Ganesh Gaitonde
macht einen Film

»Dann trägt man den Lidschatten auf, zum Rand hin etwas dunkler.«

Ich lag auf einem Bett mit silbernem Gestell und Satinlaken und sah Jamila beim Schminken zu. Sie saß direkt vor dem Spiegel, der von einem Rund heller Glühbirnen umgeben war, und analysierte ihr Gesicht mit der kühlen Distanziertheit eines Arztes. Sie war oben ohne, doch wenn sie sich mit ihrem Gesicht befaßte, konnte ich den Blick nicht von ihren Augen, ihren Wangen abwenden. »Jetzt kommt der Eyeliner dran, Lakme Tiefschwarz. An den äußeren Augenwinkel setzt man ein kleines Schwänzchen, siehst du? Wie ein kleiner Fisch. Er biegt sich nach oben. Das verändert die Kontur der Augen. Okay, also. Wenn man oben einen dicken Lidstrich zieht, ist man beim unteren Lid eher zurückhaltend. Sonst würde der Effekt beim oberen verlorengehen. Wenn die Augen groß aussehen sollen, zieht man den unteren Lidstrich an der Außenseite etwas nach oben. Man sollte einen weichen Stift nehmen, den man verwischen kann.«

Sie sprach laut, über die Diskomusik mit ihrem auftrumpfenden Beat hinweg, und artikulierte dabei sehr deutlich. Sie übte sich in klarer Aussprache. Sie vergewisserte sich mit einem Blick, ob ich ihr zuhörte, und ich lächelte sie an. Ich war angenehm müde, denn ich hatte sie an diesem Abend zweimal genommen, einmal auf dem Boden. Ich hatte ihre Ein-Meter-achtzig-Geschmeidigkeit und glatte Haut, Jugend und Gefügigkeit bis in den letzten Winkel erkundet. »Deine Augen sehen riesig aus«, sagte ich.

»So, und jetzt die Wangenknochen. Dafür verwendet man Rouge. Ich mag Bronze Blitz besonders gern. Siehst du? Als nächstes muß man sich entscheiden: Will man eher den harten oder den weichen Look? Wohin geht man, was für eine Wirkung will man erzielen? Wenn man im Scheinwerferlicht stehen wird, vor klickenden Kameras, dann nimmt man den harten Look, um auf den Bildern gut zur Geltung zu kommen. Aber wir gehen nirgendshin. Also den weichen Look. Dafür verwende ich gern diesen MAC-Lippenkonturstift, das ist eine deutsche Marke. Als Farbe nehme ich heute Aubergine. Man darf wirklich nur die Konturen der Lippen nachziehen, wenn man ihn für die gesamte Lippenoberfläche verwenden würde, wäre es zu plump. Für die Lippen selbst benutze ich Lippenblush.«

»Sehr clever«, sagte ich. »Was bist du für ein kluges Mädchen, Jamila.« Sie schenkte mir nicht einmal den Anflug eines Lächelns. Ihre Arbeit nahm sie so ernst wie ein Pandit. Oder vielmehr wie ein Mullah.

»Man gibt etwas Blush auf den Finger und verteilt es auf den Lippen. So, der Mund wäre fertig. Jetzt die Wimperntusche.« Um die Wimperntusche aufzutragen, öffnete sie den Mund etwas weiter. Das fiel mir jedesmal auf, wenn ich ihr beim Schminken zusah - es ist mir bei allen Frauen aufgefallen, mit denen ich zusammen war: Sie bearbeiteten ihre Wimpern, aber sie rissen den Mund auf. Soll einer die Frauen verstehen. »Um sich die Wimpern zu tuschen, setzt man das Bürstchen am Wimpernansatz an, hält einen Augenblick inne, und wenn man es nach oben zieht, dreht man es ein wenig und bewegt es leicht hin und her. Siehst du? Innehalten, drehen, hin und her bewegen. Und was kommt dabei heraus? Schöne dichte Wimpern. Okay, fast haben wir's. Aber noch nicht ganz. Das große Geheimnis lautet: Sanfte Übergänge! Alles muß sanft ineinander übergehen, ohne sichtbare Ränder.«

Sie verwischte die Ränder. Ich sah ihr zu.

»Mal sehen. Was noch? Ach ja, für den sinnlichen Look nehme ich heute noch etwas Lip Stain. Das gibt einen verdunkelnden Effekt, so ein bißchen rauchig. Ich nehme einen violetten MAC Lip Stain. Man sollte ihn ein bißchen verteilen. Wenn man keinen Pinsel hat, kann man auch das Ende eines Bleistifts nehmen. So.« Sie drehte sich mit ausgebreiteten Armen zu mir um. »Fertig. Siehst du? Das Werk ist vollbracht.«

Das war es wahrhaftig. Sie war verwandelt - aus einem elastischen Stück unpolierten Lucknower Stahls war eine schimmernde, schwerelose Lichtgarbe geworden. Sie stand auf, erhob sich zu ihrer vollen Größe und legte sich einen blauen Morgenrock über die zarten Schultern. Darunter trug sie nur einen schwarzen Stringtanga und schmale Pumps. Ich hatte Jojo eine astronomische Summe für diese hochgewachsene Jungfrau bezahlt und Jamila selbst auch noch einmal zehn Lakhs gegeben. Und jedesmal wenn sie so vor mir stand, groß und aufrecht, dachte ich: Die Ausgabe hat sich gelohnt. Sie schritt hüftschwingend vor der Singapurer Skyline quer durch die ganze Suite. Am Ende des Teppichs nahm sie eine Laufstegpose ein und bedachte mich mit einem langen Blick über die Schulter. Ich erhaschte einen flüchtigen Eindruck von einer harten, klar konturierten Brustwarze. In diesem Moment - im Hintergrund das helle Blau, davor sie, dunkel und golden - hätten wir im Fernsehen sein können, bei Fashion TV Star TV oder Zee TV Sie kam mit demselben Gang wieder auf mich zu, und ich spürte dieses Ziehen in der Brust, das durch den Anblick reicher, glanzvoller, schöner Frauen ausgelöst wird: eine Mischung aus Sehnsucht und Hoffnungslosigkeit, die man verspürt, wenn man jemanden sieht, der in himmlischen Sphären schwebt. Der entscheidende Unterschied war hier allerdings, daß ich diese Frau in Sekundenschnelle vor mir auf den Knien haben konnte. Sie ist mein, dachte ich, mein. Und so empfand ich den Schmerz, zugleich aber auch Vergnügen. Ich ließ sie vor mir auf und ab gehen. Sie wußte, daß ich sie gern betrachtete, und setzte sich entsprechend in Szene. Als ich es nicht mehr aushielt, ließ ich sie am Fenster im schwindenden bronzefarbenen Licht auf alle viere gehen und kniete mich vor sie, vor ihren Mund. Es war das dritte Mal an diesem Tag, und es schmerzte, bis ich schließlich bebend Erleichterung fand.

Danach aßen wir. Ich war selbst ziemlich hungrig, aber ihr beim Essen zuzusehen war geradezu beängstigend. Sie aß durchaus gesittet, mit Messer und Gabel, tupfte sich gelegentlich mit der Serviette die Mundwinkel ab, doch sie vertilgte Mengen, die für drei Männer gereicht hätten. Natürlich konnte sie gepflegt über die aktuellen Themen konversieren, wenn man darauf bestand, sich mit ihr zu unterhalten. Aber eigentlich zog sie es vor, beim Essen zu schweigen. Sie verputzte mehrere Teller Huhn, dann ein oder zwei Teller Lamm und beschloß das Ganze mit mehreren Portionen Eis. Anstelle von Tee oder Kaffee trank sie ein Glas Lassi oder, wenn nichts anderes da war, auch Milch. Bei unserem ersten gemeinsamen Essen hatte sie mir erklärt, sie benötige kein Koffein, jede Zelle ihres Körpers sprinte ganz von allein. Sie brauchte nur fünf Stunden Schlaf pro Nacht, um frisch und erholt auszusehen, kam aber auch mit vier Stunden aus.

Ich hingegen war von den Anstrengungen des Tages, die alle innerhalb der Wohnung stattgefunden hatten, erschöpft. Ich aß schweigend und nahm dann ein Bad. Als ich aus dem Badezimmer kam, hatte Jamila die Bettdecke zurückgeschlagen und ein Glas warme Milch auf den Nachttisch gestellt. Ich hatte sie gut erzogen. Während sie duschte, schlürfte ich meine Milch und sprach über das Haustelefon mit Arvind. Er wohnte direkt unter uns, im unteren Teil der großen Maisonettewohnung, zusammen mit seiner Suhasini, die mittlerweile keine Ähnlichkeit mehr mit Sonali Bendre aufwies. Guru-ji hatte recht gehabt: Sie waren in ihrer Ehe beide stärker geworden. Arvind war immer noch nachdenklich, doch nun auch entschlußfreudig und pragmatisch; die Energie seiner Frau gab ihm Antrieb. Suhasini hatte ihr großtuerisches, flittchenhaftes Gehabe abgelegt und war auf eine gelassene Art zufrieden. Ich hatte Arvind zum Controller für unsere Operationen im Osten gemacht und ihn in dieser schönen Wohnung - eigentlich waren es zwei Wohnungen - in der Havelock Street untergebracht. Ich traf mich nur hier mit Jamila, nur in diesem Penthouse, sonst nirgends. Unsere Verbindung wurde strikt geheimgehalten, und zwar nicht nur, um mich zu schützen. Es war uns allen klar - Jamila, Jojo und mir daß ein Mädchen, das es einmal zur Miss Universe bringen wollte, nicht mit einem internationalen Gangsterboß in Zusammenhang gebracht werden durfte. Also fanden die Treffen in aller Stille statt. So still, wie auch die großgewachsene Jamila selbst es war. Sie sang nicht einmal unter der Dusche, und wenn wir uns Filme ansahen, lachte, weinte oder klatschte sie nie. Jetzt hörte ich vom Schlafzimmer aus Wasser plätschern, sonst nichts. Ich besprach ein paar geschäftliche Dinge mit Arvind und erkundigte mich nach der schwangeren Suhasini. Danach rief ich Bunty in Bombay an. Als wir fertig waren, hatte Jamila ihre ausführlichen abendlichen Waschungen beendet. Ihr Bereich im Badezimmer sah mit all den säuberlich aufgereihten Salben, Lotions und Shampoos aus wie eine Drogerie. Dennoch hatte Jamila, wenn sie mit aufgestecktem Haar ins Bett kam, nie dieses feuchte, fettig glänzende Gesicht, mit dem sich so viele andere Frauen schlafen legen. Sie sah einfach sauber aus, frisch und gesund.

Ich schaltete das Licht aus, und wir lagen nebeneinander im Bett. Ich wußte, daß sie noch eine ganze Weile wach liegen würde, mindestens ein oder zwei Stunden, aber sie paßte sich meinem Rhythmus an, war höflich und gefügig. Sie aß, legte sich schlafen, wachte auf, wann ich es wollte. Und jetzt wollte ich schlafen. Doch ihr Körper hielt mich wach.

Es war nicht nur die Lust, die meine Gedanken wieder wachkitzelte. Befriedigt war ich fürs erste. Was mich beschäftigte, war ihr Körper, seine Kurven, Formen, Proportionen. Wir hatten ihn umgestaltet. Zuerst war Jamilas Hintern korrigiert worden, das heißt, die Pobacken - die bei jedem Menschen asymmetrisch sind - wurden einander angepaßt. Das wenige Fett auf ihren Hüften war abgesaugt und in ihren Gaand gespritzt worden, um ihn rund und knackig zu machen. Auch an den Seiten ihrer Oberschenkel sowie dem Bereich direkt unter dem Hintern war Fett abgesaugt worden. Ebenso in der Taille, an den Oberarmen und unter dem Kinn. In den Brüsten hatte sie neue, anatomisch geformte Kochsalzimplantate, die wir vorher begutachtet und betastet und deren Für und Wider wir ausführlich erörtert hatten. Das alles war in Dr. Langston Lees Haus der Wunder auf dem Orchard Boulevard geschehen. Dr. Lee zeichnete sich durch einen exzellenten Ruf, eine saubere, hochmoderne Klinik und horrende Preise aus. Und er war wirklich ein Meister, dieser Mann mit den kleinen Augen und dem seltsamen Akzent, ein großer Körperzauberer, der das Fleisch verschieben und verwandeln, es verschwinden und wieder zum Vorschein kommen lassen konnte. Jamila war im Rahmen ihrer ausgiebigen weltweiten Recherchen auf ihn gestoßen, und er hatte uns nicht enttäuscht. Selbst ich, der ich ein gedankenloser Konsument von Körpern gewesen war, ein zumeist unkritischer Chodu, der zwar wußte, was ihm gefiel, nicht aber, warum, hatte aus den Diskussionen der beiden gelernt. Ich verstand jetzt die Sprache der Schönheit, ihre Grammatik und sublime Syntax. Wenn ich diesen beiden Poeten zuhörte, begriff ich, daß ein wohlkomponierter Gesang aus Kurven, Aussparungen und Textur mühelos selbst ein versteinertes Herz betören konnte. Diese Magie hatten die beiden gemeinsam erzeugt, der Arzt und seine Patientin. Gegen den raffinierten Zauber, den Jamila nun ausübte, gab es keinen Schutz.

Der ganze Prozeß hatte bereits eine Menge Geld und unvorstellbare Schmerzen gekostet. Ich hatte Jamila nie in der Klinik besucht, aber ich hatte nach den Operationen Zeit mit ihr in der Wohnung verbracht. Sie hatte nie gestöhnt oder geklagt, aber ich wußte, wie mühsam es war, auch nur vom Bett zur Toilette zu gelangen, wenn das Gewebe an den Oberschenkeln von einer sondierenden Hohlnadel attackiert und aufgerissen worden war. Ich sah an dem Schweiß auf ihrer Stirn, welche Strapazen sie erlitt, sah es an ihren Blutergüssen, den gelbgrünen Striemen auf ihren Brüsten, spürte es, wenn sie die Bettdecke umklammerte. Üble Schmerzen, viele Tage lang. Und es war noch nicht vorbei. Als nächstes war ihr Gesicht an der Reihe. Dr. Lee würde ihr die Wangen höhlen und Fett in die Lippen spritzen. Er würde ihre Nase korrigieren, sie durch ein Implantat markanter machen. Den Haaransatz würde er erhöhen. Und auch ins Kinn würde er ein Implantat einsetzen, damit es länger und kräftiger wurde, ein passendes Gegengewicht zu ihrer Stirn. Er würde Jamila zu einem harmonischen, ausgewogenen, makellosen Geschöpf machen. Sie würde - so ihr Plan - perfekt sein.

»Wie hast du eigentlich angefangen?« wollte ich wissen.

»Saab?« fragte sie nach. Es kam wie aus der Pistole geschossen, und sie klang überhaupt nicht schläfrig oder benommen. Aber meine Frage war zugegebenermaßen etwas vage gewesen.

»Wann ist dir klar geworden, daß du ein Star werden willst? Wann hast du beschlossen, nach Bombay zu gehen? Und wie hast du es hingekriegt?« Ihr Atem veränderte sich nicht, und in ihrem Körper war keine Regung zu spüren, sie war hellwach.

»Das ist eine langweilige Provinzgeschichte, Saab.«

»Erzähl sie mir.«

»Ja, Saab.« Sie war ein braves Mädchen. Sie nannte mich immer »Saab«, war schweigsam und gehorchte. Und so begann sie nun mit ruhiger Stimme zu erzählen. »Ich war sechs, als ich das erste Mal echte Models gesehen habe.«

»Ja«, sagte ich. Und während sie weitererzählte, gab ich immer mal wieder einen bestätigenden Laut von mir oder sagte »ja«, um ihr zu zeigen, daß ich zuhörte. Sie fuhr fort.

»Also, ich hatte natürlich schon vorher welche gesehen, in Zeitschriften und Zeitungen, und auch Schauspielerinnen in Filmen, aber mit Sechs habe ich sie im wahren Leben gesehen, bei uns in Lucknow. Meine Mutter und ich hatten meinen Chacha besucht, und auf dem Rückweg sind wir durch Hazratganj gegangen. Die Models kamen aus einem Kaufhaus, sie waren zu der großen Eröffnung nach Hazratganj gekommen. Sie traten aus dem Kaufhaus, überquerten den Bürgersteig und stiegen in einen klimatisierten Bus. Das war schon alles, es dauerte eine halbe oder vielleicht auch eine Minute. Und ich stand zwischen meiner Mutter und irgendeinem Mann und schaute zu ihnen hoch. Sie gingen so dicht an mir vorbei, daß ich leicht einen Rock, eine Hand hätte berühren können. Doch ich tat es nicht, ich hielt mich bloß an der Burka meiner Mutter fest und schaute zu den Models hoch. Sie waren da, direkt vor mir, in Hazratganj. Aber sie sahen aus, als kämen sie aus einer anderen Welt. Wie Feen. Sie waren groß. Größer als ich oder meine Mutter. Dünn und groß. Zwei von ihnen unterhielten sich auf englisch, während sie an mir vorübergingen, und ich verstand kein Wort. Doch selbst in ihrem Tonfall schwang dieses besondere Gefühl mit, diese Stimmung, die auch von ihren roten Wangen, ihren dunklen Augen ausging. Sie waren Feen. Wenn mir später jemand eine Geschichte über Prinzen und Dschinns und Magie erzählte, habe ich immer die Models vor mir gesehen. Ich habe sie nie vergessen. Abends habe ich meine Mutter dann gefragt, wer sie waren. Sie wußte es nicht. Sie war eine fromme Frau, die immer eine Burka trug, was wußte sie schon von Models? Ich habe auch meinem Vater davon erzählt, aber der hat nur gelacht und meine Mutter gefragt, wovon ich rede, und sie hat mit den Achseln gezuckt. Ein paar schamlose Ausländerinnen mit abgeschnittenen Haaren, sagte sie.

Es waren gar keine Ausländerinnen gewesen, sondern allesamt Inderinnen, Topmodels aus Bombay. Aber Bombay war für meine Mutter so gut wie Ausland. Am nächsten Tag fanden wir heraus, wer die schönen Frauen gewesen waren. Mein Vater war ein kleiner Mann, er besaß ein kleines Restaurant im Chowk Bazaar und war sehr fromm. Er dankte Allah jeden Tag dafür, daß er mit seinem Restaurant so erfolgreich war - seine Kachori304 Kababs waren über die Grenzen von Lucknow hinaus berühmt. Aber zugleich war er ein fortschrittlicher Mann. Er bezog nicht nur zwei Urdu-Zeitungen, sondern auch die Times of India. Er selbst konnte kein Englisch lesen, doch er hoffte, daß seine Kinder sich bilden und es in der Welt zu etwas bringen würden. Diese Hoffnung bezog sich vor allem auf seine Söhne, meine älteren Brüder. Aber ich - die Jüngste und damals sein Liebling - blätterte die Zeitschriften und Zeitungen ebenfalls durch und lauschte seinen Diskussionen mit meinen Brüdern. Am nächsten Morgen also lachte mein ältester Bruder Azim, der von uns allen am besten Englisch konnte und sich gerade auf das UP State Services Exam vorbereitete, und sagte: ›Da sind ja Jamilas Ausländerinnen.‹ Und tatsächlich, da waren sie, auf einem Foto auf der dritten Seite wandelten sie über einen langen, erhöhten Laufsteg. Die vorderste erkannte ich, es war eine der beiden, die sich unterhalten hatten. Azim erklärte meinem Vater, das seien Models aus Bombay, die für eine Modenschau in einem Fünf-Sterne-Hotel hergekommen seien, zu der sämtliche reichen Leute von Lucknow sowie der DIG und der Steuereintreiber gegangen waren. Damals hörte ich das Wort Modenschau zum ersten Mal. Ich begriff kaum, was es bedeutete. Ich stellte mir eine Menschenmenge vor, wie auf dem Bürgersteig in Hazratganj, und die wunderschönen Models, die über den Köpfen all dieser Leute hin und her flanierten. Sonst nichts, sie schwebten einfach vorbei. Und all die Leute schauten sie an.

