischen Konstruktionen aus alten Pappkartons hinter sich gelassen. Hier gab es Wasserpumpen und gemauerte Rinnsteine, die meisten Kholis hatten Strom, und Shrimati Veena Mane besaß ein Telefon. Am vorderen Rand des Bastis hatte Sartaj sogar fünf Toiletten gesehen, mit einem blauen NGO-Plakat darüber. Die Leute hier brachten es zu etwas, langsam, aber sicher.
Polizisten mochten sie allerdings nicht, die Bewohner von Satguru Nagar. Zwei Halbwüchsige, die untergehakt auf einem Sims zwischen zwei Kholis saßen, funkelten Kazimi böse an, und Sartaj bekam den Rest ihrer Feindseligkeit ab, als er an ihnen vorbeiging. Eine alte Frau mit schütterem Haar, die mit einer kleinen Metallschale zwischen den Knien in ihrer Tür saß, rief ihnen zu: »Was für eine Sünde werden Sie heute begehen, Inspektor?« Die beißende Verachtung in der letzten Silbe hätte ausgereicht, um die Milch auf dem Ofen im Innern der Hütte gerinnen zu lassen.
»Heute bin ich ausnahmsweise mal nicht hinter Ihrem Sohn her, Amma018 «, sagte Kazimi, ohne sich nach ihr umzudrehen. »Aber grüßen Sie ihn von mir.«
Sie hatte noch mehr zu sagen, wurde jedoch von einem lauten, blechernen »Yeh shaam mastaani, madhosh kiye jaye«675 aus einem Fernseher zur Linken übertönt. Ein Stück vor ihnen endete die Gasse an einer grauen, von Glasscherben und Stacheldrahtschlingen gekrönten Betonmauer. Dahinter war leeres, mit einzelnen Bäumen bestandenes Land.
»Hier ist es«, sagte Kazimi. »Die vorletzte Tür links.«
»Okay.« Kamble schob sich an Kazimi vorbei. »Los.«
»Langsam«, sagte Kazimi, »langsam.«
Sartaj legte Kamble die Hand auf den schweißnassen Rücken, um ihn zurückzuhalten, und nahm sie schnell wieder fort. »Er hat recht«, sagte er und wischte sich die Hand an seinen Jeans ab. »Wir wissen nicht, wer der Apradhi ist. Es könnte ja einer von den Taporis sein, an denen wir gerade vorbeigekommen sind. Sachte, Kamble, sachte.«
Kamble schien nicht überzeugt, aber er ließ Kazimi vorgehen. Die vorletzte Tür links war frisch gestrichen, in einem fröhlichen Orange, mit einem weißen Ganesha über dem Türsturz. Sie stand einen Spaltbreit offen, und man hörte leise Stimmen aus einem Fernseher. Kazimi schlenderte geradeaus weiter, als wollte er bis ganz ans Ende der Gasse. Dann drehte er sich abrupt um, legte die Hand an die orangefarbene Tür und stieß sie auf.
Sartaj sah eine Hand, die ein Knie umklammerte, einen nackten Rücken, dünne Waden. Ein Mann saß mit dem Rücken zur Tür auf dem Boden und sah fern. Er rappelte sich hoch, stand schwankend auf einem Bein und fragte: »Was soll das? Wer sind Sie?«
Sartaj, der noch in der Tür stand, spürte Kambles warmen Atem im Nacken. »Das ist der Glatzkopf«, sagte Kamble. »Dieser Hurensohn.«
Der magere Mensch mit der eingefallenen Brust konnte in der Tat der Glatzkopf sein, den der kleine Jatin beschrieben hatte. Alter und Größe stimmten, und sein Kopf war bis oben kahl. Kazimi drückte ihn gegen ein Regal.
»Sie sind neu hier«, sagte er, »sonst würden Sie mich kennen. Wie heißen Sie?«
»Wer sind Sie?« beharrte der Glatzkopf.
»Wir sind Ihre Baaps«, antwortete Kamble von der Tür her. »Erkennen Sie uns nicht?«
Sartaj ging an Kazimi vorbei in den hinteren Teil des Kholis. Es gab dort noch einen zweiten Raum, mit zwei Holzschränken und drei aufeinandergestapelten Metallkisten. Trübes graues Licht drang durch eine schwer vergitterte Luftklappe hoch oben in der Backsteinwand herein. Es war ein recht großes Haus, gepflegt und sauber alles in allem. In der Küchenecke im vorderen Zimmer hingen an einem Gitter mehrere Reihen Küchengeräte, und es gab einen Herd mit zwei Flammen. Links neben der Tür stand auf einem kleinen Holzschemel ein glänzendes grünes Telefon mit einem weißen Spitzendeckchen darunter.