Ich hielt mich lange daran fest, viele Jahre lang, dort in meiner Welt, die aus meiner Straße, meinem Zuhause und meiner Schule, meinen Eltern und Brüdern und Tanten und Cousins bestand. Jede Nacht habe ich es wieder vor mir gesehen, ich bin eingeschlafen, während die wunderschönen Models aus Bombay auf einem menschenleeren Gehweg an mir vorübergingen, irgendwie waren alle anderen Leute einfach aus Lucknow herausgehoben worden. Ich wollte mehr erfahren, verkniff mir aber instinktiv meine Fragen, ließ niemanden davon wissen. Ich wußte, daß Frauen sich nicht nach solchen Dingen sehnen durften, daß brave Mädchen Suren und Hadithe auswendig zu lernen und still und bescheiden zu sein hatten, nicht nur im Wachzustand, sondern auch im Schlaf. Es reichte, neben meiner Mutter zu sitzen und zu essen, nachdem die Jungs fertig waren, um das zu begreifen. Also hielt ich den Mund und lernte, indem ich zuhörte, lernte, was immer ich aufschnappen konnte. Ich versuchte zusammen mit Azim die Times of India zu lesen, was die übrige Familie äußerst amüsierte. ›Komm‹, sagte Azim jeden Morgen, wenn er die Zeitung aufschlug. Und so erfuhr ich, daß Models in Bombay lebten, daß die meisten englischsprachig dort aufgewachsen waren, daß sie traumhaft viel Geld verdienten und mit der Crème de la crème verkehrten. Doch erst als wir zu Hause einen Farbfernseher und einen Kabelanschluß bekamen, begriff ich wirklich.

Es war kurz nach meinem elften Geburtstag. In dem Jahr begann ich einerseits, nachmittags Fernsehen zu schauen, und andererseits zu wachsen. Bis dahin war ich ein ganz normales Mädchen gewesen, nur mein Vater hatte mir besondere Beachtung geschenkt, alle anderen hielten mich für völlig reizlos. Doch dann begann ich zu wachsen. Ich wuchs und wuchs. Meine Mutter war für ihre Zeit recht groß gewesen, einsdreiundsechzig, glaube ich. Mein Vater war zwei, drei Zentimeter größer. Azim war mit einssiebzig der größte in der Familie. Und ich wuchs und wuchs. Während ich die Modenschauen auf MTV anschaute, wurde ich immer länger. Auf Zee wurden Modedesigner, Choreographen und Fotografen interviewt. Ich schaute mir alles an. Und nachts tat mir alles weh. Meine Glieder schmerzten, meine Sehnen dehnten und streckten sich. Ich sah mir Fashion Guru an, übte Englisch und wuchs. Mit Vierzehn hatte ich bis auf Azim alle meine Brüder überholt und im darauffolgenden Jahr auch ihn. Und ich war dünn wie eine Bohnenstange. Die Mädchen aus dem Mohalla sagten mir Gemeinheiten ins Gesicht, und meine Mutter murrte vor sich hin. Mein Vater erklärte sich meine Länge damit, daß ich nach einem seiner Großonkel schlug, der einsvierundsiebzig groß gewesen war. Doch noch ehe ich siebzehn wurde, überrundete ich sogar diesen Onkel, und ich wuchs weiter.

Meine Familie machte sich Sorgen. Wie sollten sie einen Mann finden, der größer war als ich? Und selbst wenn sie einen fanden, würde dieser große Mann eine so hochaufgeschossene Frau wollen? Ich hingegen machte mir keine Sorgen. Ich wußte, wo große Mädchen gefragt waren. Ich wußte, wer ich war. Ich hatte mich nicht nur eingehend mit der Mode befaßt, sondern ebenso mit mir selbst. Mochte es um mich herum auch keiner sehen, ich selber wußte genau, daß ich Potential besaß. Zwei Jahre nachdem Aishwariya Miss World und Sushmita Miss Universe geworden waren, hatte nahe bei unserem Mohalla ein Schönheitssalon aufgemacht. Junge Mädchen und Ehefrauen gingen dorthin, um sich die Augenbrauen zupfen, das Gesicht massieren und sich für Hochzeiten schminken zu lassen. Die Mädchen, die als hübsch galten und von denen meine Brüder träumten, waren alle hell und ein bißchen mollig, sie sahen sittsam aus. Ich kannte meine Farben und Formen, und ich hatte nichts mit diesen Mädchen gemein. Ich war dunkel, galt als häßlich. Aber ich wußte Bescheid. Ich sah in meinem Spiegel, was da war und was getan werden mußte. Ich hatte ausgiebig über Körperhaltung und -Schulung gelesen, über den Laufsteg, den Model-Look und die Schönheitschirurgie. Ich wußte, wo ich hingehen konnte. Ich wußte, wo ich hingehen mußte. Es gab nur einen Ort für mich: Bombay. Also fuhr ich hin.«

Ich hatte sie noch nie soviel reden hören, so lange an einem Stück. Ich glaube, es lag an der Dunkelheit, an meiner unerwarteten Frage und meinen geflüsterten Rückmeldungen - zum Schluß hatte sie ihre Geschichte nicht mehr mir, sondern sich selbst erzählt. Den Rest ihres Weges kannte ich, Jojo hatte mir davon berichtet. Jamila wartete bis zu dem Tag nach ihrem achtzehnten Geburtstag. Dann verließ sie am späten Nachmittag, in eine Burka gehüllt, das Haus. Sie hatte nur ihre Handtasche dabei, darin befanden sich siebentausendvierhundert Rupien, von denen sie einen kleinen Teil im Laufe der Jahre mühsam zusammengespart, den Rest aber aus dem Schrank ihrer Mutter gestohlen hatte. Außerdem hatte sie drei goldene Armreife dabei und etwas Silberschmuck. Sie nahm eine Rikscha nach Nakkhas, über Kashmiri Mohalla, wo sie einen billigen Koffer erstand. Sie hielt ihr Gesicht stets bedeckt und ging gebeugt, so daß man sie für eine fromme alte Frau halten mußte. Schon damals waren ihre schauspielerischen Fähigkeiten beispiellos. Mit ihrem Koffer begab sie sich zu einer Freundin, bei der sie im Laufe der vergangenen Wochen schon einige Kleidungsstücke deponiert hatte. Danach ging sie zum Bahnhof und wartete auf den Pushpak Express. Sie hatte sich bereits zwei Wochen zuvor unter falschem Namen eine Fahrkarte mit Reservierung für den Schlafwagen besorgt. Sie setzte sich ganz ruhig in den Zug und sah zu, wie die Kilometer vorbeiflogen. In Lucknow hatte sie nur einen Zettel hinterlassen, den ihre Mutter abends in der Küche finden würde. Darauf stand: »Es war mein freier Wille zu gehen. Ich habe es so entschieden. Bitte versucht nicht, mich zu finden.« Sie schrieb nicht, wohin sie fuhr, warum, wozu. Und da sie nie jemandem von ihren Ambitionen und ihrem Ziel erzählt hatte, wußte keiner, wo man nach ihr suchen sollte. Selbst die Freundin, die ihr geholfen hatte, dachte, Jamila sei auf dem Weg zu einem heimlichen verheirateten Liebsten. Doch es gab keinen Mann, keinen Liebsten, außer in ihren Träumen. In Bombay legte Jamila die Burka ab und zog, wieder unter einem anderen Namen, in eine kleine Frauenpension in der Nähe der Haji-Ali-Moschee, in einen Schlafsaal, wo jede Frau ein Bett, einen kleinen Tisch und ein sechzig Zentimeter hohes Regal hatte. Ich wußte, wie sie in den ersten paar Monaten gelitten hatte, wußte von den kleinen Verkaufsjobs, den grabschenden Chefs, den dreistündigen Busfahrten zu Fototerminen, den unsittlichen Anträgen, den Demütigungen. Ich hatte von alldem gehört, und doch begriff ich erst in jener Nacht, wie stark Jamila tatsächlich war. Jojo hatte recht gehabt, Jamila war wie ich. Manche Köpfe können die Welt verändern. Ich hatte von Guru-ji gelernt, daß die Erde, über die wir gehen, der Himmel, unter dem wir uns zusammendrängen, daß das alles nur ein Traum ist. Wer Tapas619 und genügend Willenskraft besitzt, kann die Welt bewegen, hatte er gesagt. Ich hatte mein Leben selbst geschrieben. Nun wußte ich, daß auch Jamila diese Fähigkeit, dieses Verlangen hatte. Wir, die wenigen Menschen mit solch weitreichender Vision, sind in der Lage, uns selbst neu zu erfinden. Irgendwann in jener Nacht, zwischen Einschlafen und Aufwachen, beschloß ich, einen Film für sie zu machen.

»Du bist der egoistischen Giraffe also tatsächlich verfallen«, stellte Jojo fest, als ich ihr von meinem Plan erzählte, einen Film zu produzieren. Ich hatte sie wie üblich nachmittags in Bombay angerufen.

»Warum sollte ich irgendwem oder irgendwas verfallen sein?« fragte ich. »Ich will schon ewig einen Film machen.«

»Vielleicht, mag sein. Aber du hast genau jetzt beschlossen, es zu tun. Gib's doch zu, du bist verrückt nach ihr. Die egoistische Giraffe hat dich an der Angel.«

Sie ließ sich durch nichts von diesem Glauben abbringen und auch nicht davon, Jamila unaufhörlich als egoistische Giraffe zu bezeichnen. Und das, obwohl Jamila doch ihr Schützling und sie, Jojo, die große Gönnerin des Mädchens war, sie überhaupt erst zu mir geschickt hatte. »Jojo, du bist ja eifersüchtig auf das arme Ding.«

Das entlockte ihr ein schallendes Jojo-Lachen. »Eifersüchtig, weil sie es sich alle zwei Minuten von dir besorgen lassen muß, Gaitonde?« Ich hatte ihr in einem schwachen Moment - im Zustand entspannter Befriedigung - erzählt, wie sehr ich es genoß, Jamila in den verschiedensten Positionen und an den ungewöhnlichsten Orten zu vögeln. Einer Frau persönliche Informationen an die Hand zu geben war eine Dummheit, vor der ich meine Jungs immer wieder warnte: Sie würde diese Informationen eines Tages gegen einen verwenden. Aber bei Jojo verstieß ich gegen meine eigenen Regeln. Wir kannten uns schon zu lang, und wir kannten uns zu gut. Manchmal wurde mir sogar mitten im Akt bewußt, daß ich mich darauf freute, Jojo davon zu erzählen, daß dieses Erzählen wesentlich war, der Akt allein zu diesem Zweck stattfand. Und deshalb wußte sie zuviel, unter anderem auch, wieviel Spaß es mir machte, die egoistische Giraffe zu reiten. »Ich habe Besseres zu tun, als dir alle zwei Minuten den Gaand hinzuhalten, Gaitonde«, sagte sie.

»Aber Jamilas Gaand wird auf einer großen Leinwand erscheinen«, sagte ich. »Und das wird dich schwer anstinken.«

»Vor zehn Jahren hätte es das. Vielleicht sogar noch vor fünf. Aber jetzt bin ich glücklich und zufrieden, Baba. Kannst du das verstehen? Glücklich und zufrieden. Mir gefällt meine Arbeit, mir gefällt, was ich habe. Ich bin erfolgreich. Und mir ist inzwischen klar, daß ich, selbst wenn ich eine Filmrolle bekommen hätte, in diesem Busineß nicht lange bestanden hätte. Ich war ein kleines Mädchen, das ein großes Spiel spielt. Ich hatte von nichts eine Ahnung.«

»Jamila hat dieses Busineß seit ihrer Kindheit genauestens studiert.«

»Ja. Sie hat lange sehr, sehr hart gearbeitet. Weil sie eine egoistische Giraffe ist.«

Da war er wieder, dieser kleine Stich am Ende des schließlieh doch erfolgten Kompliments. »Sei keine Kutiya«, sagte ich. »Du lebst von Bachchas wie ihr. Und von ihrer harten Arbeit.«

Das gestand Jojo bereitwillig zu. Sie konnte scharf sein wie das Messer eines japanischen Kochs, aber sie war ehrlich. »Stimmt«, sagte sie, »und einige von ihnen schicke ich dir, Gaitonde. Zu deiner Unterhaltung.«

»Ja«, sagte ich. »Und jetzt lies mir einen Brief vor.« Das war noch so eine meiner Vergnügungen. Seit zwei oder drei Jahren erhielt Jojo Briefe. Sie kamen in jenen braunen Umschlägen, die in der Nähe von Postämtern und auf Bazaaren neben den ausgehängten Stellenangeboten für den öffentlichen Dienst und den Stapeln von Bewerbungsformularen verkauft wurden.

»Ja, ja«, sagte Jojo. »Augenblick. Am Freitag habe ich einen richtig guten bekommen. Ich habe ihn extra für dich zur Seite gelegt.«

Ich hörte, wie sie in ihrem Regal herumstöberte. Die Briefe kamen aus dem ganzen Land, besonders aber aus dem Norden, mit Absenderadressen wie »Azadnagar, Maithon Farm, Dhanbad« oder »Asabtpura, Moradabad«, »Mangaon, Dist. Raigad« oder »Mallik Tola, Banka, Bihar«. Irgendeine Hindi-Zeitung aus Delhi hatte einen Artikel der Times of India über das Leben der Models abgekupfert, mitsamt Fotos von ein paar Frauen aus kleinen Ortschaften, die nach Bombay gekommen und zu erfolgreichen Models und Schauspielerinnen geworden waren. In diesem Artikel war Jojo als eine der Model-Agentinnen aufgeführt worden, die auch mit Neuen arbeitete. Daraufhin waren die ersten Briefe eingegangen. Sie waren zunächst spärlich, aber regelmäßig gekommen und bald zu einer wahren Flut geworden, als der Artikel kopiert, vervielfältigt und von wiederum anderen Zeitungen geklaut wurde. Die Briefe stammten hauptsächlich von Männern, und Jojo und ich hatten schon öfter darüber spekuliert, warum nicht mehr Frauen schrieben. Jojo meinte, die Mädchen hätten wahrscheinlich Angst davor, eine Antwort nach Hause zu bekommen. »Stell dir vor«, sagte Jojo, »der Vater macht einen Brief von mir auf, in dem ich das Mädchen auffordere, nach Bombay zu kommen.« Die Mädchen würden einfach von zu Hause wegrennen. Manchmal gewännen sie auch einen lokalen Schönheitswettbewerb und könnten Vater oder Mutter überreden, sie nach Bombay zu begleiten. Heutzutage hörten sogar die Eltern in ihren Träumen die Lakhs klingeln, also kamen sie mit.

»Okay, Gaitonde«, sagte Jojo. »Ich habe ihn. Er kommt aus dem Dorf Chhabilapur, Postamt Gobindpur, Distrikt Begu Sarai.«

»Wo ist denn das?«

»Bihar, Baba.«

»Was ist das bloß mit diesen Biharis?«

»Es sind gutaussehende Leute, sie sind intelligent und ehrgeizig und nicht unterzukriegen. Jetzt sei still und hör zu.«

»Ist ja gut, lies vor.«

Sie las Hindi nur langsam und mühevoll, hatte es erst zu sprechen begonnen, als sie nach Bombay kam. Und Lesen hatte sie - mehr schlecht als recht - noch später dazugelernt. Durch das Briefevorlesen war ihr Hindi besser geworden. Früher hatte sie die Briefe ungeöffnet hinter einem Schrank gestapelt und einmal die Woche alles weggeworfen. Doch als sie mir davon erzählte, ließ ich sie einen vorlesen und dann noch einen. Und seither überflog sie die Briefe immer und legte die besten für mich zur Seite. »Dieser«, sagte sie, »fängt an wie üblich: Er schreibt, daß er in der Zeitung von dem Mister-International-Wettbewerb gelesen hat und daß in dem Artikel meine Agentur erwähnt wird. Er will wissen, wie er Zugang zur Welt der Models bekommt.«

»Are, lies vor, Jojo.«

»Sein Hindi ist sehr schwierig, Gaitonde, sehr nördlich und voller Höflichkeitsfloskeln.«

»Lies ihn einfach vor.«

»Okay. Das Schöne an diesem Brief ist, daß der Briefschreiber lauter Listen verfaßt hat. Sprachen: Hindi, Englisch, Magahi385, Maithili. Er heißt übrigens Sanjay Kumar.« In ihrer Stimme lag ein belustigtes Gurgeln. »Sanjay Kumar möchte keinen normalen Lebenslauf schicken. Deshalb hat er eine Liste all seiner Lieblingsdinge aufgesetzt. Lieblingsblume: Rose. Lieblingsfilmschauspieler: Anil Kapoor022, Salman Khan, Amir Khan016. Lieblingsfilmschauspielerinnen: Rani Mukherjee527, Kajol, Aishwarya Rai012

»Warum glaubt er, daß du das wissen mußt?«

»Wer weiß? Hör zu, Gaitonde: Lieblingsfilme: Karan Arjun, Sholay, Dilwalle Dulhaniya Le Jayenhge, Pardes. Lieblingsorte im Ausland: London, Schweiz, Neuseeland.«

»Der Mistkerl hat doch nie einen Fuß aus Chhabilapur rausgesetzt.«

»Er kennt Neuseeland aus Filmen, Gaitonde. Sein Vater hat einen Videorecorder für die ganze Familie gekauft, sie schauen sich jeden Tag Filme an. Lieblingscremes: Fairever, Pond's Cold Cream. Lieblingsparfum: Rexona. Lieblingsseife: Lux, Pear's und Pear's Face Wash. Lieblingsshampoos: Clinic All-Clear und Nyle Herbai Shampoo. Lieblingshaaröl: Dabur Mahabrahmraj Hair Oil.« Inzwischen brachte sie vor lauter Lachen kaum mehr ein Wort heraus. »Lieblingspuder: Denim und Nycil. Lieblingsrasierwasser: Denim und Old Spiee. Lieblingszahncremes: Colgate Gel Blue und Aquafresh. Lieblingsjeans: Levi's. Lieblingsautos: Cielo, Tata Safari, Maruto Zen, Maruti 800, Ferrari 360 Spider.«

»Einen Ferrari hat dieser kleine Maderchod in seinem bhenchod Distrikt Begu Sarai doch nie auch nur gerochen. Die haben da oben überhaupt keine Straßen, die diesen Namen verdienen.«

»Er hat sich eben kundig gemacht, Gaitonde. Komm, hör zu.«

Ich bekam ein komisches Gefühl im Bauch, als ich Sanjay Kumars Listen hörte, eine sanfte, durch meine Venen gleitende Panik. Natürlich war es lustig. Jojo las die Listen vor, und wir lachten. Trotzdem blieb da dieses unbestimmte Gefühl in meiner Brust, als stürzte ich ins Bodenlose. Ich wollte Jojo nichts davon sagen, und selbst wenn ich es gewollt hätte, ich hätte nicht die passenden Worte dafür gefunden. Ich war noch nie in Bihar gewesen, aber ich konnte mir den Distrikt Begu Sarai sehr gut vorstellen, wußte genau, wie das Dorf Chhabilapur aussah: Es gab eine löcherige Straße, die sich durch die Felder wand und von der schlammige Wege zu kleinen Ansammlungen von Hütten und Häusern führten. Es gab etwas, das sich Grundschule nannte, tatsächlich aber nicht mehr als ein Haufen Kinder war, die im Innenhof des örtlichen Shivatempels saßen, wo ihnen ein Lehrer - wenn es denn einen Lehrer gab - das ABC vorsagte. Der Obstgarten des Sarpanch562 wurde von einer langen Mauer begrenzt, an der Werbung für Maschinenöl und Saatgut hing. Eine Arbeiterfamilie hockte am Teich und wartete darauf, für ihr Tagwerk entlohnt zu werden. Es gab ein dreistöckiges College, in dessen fleckigen Korridoren Scharen von Schülern herumlungerten. Draußen die Motorräder der reichen Schüler, der Kaufmanns- und Grundbesitzersöhne. Darüber ein leerer Himmel. Wo hatte Sanjay Kumar die Details seiner Liste her? Aus geliehenen Zeitungen, weitergereichten Zeitschriften? Aus dem Fernsehen, wenn er bei einem Freund zwischen zwei Stromausfällen mal hatte fernsehen dürfen? Er hatte seinen Brief entworfen, ihn dann ins reine geschrieben und nach Bombay geschickt. Es war die Vorstellung, wie Sanjay Kumar im Licht einer Laterne über diesen Brief gebeugt dasaß, die mir dieses mulmige Gefühl verursachte.