Der Glatzkopf war verstummt. Er hatte sein Knie losgelassen und die Arme vor der Brust verschränkt. Seine Beine unterhalb der blauen Trikotunterhose zitterten neben dem Suni-Shetty-Film, der im Fernsehen lief. »Ich heiße Anand Agavane«, sagte er. Inzwischen war ihm klar, daß er drei Polizisten vor sich hatte, und seine Stimme zitterte ebenfalls.
Kazimi trat einen Schritt auf ihn zu. »Wer sind Sie, Anand Agavane? Wieso sind Sie hier, in Veena Manes Haus?«
»Sie ist meine Aatya003. Das Haus gehört ihr. Ich bin Autorikschafahrer bei einem Seth, der hier in der Nähe eine Garage hat. Manchmal muß ich den Wagen spätnachts zurückbringen, und dann übernachte ich hier.«
»Ihre Aatya ist wohl ziemlich reich, was?« fragte Sartaj. »Sogar ein Telefon hat sie.« Er kauerte sich neben den Schemel. Das Telefon hatte ein Wählscheibenschloß, und daneben stand eine Schachtel voller Münzen und Notizzettel. Veena Mane ließ ihre Nachbarn für Geld telefonieren und Anrufe entgegennehmen. »Welche Nummer hat der Apparat hier?«
»Die Nummer?«
»Ja. Sie wissen die Telefonnummer Ihrer eigenen Tante nicht? Kamble, wie ist die Nummer?«
Kamble war in das hintere Zimmer gegangen, wo er Kisten umstieß und Schranktüren aufriß. Er rief die Ziffern eine nach der anderen in einem lauten Singsang herüber.
»Ist sie das, Chutiya?« fragte Kazimi. Er stand jetzt dicht vor Anand Agavane, Nase an Nase. »Ist das die Nummer Ihrer Tante?«
»Ich hab nichts getan.«
Kazimi versetzte ihm eine Ohrfeige. Ein Stöhnen stieg aus der Zuschauermenge auf, die sich draußen angesammelt hatte. Anand Agavane kauerte sich neben den Fernseher und hielt sich die Wange.
Sartaj steckte den Kopf zur Tür hinaus. »Verschwindet!« herrschte er die Leute an. »Oder ihr könnt was erleben. Wollt ihr eins mit dem Lathi hintendrauf? Ihr seid hier nicht im Kino.« Veena Manes Nachbarn wichen zurück und wandten sich ab, aber Sartaj wußte, daß sie lauschen würden, daß man alles, was in einem Kholi vorging, im Nachbarkholi hörte. Er ging wieder hinein und drehte den Fernseher lauter. Ein Model in einem grünen Sari besang eine erlesene Kaffeemarke.
»Sehen Sie sich das an«, sagte Kamble, als er durch den schmalen Durchgang wieder ins vordere Zimmer trat. Er hielt einen würfelförmigen schwarzen Anschlußstecker mit einem baumelnden Kabel hoch. »Sieht aus wie von einem Handy. Wie viele Telefone hat Ihre Aatya denn noch? Was macht sie damit, ruft sie alle zehn Minuten die Ambanis013 an?«
Sartaj nahm den Stecker. Er legte Anand Agavane beruhigend die Hand auf die Schulter, nahe am Hals. »Hören Sie zu«, sagte er. »Wir sind nicht hinter Ihnen her. Wir wissen, daß Sie die Frau angerufen haben, wir wissen, daß die Chokras am Apsara in Ihrem Auftrag Geld bei ihr abgeholt haben.« Anand Agavanes Puls raste unter Sartajs Fingern wie das Herz eines Vogels. »Wir wollen nur von Ihnen wissen, wer Ihr Boß ist. Wen rufen Sie an? Sagen Sie's mir. Es passiert Ihnen nichts.«
Doch Anand Agavane war wie benommen, Augen und Kinn starr. Sartaj hatte schon öfter gesehen, wie Menschen allen Mut zusammennahmen, wenn sie sich in die Enge getrieben sahen. Anand Agavane wollte sich ehrenhaft verhalten, wollte seine Freunde schützen. Aber er würde einknicken, es würde nur einige Mühe kosten, ein längeres Verhör und den einen oder anderen Hieb. Sie würden ihn bearbeiten müssen.
Kazimi nickte Sartaj zu und schlug Anand Agavane erneut ins Gesicht, lässig mit dem Handrücken, nur andeutungsweise, ohne viel Kraft. »Er hat dich was gefragt«, sagte Kazimi. »Antworte.«
»Ich weiß nichts von irgendwelchem Geld«, sagte Anand Agavane.
»Und das Handy?« fragte Sartaj. »Wo ist es?«
Kamble nahm ein weißes Hemd von einem Haken und ließ es zu Boden fallen. Dann faßte er in die Taschen einer weißen Hose und brachte eine Geldbörse zum Vorschein. »Ein Autorikschafahrer mit so viel Geld? Dabei gehört Ihnen die Rikscha nicht mal, Sie Bastard.« Er schleuderte Anand Agavane die Hose ins Gesicht, dann fiel sie zu Boden.
Sartaj fegte Schachteln von einem Küchenbord. Auf der anderen Seite des Herdes standen auf einem schwarzen Wandbrett Bilder der Tuljapur Devi643 und Khandobas331 und ein gerahmtes schwarzweißes Hochzeitsfoto. Die Braut, schmuckbehängt und mit scheuem Blick, wies eine gewisse Ähnlichkeit mit Anand Agavani auf. Es mußte Veena Aatya sein. Sartaj stieß das Bild herunter, und man hörte Glas splittern. Kazimi stellte einen Fuß auf Agavanes Hose, bückte sich und zog den Gürtel heraus. Er nahm ihn doppelt und schlug Agavane damit auf Schultern und Hüften.
»Wenn du mich wütend machst«, sagte er, »mußt du heute die Nacht mit mir verbringen, Bhenchod, und nicht mit deiner Aatya. Und dann werde ich jede Menge Spaß haben, das sag ich dir, du aber nicht. Wo ist es, das verdammte Handy?«
Sartaj wandte sich wieder dem Raum zu. Das Kholi sah inzwischen aus, als sei es verwüstet worden, als hätte eine Sturmbö die grellfarbigen Kalender von der Wand gefegt und zerfetzt. Aus einem umgestürzten Behälter ergoß sich guter Reis über den Boden. Beim Klatschen der Hiebe von Leder auf Haut und Kambles stetem Strom von Schimpfworten versuchte Sartaj zu überlegen. Anand Agavane hatte nahe der Tür vor dem Fernseher gesessen. Da er sich vermutlich nicht weit von der Stimme seiner Herrin entfernte, mußte das Handy hier irgendwo sein. Es gab ein Fenster mit Fensterläden, doch der zerkratzte, verzogene Sims war gerade breit genug für eine Packung Zigaretten und Zündhölzer. Sartaj schüttelte die zusammengefaltete Matratze auseinander, auf der Agavane gesessen hatte, förderte aber nur einen muffigen Geruch und ein Geriesel von Fusseln zutage.
In der Ecke, auf Augenhöhe, hing ein Drahtkorb an einem weißen Seil. Er war leer. Vielleicht war Aatya Grießmehl, Kartoffeln und Hammelfleisch kaufen gegangen, das sie dann in den Korb legen würde, außer Reichweite der unvermeidlichen Ratten. Sie hielt ihr Haus sauber, auch wenn ihr Neffe ein Apradhi war. Anand Agavane hockte auf dem Boden, den Kopf zwischen den Knien, die Arme eng um die Beine geschlungen. Seine Schultern waren rot angelaufen, und auf seiner Glatze stand der Schweiß. Dieser sture Bock. Sartaj stieß den Korb an, so daß er leicht gegen die Wand schwang. Die Schnur hing an einem Ring, der an einem Dachsparren befestigt war. Ein Bild an der Wand, eine effektvoll ausgeleuchtete Studioaufnahme in grellen Farben, zeigte ein junges Paar. Aatyas Tochter vielleicht, in einem roten Sari, eine dunkle Sonnenbrille im Haar. Der Bräutigam stand in einer Lederjacke neben ihr, in der lässigen Haltung eines Dressman, die Hände auf den Hüften. Die Jacke hatte ihm vermutlich der Fotograf geliehen, der die beiden als modernes junges Paar vor dem Hintergrund einer nächtlichen Stadt hatte posieren lassen. Die Lichter der Stadt zogen sich bergauf und bergab und glitzerten im Wasser. Es konnte der Marine Drive sein, es konnte auch New York sein. Das schwarz gerahmte Foto hing an einem vorstehenden Backstein. An der ganzen Wand ragten ein Stück über Sartajs Kopf jeweils zwei Backsteine in den Raum, im Abstand von etwa einem halben Meter. Aatya schien eine praktisch denkende Frau zu sein. Sartaj fuhr mit der Hand über den ersten Stein, fühlte aber nur dessen rauhe Fläche und die Schnur, an der das Bild hing. Er tastete den zweiten ab, stieß dann mit dem Fuß die Matratze beiseite und trat einen Schritt vor. Als er auf den dritten faßte, war er sich plötzlich ganz sicher. Ja. Seine Fingerspitzen stießen auf glattes Plastik. Es war das Handy.
»Ich hab's«, sagte er.
Kamble schleuderte die Keksdose fort, die er gerade untersuchte, und die Knöpfe, Garnrollen und Nadeln darin prasselten an die Wand. »Zeigen Sie her«, sagte er und streckte die Hand aus.