»Ganz am Ende des Briefs«, sagte Jojo, »nach der Abschiedsfloskel, kommt noch eine Bitte.« Sie schnaubte. »Vorne listet er Englisch als eine seiner Sprachen auf, aber jetzt schreibt er: ›Ich harre Ihrer prompten und freundlichen Antwort. Bitte schreiben Sie mir nur auf Hindi zurück.‹ Dieser Sanjay Kumar ist nicht eben der Hellste. Oder er hält Model-Agentinnen in Bombay für Chutiyas.«

»Wer würde es wagen, dich für eine Chutiya zu halten, Jojo? Nein, nein, der arme Junge versucht nur, in der Welt vorwärtszukommen. Vergiß nicht, auch du warst mal an dem Punkt.«

»So ein Gaandu wie der war ich nie. Einen Brief nach Bombay zu schicken und eine Antwort auf Hindi zu verlangen! Weißt du, ich bin jetzt schon eine ganze Weile in diesem Geschäft. Ich habe ein Gefühl für solche Menschen entwickelt, ein Gefühl dafür, wer vorwärtskommen wird und wer nicht. Und ich sage dir, dieser hier hat keine Chance. Nicht mal wenn er aussieht wie Hrithik Roshan. Wenn der nach Bombay kommt, wird er mit fliegenden Fahnen untergehen.«

Dem konnte ich nichts entgegensetzen. »Ja«, sagte ich. »Ja.« Sanjay Kumar hatte keine Chance. Wahrscheinlich hatte er nicht einmal eine Chance, wenn er in seinem verrottenden, beengenden Heimatdorf blieb. Aber ob er nun fortging oder blieb, er würde weiterhin Filme anschauen, Listen aufsetzen, Briefe schreiben. Dummer Hund. Doch es gab Millionen und Abermillionen wie ihn, im ganzen Land. Es gab sie, und sie waren unser Publikum. Für sie würde ich einen Film machen.

Natürlich zog ich Guru-ji zu Rate, bevor ich Geld in die Sache steckte. Ich wollte Jamila auf der Leinwand sehen, und ich war mir sicher, daß sie ein Star werden würde, aber ich brauchte eine gewisse Orientierung. Ich wollte mich nicht kopfüber in etwas stürzen, wovon ich nichts verstand. Aber Guru-ji sah nichts Genaues, er konnte nicht in die Zukunft meines Films sehen. »Ich habe ein gutes Gefühl, was dieses Projekt angeht, Beta«, sagte er. »Aber mehr auch nicht. Das kommt vor - manchmal ist es, als versuchte ich, durch eine verkrümmte Linse zu sehen. Manches ist klar und scharf zu erkennen, anderes verschwindet völlig. Jedenfalls sehe ich nichts Schlechtes.«

»Aber auch nichts Gutes«, sagte ich.

»Nein, das nicht. Aber gemessen an manch anderem, was du getan hast und weiterhin tust, ist das Risiko gering.«

Er hatte wie immer vollkommen recht. Ich hatte schon oft mein Leben aufs Spiel gesetzt, und hier ging es nur um Geld. Mir fiel ein, was Paritosh Shah immer gesagt hatte: Wenn man Lakshmi gehen läßt, kommt sie mit dem Vielfachen zurück, wenn man versucht, sie einzusperren, flieht sie und kommt nie mehr wieder. Für Jamila mußte ich meine Lakshmi in die Welt ziehen lassen, ohne Wenn und Aber. Es war nicht mehr als recht und billig.

Der Film war also beschlossene Sache. Das Produktionsteam zusammenzustellen war kein Problem. Ich hatte das nötige Geld, also engagierte ich die Besten. Genauer gesagt, ich ließ mir von Jojo einen Produzenten besorgen, einen gewissen Dheeraj Kapoor, und dieser Dheeraj engagierte dann die anderen. Dheeraj hatte hintereinander drei Hits gelandet, alle mit einem Budget von vier bis sechs Crores, angesehenen Schauspielern und starken Drehbüchern. Jetzt hungerte er nach einer Chance, in eine höhere Riege aufzusteigen, das Spiel mit zwanzig bis dreißig Crores und echten Stars zu spielen. Ich ließ gern hungrige Männer für mich arbeiten. Man mußte sie im Auge behalten, aber sie brachten Leistung. Und dieser Dheeraj war ein Mann der Zukunft, das spürte ich. Er würde Erfolg haben.

Unterdessen eilte die neue Jamila von Triumph zu Triumph. Wir hatten ihr einen neuen Namen gegeben, einen Namen, der zu einem werdenden Star paßte: Sie hieß jetzt Zoya Mirza - ein schöner, modern klingender Name, kurz und leicht sowohl zu schreiben wie auch auszusprechen; außerdem hatte er dieses schnittige Z am Anfang und noch einmal am Ende. Es war ein neuer Name, der in dieser neuen Welt bestehen konnte. Und sie selbst war, nach Vollendung der Korrekturen an ihrem Gesicht, mehr als neu. Sie war die Zukunft. Dr. Langston Lee hatte an ihren Wangen, ihrem Haaransatz, ihrem Kinn und ihrer Nase keine radikalen Eingriffe vorgenommen, nur hier etwas Masse reduziert, dort ein paar Millimeter hinzugegeben. Sie war dieselbe und doch völlig anders. Vorher war sie bemerkenswert gewesen. Jetzt war sie umwerfend. Manchmal war es schwierig, sie auch nur anzuschauen, es kam mir vor, als wäre sie weit weg, selbst wenn sie direkt neben mir saß. Ihre Schönheit löste ein sehnsüchtiges Verlangen in mir aus, das ich kaum ertrug. Sie war perfekt, und durch sie spürte ich diese Wunde, dieses quälende Loch tief in meinem Innern, das schmerzte, wenn sie fern war, doch noch viel mehr, wenn sie in meiner Nähe war.

Und sie war erfolgreich. Sie stand öfter im Rampenlicht als sonstwer in der Stadt und erschien zweimal innerhalb eines Monats auf der Titelseite eines Hochglanzmagazins. Schon vor ihrer Wahl zur Miss India wurde ein ziemlicher Wirbel um sie veranstaltet, danach natürlich erst recht. Sie gewann den Wettbewerb mühelos und ohne sich auf die übliche Weise kompromittieren zu müssen. Sie entzog sich den Fotografen, Preisrichtern und Verlegern auf eine fast schon provozierende Art und sicherte sich ihre Krone. Den Chefredakteur der Zeitung, die den Wettbewerb sponserte, wiegte sie in dem Glauben, sie werde ihn ranlassen, wenn sie die Krone gewann, und dann ließ sie ihn auflaufen. All das konnte sie tun, weil ich sie unterstützte. Nicht, daß wir Druck ausgeübt, jemanden bestochen oder irgendeine andere unserer gängigen Techniken angewandt hätten. Nein, ich stellte einfach das Geld zur Verfügung, das es ihr erlaubte, zu der geradezu überirdischen Zoya zu werden und nein zu sagen. Geld erschafft Schönheit, Geld verleiht Freiheit, Geld macht moralisches Verhalten möglich. Und Geld macht Filme. Also begann ich die Arbeit an meinem Film mit Manu Tewari.

Dieser Manu hatte bereits zu drei kleineren Produktionen das Drehbuch geschrieben, die letzte war sogar mit dem National Award für den besten Film ausgezeichnet worden. Ich hatte den Streifen gesehen und ihn - dafür, daß es ein Avantgarde-Film über Hijras war - durchaus unterhaltsam gefunden, das Drehbuch fand ich richtig stark. Wir ließen Manu Tewari nach Thailand einfliegen. Ich war bereit, Dheeraj und seinem Team viele der anderen Entscheidungen zu überlassen, aber über die Story wollte ich die Kontrolle behalten. Ich hatte selbst die eine oder andere Idee, hatte mir in letzter Zeit viele Filme angesehen und verfolgte die wöchentlichen Einspielergebnisse sowohl in Indien als auch im Ausland. Ich wußte, was ich in meinem Film haben wollte. Dieser Manu allerdings erwies sich nicht nur als Sozialist, sondern noch dazu als einer, der den Kopf voll starrer Regeln hatte. Während seiner ersten drei Tage bei uns verhielt er sich still wie das Kaninchen vor der Schlange. Dheeraj Kapoor hatte ihm nur gesagt, daß er nach Bangkok fliegen werde, um sich mit dem Finanzier des Films zu treffen. In Bangkok hatte man Manu abgeholt und in ein anderes Flugzeug gesetzt, das ihn nach Phuket brachte, und plötzlich fand er sich auf einer Yacht in Gesellschaft von Ganesh Gaitonde und einer Menge übel aussehender Burschen mit großen Pistolen wieder. Natürlich war er wie gelähmt, er wußte nicht, wo er sich hinsetzen, wann er aufstehen und ob er ohne Erlaubnis pinkeln gehen durfte. Meine Jungs hatten ihren Spaß damit, sich vor ihm besonders blutrünstig zu geben, ihre Pistolen neu zu laden, damit herumzufuchteln und dem armen Autor fürchterliche Angst einzujagen.

Irgendwann scheuchte ich sie jedoch fort, drückte Manu Tewari ein Glas Scotch in die Hand und beruhigte ihn. Ich lobte alle seine Filme und sagte ihm, der letzte habe mich sogar zum Weinen gebracht, und das, obwohl er von Hijras gehandelt habe, was ein weitaus größeres Kompliment für ihn war als irgendein bhenchod National Award. Er entspannte sich etwas, nippte an seinem Scotch und deutete ein Lächeln an. Autoren sind auf eine jämmerliche Weise anfällig für Lob. Ich habe mit Politikern, Gangstern und heiligen Männern zusammengearbeitet, aber keiner von ihnen kann es mit den Autoren aufnehmen, was das Nebeneinander von monumentaler Selbstüberschätzung und mäuschenhafter Verzagtheit betrifft. Ich schmierte Manu ordentlich Honig ums Maul, und er entspannte sich. Und da die Bewunderung, die ihm zuteil wurde, von Ganesh Gaitonde kam, genoß er sie um so mehr. Manu Tewari lehnte sich ins Sofa zurück, nahm einen weiteren Scotch an und erzählte mir von den Dreharbeiten zu seinem Hijra-Film - wie sie etwa den Helden davon hatten überzeugen müssen, daß es seiner Karriere keinen Abbruch tun würde, wenn er einen laudalosen, rocktragenden, händeklatschenden Hijra verkörperte. Manu Tewari war von mittlerer Größe, ja, er entsprach eigentlich in jeder Hinsicht dem Mittelmaß. Er war der Prototyp alles Durchschnittlichen auf dieser Welt, war nicht klein, aber auch nicht sehr groß, war in Bandra East aufgewachsen, Sohn eines mittleren Angestellten beim Finanzministerium, hatte in Rizvi das College besucht und eine vollkommen unspektakuläre akademische Laufbahn absolviert. Ich wußte das alles aus Dheerajs Hintergrundbericht, doch kein Bericht hätte den Wahnsinn erfassen können, den Manu Tewari irgendwo in seinem unauffälligen Körper verbarg und nur herausließ, wenn er über Filme redete.

»Naajayaz war gut, Bhai«, sagte er. »Die Szenen zwischen Naseer und Ajay Devgan waren ausgezeichnet, aber in der zweiten Hälfte zieht sich alles ein bißchen. Das ist das Problem bei Mahesh Bhatts späteren Filmen: Entweder geht alles zu schnell, oder es zieht sich. Und das arme Publikum versteht entweder gar nichts mehr, oder es langweilt sich.« Mir hatte Naajayaz eigentlich gut gefallen, aber ich sagte nichts und hörte ihm weiter zu. Mit Filmen kannte sich Manu Tewari wirklich aus, er konnte sogar mit Einzelheiten über einen obskuren Unterweltfilm aufwarten, der von 1987 bis zum Sommer 1990 gedreht worden war, 1991 in die Kinos kam und wieder daraus verschwand, ohne daß irgendwer Notiz davon genommen hätte. Außer eben Manu Tewari. Er wußte, wer der Musikproduzent gewesen war, welche Werbefilme der Kameramann im Anschluß an diesen Film gedreht hatte, mit wem es der Regisseur während der Songaufnahmen in Australien getrieben hatte und daß der Film in Bombay und Hyderabad durchschnittliche Ergebnisse eingespielt, im Punjab dagegen flächendeckend abgelehnt worden war. »Der beste Gangsterfilm der frühen Neunziger allerdings war Parinda«, fuhr er fort. »Der hat unserem Kino eine neue Richtung gewiesen, was den Aufbau und die realistische Atmosphäre angeht. Und Jackie Shroff280 hat sich in diesem Film eindeutig als Schauspieler gefunden, er war danach ein anderer Mann. Außerdem ist Nana Patekar damit einem landesweiten Publikum vorgestellt worden. Und Binod Pradhans Kameraarbeit hat einen neuen Standard gesetzt.«

Er sprach mit einer Ernsthaftigkeit über Naajayaz und Parinda, als ginge es um das Wesen Gottes oder die Geschichte der Welt. Tatsächlich bedeuteten Filme für ihn die Welt. Er war in einer ruhigen kleinen Wohnung aufgewachsen, mit einer Schwester und einem Bruder, hatte ein farbloses, untadeliges Leben geführt. Doch gleichzeitig war in seinem Innern dieses kleine Etwas herangewachsen, dieser Wurm, diese Python, die Filme verschlang, um sich am Leben zu halten, sie komplett verschluckte und für immer in sich behielt. Wenn man ihm nur den geringsten Vorwand lieferte, ließ er sich eine Stunde lang über Mughal-e-Azam430 aus. Doch ihm irgendeine Auskunft über seine eigene Mutter zu entlocken gelang mir erst nach massivem Drängen. Und selbst dann kam nicht mehr als: »Was soll ich sagen, Bhai? Sie ist Hausfrau. Sie hat sich um uns gekümmert.«

Trotz all seiner neugierigen Begeisterung für die Glücksund Leidensgeschichten anderer Menschen fand er über seine Mutter nicht mehr zu sagen als das. Doch ich hatte ohnehin nur ein bißchen Smalltalk zum Thema Familie machen wollen, eine Gesprächsführungsstrategie, die ich von Guru-ji gelernt hatte. Und Manu Tewari fühlte sich jetzt hinlänglich wohl. Es war an der Zeit, zur Sache zu kommen. »Gut«, sagte ich. »Dann wollen wir mal über den Plot reden.«

Er richtete sich auf. Wenn es um die Arbeit ging, war er sofort voll konzentriert, bei diesem ersten Mal genau wie bei allen folgenden Gelegenheiten. »Ja, Bhai«, sagte er. »Ich bin ganz Ohr.«

Wir schipperten gerade vom Kata Beach nach Patong. Im Grau des späten Nachmittags glitt das Meer glasig unter uns hinweg. Im Osten stand eine hoch aufragende Wolkenbank am Himmel, still, vollkommen und unwirklich. Ich holte tief Luft. »Ich dachte an einen Thriller«, sagte ich.

»Ja, Bhai«, antwortete Manu. »Sehr gut. Ein Thriller.«

»Ich mag Filme, in denen irgendeine Gefahr besteht und der Held diese Gefahr abwenden muß.«

»Eine Suspense-Story. Gefällt mir, Bhai.«

»Das Mädchen hilft dem Helden, und sie verlieben sich ineinander.«

»Natürlich. Und es wird ein internationaler Thriller, damit es einen Grund gibt, die Songs im Ausland aufzunehmen.«

»Ein internationaler Thriller, genau.« Ich begann den Burschen zu mögen.

»Haben Sie irgendwelche Vorstellungen zu dem Helden, Bhai? Was für ein Mensch ist er? Ein normaler Bürger? Ein Polizist? Ein Geheimagent?«

»Nein. Er ist einer von uns.«

»Sie meinen ...?«

»Es ist ein Unterwelt-Thriller.«

»Okay, okay. Ich sehe die Geschichte vor mir. Der Held steht auf der falschen Seite des Gesetzes, aber es waren die Umstände, die ihn in die Unterwelt getrieben haben.«

»Ja. Der Film soll damit anfangen, wie er nach Bombay kommt.«

»Klar, klar«, sagte Manu. Doch er blickte zweifelnd drein.

»Was ist?« fragte ich.

»In einem Thriller, Bhai, haben wir vielleicht nicht genug Zeit, um seine ganze persönliche Geschichte zu berücksichtigen.«

»Warum denn nicht? Wir haben drei maderchod Stunden.«

»Stimmt, Bhai, stimmt. Aber Sie werden überrascht sein, wie schnell diese drei Stunden ausgefüllt sind. Es gibt fünf, sechs Songs, die nehmen zusammen schon mal gut vierzig Minuten in Anspruch. Das läßt uns Zeit für etwa vierzig Szenen vor der Pause und noch mal dreißig, fünfunddreißig danach. Außerdem muß ein Thriller mit der Gefahr beginnen, man muß dem Publikum zeigen, wovor es Angst haben muß, was auf dem Spiel steht, und dann muß sich der Film rasant auf das Finish zubewegen. Außerdem ...«

»Was?«

»Der Junge, der nach Bombay kommt und zum Verbrecher wird - das hat es schon mal gegeben. In Satya. Und auch in Vaastav wurde das Thema ›Eintritt in die Unterwelt abgehandelt.«

»Das ist mir egal. Es geht schließlich um eine wahre Geschichte. Schauen Sie sich doch nur meine Jungs an.«

»Natürlich, Bhai. Sie haben mir alle ihre Geschichte erzählt. Aber wissen Sie, es findet da eine gewisse Gewöhnung statt. Beim ersten Mal ist das Publikum begeistert. Beim zweiten Mal nicht mehr ganz so sehr. Und beim dritten Mal sagen sie: ›Das ist einfach zu filmi, Yaar‹, und wollen nichts mehr von der Wahrheit wissen. Verstehen Sie?«

Ich verstand. Ich hatte selbst schon so reagiert. »Das Publikum ist eine Pest«, sagte ich.