Doch Sartaj hielt das Handy fest, es gehörte ihm, für den Moment jedenfalls. Dies war der Augenblick, in dem ein Fall sich erschloß, in dem ein dunkler Vorhang zerriß, in dem ihn ein Triumphgefühl und der Hunger nach mehr durchströmten. Er ließ es zu und merkte, daß er grinste. Er drückte ein paar Tasten und hielt das Handy dann Kamble hin. »Die letzten zehn gewählten Nummern«, sagte er. »Immer dieselbe, das andere Handy.«
»Das war's«, sang Kamble leise. »Jetzt haben wir dich, du Dreckskerl.« Er nahm das Handy und tippte auf das Display, glücklich wie ein kleiner Junge mit einem Softeis.
Kazimi aber war angewidert. Er versetzte Agavane einen Tritt, stolperte dann von ihm weg und setzte sich auf eine umgekippte Kiste. »Maderchod«, sagte er zu Agavane. »Und dafür hab ich mich so verausgabt! Hast du im Ernst geglaubt, wir würden das Handy da oben nicht finden? Du sitzt hier in einem Mauseloch von Kholi, Bhenchod. Idiot. Jetzt bist du dran.« Er zog ein großes blaues Taschentuch hervor und wischte sich Gesicht und Nacken. »Also, was ist? Redest du jetzt?«
Agavane hob den Kopf. Er weinte. »Saab«, sagte er. »Saab.«
Um elf langte Sartaj bei Mary an. Als er an ihrem Haus vorfuhr, wurde ihm plötzlich bewußt, wie laut das Motorrad war. Die Treppe war weit von der einzigen flackernden Glühbirne am Ende des Weges entfernt und stockdunkel. Sartaj tastete sich hinauf und bemerkte zum ersten Mal die Kletterpflanzen an der Hauswand, die dicke, weiche Schicht aus Weinlaub. Er klopfte zweimal an und wollte schon wieder kehrtmachen, als die Tür knarrend aufging. Mary hatte verquollene Augen und bewegte sich sehr langsam. Sie murmelte irgend etwas und trat zurück, um ihn hereinzulassen.
»Ich bin eingeschlafen«, brachte sie schließlich gähnend hervor. Auf ihrem übergroßen gelben T-Shirt war eine Entenmutter mit ihren Küken abgebildet.
»Tut mir leid«, sagte Sartaj. »Ich bin nicht früher weggekommen. Ich kann auch wieder gehen.«
»Nein, nein.« Sie schloß die Tür. »Ich hab ferngesehen, und da sind mir die Augen zugefallen.«
Auf dem Bildschirm galoppierten Zebras in einer Reihe über einen Hügelkamm. Sartaj berührte Marys Wange.
»Sartaj Singh«, sagte sie, »du riechst.«
Sartaj trat zurück. »Sorry«, sagte er. »Ich hab den ganzen Tag gearbeitet.«
Er bemerkte es selbst, roch die schrecklichen benzindurchsetzten Schmutz- und Schweißränder, die sich an seinem Körper gebildet hatten, von der Stirn bis hinab zu den Knöcheln. »Ich gehe besser wieder. Eigentlich wollte ich vorher nach Hause, aber es war schon so spät.«
Mary lachte. »Du wirst ja richtig rot«, sagte sie. »Ich wußte gar nicht, daß Polizisten erröten können. Aber du brauchst nicht zu gehen. Möchtest du dich waschen?« Sie deutete mit dem Kopf auf die Tür hinter Sartaj.
»Waschen?« Sie hatte recht, er war errötet. Er spürte die Hitze auf der Brust und am Hals. Er war nie schüchtern gewesen, aber jetzt war ihm die Vorstellung, sich hinter der dünnen Holztür ausziehen zu müssen, unerträglich.
Doch Mary ließ sich nicht beirren. »Komm schon«, sagte sie bestimmt. »Ich geb dir ein Handtuch. In der Zwischenzeit wärme ich das Essen auf.«
Sartaj zog an der Wohnungstür seine Schuhe aus, überlegte es sich dann anders und stellte sie draußen auf den Treppenabsatz. Er steckte seine braunen Socken tief in die Schuhe und lächelte Mary an.
»Nimmst du den ab, deinen ...?« fragte sie und reichte ihm ein grünes Handtuch.
»Pagdi. Meistens.«
»Also?«
Er setzte sich auf den Stuhl am Fußende ihres Bettes und wickelte seinen Turban ab. Mary schaute interessiert zu. Er hatte das lange nicht mehr vor einer Frau getan. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, und seine "Wangen glühten.
»Wie lang der ist«, sagte Mary. »Ganz schön viel, was du da auf dem Kopf trägst.«
»Man gewöhnt sich dran.« Sartaj wickelte die lange blaue Stoffbahn um Hand und Ellbogen. »Wie der Sari bei den Frauen, nicht?«
Mary nickte. »Und, habt ihr sie geschnappt?«
»Wen?«
»Die Frau, die die andere erpreßt hat.«
Sartaj erstarrte. Wut stieg in ihm auf und ein unerklärlicher Anflug von Scham, sein Magen krampfte sich zusammen. Männer sind Schweinehunde, dachte er, Rakshasas. Am liebsten hätte er ihr gar nicht gesagt, wer der Apradhi war, aber er würde nicht darum herumkommen. Er wand ein weiteres Stück Stoff um seinen Arm und holte tief Luft. »Nein, wir haben nur einen von ihren Handlangern geschnappt. Aber wir wissen jetzt, wer der Erpresser ist. Der Kerl, den wir gefaßt haben, hat uns alles gesagt.«
Mary klatschte in die Hände, einmal, zweimal. »Sag schon, wer ist es?«
Sartaj schüttelte den Kopf. »Es ist der Freund«, sagte er.
»Welcher Freund? Wessen Freund?«
»Kamalas Ex-Freund. Der Pilot. Umesh.«
»Moment, Moment. Der gutaussehende Mann? Den du auch kennengelernt hast?«
»Genau der.« Sartaj stand auf und legte den zusammengefalteten Turban feierlich auf den Stuhl. »Der Typ, den wir heute aufgespürt haben - seine Mutter hat bis zu ihrem Tod bei der Familie des Piloten gearbeitet. Deswegen hat ihn der Pilot für den Job angeheuert. Zum Anrufen und Geldabholen.«
Marys Miene war jetzt ausdruckslos und undurchdringlich. »Die Frau zu erpressen, die«, sagte sie, »die ...« Sie wandte sich angespannt ab.
»Umesh hat einen teuren Geschmack«, sagte Sartaj. »Er hat wohl zuviel Bargeld in Kamalas Handtasche gesehen und sich gesagt, daß er was davon braucht.«
»Und was hast du jetzt vor?«
»Ich weiß nicht. Verhaften können wir ihn nicht, weil es kein offizieller Fall ist. Wir haben uns noch nicht entschieden.«
Mary zupfte ein Fädchen von ihrem T-Shirt und schnippte es fort. »Verprügelt ihn«, sagte sie. »Verprügelt ihn.«
»Ja.« Sartaj wußte nichts mehr zu sagen. Marys Schultern unter dem feinen gelben Stoff waren erschlafft.
»Du kannst meine Duschhaube benutzen«, sagte sie. »Wenn du willst.«
»Okay.« Sartaj war froh, ins Bad zu entkommen. Er hatte den Kloakengestank des Verbrechens in Marys Wohnung getragen und sie aufgeregt. Ihr Zorn schloß den Schmerz eigener Erfahrung ein. Er war kein sehr erfolgreicher Verehrer, dachte er, als er die Tür zu dem winzigen Badezimmer hinter sich schloß. Auf einem Sims unter der Lüftungsklappe standen Shampoos, Lotions und Seifen, und die beiden Haken an der Tür waren mit Handtüchern und Kleidungsstücken bepackt. Sartaj wollte sein verschwitztes Hemd nicht über Marys Nachthemd hängen, und so nahm er - behutsam, ganz behutsam - das Nachthemd mit den Fingerspitzen ab und hängte es über das Handtuch am anderen Haken. Dann knöpfte er sein Hemd auf. Auch Kamble hatte den Piloten verprügeln wollen, nachdem Anand Agavane ihnen gesagt hatte, wer der Erpresser war. Er war fuchsteufelswild geworden. Am liebsten hätte er Umesh auf der Stelle aus dem Cockpit gezerrt oder wäre zu ihm nach Hause gegangen und hätte ihm mitten in seinem Kinoraum eine Abreibung verpaßt. Seine Heftigkeit hatte Kazimi und Sartaj gleichermaßen überrascht, und schließlich hatte Kazimi gesagt: »Wieso wollen Sie ihn verprügeln, Bhai? Der Bastard hat doch Geld wie Heu.« Und Sartaj hatte genickt.