Woraufhin er aufsprang und meine Hand ergriff. »Ja, Bhai, ja, das Publikum ist ein Gaandu, ein Irrer, ein Monsterbaby, das gefüttert werden will.« Dann wurde ihm bewußt, daß er vielleicht doch ein bißchen zu vertraulich war, ließ meine Hand los und trat zurück. Doch in seinen Augen leuchtete Sympathie auf, und er konnte sich nicht bremsen. »Keiner weiß, was das maderchod Publikum will, Bhai. Alle tun so, als wüßten sie es, aber keiner weiß es. Man kann einen großen Film machen und haufenweise Geld für die Publicity ausgeben, und trotzdem läßt er das Publikum kalt. Und gleichzeitig bringt irgendein schlampig produziertes B-Movie ohne nennenswerten Plot hundert Crores ein.«

»Aber Sie versuchen dennoch vorherzusagen, was das Publikum will. Und Sie haben all diese Regeln im Kopf. Warum nur vierzig Szenen vor der Pause? Warum nicht sechzig?«

»Unmöglich, Bhai. Das Publikum ist unberechenbar, aber zugleich ist es sehr starr. Es will nur das, was es will, und zwar so wie immer. Selbst bei einem richtigen Dhansu-Film165 ist das so - wenn man die Form der Geschichte verändert, werfen die Zuschauer Sachen an die Leinwand, machen die Sitze kaputt und randalieren. So ist das, Bhai. Man muß Neues auf die alte Weise machen. Oder Altes in neuem Gewand. Der Film muß anders sein, aber wiederum auch nicht zu anders. Die Avantgarde-Filmer behaupten immer, ihre Filme wären das Neuste vom Neuen, aber auch die müssen sich an gewisse Regeln halten. Sie drehen einfach für ein anderes Publikum. Aber den Regeln an sich entkommt man nicht.«

»Wir werden keinen verdammten Avantgarde-Film machen«, knurrte ich. Ich gedachte dreißig Crores in diesen Film zu investieren. Wir hatten bereits zwei Kinoidole unter Vertrag, und am kommenden Dienstag hatte Dheeraj einen Termin mit Amitabh Bachchans Sekretärin. Außerdem hatte ich Dheeraj gesagt, daß ich großartige Spezialeffekte wollte und erstklassige Kostüme und Locations. Ich wollte, daß der Film groß und glanzvoll daherkam, gewaltig. Und »gewaltig« kostet Geld, sehr viel Geld. Ich tat das alles für Zoya, aber ich wollte mein Geld zumindest wieder reinholen. »Vergessen Sie die Avantgarde«, sagte ich zu Manu. »Schreiben Sie mir einen Thriller, der richtig Tempo hat. Packen Sie in jede Szene irgend etwas, was dem Publikum das Gefühl vermittelt, es hätte ein Stromkabel um die Golis. Halten Sie die Leute wach, erzeugen Sie Spannung. Geben Sie es ihnen, und zwar hart und schnell.«

Er nickte heftig. »Ja, Bhai, ja. Ich verstehe. Action, Dramatik und eine satte Portion Glamour.« Er breitete die Arme aus. »Emotional wie Mother India, monumental wie Sholay, rasant wie Amar Akbar Anthony. Das ist es, was wir wollen.«

Das war es, was wir wollten.

Ich arbeitete weiterhin für Mr. Kumars Leute. Mr. Kumar selbst war ein Jahr zuvor in den Ruhestand gegangen, ungeachtet meiner Proteste. »Warum müssen Sie denn aufhören, Saab?« hatte ich gefragt. »In unserer Branche setzt man sich nicht zur Ruhe, man ruht sich allenfalls aus.«

»Ganesh, meine Branche ist nicht Ihre Branche.«

So war er immer, knapp und unverblümt. Aber er war nicht unfreundlich, dieser gerissene alte Werfer, der lange auf diesem Spielfeld im Einsatz gewesen war. Wir waren keine Freunde, aber wir hatten im Laufe der Jahre nicht nur einander, sondern auch unseren jeweiligen Bedarf verstehen gelernt. Er brauchte mich, damit ich ihm Informationen aus Kathmandu, Karatschi oder Dubai beschaffte und gelegentlich jemanden für ihn aus dem Weg räumte. Ich wiederum brauchte ihn, damit er auf bestimmte Polizisten in Delhi und Mumbai Druck ausübte, mir seinerseits Informationen zuspielte und mich hin und wieder logistisch oder finanziell unterstützte. Keiner von uns machte sich Illusionen über den anderen, aber wir gingen entspannt miteinander um, wie Nachbarn, die zusammen alt geworden waren. Jetzt versuchte ich ihm also zu erklären, daß er noch nicht alt genug war, um der Welt zu entsagen. »Saab, wenn die Regierung Sie jetzt, wo Sie auf der Höhe Ihrer Fähigkeiten sind, in den Ruhestand schickt, einen phantastischen Khiladi wie Sie, dann sind die schlichtweg nicht ganz richtig im Kopf.«

»Es ist nicht nur die Regierung, Ganesh, ich selbst möchte mich endlich mal zurücklehnen und ausruhen.«

»Na gut, Saab, dann lehnen Sie sich zurück, und telefonieren Sie mit mir. Wie ein Berater, verstehen Sie?«

»Ich soll für Sie arbeiten?« fragte er, hörbar amüsiert.

»Mit mir zusammenarbeiten.«

»Nein, Ganesh, ich habe genug getan, und ich bin müde.«

Er war nicht unhöflich, und ich war nicht beleidigt. »Aber was werden Sie dann tun?«

»Lesen. Nachdenken. Wie gesagt, mich zurücklehnen und ausruhen.«

Ich wußte aus langjähriger Erfahrung, daß er sich weder durch Argumente noch durch Verlockungen würde überreden lassen, die Diskussion war also beendet. »Na gut«, sagte ich. »Es war schön, mit Ihnen zusammenarbeiten, Mr. K. D. Yadav.« Er sollte wissen, daß ich seinen richtigen Namen kannte, ihn jedoch aus Respekt während unserer jahrelangen Zusammenarbeit wie gewünscht stets Mr. Kumar genannt hatte.

»Sehr gut, Ganesh. Ich hatte keinen Zweifel daran, daß Sie Ermittlungen über mich anstellen und meinen Namen in Erfahrung bringen würden.«

»Ich habe von Ihnen gelernt, Saab.«

Und so verschwand er aus meinem Leben, mein ferner Lehrer. Er machte mich mit seinem Nachfolger bekannt, einem Mr. Joshi, und hielt noch etwa einen Monat lang Kontakt, um den Übergang zu erleichtern. Ich hatte den wahren Namen dieses Mr. Joshi schnell herausgefunden - Dinesh Kulkarni - und sagte Mr. Kumar sehr deutlich, was ich von ihm hielt. »Dieser Mann ist ein Dummkopf, Saab. Er sitzt in Delhi und will mir sagen, wieviel Geld ich wohin schicken und wie viele Männer ich in einer Operation einsetzen soll. Er zweifelt an mir und meinen Quellen und redet mit mir, als wäre ich sein Bediensteter.«

»Haben Sie Geduld, Ganesh«, sagte Mr. Kumar. »Sie beide müssen sich eben aneinander gewöhnen.«

Ich übte mich also in Geduld, aber dieser Mistkerl von Kulkarni gewöhnte sich weder an mich noch an sonst etwas. Es wunderte mich, daß man die Sicherheit unseres Landes so einem Gaandu anvertraute, andererseits hatte ich schon in allen möglichen Berufen Gaandus an die Spitze aufsteigen sehen. Ich mußte mich nun mal mit diesem speziellen Gaandu herumschlagen. Unterdessen zog sich Mr. Kumar endgültig zurück. Ich machte weiter.

Wir verfaßten das Drehbuch zu meinem Film zwischen Ko Samui und Patong. Ich für mein Teil bevorzugte die anhaltende Ruhe von Samui, aber die Jungs wollten das drangvolle Chaos von Patong. Ich gestand ihnen zu, jede dritte Woche in den Bars und am Strand zu verbringen, und lenkte unseren Bug dann wieder der Ruhe entgegen. Dadurch daß Manu Tewari an Bord war, hatten sie nun auch auf hoher See noch eine andere Beschäftigung als ihr ewiges Kartenspiel. Es war spannend für sie, mitzuerleben, wie eine Geschichte Form annahm, wie Figuren entstanden. Sie diskutierten endlos über den Plot, bestürmten Manu um neue Szenen, taten ihre Meinung kund, machten Vorschläge, erzählten ihm ihre eigene Geschichte. Sie identifizierten sich stark mit dem Helden des Films, und jeder von ihnen schmollte, wenn Manu sich weigerte, irgendeine für diesen Helden erdachte neue Wendung oder Idee in den Film aufzunehmen. Ein paarmal mußte ich eingreifen und ein Veto zu einem Vorschlag aussprechen, bevor Manu zusammengeschlagen oder über Bord geworfen wurde. Derweil ging unser normales Leben natürlich weiter: Ich sprach jede Woche mit Kulkarni und führte seine geheimdienstlichen Operationen durch, sammelte Informationen und brachte ab und zu irgendeinen Mistkerl für mein Land um die Ecke; ich holte Guru-jis Rat ein und kümmerte mich um seine Lieferungen; ich telefonierte mit Jojo und lachte mit ihr; ich traf mich mit Zoya und nahm sie. Doch egal, was wir taten, während dieses halben Jahres ging uns ständig der Plot des Films durch den Kopf, wir waren regelrecht besessen davon. Wir redeten morgens, abends und nachts darüber, berieten über das Casting und hörten uns begierig die Songs an, sobald sie aus dem Aufnahmestudio kamen. Und wir wichen Manu Tewari nicht von der Seite.

Mochte er auch nur mittelgroß sein und alles andere als ein harter Bursche, so war Manu doch ein echter Dickschädel. Er aß anstandslos, was man ihm auf den Teller legte, beschwerte sich nicht, wenn man umschaltete, während er die Nachrichten schaute, aber wenn man versuchte, ihm in seine Szenen hineinzureden, wurde er wild wie eine gelbzahnige Muttersau, die ihre Ferkel verteidigt. Ich war sein Finanzier, sein Zahlmeister, vor allem aber war ich Ganesh Gaitonde, doch er widersprach selbst mir, stritt mit mir herum und beharrte auf seinen Entscheidungen. Manchmal zuckten die Jungs richtig zusammen, wenn unsere Drehbuchsessions besonders hitzig und unsere Stimmen lauter wurden und Manu Tewari es wagte, unhöflich zu sein. Doch ich tolerierte ihn, denn er war ein guter Autor. Er schrieb mir eine starke Geschichte. Außerdem lernte ich von ihm. Im Laufe der Wochen, in denen ich mit Manu Tewari diskutierte, begann ich zu begreifen, wovon er sprach. Er lehrte mich viel über das Kino, etwa wie ein simpler Schnitt von einem ausgeblasenen Streichholz zu einer in Flammen stehenden Wüste gleichsam in der Brust des Zuschauers explodieren und ihn in den Kinosessel drücken kann. Wir schauten uns mit ihm zusammen DVDs an und eigneten uns die Sprache der extremen Nahaufnahmen und Totalen an, der schnellen Ortswechsel und Zeitraffung, wir erfuhren, daß eine schlichte Kamerafahrt mehr vermitteln konnte als tausend Bücher. Ich lernte all diese filmischen Mittel kennen, sah mir Mugahl-e-Azam und Kagaz ke Phool an, sah sie mir Dutzende Male an und begriff, daß eine kleine Gruppe von Meistern ihres Fachs, eine Bande zielstrebiger Irrer, aus Licht und Klang und Raum schimmernde Monumente erschaffen konnte, die sich auf Stoffleinwänden, schmutzigen Dorfmauern, einer Yacht auf den Meeren des Südens materialisierten. Ich erkannte, daß eine gute Geschichte eine gewisse Geometrie aufweist, daß sie einer Folge von Kurven gleicht, von wellenförmigen Steigerungen bis hin zur Explosion am Ende, zur Befriedigung. Wenn der Plot hinkte, wenn er mit irgendeinem Makel behaftet war, erzeugte seine Häßlichkeit nichts als Langeweile und Leere. In der Schönheit lag die Seligkeit.

»Genau«, bestätigte mir Guru-ji eines Nachmittags. »Aber nicht nur Seligkeit, sondern auch Schrecken.« Er hatte die langsame Entstehung unseres Drehbuchs mit einem unerwarteten Vergnügen verfolgt. Ich hatte damit gerechnet, daß er das ganze Projekt zu schäbig und kindisch finden würde, doch wieder einmal überraschte er mich. Er hörte sich aufmerksam unsere Ideen und Veränderungen an und gab Ratschläge, ohne anmaßend zu sein. Und nun entdeckte er also nicht nur Schönheit, sondern auch Schrecken in unserem halbfertigen Drehbuch.

»Schrecken, Guru-ji?« hakte ich nach. »Wieso?«

»Alles, was wirklich schön ist, ist auch schreckenerregend.«

Ich dachte darüber nach. War Zoya schreckenerregend? Nein. Ich verspürte ein heftiges Verlangen nach ihr und manchmal einen Anflug von Beunruhigung, weil dieses Verlangen so stark war, aber ich hatte keine Angst vor ihr. Natürlich nicht. Doch ich wollte Guru-ji nicht widersprechen. Statt dessen sagte ich: »Aber Guru-ji, Sie haben doch gesagt, daß die Welt schön ist, weil sie eine innere Ordnung und Symmetrie aufweist. Macht sie das denn beängstigend?«

»Ja. Für den normalen Menschen, der bloß Willkür sieht, ist die Welt einfach nur deprimierend. Erst wenn man ein paar Schritte weitergeht, erfaßt man ihre Schönheit. Und dann wird einem klar, daß diese exquisite Vollkommenheit schrecklich, daß sie beängstigend ist. Wer diese Angst besiegt, weiß, daß Schönheit und Schrecken ein und dasselbe sind und auch sein sollen. Es gibt keinen Grund, Angst zu haben. Damit die Welt schön sein kann, muß sie enden. Zu jedem Anfang gehört ein Ende. Und zu jedem Ende ein Anfang.«

»Symmetrie?«

»Ja, Ganesh. Genau das.«

Ich begann den größeren Zusammenhang zu erkennen. Deshalb also mußte sich das Drehbuch in einem Zyklus von Sequenzen vorwärtsbewegen, zugleich aber auf einen unvermeidlichen Höhepunkt zustreben, nach dem nichts mehr dasein würde. Oder, wie Guru-ji andeutete, vielleicht schon, aber erst nachdem die Welt des Drehbuchs verschwunden war. Trotzdem hatte ich immer noch Mühe - wie so oft -, seine Aussage vollständig zu begreifen. »So ganz verstehe ich das immer noch nicht, Guru-ji, tut mir leid. Ich erkenne, daß Ordnung notwendig ist. Aber ich mag Schönheit, ich habe keine Angst vor ihr.«

Er lachte, freundlich. »Keine Sorge, Ganesh. Du bist ein Vira. Du wirst den Gipfel ganz erklimmen und in den Abgrund schauen. Du wirst sowohl Schönheit als auch Schrecken sehen. Doch vorerst tust du genau das Richtige. Du wirst das Publikum verführen und eine Menge Geld verdienen.«

Ja, das Geld. Darüber stritt sich Manu mit den Jungs. Er arbeitete in dem profitorientiertesten Busineß der Welt, doch er wollte, daß die Reichen ihr Geld den Armen gaben. Er glaubte an die Verstaatlichung der Schlüsselindustrien, an hohe Steuern für die Mittelklasse und noch höhere für die Oberklasse und an radikale Maßnahmen, um die indische Industrie vor Importen und den multinationalen Konzernen zu schützen. Die Jungs kamen alle aus Familien mit geringem Einkommen, aber noch der letzte von ihnen war ein knallharter Kapitalist. »Ich bin doch kein Chutiya, daß ich mein Geld den Armen gebe!« sagte Amit. »Weißt du, wie viele Dreckskerle ich umbringen mußte, um dieses Geld zu verdienen?« Und Nitin sagte: »Fünfzig Jahre Planwirtschaft, und was haben wir davon? Heimindustrie, die seit fünfzig Jahren nur Verluste bringt, eine Bevölkerung, die ihre ganze Zeit und Energie darauf verwendet, all die idiotischen Vorschriften zu umgehen, und flächendeckende Korruption.« Suresh schließlich fragte: »Wo ist denn deine tolle Sowjetunion jetzt, Sala? Wo ist sie?« Manu Tewari hielt dagegen und prophezeite, der Kapitalismus werde infolge seiner inneren Widersprüche zusammenbrechen, der Lauf der Geschichte sei unaufhaltsam, und sie seien ein ignoranter Haufen, sie seien schlichtweg außerstande, die unterschwellig wirkenden Kräfte wahrzunehmen. »Unsere Geschichte kann nur eine Art von Ende haben«, sagte Manu Tewari. »Das Proletariat wird die Herrschaft erlangen.« Woraufhin Amit sagte: »Genau, Yaar. Ich bin das Proletariat. Und ich will drei Mercedes, drei Orgasmen pro Tag und jede Menge leckeres Butterhuhn. Und was habe ich, wenn ich das irgendwann alles habe? Die Herrschaft über ein paar jämmerliche Proletarier.«

Mit seinen politischen Vorträgen erwarb sich Manu Tewari auf meiner Yacht also keine Gefolgschaft grimmiger Genossen. Doch wenn er die Regeln für das Verfassen eines guten Drehbuchs erläuterte, hörten wir ihm alle aufmerksam zu, und es gab unzählige Regeln. Die Jungs nannten ihn inzwischen nur noch Manu Reglari. Er hatte für jeden Anlaß, für jede Szene und Situation eine Regel parat und dazu immer gleich Beispiele, die ihre Wirksamkeit belegten. Er erklärte uns, der Bösewicht müsse stärker als der Held sein und irgendwie auch attraktiv. Es dürften nie zwei Songs direkt hintereinander kommen, außer wenn Suray Barjatya Regie führte. Die Heldin müsse ausgesprochen sexy sein, dürfe aber nie Sex haben. Die ersten ein, zwei Szenen nach der Pause müßten belanglos sein, denn die Zuschauer brauchten ein paar Minuten, um mit ihren Samosas und Getränken wieder in den Kinosaal zu kommen. Wenn es auf den Höhepunkt zugehe, müsse das Tempo anziehen, denn das Publikum werde bald aufstehen und gehen, um dem Stau draußen zuvorzukommen. Die Mutter des Helden müsse früh eingeführt werden, und wir müßten uneingeschränkte Liebe für sie empfinden. Dieser Regel allerdings widersprach ich: »Warum müssen wir den Film auch noch mit einer Mutter belasten?« fragte ich. »Das Drehbuch ist doch ohnehin schon zu lang, und wir müssen Szenen wegstreichen. Die Mutter nimmt uns nur Zeit weg.«

»Bhai, wir brauchen eine Mutter. Das ist eine Grundvoraussetzung. Sonst fragt man sich, wer ist der Held? Wo kommt er her? Man wird ihn nicht für voll nehmen.«

»Ich weiß überhaupt nichts über Ihre Mutter, Sie Mistkerl, aber trotzdem nehme ich Sie für voll. Warum müssen wir sie zeigen? Daß es eine Mutter gibt, ist doch klar.«

»Wir brauchen sie als Sympathieträgerin, Bhai. Ein Held ohne Mutter und ohne die Liebe, die ihn mit ihr verbindet, ist unvollständig. Eine gute Mutter macht auch den Helden zu einem guten Menschen, selbst wenn er eigentlich keiner ist.«

»Und wenn er eine böse Mutter hat? Wird er dadurch zu einem besseren Menschen?«

Manu grinste. »Im Film gibt es keine bösen Mütter, Bhai. Nur böse Stiefmütter.«

Im wahren Leben gab es sehr wohl böse Mütter, aber ich mußte zugeben, daß es im Film keine gab, und so ließen wir die Mutter drin. Sie erschien in zwei Szenen am Anfang, dann in einer direkt nach der Pause, und in der letzten Einstellung sah man sie noch einmal gütig lächelnd im Hintergrund, während der Junge und das Mädchen in einem Rennboot davonsausten. Damit konnte ich leben.