Er stülpte sich Marys Duschhaube über seinen Patka und drehte den Wasserhahn auf. Eine Dusche gab es nicht. Sartaj blickte in das sprudelnde Wasser und wartete, bis der rote Plastikeimer voll war. Kamble war noch sehr jung. Hinter dem Zynismus, mit dem er sich panzerte, verbarg sich im Grunde ein Romantiker. »Are, ich hab zwar viele Mädchen«, hatte er zu Kazimi und Sartaj gesagt, »aber ich nehm doch kein Geld von ihnen. Ich geb verdammt viel Geld für sie aus, soviel ich kann, mehr als ich habe. Dieser Pilot ist ein Badhwa044.« Es hatte eine ganze Weile gedauert, bis er sich wieder beruhigt hatte, bis sie ihn hatten überzeugen können, daß Prügel nur ein kurzes Vergnügen waren, keine wirkliche Strafe für einen Mann wie Umesh. Als sie sich trennten, hatte er noch immer gemurrt: »Bei ihr war es Liebe« - er benutzte das englische Wort »love« und stach mit dem Zeigefinger in die Luft -, »aber er hat sie nur benutzt, der Schweinehund.«
Sartaj setzte sich, dem Wasserhahn zugewandt, im Schneidersitz auf einen weißen Aluminiumhocker und goß sich Becher voll Wasser aus dem Eimer über Schultern und Bauch. Sie waren sich so sicher gewesen, daß die verschmähte, beleidigte, rachsüchtige Rachel Mathias der Apradhi war. Und dann hatte sich herausgestellt, daß der schöne Lover selbst der Geliebten so übel mitgespielt hatte. Kamble glaubte erstaunlicherweise an die ungetrübten Wonnen reiner Liebe, an Träume, wie sie in Schlagern besungen wurden. »Gata rahe mera dil, tu hi meri manzil.« Sartaj hängte den Becher an den Rand des Eimers und blieb mit geschlossenen Augen sitzen, die Hände auf den Schenkeln. War es möglich, zum Glauben zurückzufinden, das Zuviel an Wissen und die bequeme Distanz des Exils hinter sich zu lassen? Er dachte an die Frau auf der anderen Seite der Tür, so nahe - wie seltsam und unerwartet war es, daß er sich in ihrer Wohnung aufhielt, in ihrem Bad. Während er sich einseifte, dachte er an die andere Frau, die Frau, die den Piloten geliebt hatte. Umesh war kein guter Mensch, Kamala aber auch nicht unbedingt. Doch Sartaj wollte Mary nicht daran erinnern, daß Kamala einen Ehemann hatte, daß sie egoistisch, leichtfertig und untreu war. Darüber wollte er nicht reden. Nicht hier, nicht jetzt. Im Moment wollte er nur Ruhe, wollte nur in Marys Nähe sein. Irgendwann in der Zukunft würde es vielleicht Streit geben, Betrug, Schmerz und Verlust, aber an diesem Abend brauchte er eine kleine Enklave des Vertrauens. Die Zukunft hatte noch nicht begonnen, und die Vergangenheit war vorbei. Er drehte den Hahn voll auf und goß sich noch einmal reichlich Wasser über Kopf, Brust und Schenkel. Grinsend summte er den Song: »Kahin beetein na ye raatein, kahin beetein na ye din.«
Als er sich abtrocknete, klopfte Mary an die Tür. »Hier«, sagte sie. Er öffnete die Tür einen Spalt, gerade so weit, daß sie den Arm durchstrecken konnte. »Das kannst du anziehen.«
»Das« war eine abgetragene Kurta. Er schloß die Tür wieder und hielt das Hemd hoch. Die Ärmel waren etwas kurz, aber um Brust und Schultern paßte es. Er fragte sich, ob es ihrem Ex-Mann oder einem Freund gehört hatte, schob den Gedanken aber schnell beiseite. Was spielte das schon für eine Rolle? Die Kurta war sauber und verströmte einen frischen Wäschereigeruch nach Bügeleisen und Stärke. Er krempelte die Ärmel hoch und strich sie glatt. Den Patka hatte er schnell wieder gebunden, aber gegen seine Augenringe und seine hohlen Wangen konnte er nichts tun. Er strich sich den Bart glatt, nickte seinem Spiegelbild zu und ging hinaus.
Auf dem Tischchen neben Marys Bett wartete das Abendessen auf ihn. So hatten sie es geplant: Nach der Arbeit wollte Mary Machchi kadi mit Reis für ihn kochen. »Du hast hoffentlich schon gegessen«, sagte er. »Es ist so spät geworden.«
Auf einem Rechaud stand ein dampfender Topf. »Ich war zu müde zum Essen«, sagte sie. »Nimm Platz.«
Sie saßen im Schneidersitz auf dem Boden, den Tisch zwischen sich. Marys Machchi kadi war scharf, aber nicht zu scharf. Sartaj mußte nach Luft schnappen, trank viel Wasser zum Essen und erzählte ihr von seiner Kindheit. Einmal habe er an einem Straßenstand in Shimla so viel Chole-bature gegessen, daß Papa-ji ihn nach Hause habe tragen müssen, als Jugendlicher habe er für das Royal Faluda eines bestimmten iranischen Restaurants in Dadar geschwärmt, bei Gokul in Santa Cruz bekomme man ein so cremiges Mango-Eis, daß man sich in sommerliche Mango-Orgien der Kindheit zurückversetzt fühle, bei denen man die Dussheries aus großen Eimern mit kaltem Wasser gefischt habe. Er erzählte von Juninachmittagen, an denen die Hitze durch die Wände des Klassenzimmers drang, so daß siebzig Jungen in weißen Uniformen unruhig und mürrisch wurden und die verwegensten, beliebtesten von ihnen - Sartaj und seine Freunde - einfach aus dem Fenster springen und an der Straßenecke Kulfi essen mußten. Mary lachte über seine Geschichten und tat ihm noch Reis auf.