Als das Drehbuch einschließlich sämtlicher Dialoge fertig war, veranstalteten wir eine Lesung. Sie fand am frühen Morgen statt, vor dem Patong Beach. In der Morgenstille trug uns Manu die Story vor: von der Einführung des Helden, der einen Juwelierladen ausraubt, über den Verrat durch seine Unterweltpartner, seine Entdeckung einer terroristischen Verschwörung und seine erwachende Liebe zu dem Mädchen, das seine Verbindungsperson zu den Terroristen war, bis hin zu seinem durch diese Liebe entfachten Patriotismus, seinem Kampf gegen die Terroristen wie auch die verräterischen Bhais und dem abschließenden Höhepunkt. Die Lesung dauerte drei Stunden, und bald brannte uns die Sonne glühend heiß auf den Rücken, doch keiner nahm davon Notiz. Wir waren völlig von Manus Erzählung gebannt, von seiner Mimik, seiner Ausgestaltung der Szenen, seinen Schilderungen der verzweifelten Flucht des Mädchens und des Jungen durch Indien und Europa. Als er fertig war, lehnten wir uns alle erschöpft und glücklich zurück, fast als hätten wir tatsächlich den Film gesehen.

»Das ist wirklich gut«, sagte Arvind. Er war zwei Tage zuvor eigens für die Drehbuchlesung aus Singapur gekommen, ohne seine geliebte Suhasini. »Es wird funktionieren. Ich glaube, da wird ein erstklassiger Film draus. Sehr spannend, aber gleichzeitig auch sehr gefühlvoll.«

»Du hältst dich wohl für Basu Bhattacharya064?« fragte ich unter allgemeinem Gelächter. Doch ich grinste dabei. Das Drehbuch war gut, und alle grundsätzlichen Einwände, die ich geäußert hatte, waren berücksichtigt worden. Ich kannte die Handlung in- und auswendig, und trotzdem hatte sich während der Lesung mein Bauch angespannt, und in der Szene, wo sich der Junge von seiner Mutter verabschiedet und loszieht, um seinen Kampf zu kämpfen, hatte es mir schmerzhaft die Kehle zugeschnürt. Ich wandte mich Manu zu. »Okay«, sagte ich. »Ich denke, wir können mit dem Drehen beginnen.«

Er boxte ein paarmal in die Luft, sprang dreimal in die Höhe und packte dann meine Hände. »Ja, Bhai«, sagte er. »Das sehe ich auch so. Wir sind soweit. Fangen wir an. Legen wir los.«

Zoya hatte zwischenzeitlich am Miss-Universe-Wettbewerb in Argentinien teilgenommen und den vierten Platz belegt. Wir waren uns sicher gewesen, daß sie gewinnen und ein Jahr lang mit den Pflichten einer Miss Universe beschäftigt sein würde, doch die Preisrichter hatten ihre unerklärliche Entscheidung getroffen, und sie hatte nun nichts zu tun und war ungeduldig. »Wir fangen sofort an«, sagte ich zu Manu. »Aber zuerst feiern wir alle. Ich gebe euch zwei Nächte. Und jeder bekommt eine Sonderzulage. Nehmt die Barkasse. Ihr könnt im Bungalow übernachten.«

Ich gab jedem zwanzigtausend Baht046, schickte sie fort und behielt nur Arvind und eine Stammbesatzung von drei Jungs da - und das Drehbuch. Ich las es noch einmal, schmökerte mich durch Manu Tewaris geradezu fanatisch gestochene Handschrift hindurch, seine schnurgeraden Zeilen, die so viele Schießereien, Küsse, Karambolagen, Tränen und gebrochene Herzen bargen. Ich las das Drehbuch zweimal, und dann rief ich Jojo an und las es ihr komplett vor. Ich schloß: »Abblende« und fragte dann: »Glaubst du, es funktioniert?«

»Ja«, sagte sie.

»Und?«

»Are, was und? Ich habe doch gesagt, es funktioniert.«

»Ich kenne dich, Saali. Wenn du ja sagst, kann das in Wirklichkeit nein heißen. Also, raus mit der Sprache.«

»Ich habe es dir doch gesagt. Es wird als das, was es ist, funktionieren.«

»Und was ist es?«

Sie holte langsam und tief Luft. »Gaitonde«, sagte sie. »Ich wollte nichts Bestimmtes damit sagen. Es ist ein großartiges Drehbuch. Es wird ein Hit werden.«

Ich holte ebenfalls tief Luft, brauchte einen Moment, um meinen Ärger zu unterdrücken und sagte dann in so vernünftigem Ton wie möglich: »Nein, nein, Jojo. Wenn jemand an dem Drehbuch zweifelt, müssen wir das erfahren. Wir müssen es erfahren, um Verbesserungen vornehmen zu können.«

Sie wußte, daß ich nicht lockerlassen würde, also raffte sie sich auf und rückte mit der Sprache heraus. »Na gut. Ich habe gemeint, daß das Drehbuch für das, was es ist, völlig okay ist. Und was es ist ... das wird halt einer dieser Filme, in denen Männer irgendwas in die Luft sprengen, dauernd kämpfen und umeinander weinen.«

»Meine Jungs und ich kämpfen und weinen auf diesem Boot auch. Was ist daran verkehrt?«

»Nichts. Ich habe dir doch gesagt, dein Film wird ein Hit.«

»Aber?«

»Nichts aber. Es ist einfach nicht die Sorte Film, die ich besonders gern sehe.«

»Willst du damit sagen, daß die Frauen nicht reingehen werden? Wart bloß ab - bei den Stars, die wir verpflichtet haben, und den Songszenen, die wir drehen werden, schleifen die Frauen sogar noch ihre Kinder und ihre Großmütter mit. Und alle werden Zoya sehen wollen.«

»Baba, ich habe doch gesagt, daß es ein Hit wird, oder? Ich meine einfach nur, daß es halt eine bestimmte Sorte Film ist.«

»Ja, es ist keiner von den Filmen, in denen sich drei Frauen anderthalb Stunden lang was darüber vorsabbern, wie traurig und unterdrückt sie sich fühlen, und dann zwei andere Frauen sich eine weitere Stunde darüber auslassen, wie mies die Männer doch sind. Gaandu, von mir aus kannst du ein Dutzend Fernsehserien nach diesem Muster drehen, aber meinen Film setzt du nicht auf dieses stinkende Gleis.«

Ihr langsames perlendes Lachen beruhigte mich etwas. »Gaitonde«, sagte sie. »Ich versuche deinen maderchod Film nicht auf irgendein Gleis zu setzen. Du wirst ihn sowieso ganz Indien aufdrücken, auch den Frauen. Wir werden ihm nicht entgehen. Also mach dir keine Gedanken. Aber sag mir doch noch, wie du diesen Bhenchod nennen willst.«

»Beschimpf meinen Film nicht«, sagte ich. »Mir kannst du so viele Schimpfwörter an den Kopf schmeißen, wie du willst, aber meinen Film beschimpfst du nicht.« Ich lächelte. »Ich habe an Barood gedacht.«

»Das hat es in den Siebzigern schon gegeben.«

»Ich weiß. Aber es gefällt mir trotzdem. Dir nicht?«

»Nicht sonderlich. Außerdem läßt das die internationale Komponente außer acht.«

»Soll ich es vielleicht International Barood nennen?«

Ich legte mich aufs Bett und wartete, bis sie aufhörte zu lachen. Ich mußte selbst lachen. »Jetzt mal ernsthaft. Das ist wichtig, ein guter Titel kann den Verkauf enorm ankurbeln.«

»Jaja. Schade, daß es International Khilari schon gibt. Das wäre ideal gewesen.«

Es wäre wirklich ideal gewesen. Aber der Titel war schon verwendet worden, und zwar vor nicht allzu langer Zeit, also probierten wir weiter herum, von Love in London bis zu Hamari Dharti257, Unki Dharti. Es machte richtig Spaß, nach alten, halbvergessenen Titeln zu suchen, auf Sprachfetzen zu stoßen und mit ihnen zu spielen, sie wie Puzzlestücke zusammenzusetzen und zu versuchen, Wörter zu finden, die dem Grundgefühl des Drehbuchs, dem Leben an sich, Ausdruck verliehen. Doch dann wurde dieses Vergnügen von meiner eigenen Truppe internationaler Khiladis unterbrochen. Ein Anruf kam vom Patong Beach: Manu Tewari und drei andere waren verhaftet worden.

»Was? Wo? Wie?« fauchte ich Arvind an. Die Jungs hatten die klare Anweisung, sich unauffällig zu verhalten, keinen Ärger zu machen, unsichtbar zu sein. Wir waren alle übers Meer nach Thailand gekommen und nie offiziell eingereist, für die thailändischen Behörden existierten wir nicht.

»Es ist dieser verdammte Drehbuchautor, Bhai«, sagte Arvind. »Er hat sich in der Typhoon Bar mit einem amerikanischen Soldaten geprügelt.«

»Dieser kleine Chodu?« Ich war erstaunt. Manu schrieb starke Gewaltszenen, aber er war selbst kein Kämpfer. Er beobachtete, wartete, wog ab, und dann schrieb er meistens. »Worum ging es?«

»Es gibt da in der Typhoon Bar ein Mächen, das er mag.«

»Und?«

»Sie war mit einem der amerikanischen Matrosen von dem Flugzeugträger zusammen.« Am Ausgang der Bucht lag ein amerikanischer Flugzeugträger mit einer Eskorte von zwei kleineren Schiffen. Der Flugzeugträger war grau und gigantisch und hatte zwei Tage zuvor dreitausend Matrosen auf den Strand von Patong gespien. »Dieser Matrose hat sie sich für die letzten beiden Abende gekauft. Sie saß auf seinem Schoß. Er hat seinen Freunden unanständiges Zeug über sie erzählt, wie sie seinen Lauda lutscht zum Beispiel. Das Mädchen hat nichts verstanden, Manu dagegen sehr wohl. Er hat etwas zu dem Matrosen gesagt, der hat etwas geantwortet, und dann hat ihm Manu eine Heineken-Flasche über den Kopf gehauen.«

»Bhenchod.«

»Der Matrose hat Manu daraufhin mit einem Faustschlag über den Tisch befördert, seine Freunde wollten auch ein Wörtchen mitreden, und dann haben sich die Jungs wiederum auf sie gestürzt. Und jetzt sitzen sie alle im Knast.«

Ich hatte große Lust, sie da sitzen zu lassen, aber ich brauchte Manu. Also holte ich sie raus. Ich konnte mich natürlich nicht selbst um diesen Schlamassel kümmern, doch ich schickte Arvind mit dem nötigen Geld los und tätigte ein paar Anrufe. Drei Tage, zwei Anwälte und zwanzigtausend Baht Bestechungsgeld später hatte ich sie wieder auf der Yacht. Manu Tewaris linke Wange war von einem üblen grünlichen Striemen überzogen, und er war so wackelig wie ein sozialistischer Staat kurz vor dem Zusammenbruch. Die Jungs sagten mir, er habe seit drei Tagen nicht geschlafen. Wie sich herausstellte, war er trotz all seiner Sympathien für die Unterdrückten noch nie im Gefängnis gewesen, und die thailändische Zelle hatte seine Nerven schwer in Mitleidenschaft gezogen. Ich schickte ihn ins Bett und hielt den Jungs eine Standpauke.

»Bhai«, sagte Amit. »Was hätten wir denn tun sollen? Wir haben nur dagesessen und was getrunken. Plötzlich steht dieser verdammte Manu auf und zieht dem Amerikaner seine Bierflasche über den Schädel. Und das war einer von diesen riesigen Goras240, ein Kerl wie ein Lastwagen. Er hat den Kopf geschüttelt und Manu mit einem Stoß durch den ganzen Raum katapultiert. Und dann sind seine Freunde eingestiegen. Also wir auch.« Er schüttelte den Kopf. »Und das alles wegen einer blöden Hure. Dabei hat er sie noch kein einziges Mal rangenommen.«

In der Typhoon Bar gab es eine thailändische Hure, erzählten sie, die sich Debbie nannte. Vor einem halben Jahr war Manu mit den Jungs in diese Bar gegangen, und da hatte er das Mädchen zu einem Drink eingeladen und angefangen, sie auszufragen - wo sie herkomme, wie viele Geschwister sie habe, in was für einem Haus sie wohnten. Debbie war eine schlaue kleine Chhuri, sie erkannte ihre Chance und lieferte Manu Tewari genug Material für vier Tragödien: Sie erzählte ihm in sehr gebrochenem Englisch von ihrem verkrüppelten Vater, einem Bauern, ihrer schweigsamen, hart arbeitenden Mutter, dem baufälligen Holzhaus in den Hügeln über Nong Khai, ihren barfüßigen, verwurmten Geschwistern und dergleichen mehr. Und so hatte Manu diese Debbie im letzten halben Jahr, jedesmal wenn wir vor dem Patong Beach ankerten, zum Essen ausgeführt, ihr Kleider und Gürtel und Parfüms gekauft und ihr möglicherweise - auch wenn er das nicht zugab - sogar Geld gegeben, damit sie ihre kleinen Geschwister in den fernen Hügeln von Nong Khai in die Schule schicken konnte. Das alles hatte er getan, ohne ihre Berge und Täler auch nur einmal anzurühren. Aber letztlich war sie nun mal ein arbeitendes Barmädchen. Der amerikanische Matrose hatte gute Dollars für Debbies Chut, ihre Blow-jobs und das Recht hingeblättert, über beides zu reden, und so war der bullige Maderchod Manu Tewaris sozialistischem Ehrbegriff in die Quere gekommen. Und mich hatte er einen Haufen Geld gekostet.

»Dieser verdammte Schreiberling«, sagte ich. Nur ein regelbesessener Kerl wie Manu Tewari konnte ein halbes Jahr auf thailändischen Gewässern unterwegs sein, ohne ein einziges Mal ein Mädchen flachzulegen. Und so gab ich meine Anweisungen. In der folgenden Woche fuhren die Jungs wieder nach Patong und nahmen Manu Tewari mit. Nachts, als er schlief, schickten sie zwei Mädchen auf sein Zimmer. Sie waren beide siebzehn, hatten langes, seidiges schwarzes Haar, das ihnen bis zu ihrem kleinen Knackarsch reichte, und sahneweiße Brüstchen, und sie waren beide nackt, als sie in Manu Tewaris Bett schlüpften. Er wachte keuchend auf, doch sie ließen ihm keine Zeit, Fragen zu stellen, die eine steckte ihm etwas in seinen Mund, und die andere nahm etwas in ihren Mund. Sein Sozialismus scheiterte grandios, doch sein Lauda erhob sich, und so beutete er die beiden bis zum nächsten Morgen gnadenlos aus. Dann schlief er, und als er aufwachte, war er von Reue und Schuldgefühlen erfüllt und fing an, sich bei ihnen zu entschuldigen. Woraufhin die Mädchen mit ihren Chuts zu spielen begannen und ihm ihre Brustwarzen zwischen die Lippen schoben. Er stöhnte etwas, hörte jedoch auf zu reden und unterdrückte sie bis in den Abend hinein. Die schöne Debbie aus der Typhoon Bar erwähnte er danach kein einziges Mal mehr.

So muß man mit Autoren manchmal verfahren: Man muß ihnen das Maul stopfen. Sie verlieren sich dermaßen in der Sprache, in ihren Geschichten und Regeln, daß sie die einfachsten Zusammenhänge nicht mehr erkennen. Oder die schönen warmen Kurven, die man für Geld bekommt. Doch der Lauda weiß Bescheid, er spürt, was Sache ist. Man muß dem Lauda eine Chance geben.

Der Film wurde in Bombay, London, Lausanne, München, Tallinn und Sevilla gedreht. Ich schaute mir in Bangkok einmal die Woche die Muster an, kommentierte sie und gab Ratschläge, aber immer nur über Dheeraj Kapoor und Manu Tewari. Vom restlichen Filmteam wußte niemand, für wen er arbeitete, am allerwenigsten die Schauspieler. Da ich Zoya und ihre Zukunft schützen mußte, befolgten wir strengste Sicherheitsmaßnahmen. Und während ich ihr Woche um Woche zusah, wuchs meine Überzeugung, daß eine eindrucksvolle Karriere vor ihr lag. Daß sie schön war, wußte ich, aber wenn man sie auf der Leinwand sah, fühlte man sich wie ein Kind vor einem aufstrahlenden goldenen Licht. Sie war neun Meter groß, schwerelos wie ein Traum, und wenn sie lächelte, preßte es einem das Herz gegen die Wirbelsäule, so daß man wie von einer Kugel getroffen nach hinten sank. Ihre Wangenknochen waren scharf wie Schwerter, und wenn sie von der Kamera davonschritt, hatte die Bewegung ihres Rückens etwas schlangenhaft Gleitendes, bei dem es einen kalt überlief. Es ging nicht nur mir so, auch Arvind, der mit mir zusammen die Muster ansah, verfiel bei Zoyas Anblick in ehrfürchtiges Schweigen. Nachdem Suhasini uns sechs Wochen lang von dem Mädchen hatte schwärmen hören, kam sie eines Tages mit und schaute sich den Rohschnitt der in Estland gedrehten Songszene an. Als das Licht wieder anging, waren all ihr Sarkasmus und ihr Konkurrenzdenken wie weggeblasen, und sie sagte: »Okay, ich geb's zu. Das Mädchen sieht wirklich gut aus.«

»Gut?« fragte Arvind. »Komm, sei ehrlich. Wenn schon nicht mir, dann wenigstens Bhai gegenüber.«

Suhasini schob ihren Arm unter seinen und beugte sich zu mir herüber. »Na gut. Das war eindeutig die richtige Wahl, Bhai. Dieses Mädchen wird gut ankommen. Sie ist umwerfend.«

Selbst die Frauen mußten es zugeben - Zoya war umwerfend. Und ihr Ruhm wuchs, als die Dreharbeiten fortschritten, sorgfältig getimte Pressemeldungen hinausgingen, ihr Bild auf dem Cover von Filmzeitschriften erschien, Ausschnitte aus den Songszenen im Fernsehen gezeigt wurden. Sie war jetzt sehr beschäftigt und konnte nur noch sporadisch nach Singapur fliegen, viel seltener als zuvor. Und ich muß sagen, daß ich froh darüber war. Damals war es extrem hart, mir das einzugestehen, es war ein Gefühl, als mahlten unterhalb meines Nabels zwei Steine gegeneinander. Aber die bittere Wahrheit, die mir würgend in die Kehle stieg, war, daß in dem Maße, wie Zoya größer wurde, ich selbst mich kleiner fühlte. Oh, ich war mächtig, ich war gefürchtet, ich war reich, ich konnte Leben geben oder nehmen. Ich unterstützte Familien, Generationen von Kindern waren in den von mir erbauten Siedlungen, die unter meinem Schutz florierten, zur Welt gekommen. Ich hatte keine Angst vor Zoyas Erfolg, schließlich hatte ich ihn selbst ermöglicht, ich hatte sie erschaffen. Und trotzdem ... Es war schwer, es einzugestehen, schwer, es zu wissen, und es ist schwer, jetzt davon zu berichten: Während Zoya zur Göttin unseres Landes wurde, schrumpfte mein Lauda.