»Ich wußte gar nicht, daß du so eine Schwäche für Süßes hast«, sagte sie. »Kulfi hab ich leider nicht, aber vielleicht sind noch ein paar Sahnebonbons da. Ich hatte auch Schokolade, aber die ist alle.«
»Schon gut«, sagte Sartaj. »Nein danke, ich bin satt.«
Dann aß er doch noch etwas. Als er fertig war, seine Hände gewaschen und sich mit einem Klecks von Marys Neem-Zahnpasta diskret die Zähne geputzt hatte, lehnte er sich mit dem Rücken ans Bett und lutschte ein Orangenbonbon, eins von dreien, die Mary ganz hinten auf einem Bord gefunden hatte. Sie spülte das Geschirr, und das melodische Klirren beruhigte Sartaj. Er seufzte, lockerte seine Schultern, schluckte den letzten Bonbonsplitter hinunter und schloß die Augen. Nur ein paar Minuten ausruhen, dachte er.
Er wachte in einem dunklen Zimmer auf und spürte Marys Hand an seinem Gesicht. »Sartaj«, flüsterte sie, »leg dich ins Bett.«
Er hatte geträumt, von Ganesh Gaitonde. Die Handlung des Traums verflüchtigte sich, als er sich auf den Ellbogen aufstützte, aber das letzte Bild sah er noch vor sich: Gaitonde, wie er durch eine Mauer hindurch mit ihm redete. Hören Sie zu, Sartaj.
Er hatte zusammengerollt auf dem Boden neben dem Bett gelegen, ein Kissen unterm Arm. »Ich bin eingeschlafen«, sagte er und kam sich idiotisch vor.
»Du warst so müde.«
Er konnte ihre Augen, ihr Gesicht nicht sehen, aber er wußte, daß sie ihn anschaute. Er stand auf und setzte sich neben sie aufs Bett. Sie rückte auf die andere Seite und streckte sich an der Wand aus. »Wenn ich so oft hier bin und über Nacht bleibe«, fragte er, »sagen die Nachbarn da nichts? Oder dein Vermieter?«
Sie zog ihn sanft am Handgelenk. »Mach dir keine Gedanken. Du bist ein großer Punjabi-Polizist. Die haben viel zuviel Angst vor dir.«
Er rückte sich neben ihr zurecht, und sie lagen still da, Schulter an Schulter. Sartaj holte tief Luft und drehte sich auf die Seite, und auch sie hatte sich ihm zugedreht. Sie küßten sich. Im Dunkeln waren ihre Lippen voll und geschmeidig, anders als zuvor. Sie schmiegte sich in seinen Arm und preßte ihren Mund auf seinen. Und da war ihre Zungenspitze, flink und lebendig, so daß es ihm durch und durch ging. Ihr Atem drang in ihn ein.
Ein tiefer, rauher Ton brach aus ihm hervor, und er wurde hart an ihr. Er legte ihr die gespreizte Hand ins Kreuz und zog sie an sich, ihre Hüften, ihren Bauch. Als er halb auf ihr lag, merkte er, daß sie sich zurückgezogen hatte, in Gedanken woanders war. Ihr Arm lag steif an seinem Rücken. Er rückte von ihr ab.
»Tut mir leid, ich ...«, sagte sie. »Ich ...«
Sartaj spürte ihre Unruhe, ihre Angst. Er versuchte sie zu besänftigen, strich ihr durchs Haar. Er hatte eine schmerzhafte Erektion und sehnte sich danach, sie zu besitzen, aber irgendwie war er es auch zufrieden, nur eng umschlungen mit ihr dazuliegen. Sein Atem vermischte sich mit ihrem, und nach einer Weile sah er ein Lächeln aufschimmern. Auch er lächelte, und sie küßten sich wieder. Sie war anders als die Frauen, mit denen er bisher zusammen gewesen war, nicht unerfahren, aber scheu. Sie knabberte vorsichtig an seinem Kinn, als wollte sie etwas neu Gelerntes ausprobieren. Er faßte ihre Unterlippe mit den Zähnen, spielte mit ihren Mundwinkeln. Sie lachte, und er lachte mit. So lagen sie beieinander. Der Babyshampooduft ihres Haars war das letzte, was Sartaj wahrnahm, dann schlief er dankbar darin ein.
In der köstlichen Kühle des Tagesanbruchs träumte Sartaj. Er ging eine endlose, gewundene Gasse in einem Basti entlang. Die Wellblechdächer glänzten schwarz im Regen, und ein Mann spannte eine zerrissene Plastikplane über seine Hütte. Katekar ging neben Sartaj her, und sie unterhielten sich über die Unruhen. »Schlimme Tage waren das«, sagte Katekar. Kazimi war auch dabei, er ging vor ihnen her. Sie gingen und gingen. Sie sprachen über die Bombenanschläge. Sartaj erzählte Katekar von dem abgetrennten Fuß, den er auf der Straße hatte liegen sehen, von dem Baum, der alles Laub verloren hatte. »Er hat Glück gehabt«, sagte Katekar und wies mit dem Kinn auf Kazimi. Katekar wirkte traurig. Ich träume, dachte Sartaj.
Dann war er wach. Mary schlief neben ihm, die Hand auf seinem Arm. Ihr Atem ging langsam und leicht in der Stille. Sartajs Hüfte war steif geworden, aber er wollte sich in dem schmalen Bett nicht umdrehen, um sie nicht zu wecken. Kazimi hat Glück gehabt, dachte er. Es waren schlimme Unruhen gewesen. Diese endlosen Nächte - brennende Bastis, flüchtende Muslime, Männer mit Schwertern. Die Schreie. Die Schüsse, die zwischen den Häusern widerhallten. Wer hatte auf Kazimi geschossen, ein Hindu oder ein Muslim? Oder ein Polizist, der aufs Geratewohl in die Menge gefeuert hatte? Jedenfalls hatte Kazimi Glück gehabt. Glück, daß er nur hinkte und nicht im Rollstuhl saß. Dann hätte er die holprigen Gassen nicht passieren können. Allenfalls mit einem Rollstuhl wie dem von Bunty.
Sartaj setzte sich auf. Er war jetzt hellwach, und in seinen Schläfen pochte das Blut. Mary bewegte sich neben ihm, er hatte sie angestoßen.
»Was ist?« fragte sie.
Sartaj dachte an Buntys Rollstuhl, dieses schnittige ausländische Modell. Und er hatte eine Stimme aus längst vergangenen Zeiten im Ohr, die eines predigenden Mannes. Eine goldene Stimme, erfüllt von den Wahrheiten, die sie verkündete. Den Mann selbst konnte er nicht sehen, aber er war da, auf einem Fernsehschirm. Es war ein großer Guru, ein berühmter Guru, und er hatte ein Yagna abgehalten. Marys Fernseher war dunkel, Sartaj spiegelte sich darin. Ein Rad war auf dem anderen Bildschirm zu sehen gewesen, hinter dem Kopf des Gurus. Ein leuchtendes Rad, vor langer Zeit. Der Guru hatte in einem Rollstuhl gesessen. In einem schnellen Rollstuhl, einem ganz besonderen Rollstuhl. Sartaj erinnerte sich an das leise Surren des Elektromotors.
»Ich muß gehen«, sagte er.
»Was ist los?«
»Nichts, nichts. Ich muß zur Arbeit. Ich ruf dich an.«
Er küßte sie, zog ihr die Decke über die Schultern und sammelte seine Sachen ein. Auf der Treppe war es noch dunkel, doch zwischen den Häusern sah man einen ersten Lichtstreif am Horizont. Er schloß die Tür hinter sich und setzte sich auf die oberste Stufe, um sich die Schuhe anzuziehen, mit flatternden Fingern, denn es konnte ihm gar nicht schnell genug gehen. In großen Sprüngen eilte er die Treppe hinunter, und kaum war er unten, holte er sein Handy hervor. Das Display war leblos grau. Maderchod, er hatte es gestern abend nicht aufgeladen. Im nächsten Moment saß er auf dem Motorrad und raste durch die leeren Straßen. Er kannte eine Telefonkabine in der Nähe des Bahnhofs Santa Cruz, die rund um die Uhr geöffnet hatte, und in weniger als zehn Minuten war er dort. Er klopfte an die Scheibe und scheuchte den jungen Mann auf, der hinter der Theke döste. Los, mach schon. Während die Verbindung hergestellt wurde, horchte er auf das Klicken in der Leitung. In die grüne Holzwand zwischen Kabine und Theke war ein großes Herz eingeritzt. Ein Pfeil durchbohrte es, und links und rechts davon stand in schwungvoller Schrift »Reshma« und »Sanjay«. Blut tropfte aus dem Herzen bis auf den Boden hinab. Sartaj fuhr mit dem Finger über den Pfeil.
»Hallo?« Anjali Mathurs Stimme klang leise und rauh, aber hellwach.
»Madam«, sagte Sartaj, »Hier ist Sartaj Singh, ich rufe aus Mumbai an. Sie haben geschlafen - tut mir leid.«
»Was ist passiert? Reden Sie.«
»Madam, ich glaube, ich kenne Gaitondes Guru.«