Ich lüge nicht, es war keine Täuschung, und ich war nicht verrückt. Das Ding wurde kleiner. Weniger was die Länge, als was Umfang und Gewicht betraf. Ich hatte meinen Lauda als hart, muskulös und gesund in Erinnerung, doch jetzt erschien er mir zaghaft und matt. Einst hatte er keinerlei Vorwand gebraucht, jetzt war er durch ständige Zweifel geschwächt. Nicht, daß Zoya je etwas gesagt hätte, o nein. Sie lutschte so engagiert wie eh und je, war genauso gefügig und ließ keinen Zweifel an ihrer Lust. Sie stöhnte, wenn ich sie nahm, schloß die Augen und schleuderte - wie immer - die Arme über den Kopf, wenn sie von ihrer Chut aus am ganzen Körper erbebte. Früher hatte ich mich selbstsicher und siegreich gefühlt, wenn ich sie vögelte, sie an diese Schwelle trieb und in den bodenlosen Abgrund der Wonne stürzen ließ. Doch ich hatte gesehen, was für eine raffinierte Schauspielerin sie war. Auf der Leinwand hatte ich ihr uneingeschränkt abgenommen, daß sie jemand anderes war. "Woher wußte ich, ob nicht auch die Zoya, die ich kannte, die ich zu kennen glaubte, in Wirklichkeit jemand anderes war? War meine Zoya nur eine Rolle? War dieses Stöhnen nur Schauspielerei?

So quält man sich, wenn man das Pech hat, sich etwas daraus zu machen, was eine käufliche Frau denkt und fühlt. So peinigt einen dieses fatale Paradox. Je lauter die Lustschreie, die man ihr entlockt, desto stärker wird der Verdacht, daß ihr Stöhnen übertrieben ist, daß man ihr gar keine Lust bereitet. Und die Wahrheit wird man nie erfahren. Fragt man nach, wird sie das sagen, was sie meint für ihr Geld sagen zu müssen. Fragt man nicht nach, wird man wütend. Man wird so wütend, daß man nur noch eine Reaktion für bare Münze nimmt, nämlich Schmerzensäußerungen. Ich wurde grob. Ich zog Zoya an den Haaren, biß sie in die Brüste, riß an ihren Brustwarzen, und sie zuckte zusammen und wand sich, doch sie versuchte nie, mir Einhalt zu gebieten. Ich verstand, warum. Schließlich bekam sie Geld von mir. Ich hatte für Teile dieses perfekten Körpers gezahlt. Und trotzdem wurde ich nie meine Zweifel los, ob sie nicht letztlich mir gegenüber unverwundbar war, ob dieser Körper sich mir nicht genau in den Augenblicken entzog, in denen ich ihn am vollständigsten besaß. Ich wurde zornig. Eines Morgens nahm ich sie, wie ich es bis dahin fast nie getan hatte, ich nahm sie wie die Jungen im Gefängnis, so wie ich Mumtaz mit dem knackigen Gaand genommen hatte. Ich stieß von hinten in sie hinein, hielt sie an den Haaren fest, besorgte es ihr mit aller Kraft. Sie schrie und knickte vor mir ein. Meine Finger hinterließen dunkelrote Abdrücke an ihren Seiten. »Saali«, fauchte ich ihren sich windenden und wölbenden Rücken an, »Randi. Ich zeig's dir, ich zeig's dir, da.«

Sie drehte den Kopf gegen das Zerren meiner Faust, ihr Schweiß tropfte auf meine Fingerknöchel, und sie sagte: »Ja, gib's mir, gib's mir, los«, und lachte. Sie lachte. »Das ist gut, Saab. Gib's mir, los.«

Die Freude in ihrem heiseren Lachen wirkte wie ein Eiswasserguß auf meine Golis. Und von einem Moment auf den anderen konnte ich es ihr nicht mehr besorgen. Es ging nicht mehr. Ich rutschte aus ihr heraus, stolperte eilig ins Nachbarzimmer. Ich setzte mich aufs Sofa, und Zoya kam mir nach und kuschelte sich an mich. »Was ist denn?« fragte sie. »Stimmt was nicht?«

Ich schickte sie fort. Ich hatte ihr nichts zu sagen und hätte ihr unmöglich erklären können, was nicht stimmte, was ich von ihr brauchte. Die Falle, in der ich saß, war perfekt. Ich traute Zoyas Wonne nicht, und offenbar konnte ich ihr nicht einmal weh tun. Ich war so was von klein. Ich saß im Dunkeln und mußte immer wieder an Zoyas Filmpartner denken, Neeraj Sen. Dieser Mistkerl war einssechsundachtzig groß, hatte graue Augen und Bizepse wie Handgranaten. Und er hatte garantiert den entsprechenden Lauda. Ich schloß die Augen und sah Zoya und Neeraj in einer Tür stehen, symmetrisch, zueinander passend, einander ebenbürtig. Sie hatte den Arm um seinen Hals geschlungen und ein Bein auf seine rechte Schulter gelegt, hatte sein gewaltiges Ding in sich und war völlig von Sinnen. Ihre Ekstase war echt, das wußte ich. Die Dämmerung färbte die beiden rot, und sie waren glücklich.

Ich sprang auf, schlug mir mit der flachen Hand an den Kopf. Wach auf, du Idiot. Komm wieder zu dir. Das würde Zoya niemals tun. Zoya weiß, was sie dir verdankt. Zoya weiß, daß du sie nach oben gebracht hast. Zoya kennt deine Macht, deine Möglichkeiten. Zoya würde dich niemals beleidigen. Zoya ist ein gutes Mädchen.

Ich schärfte es mir ein, spürte es in meinen geballten Fäusten. Ich wußte genau, wie sehr ich Männer einschüchterte, Frauen überwältigte. Niemand würde es wagen, mich zu beleidigen. Wenn mich irgendein Dummkopf irgendwo auf der Welt versehentlich beleidigte, konnte ich ihn problemlos am nächsten Tag ausradieren lassen, er würde verschwinden, als hätte es ihn nie gegeben. Ich könnte auch Neeraj Sen ergreifen und beseitigen lassen. Er würde verschwinden, einfach nicht mehr existieren.

Nein, nein, ich brauchte ihn. Ich hatte schon sechzehn Crores für diesen Film ausgegeben, und das Budget blähte sich durch all die Helikopterjagden, all die Ortswechsel in den Songszenen immer weiter auf. Ich hatte in Naarej Sen investiert. Warum war er bloß so groß, dieser elende Bengale? Einssechsundachtzig und muskelbepackt? Wer hatte je von einem einssechsundachtzig großen Bengalen gehört? Ach ja, seine Großmutter war auch Filmschauspielerin gewesen, eine gewisse Shakira Bano, eine dieser Tänzerinnen, die in den Tagen des Schwarzweißfilms zur Schauspielerin geworden war. Sie war mäßig erfolgreich gewesen, hatte unter dem Namen Naina Devi in ein paar Filmen Madhubalas Schwester gespielt und konnte eine berühmte Tanzszene in einer Bar mit Dev Anand vorweisen. Sie hatte einen bengalischen Kameramann geheiratet und sich aus dem Filmgeschäft zurückgezogen. Doch ihre Söhne waren in den Filmverleih gegangen, und jetzt war ihr Enkel Neeraj Sen ein Star, drei Filme alt und im Aufstieg begriffen. Höher und höher hinauf mit seinen einssechsundachtzig, dem Erbe seiner Großmutter - daher auch seine Paschtunen-Muskeln. Diese Kanaillen, ich sollte sie beide umbringen, Neeraj und Zoya. Ich hatte eine geladene Glock im Nachttisch liegen und zwei zusätzliche Ladestreifen. Ich konnte ins Schlafzimmer gehen, mir die Pistole schnappen und Zoya umnieten. Ich konnte ihr je zwei Kugeln in Arme und Beine schießen, eine in den Bauch, eine in ihre Chut und eine in dieses unerreichbare Herz.

Statt dessen schickte ich sie nach Hause. Ich schützte einen überraschenden Anruf aus Thailand vor, eine dringende Aktion, die meine Anwesenheit erforderte. Sie wußte, daß irgend etwas nicht stimmte, doch sie war intelligent genug, nicht nachzufragen. Sie küßte mich (wozu sie sich tief hinunterbeugen mußte) und kehrte nach Bombay zurück. Ich fuhr wieder nach Thailand und lenkte die Yacht Richtung Ko Samui. Und dann erprobte ich mich an mehreren Mädchen. Ich folgte Guru-jis Rat, nur Jungfrauen zu nehmen, und bezahlte königlich für sie. Jojo schickte mir ein Mädchen aus Andhra, ein anderes aus Kerala und eine Bengalin. Letztere war Muslimin, hatte knielange Haare und schrägstehende braune Augen. Sie war nicht so groß wie Zoya, wir waren ungefähr gleich groß. Als sie sich aufs Bett legte, bedeckte sie das Gesicht mit den Händen, und ich wurde unmittelbar hart. Und als ich mit einem letzten heftigen Stoß kam, schrie sie. In diesem Moment fiel mir der Titel zu meinem Film ein: International Dhamaka163. Ich lag lachend auf ihr, und gleich danach rief ich Dheeraj Ka-pur und Manu an. Sie stimmten mir zu, daß der Titel ein Knaller sei, er werde die Massen und Klassen anziehen. »Jetzt gehen wir in die vollen«, sagte Manu. »Genau wie es Ihr Titel sagt: Das wird eine internationale Explosion.« Er wußte nicht, wie recht er hatte. Bei diesen Mädchen ging ich in die vollen. Ich war bei jeder einzelnen von ihnen auf der Höhe meiner Potenz und Kompetenz und lebte das weidlich aus. Sie waren zu jung und unerfahren, um mir irgend etwas vorzuspielen. Ihre Lust war so echt wie ihre Schmerzen. Mich überfielen keine Zweifel, ich war mir meiner Sache völlig sicher.

Ebenso sicher war ich mir allerdings, daß meine eigene Lust halbiert war. Nach wie vor jagten mir elektrisierende Schauer die Wirbelsäule hoch, erfüllte ein heißes, hohes Summen meinen Kopf, wenn ich eine schöne bengalische Novizin ungeschickt mit der Zunge meinen Lauda bearbeiten sah. Doch irgendwo in diesem Stromkreislauf zwischen oben und unten, zwischen Kopf und Weichteilen, fehlte eine Verbindung, und diese Unterbrechung dämpfte die Spannung. Ich verspürte Erregung, aber wie aus großer Ferne. Ich begriff natürlich, warum das so war. Ich war Ganesh Gaitonde, und ich war schon lang genug auf dieser Welt, hatte genug von ihr gesehen, um sie ein wenig - und mich selbst etwas mehr - zu verstehen. Ich wußte, warum ich im Umgang mit diesen Mädchen stark und selbstbewußt sein konnte: Sie waren belanglos, weder sie noch ihre Gefühle bedeuteten mir etwas. Wenn ich die Bengalin nachts nahm, sie über die Reling meiner Yacht nach hinten bog, während das Wasser gegen den Bug klatschte und der Wind die Wolken über unseren Köpfen hinwegtrieb, drängte ich in sie hinein, doch mein Herz regte sich nicht, es blieb völlig unbeteiligt.

Zoya erschütterte mich in den Grundfesten, versetzte mich in jähe Ekstase. In ihrer Gegenwart verspürte ich eine unablässige, quälende Aufregung, ich war von einem Vibrieren, einer Spannung, einer Wärme erfüllt, die Schmerz und Lust zugleich war. War ich fern von ihr, ließ dieses Aufgewühltsein nach, doch es verschwand nie ganz. Zoya hatte mich aus dem Gleichgewicht gebracht, und dafür haßte ich sie. Doch ich liebte sie. Ich gestand es mir ein, hatte gar keine andere Wahl: Ich war in sie verliebt. Es war beschämend, daß ich in genau die Falle gegangen war, vor der ich die Jungs immer warnte, doch es ließ sich nicht leugnen. Da war dieses Wort, »Liebe«, und jetzt verstand ich, was es bedeutete. Plötzlich wollte ich all die Liebeslieder in den Filmen nicht mehr vorspulen. Nein, ich wollte mich viereinhalb Minuten lang von Ke kitni muhabbat431 hai tumse, to paas aake to dekho davontragen lassen. In meiner Kajüte sang ich inbrünstig mit:

Abhi na jao chhod kar, ke dil abhi bhara nahin
Abhi abhi to aai ho, bahar ban kar chayi ho.
Hawa zara mahak to le, nazar zara bahak to le
Ye shaam dhal to le zara, ye dil sambbal to le zara ...
Main thodi der jee to loon, nashe ke ghoontpee to loon
Abhi to kucch kaha nahin, abhi to kucch suna nahin
Abhi na jao ...
005

Die Jungs bemerkten meine neue Schwäche für schwärmerisch-sentimentale Musik und machten sich ein wenig darüber lustig. Ich lachte mit ihnen, aber ich verriet nichts. Ich konnte niemandem etwas sagen - schon allein bei dem Gedanken, meine Liebe zu offenbaren, errötete und erschauerte ich wie im Fieber, wie ein lauschender kleiner Junge vor einer unerwartet sich öffnenden Tür. Ich verschloß meine Liebe in einem Bunker, hielt sie sicher versteckt. Ich sagte den Jungs nichts, sagte Guru-ji nichts, sagte Jojo nichts. Nicht einmal Zoya sagte ich etwas. Ich schenkte ihr Diamanten, ein neues Auto und überwies ihr regelmäßig Geld.

Ich bin mir sicher, daß sie wußte, was los war. Wir sprachen jeden Tag miteinander, selbst als sie in dem Irrsinn aus Synchronisation, Fototerminen und Interviews kurz vor der Filmpremiere von einem Ende Bombays zum anderen hetzte. Ich folgte ihr überallhin - dank ihres topmodernen pinkfarbenen Nokia-Handys, eines Geschenks von mir, das sie natürlich nur für unsere Gespräche benutzte. Sie nannte mich bei diesen Telefonaten Bill und erzählte mir von ihrem Tag, von ihren Treffen mit Zeitschriftenredakteuren und Produzenten, von ihrer Vorfreude auf die Zukunft. Ich hörte zu, gab Ratschläge und träumte mit ihr. Damals erschien alles möglich. Sogar ein größerer Lauda.

Ich liebte Zoya so sehr, daß ich entschlossen war, mich für sie zu vergrößern. In Bangkok hätte ich einen Tigerpenis kaufen, ihn zerstampfen und zu Pillen verarbeiten lassen können, die Potenz und Ausdauer versprachen. Doch über einen derartigen Aberglauben war ich hinaus. Ich wußte, wie man seine Potenz und Ausdauer steigert: Ich aß fettarme Kost und trieb täglich Sport - ich hatte neben dem Maschinenraum einen neuen Stepper aufstellen lassen, auf dem ich jeden Tag ein hartes aerobes Training durchzog. Nein, mir ging es nur um die Größe. Und dazu konnte ich mich in unserem Zeitalter der Forschung und Entwicklung wissenschaftlicher Methoden bedienen. Ich kam inzwischen mit dem Computer besser zurecht und wußte mit Suchmaschinen umzugehen. Ich sagte den Jungs, ich wolle nicht gestört werden, machte die Tür zu und recherchierte. Zuerst hatte ich sprachliche Probleme. Als ich »Lauda« eingab, gelangte ich auf die Website einer Fluggesellschaft desselben Namens, auf die Homepage eines Autorennfahrers und schließlich auf diverse Seiten über ein Mittel namens Laudanum. Du dummer Sack, sagte ich zu meinem Spiegelbild auf dem Monitor, du mußt natürlich das englische Wort benutzen. Ich kannte es aus den Erwachsenenfilmen, die meine Jungs an Bord anschauten, von den akrobatischen Verschlingungen in diesen Streifen und den Nahaufnahmen. Ich tippte »big cock« ein. Jetzt wurden mir Dutzende von Websites aufgelistet, auf denen Bilder von riesigen Laudas in allen erdenklichen Farben gezeigt wurden. Damit konnte ich nichts anfangen. Es erforderte ein paar Minuten heftigen Nachdenkens, bis ich mich aus einem Times of India-Aritkel über Elefanten und ihre Paarungsgewohnheiten an das Wort »Penis« erinnerte. Ich versuchte es mit »Penisgröße«, was eine Auflistung von Statistiken zur durchschnittlichen Penisgröße hervorbrachte, doch weiter unten fand ich schließlich auch die Webadressen http://www.100percentpenisenlargement.com, http://www.big-penis-enlargement-size.com und http://www.better-penis.info. Schon besser.

Und so las ich, lernte dazu und dachte nach. Ich nahm mir viele Tage Zeit für meine Entscheidung. Schließlich handelte es sich um eine Entscheidung von einiger Tragweite. Ich wollte mich umgestalten, um meine Geliebte glücklich zu machen, glücklicher. Ich informierte mich über die Physiologie des Penis. Mit Hilfe von Querschnitten wurden die unter der Oberfläche ablaufenden Mechanismen erklärt: wie das Blut in die Schwellkörper strömt und dazu führt, daß er sich aufrichtet und stark wird. Den Einsatz einer Penispumpe schloß ich wegen der offenkundig schädlichen Wirkung auf die Kapillaren frühzeitig aus, denn wenn sich der Penis im Vakuum ausdehnte, entstanden winzige Risse im Gewebe. Gewichte, dachte ich, würden funktionieren. Wenn man ein Gewebe ausreichend beschwerte, dehnte es sich. Aus meiner Kindheit kannte ich die Frauen einheimischer Stämme, deren Ohrläppchen von ihren Ohrringen in die Länge gezogen waren. Doch ich hatte diese verlängerten Ohren immer grauslich gefunden. Ein gedehnter Penis würde zwar länger, aber auch dünner sein, wie ein ausgeleiertes Stück Gummi. Nein, das kam nicht in Frage. Ich wollte Länge, aber ich wollte auch Umfang. Eine stahlharte, schlanke, unermüdliche Maschine, die Zoya lieben würde.

Und dann fand ich Dr. Reinnes. Eine Woche nachdem ich begonnen hatte, die Penis-Websites abzugrasen, stieß ich auf http://www.scientificpenis.com. Schon allein der Name war attraktiv, ich klickte den Link sofort an. Als die Seite erschien, war ich von ihrer Schlichtheit beeindruckt. Sie kam ohne die grellen Farben der anderen Websites aus, ohne die riesigen grün und rot aufragenden Lettern, die steile Behauptungen aufstellten. Hier gab es nur saubere schwarze Schrift auf weißem Grund. Die ganze Website war vernünftig, wohlgeordnet und sauber. Sie hatte etwas Nüchternes, wie überhaupt Dr. Reinnes' ganzer Ansatz, was sich daraus erklärte, daß er Mediziner war. Wie er auf der Website erläuterte, hatte er in Kalifornien eine ganz normale Arztpraxis. Seine Vergrößerungstechniken waren das Ergebnis jahrelanger Forschung und Erfahrung und basierten auf einem tiefgreifenden wissenschaftlichen Verständnis der Funktionen des menschlichen Körpers. Und das alles wurde im Internet sehr diskret zum lächerlichen Preis von 49,99 US-Dollar angeboten. Eine schlichte Kreditkartenzahlung verschaffte dem User Zutritt zu den zugriffsgeschützten Seiten, auf denen die Reinnes-Methode vorgestellt wurde, und eröffnete ihm den Weg zu einem besseren Selbst.

Ich hatte sechs jeweils auf einen anderen Namen ausgestellte Kreditkarten und wählte meine VISA-Platin-Karte, die unter dem Namen Jerry Gallant einer belgischen Postfachadresse zugeordnet war. Was waren schon 49,99 US-Dollar für ein solches Wissen? Nach zwei Minuten Tippen hatte ich Zugang zu der Website. Ich überflog die mehrfarbigen Diagramme und die Ratschläge zu Hormonstörungen und zu gesunder Ernährung. Ich war nicht krank, und meine Eiweißzufuhr war bereits ausgewogen. Ich wollte nur Größe. Das Geheimnis dazu lautete: Mehr Blut in die Arterien des Penis pumpen. Dies erreichte man durch ein tägliches Trainingsprogramm. Man begann mit einer heißen Kompresse, einem in heißes Wasser getauchten und dann um den Penis gewickelten Handtuch, gefolgt von der Hauptübung, für die man Daumen und Zeigefinger zu einem Ring zusammenlegte und dann eine melkende Bewegung von der Wurzel des leicht eingeölten Penis zu seiner Spitze machte. Ich versuchte das gleich vor dem Computer, das Melken, meine ich, nicht das heiße Handtuch. Ja, es stimmte: Wenn man den Finger-Ring über die gesamte Länge des halb erigierten Penis hochzog, konnte man sehen, wie das Blut in die Spitze gedrückt wurde. Es gab auch andere Übungen, eine für die Länge, bei der man zog, und eine Beckenbodenübung für die Ausdauer. Mir leuchtete das Verfahren ein, ich erkannte seine physiologische Grundlage, die Logik der Abfolge. Natürlich konnte man den Penis genau wie jeden anderen Muskel im Körper trainieren, ihn stark und groß machen. Dr. Reinnes' Geniestreich bestand darin, daß er einem ein System an die Hand gab. Ich druckte mir die Tabellen aus, in die man täglich seine Erfolge eintragen konnte, bis hin zur »Fortgeschrittenen«-Rubrik ein halbes Jahr und viele Zentimeter später. Ich begann noch am selben Abend.

Nach siebenundvierzig Tagen regelmäßigen und ausdauernden Penistrainings verzeichnete ich einen Zuwachs von anderthalb Zentimetern. Zoya kam mich vier Tage vor dem Filmstart von International Dhamaka in Singapur besuchen. Es war notgedrungen nur eine Stippvisite, sie kam am Donnerstagmorgen und mußte abends schon wieder fliegen. Ihren Besuch in der Stadt geheimzuhalten war inzwischen nicht mehr möglich, denn die Stewardessen wußten, wer sie war, und mehrere kleine Mädchen kamen in den First-Class-Bereich und baten um ein Autogramm. Die offizielle Version lautete daher, sie sei in die Stadt gekommen, um vor der Premiere noch ein wenig shoppen zu gehen, ein paar Kleider und Schmuck zu kaufen. Wir brachten sie im Ritz-Carlton unter, von wo aus sie mit einem Privataufzug zu einer wartenden Limousine herunterkam. Vom Wagen aus rief sie mich an: »Ich bin unterwegs, Saab.«

Sie war respektvoll wie immer, ging verantwortlich mit meiner Zeit und meinen Gefühlen um. Ich für mein Teil war nervös. Ich trug einen neuen schwarzen Armani-Anzug und ein maßgeschneidertes goldenes Hemd. Meine Schuhe waren auf Hochglanz poliert, und meine Fingernägel waren sauber manikürt. Ich saß in einem Sessel mit Blick auf die Tür und war alles andere als entspannt. Ich trank Evian aus einem Glas und wußte, daß ich eine lächerliche Figur abgab. Ich hörte Zoya die Treppe heraufkommen. Ich erhob mich. Die Tür ging schwungvoll auf, sie kam herein, warf ihren Kapuzenmantel ab und schüttelte ihre wallende Mähne zurück. Ich erhaschte einen kurzen Blick auf eine rehbraune Hose und ein knappes Oberteil, dann stürmte sie auf mich zu. In ihrer heftigen Umarmung, dem Balsam ihrer Brüste verflogen alle meine Zweifel. »Ich habe Sie vermißt«, sagte sie. »Ich habe Sie ja so vermißt.«

Und dieses Mädchen nannte Jojo die egoistische Giraffe. Sie küßte meinen Hals, kam wieder hoch zu meinen Lippen, rieb sich an meiner Brust und bewegte sich dann abwärts. Mit einem langgezogenen Seufzer ging sie auf die Knie, preßte sich an meinen Hosenschlitz, die Arme immer noch zu meinen Schultern hochgestreckt. Ich legte ihr die Hand auf die Stirn und drückte ihren Kopf leicht nach hinten, so daß sie mich anschauen mußte. »Nein, warte«, sagte ich. Sie war verstört, schaute mich an wie ein zurechtgewiesenes Kind. Eigentlich war dies unser übliches Ritual, ein erstes wildes Lutschen. Ich sah immer wieder gern zu, wie ihr Mund sich mir öffnete. Doch heute hielt ich ihr Kinn sanft fest. »Gleich, gleich«, sagte ich. »In zwei Minuten. Aber zuerst will ich hören, was in der Zwischenzeit alles passiert ist.«

Fröhlich lachend sprang sie auf. Wir setzten uns in den Sessel, sie auf meinen Schoß gefläzt, die Beine über die Lehne hängend, die Arme um meinen Hals geschlungen, und sie erzählte mir alles. Es dauerte nicht zwei Minuten, sondern zwei Stunden. Sie erzählte mir von den Problemen beim Drehen, von dem künstlichen See, der in der Schweiz liegen sollte und irgendwann zu stinken begann, weil diese elenden Beleuchter immer wieder hineinpinkelten. Dann war da der wunderschöne Schimmel, der sich acht Einstellungen lang vollkommen ruhig verhalten hatte, er war ein altgedientes Filmi-Pferd. Doch in der Beleuchtungspause vor der neunten Einstellung zog ein Elektriker ein Kabel durchs Gras, und der Schimmel geriet in Panik, bockte, näherte sich dabei rückwärts einer Felskante und stürzte neun Meter in die Tiefe. Man hatte ihn erschießen müssen. Mit einem echten Revolver.

»Nicht ganz ungefährlich«, sagte ich.

»Und anstrengend. Es geht so langsam vorwärts, Bhai, es dauert alles so lange«, sagte Zoya. »Es kommt mir vor, als wären wir schon ewig am Drehen. Aber es macht wirklich Spaß. Auf dem Set gibt es ein paar echt schräge Typen.«

Dann stand sie auf und imitierte Dheeraj Kapoor, wie er einen der Beleuchter ermahnte, schneller zu machen. »Bitte, Sir, wir haben das Budget bereits um vierunddreißig Prozent überschritten und sind dreißig Tage im Verzug.« Sie traf ihn genau: den typischen Watschelgang des Dickbäuchigen, die punjabische Herzlichkeit, seine vornehme Art, die Zigarette zwischen Daumen und Mittelfinger zu halten, ja selbst seine kurze Oberlippe, durch die er aussah wie ein mäßig wilder Hund. Beim Schauspielern erwachte sie zum Leben, meine Zoya. Wenn sie Dheeraj Kapoor war, verschwand die Distanz, die sonst zwischen Zoya Mirza und der Außenwelt samt den darin Lebenden lag, dann war sie nicht mehr unerreichbar hinter dem Glanz ihrer schwarzen Augen verborgen. Sie war präsent - in dem Flaum auf ihren Unterarmen, im schlendernd ausgreifenden Gang des Produzenten. Ihr Leben glitzerte, schlug Funken, hier und für mich. Ich lachte und zog sie wieder auf meinen Schoß, bis sie erneut aufsprang, um jemand anderen zu verkörpern. Sie gab auch einen perfekten Manu Tewari: Ich sah seinen eckigen kommunistischen Bart, seine Art, daran herumzufingern, wenn er versuchte, durch Nachdenklichkeit zu beeindrucken. Irgendwie, ich wußte nicht recht, wie, vermittelte sie seinen angestrengten Ernst, seinen skalpellscharfen überanalytischen Verstand, seinen sehnsüchtigen Glauben an Zukunftsmärchen. Wahrscheinlich mußte das bei einer großen Schauspielerin so sein. Sie brachte einen dazu, ihr glauben zu wollen, und daher glaubte man ihr auch.

Als ich schließlich mit ihr ins Bett ging, hatte ich keinerlei Zweifel. Ich ruhte in mir. Durch unsere Unterhaltung und unser gemeinsames Gelächter hatte ich meine Kraft wiedergefunden. Ich drang an diesem Tag viermal in sie ein, und sie war in mir. Ich mißtraute weder ihrer Lust noch meiner. Es war alles eins. Und mein Penis war heroisch. Ich wies sie nicht auf sein Wachstum hin, es war nicht nötig. Ihr Stöhnen, als ich sie befriedigte, war mir hinlängliche Bestätigung.

International Dhamaka wurde ein Flop. Nach all der Publicity, all dem Geld, das wir in MTV-Songclips, gigantische Reklamewände und Dhamaka-Lunchboxen aus signalrotem Plastik gepumpt hatten, wollte keiner den Film sehen. Am ersten Tag lagen die Kartenverkäufe in Bombay bei sechzig Prozent und außerhalb der Stadt noch niedriger. Die Kritiker waren grausam, aber damit hatten wir fast gerechnet, und in der Filmindustrie interessierte sich sowieso niemand dafür, was die Kritiker sagten, solange die Zuschauer kamen. Solange die Leute Eintrittskarten kauften. Doch in der Mitte der zweiten Woche wurden landesweit weniger als vierzig Prozent der verfügbaren Karten gekauft. Im Ausland erging es uns kaum besser, obwohl wir gedacht hatten, der Film würde dort voll einschlagen. Und die maderchod Auslandsinder gingen auch nicht rein. Ich telefonierte Tag und Nacht mit Dheeraj Kapoor, wir ließen in den Großstädten neue Plakate aushängen, wir erhöhten die Zahl der Fernsehwerbespots, fügten neue Textzeilen hinzu, in denen das Publikum ermuntert wurde, sich den »Superhit International Dhamaka« anzuschauen. Wir verlockten sie, in die Magie des Films einzutauchen. Wir luden sie ein, mit uns die Welt kennenzulernen.

Aber diese Gaandus kamen nicht. Wir schnitten sieben Szenen heraus, kürzten vierzehn weitere und drehten einen neuen Song mit nicht ein oder zwei, sondern sogar drei Models in wenig mehr als fluoreszierenden Bikinis und etwas Gaze. Wir brachten diesen Songclip in einer Rekordzeit von dreizehn Tagen in die Kinos von Bombay und Delhi, doch das Publikum, diese Pest, blieb weiterhin aus. Am Ende der dritten Woche schließlich bezeichneten die Fachzeitschriften International Dhamaka furchtlos und einhellig als Flop. Es war unbestreitbar. Der Film war ein Flop.

Dheeraj Kapoor hatte bis dahin immer wieder Geduld, Zuversicht und Durchhaltevermögen angemahnt. Er hatte mir erzählt, daß G. P. Sippy Sholay einen Monat lang in den Kinos hatte laufen lassen, obwohl er dadurch Geld verlor und sich zum Gespött der Filmindustrie machte. Irgendwann habe die Mundpropaganda über Gabbar Singh jedoch ihre Wirkung getan, und die Leute seien scharenweise ins Kino geströmt, so daß Sholay letztlich fünf Jahre lang ununterbrochen und mit enormen Gewinnen gelaufen sei. Doch jetzt räumte selbst Dheeraj Kapoor ein, daß unser Film ein Flop war. Es war genausosehr sein Film wie meiner, doch in der vierten Woche gab er ihn auf. »Das war's, Bhai«, sagte er spätabends am Telefon zu mir. »Sie haben schon zuviel ausgegeben. Wir müssen es akzeptieren. Wir müssen uns den Gegebenheiten fügen.«

Also nahm ich den Film aus den Kinos. Ich mußte der Wahrheit ins Gesicht sehen: International Dhamaka war durchgefallen. Ich konnte dem Publikum keine Pistole an den Kopf setzen und es zwingen, ins Kino zu gehen, also war der Film ein Flop. Aber er war gut. Ich hatte ihn so oft gesehen und mich so intensiv mit Details wie Bildeinstellung, Sound und Rhythmus beschäftigt, daß ich irgendwann kaum mehr sah, was sich auf der Leinwand abspielte. Deshalb schaute ich ihn. mir jetzt noch einmal an. Es war ein guter Film, daran bestand kein Zweifel. Es war alles dabei: Action, Liebe, Patriotismus und unvergeßliche Songs. Der Film war perfekt. Warum also war er durchgefallen? Warum kamen die Leute in Scharen, um sich Tera Mera Pyaar anzuschauen, einen blödsinnigen, schlecht gemachten Junge-verliert-Mädchen-und-weint-sich-die-Augen-aus-Streifen, der mit einem Budget von drei Crores und unbekannten Schauspielern gedreht worden war? »Wir wissen es nicht«, sagte Dheeraj Kapoor. »Man kann es nicht wissen, Bhai. Das Publikum ist eine Pest. Jeder Chutiya in der Filmbranche wird Ihnen jetzt sechsunddreißig Gründe aufzählen, warum unser Film kein Erfolg geworden ist, aber bei den Previews waren alle begeistert. All die Analysen nach dem Kinostart eines Films sind wertlos. Man kann die Zukunft nicht vorhersehen. Und man kann auch die Vergangenheit nicht wirklich durchschauen. Wir wissen es einfach nicht.«

Doch ich wollte es wissen, ich mußte es wissen. Ich fragte Guru-ji. Er war gerade zu einer Vortragsreihe in Südafrika, doch er nahm sich die Zeit, mit mir zu telefonieren. Er wußte, daß ich Probleme hatte, wußte, wie traurig und hilflos ich war. Er erkannte, daß ich noch nie so ohnmächtig gewesen war, und nahm sich meiner an. Er war mehr als ein Vater, er war mütterlich. Ich wußte, daß er nicht in die Zukunft des Films hatte sehen können, doch ich bat ihn, in dessen Vergangenheit zu schauen. »Der Film hatte alles, Guru-ji«, sagte ich. »Sämtliche Elemente, die das Publikum fordert. Warum ist er nicht angekommen?«

»Du willst den Grund wissen?«

»Ja, Guru-ji, ich will den Grund wissen.«

»Das ist genau das Problem: daß du den Grund dafür wissen willst.«

»Aber Guru-ji, Sie sind doch derjenige, der mir immer wieder sagt, daß die Welt kein Chaos ist. Sie haben gestern vor siebentausend Leuten vom zyklischen Wesen der Zeit gesprochen und erklärt, daß wir uns stetig auf ein neues Zeitalter zubewegen.«

»Das habe ich gesagt?«

Ich spürte, daß er dieses breite Lächeln auf den Lippen hatte und dieses Blitzen in den Augen, das jede Verwirrung dahinschwinden ließ. »Ja, das haben Sie gesagt. Ich habe Ihren Vortrag im Internet gelesen. Sie haben gesagt, daß alles, was wir tun, einen Sinn hat.«

»Stimmt, Beta, das habe ich gesagt. Der Fehler liegt in deiner Frage. Der Frage nach einem Grund.«

Ich hielt inne, dachte nach. Ich begriff immer noch nicht, worauf er hinauswollte. »Ich verstehe das nicht, Guru-ji. Bitte erklären Sie es mir.«

»Du fragst nach einem Grund, nach dem Grund. Doch es gibt Hunderte, ja Tausende von Gründen. Es gibt nicht eine direkte Ursache, sondern viele. Und diese vielen Gründe treffen aufeinander, überkreuzen sich und fließen vorwärts, alles im Dienste des großen Ziels. Du stehst genau an der Stelle des Aufeinandertreffens von Tausenden von Gründen und fragst nach einem einzigen.«

»Vielleicht lag es dann ja gar nicht an dem Film selbst.«

»Richtig. Vielleicht hat die Zeit nach etwas anderem verlangt. Vielleicht floß gerade alles in eine andere Richtung, als dein Film herauskam.«

»War das so, Guru-ji? War das so?« Diese Vermischung verschiedener Geschwindigkeiten überstieg mein Fassungsvermögen - ich hatte das Gefühl, wenn ich diese Vorstellung in den Kopf zu kriegen versuchte, würde er bersten wie eine zu vollgepackte Papiertüte. Doch Guru-ji mußte mir das erklären können. Er konnte das große Ganze sehen, und ich wollte, daß er mir ein gewisses Vertrauen in dieses Fließen vermittelte, das mich derart beutelte. »Bitte, Guru-ji. Sagen Sie es mir.«

»Ja, Ganesh. Es gab viele Gründe, die mit dem Film selbst nichts zu tun hatten. Du hast die Wahrheit gesagt, aber im Moment ziehen die Leute den Trost junger Liebe vor. Irgendwann werden sie deine Wahrheit erkennen, bloß noch nicht jetzt. Aber warum machst du dir nur Gedanken über die Gründe, Ganesh? Es gibt auch viele Ziele. Ein Publikum ins Kino zu locken und Geld zu verdienen, das sind nur kurzfristige Ziele. Dein Film wird in fernerer Zukunft sein Dharma finden, und zwar in dem Zusammenspiel von Folgen, die sich aus seiner Veröffentlichung ergeben. Du warst erfolgreich, du weißt es bloß noch nicht.«

Ich konnte das Ineinandergreifen von Handlung, Ziel und Wirkung, von dem er sprach, zumindest als vagen Schemen erkennen. Er war Guru-ji, er sah die große Geschichte, die soviel umfassender war als meine kleine Geschichte, er hatte die Beschränkungen hinter sich gelassen, die mir auferlegt waren und innerhalb deren Manu Tewari schrieb. Wir glaubten, daß ein Held sein Ziel und seine Feinde im ersten Akt erkannte und sein Weg daher in einem hübschen Bogen zum Höhepunkt und zum Sieg führte. Wir glaubten, daß der Held, weil er furchtlos und stark war, im achtzehnten Akt seine Belohnung erhalten würde. Doch mit einemmal begriff ich, daß uns Ursache und Wirkung unseres Tuns stets verschlössen bleiben. Nur die Erleuchteten kennen die ganze Geschichte. Nur Guru-ji konnte das Gefängnis der Zeit niederreißen und direkt in das flammende Chaos der Schöpfung blicken. »Es tut gut, das zu hören, Guru-ji«, sagte ich. »Ich hatte das Gefühl, gescheitert zu sein.«

»Du bist nicht gescheitert«, sagte er. »Sei zuversichtlich, und tu deine Arbeit.«

Ich versuchte es. Ich meditierte, machte meine Übungen und vergrub mich in meiner Arbeit, an der kein Mangel herrschte. Ich führte drei Operationen für Kulkarni durch und fand natürlich Mittel und Wege, im Rahmen des damit einhergehenden maßvollen Blutvergießens auch einige meiner persönlichen Feinde zu beseitigen. Das war erfreulich. Doch ich war nicht richtig bei der Sache. Ich besaß genügend Selbstdisziplin, um meine Routine aufrechtzuerhalten, aber ich hatte keine Freude daran. Zoya hingegen, die mich jeden Tag anrief, berichtete mir überschwenglich von ihren schauspielerischen Triumphen auf diversen Sets. Sie war für sechs Filme als Hauptdarstellerin verpflichtet worden, für drei davon, nachdem man International Dbamaka zum Flop erklärt hatte. Sie war die einzige von uns, die unbeschadet aus dem Debakel hervorgegangen war. Ja, sie war stärker und schöner denn je und war alle halbe Stunde im Fernsehen zu sehen. Filmindustrie und Öffentlichkeit waren irgendwie zu dem Schluß gekommen, daß sie für das schlappe Dhamaka unseres Films nicht verantwortlich war, und so reihte sie einen Erfolg an den anderen. Unterdessen schrumpften meine anderthalb Zentimeter Zuwachs wieder auf einen Dreiviertelzentimeter zusammen, und selbst diese geringe Zunahme hing davon ab, wie ich das Lineal an meinen Lauda anlegte. Manchmal ertappte ich mich tief in der Nacht bei dem Gedanken, daß ich mir mein Wachstum, den Erfolg von Dr. Rehmes' wissenschaftlicher Methode, womöglich nur eingebildet hatte. Und dann lockte der Abgrund der Verzweiflung. Doch ich hielt stand. Ich dachte an Guru-ji und machte weiter. Aber ich war bedrückt. Manchmal erwachte ich frühmorgens, klappte meinen schwarzen Ordner auf und ging die Rezensionen durch. Die Hindi- und Gujarati-Zeitungen hatten sich noch am ehesten für International Dhamaka erwärmen können, und auch bei den Punjabi-Magazinen sah es nicht übel aus. In der Dainik Samachar war die Musik gelobt worden, und es hieß: »Ein so vielversprechendes Debüt wie das von Zoya Mirza hat es seit Jahren nicht gegeben.« Doch die englischsprachigen Zeitungen und Magazine hatten uns ausnahmslos niedergemacht. Times of India, Indian Express, Outlook - Drecksäcke allesamt. Ich hatte auch die Verrisse aufgehoben und fühlte mich manchmal genötigt, sie zu lesen, selbst die snobistischen englischen. »International Dhamaka ist zu laut, zu lang und zu geistlos, um irgendeine Art von Dhamaka darzustellen«, schrieb die Rezensentin von India Today. Kutiya, Randi. »All die internationalen Einlagen und der hohle Patriotismus erzeugen bloß gähnende Langeweile.« Das war Outlook. Drecksäcke.

Es gab einen Kritiker, der mich peinigte wie ein Insekt, das sich unter die Haut gebohrt hat, wie ein Aschepartikel in meinen blutunterlaufenen Augen. Er hieß Ranjan Chatterjee und schrieb seit zweiunddreißig Jahren eine wöchentliche Filmbesprechung für den National Observer. In den Zeitschriften wurde er immer als der »altgediente Filmkritiker Ranjan Chatterjee« bezeichnet, und wir bekamen seine geballte Wut und Frustration zu spüren. »Man ist ratlos angesichts dieser arroganten Schludrigkeit«, schrieb er. »Ja, man verzagt.« Ich mußte mir von Manu Tewari erklären lassen, was dieses »man« zu bedeuten hatte, warum Ranjan Chatterjee dieses unpersönliche Pronomen einsetzte. »Vergessen Sie diesen Maderchod, Bhai«, sagte Manu Tewari. »Das ist ein verbitterter alter Knacker, den keiner mehr liest.«

Außer mir. Ich las die komplette Rezension, und Monate später las ich sie noch einmal. Und dann noch einmal. »International Dhamaka ist noch unglaubhafter als der übliche Bollywood-Film«, schrieb er. »Es ist eine Aneinanderreihung abgegriffener Klischees. Diese Bhais leben in völlig unrealistischem Luxus und fliegen mit einer Selbstverständlichkeit um die Welt, als nähmen sie den Morgenzug nach Nashik. Sie sind gewiefter als James Bond und glatter als Casanova. Man hat die Hoffnung längst aufgegeben, daß das kommerzielle Kino irgend etwas mit Realismus zu tun haben könnte. Aber angesichts des falschen Glanzes von International Dhamaka fragt man sich, ob die Filmemacher jemals einem echten Gangster begegnet sind.«

Ich ertappte mich dabei, wie ich während Besprechungen an diesen Ranjan Chatterjee dachte, und wenn ich mich morgens aus unruhigem Schlaf hochquälte, ging mir immerzu dieses »man« durch den Kopf. Ich mußte etwas unternehmen. Also gab ich meine Anweisungen. Der runzlige alte Chutiya wohnte in Bandra East, in einem staatlich finanzierten Wohnblock für Journalisten und Schriftsteller. Am Abend des Tages, an dem ich meine Anweisungen erteilt hatte - es war ein Freitag -, kam Ranjan Chatterjee von einer Filmpremiere mit anschließendem Essen, das die Produzenten in der Hoffnung spendiert hatten, ihn auf diese Weise friedlich stimmen zu können. Er ging mit flottem Schritt von der Garage zum Aufzug. Der Mistkerl konnte es bestimmt kaum erwarten, in seine Wohnung zurückzukehren und eine stachelige kleine Girlande gemeiner Schmähungen zu winden, um das gesamte hundertfünfzigköpfige Filmteam am Sonntagmorgen mit seinen Beleidigungen niederzumachen. Er hatte den entsprechenden beschwingten Gang, der alte Sack. Doch er sollte nicht zu seiner Schreibmaschine gelangen: Bunty und vier weitere Jungs erwarteten ihn an der Ecke des Gebäudes. Sie packten ihn unter den Armen und schleiften ihn ans Ende des Grundstücks. Er stieß kleine, panische Quiekser aus. Sie stellten ihn an die Mauer, und dann brachen sie ihm beide Beine. Sie hatten eine Brechstange von der Sorte dabei, mit der Straßenarbeiter Stücke aus der Asphaltdecke herausbrechen. Als der erste Schlag knackend auf seinem rechten Oberschenkel landete, sackte Ranjan Chatterjee zusammen und begann zu schreien. In den Fenstern auf dieser Seite des Gebäudes ging Licht an, und die Chowkidars kamen um die Ecke gerannt, blieben jedoch wie angewurzelt stehen, als sie in eine Pistolenmündung schauten. Nach einem zweiten Schlag auf sein anderes Bein schrie Ranjan Chatterjee noch mehr, laut genug, um sämtliche Hausbewohner aufzuwecken. Bunty wartete darauf, daß er aufhörte.

Schließlich ging das Geschrei in ein sabberndes Schluchzen über, und Bunty gab ihm einen leichten Klaps auf die Wange. »Hallo«, sagte Bunty. »Are, hör mir mal zu. Hör gut zu.«

Ranjan Chatterjee hob den Kopf und begann sich zu übergeben. Bunty zuckte angewidert zurück, dann packte er den Dreckskerl an den Haaren und zog seinen Kopf hoch. »Tut es weh?« fragte Bunty. »Sag schon, tut es weh?«

Ranjan Chatterjee blinzelte mit seinen von Tränen erfüllten aufgerissenen Augen und machte schließlich Bunty aus. Er fing an zu wimmern, ein leises Geräusch wie von einem kleinen Kätzchen. »Ja«, sagte er. »Ah, ah, ah. Es tut weh.«

»Gut«, sagte Bunty. »Jetzt weißt du, daß diese Situation realistisch ist. Und daß du einem echten Bhai begegnet bist.«

Er stieß Ranjan Chatterjees Kopf nach unten und ging weg. Er und die Jungs stiegen in ihr wartendes Auto und fuhren davon, ganz unspektakulär und unbehelligt. Im Auto sangen sie alle zusammen die Titelmelodie von International Dhamaka: »Rehne do, yaaron, main door ja raha hoon.«532 Ich weiß das alles, weil einer der Jungs das Ganze mit einer kleinen Canon-Digitalkamera mit Spotlight gefilmt hatte. Es war erstaunlich, wie differenziert die Aufnahme war, obwohl es nur diese eine, grelle Lichtquelle gegeben hatte, und die Auflösung war besser, als ich sie je auf einem Video gesehen hatte. Ich sah den Rotz aus Ranjan Chatterjees Nasenlöchern laufen, sah seine winzigen Pupillen. Ich erhielt das Band am folgenden Nachmittag, es wurde mir persönlich über Bangkok nach Phuket gebracht. Ich schaute es mir am ersten Abend vierzehnmal an, nahm dann ein chinesisches Mädchen, und nachts schlief ich tief und fest und lang. Ich war entspannt, denn ich hatte mich von Ranjan Chatterjee befreit. Vielleicht gab es im Leben wirklich eine höhere Ordnung, die nur die Erleuchteten sehen konnten. Vielleicht waren die Geschichten, die wir normalen Sterblichen erzählten, nur kleine Lügen, bequeme Erklärungen für Dinge, die wir nicht verstanden. Trotzdem: Ranjan Chatterjee die Beine brechen zu lassen gab mir ein Gefühl der Abrundung, wie Manu Tewari es genannt hätte. Ich hatte es getan und fühlte mich dadurch besser, die Geschichte war abgeschlossen. Ich konnte International Dhamaka hinter mir lassen und mein Leben weiterleben.

Ich sank in den Schlaf wie ein Tiefseetaucher, der eine ruhige Wasserschicht in der sturmgepeitschten See sucht. Nacht für Nacht schlief ich lang, wachte auf, schlief wieder ein. Drei Monate waren vergangen, und ich hatte meine Arbeits- und Trainingsroutine wiederaufgenommen. Ich verdiente Geld, besprach geheimdienstliche Aktionen und Strategien mit Kulkarni, unterhielt mich mit Guru-ji und Jojo, flog zweimal nach Singapur, um mich mit Zoya zu treffen. Und ich schlief und schlief. Ich stellte fest, daß ich nachts neun Stunden Schlaf brauchte statt der bisherigen sechs, und tagsüber legte ich mich zusätzlich mehrmals aufs Ohr. Ich machte es mir auf dem Sofa bequem, zog mich nach dem Mittagessen in mein Schlafzimmer zurück. Einmal legte ich mich sogar beim Surfen im Internet zwischendurch ein Viertelstündchen unter den Schreibtisch. Ich brauchte den Schlaf einfach.

Jojo behauptete, ich sei depressiv, und Guru-ji meinte, ich sei einfach ausgelaugt von dem zusätzlichen Streß der anderthalbjährigen Dreharbeiten. Ob es nun Verzweiflung oder Beklemmung oder etwas völlig anderes war, ich schlief.

An einem Septemberabend - wir ankerten vor Ko Samui -schlief ich auf Deck in meinem am Bug stehenden Sessel ein. Ich hatte Spreadsheets durchgesehen, und plötzlich war ich eingeschlafen. Ich wußte im Schlaf, daß ich schlief. Ich wußte, daß ich auf der Lucky Chance war, auf ruhiger See da-hintrieb, daß der Himmel langsam von der Dunkelheit verschluckt wurde. Ich schlief, doch es war kein erholsamer Schlaf. Ich brauchte Erholung, fand aber keine.

Dann weckte mich Arvind mit ein paar Stupsern. »Bhai«, sagte er. »Kommen Sie. Das müssen Sie sich anschauen.«

»Was denn?«

»Im Fernsehen, Bhai. Es ist unglaublich.«

»Gaandu, du weckst mich wegen einer dämlichen Fernsehsendung? Wieviel Uhr ist es?«

Er war schon wieder weggestürmt - Arvind, der ewig Respektvolle. Da mußte wirklich etwas Unglaubliches im Fernsehen laufen. »Kurz vor acht«, antwortete er, während er auf die Tür der Hauptkajüte zurannte. Ich raffte mich hoch und folgte ihm, taumelnd und leicht schwindlig, wie aus der Zeit gefallen. Der Abend erschien mir völlig irreal, obwohl ich das Holz unter meiner Hand spürte.

Im Fernsehen brannte ein Gebäude. Man sah eine Skyline, und eins der Gebäude brannte. Ich setzte mich. »Was ist das?« wollte ich wissen.

»New York, Bhai«, sagte Arvind. Er hockte vorgebeugt auf der Stuhlkante. Auch die anderen drängten sich in der Kajüte. Eine aufgeregte Stimme kommentierte die Bilder auf Thai.

»Ein Film?«

»Nein, Bhai. Das ist echt. Ein Flugzeug ist in das Gebäude geflogen.«

Ich fand, daß es aussah wie ein Film. Einer dieser großen amerikanischen Katastrophen-Abenteuer-Terrorismus-Streifen. »Ein Unfall?« fragte ich. Arvind hob die Hände, er wußte es nicht. »Schalt auf einen englischsprachigen Sender um«, sagte ich. Mir summte das Blut in den Adern.

Auf jedem Kanal, den wir fanden, wurden dieselben Bilder gezeigt, der qualmende Turm und sein Zwilling. Schließlich fanden wir einen Kanal aus Hongkong, der eine Satellitenübertragung von Fox sendete. »Der Nordturm brennt immer noch«, sagte der Reporter. Rauchwolken quollen seitlich aus dem Gebäude. Dann kam von rechts etwas Schmales, Silbernes ins Bild geflogen. Ich sprang auf, atemlos. Das Flugzeug verschwand hinter dem brennenden Wolkenkratzer, und dann schoß eine spitze Flamme aus dem anderen Turm empor. Alles völlig lautlos.

Wir schwiegen alle. Ich wußte plötzlich, was wir da sahen. Ich wußte es einfach. »Das ist kein Unfall«, sagte ich. »Das ist Terror.«

Ich saß bis drei Uhr morgens vor dem Fernseher. Ich ließ mir etwas zu essen bringen, und wenn ich aufs Klo ging, machte ich die Tür nicht zu, und die Jungs mußten die Lautstärke hochdrehen. Ich sah fern, bis ich die Augen nicht mehr offenhalten konnte. Dann befahl ich den Jungs, in Schichten wach zu bleiben und mir Bescheid zu sagen, wenn ein weiterer Anschlag erfolgte oder irgend etwas Neues bekannt geworden war.

Die Einsamkeit in meiner Kajüte war unerträglich. Das Wasser klatschte an die Bootswand, ich riß mir die Kleider vom Leib und versuchte ruhig zu atmen. Warum war ich so aufgewühlt? Wahrscheinlich waren sehr viele Menschen ums Leben gekommen, aber es starben ständig Menschen. Was trieb mich in diese panische Aufregung? Die Jungs und ich waren zu dem Schluß gekommen, daß dieser Anschlag von Muslims ausgeführt worden war, vielleicht von Arabern. Na und? Es war eine Eskalation, sicher, und Amerika würde mit seiner gewaltigen Kraft zurückschlagen und sich weitere Feinde machen, aber das war nichts Neues. Ich fand keine Antwort, und ich mußte schlafen. Ich zwang mich zu duschen, dann schluckte ich eine Tablette und legte mich hin.

Ich döste ein ums andere Mal ein, fiel in einen leichten, von Qualm und Staub erfüllten Schlaf, aus dem ich keuchend erwachte. Wieder und wieder sah ich die gerade Linie, die das Flugzeug beschrieb, als es auf die elegante Senkrechte des Gebäudes zuhielt. Ich drehte mich auf die Seite, versuchte an meine Arbeit, an Frauen zu denken, doch diese geometrische Figur ging mir nicht aus dem Sinn. Ja, das war Terror.

Ich setzte mich auf. Wo war Guru-ji jetzt? Irgendwo in Europa. In Prag. Ich konnte ihn anrufen. Ich griff nach meinem Handy.

Er ging sofort ran. »Ganesh? Ist alles in Ordnung?«

»Guru-ji, haben Sie heute Fernsehen geschaut?«

»Ja.«

»Das war doch furchtbar.«

»Ja.«

»Also, diese verdammten Amerikaner tun ja so, als gehörte ihnen die ganze Welt, und früher oder später mußte irgend jemand zuschlagen. Aber trotzdem, das heute ...«

»Ja, Ganesh?«

Was ich ihn fragen wollte, schwirrte mir in tausend Bruchstücken durch den Kopf. Ich knetete an meinem Kinn herum, rieb mir die Augen, versuchte die Fäden zusammenzuführen. »Sie haben doch gesagt, die Welt sei schön.«

»Ja.«

»Sie hat irgendwann angefangen.«

»Ja.«

»Und das bedeutet ... daß sie irgendwann auch enden wird.«

»Das muß sie. Bevor sie wieder neu geboren werden kann.«

Die Spannungen und Konflikte auf dieser Welt würden sich also steigern, einen perfekten Bogen beschreiben, schließlich in einer gewaltigen Explosion kulminieren und dann - nichts. Ich hatte schon früher vom Weltuntergang reden hören, hatte Filme über die verschiedensten Katastrophen gesehen, aber das alles war mir nie realistisch erschienen. Doch jetzt war dieses Ende bei mir angekommen, es saß in meiner Magengrube, hart und schwer wie ein Diamant. Es war real. »Es wird so kommen«, sagte ich.

»Es ist unvermeidlich. Deshalb ist auch in all den großen religiösen Traditionen vom sicheren Untergang die Rede. Pralay, Qayamat, Apokalypse. Aber hab keine Angst, Ganesh. Die Angst wurzelt in dem kleinen Ego, in dem du gefangen bist. Doch du bist unendlich viel größer. Und aus der größeren Perspektive gesehen, gibt es keinen Grund, Angst zu haben.«

Ich wußte, daß er es gut meinte, doch seine Worte trösteten mich nicht. Gut, theoretisch konnte ich mir vielleicht vorstellen, ein fernes, leidenschaftsloses Auge zu sein, das hoch über dem Boden schwebte, auf dem ich ging, und alles erfaßte - mit Wohlgefallen -, was jenseits meiner körperlichen Wahrnehmung lag, jenseits des Horizonts. Doch in diesen Zustand hineinfühlen konnte ich mich nicht. Nein. Ich verabschiedete mich von Guru-ji, legte mich wieder hin und stellte mir dieses große Zusammenspiel voneinander abprallender und dabei stets vorwärts strebender Ereignisse vor, vorwärts strebend zu Feuer und Wasser und schließlich zur Vernichtung. Ich hatte einen trockenen Mund, stützte mich auf den Ellenbogen, griff nach meinem Wasser. Als ich das Glas wieder auf den goldenen Untersetzer stellte, ertönte ein leises Klirren, das in meinem Kopf zum Dröhnen wurde. Meine Hände zitterten. Alle Bewegungen flössen ineinander, jede Handlung trieb die nächste an, eine leichte Kräuselung wurde zur Welle und dann zum reißenden Strom, der über den unvermeidlichen Abgrund schoß. Vielleicht hatte uns ja sogar dieses leise Klirren einen kleinen Schritt näher zum Donner des Jüngsten Tags geführt. Ein Geräusch explodierte in meinem Innern, vielleicht mein Puls, vielleicht der Widerhall von etwas anderem, das Anfang und Ende in sich barg, Geburt und Leben und den allvernichtenden Tod.