Exkurs:
Fünf Fragmente, über die Zeit verstreut

I

Suryakant Trivedi trinkt in einem Café in der Nähe des Britischen Museums einen Cappuccino. Er ist inzwischen schon fast zwei Jahre in England, und dies ist die einzige Untugend des Vilayat, die er übernommen hat. Sonst hat er keiner einzigen Versuchung, keinem Druck nachgegeben. Er kleidet sich genau wie in Meerut, trägt lange gestärkte Kurtas und nüchterne Pyjamas. Nur im Winter gesteht er sich manchmal Thermounterwäsche zu, die ihm sein in St. Louis lebender Sohn aus Amerika schickt. Sein ältester Sohn, bei dem er hier in Hounslow wohnt, sorgt sich, weil er in solch unübersehbar fremdländischer Kleidung mit der U-Bahn fährt, aber Trivedi weiß, daß er durch ein modisches Jackett nicht weniger indisch aussähe. Und falls ihn irgendwelche Rowdys überfallen sollten - er hat keine Angst vor Verletzungen oder dem Tod. Guru-ji hat ihn gebeten, für eine Weile in London zu leben, um dort zu tun, was getan werden muß, und Trivedi verdankt Guru-ji alles. Selbst jetzt, während er zusieht, wie die Touristen in der hellen Maisonne vorübergehen, spürt er Guru-jis Gegenwart. Diese ständige Unterstützung ist mehr als beruhigend, sie ist das Fundament, auf dem er sein ganzes Leben aufgebaut hat. Nur wer selbst einen solchen Guru hat, kann verstehen, daß dieser nicht nur Lehrer, sondern zugleich auch Vater und Mutter und Freund ist und daß schon allein der Gedanke an ihn Hindernisse aus dem Weg räumt und Furcht bezwingt. Doch im Moment kann von Furcht keine Rede sein, der Cappuccino ist sehr heiß, so wie Trivedi ihn mag, und der Milchschaum mit dem darübergesprenkelten Mokka ist köstlich. Er hält den Schaum einen Moment lang genüßlich auf der Zungenspitze, dann läßt er ihn nach hinten gleiten. Trivedi fühlt sich faul und zufrieden und gestattet sich, an seine Frau zu denken, die 1987 an kongestivem Herzversagen gestorben ist, die ihm viele Kinder geschenkt hat und dann plötzlich von ihm gegangen ist. Mit Guru-jis Hilfe gelang es ihm damals, über die Illusion des Todes hinauszublicken, durch den Schleier des Schmerzes, der sich über ihn senkte, hindurchzusehen, und jetzt kann er an sie denken, ohne etwas anderes als Zuneigung und Freude zu empfinden.

Suryakant Trivedi ist also geistesabwesend und etwas unaufmerksam, als Milind hereinkommt. Milind ist zweiundzwanzig, ein gutaussehender, großer Bursche mit offenem Gesicht. Er begrüßt Trivedi überschwenglich und stellt eine unförmige Sporttasche zwischen sie auf den Boden.

»Alles friedlich?« fragt Trivedi.

»Ja, Sir. Keinerlei Probleme.« Milind ist in London geboren und war nur fünfmal in Indien, nie länger als zwei Monate. Doch er spricht ein orthodoxes, makelloses Hindi. Er stammt aus einer alten Jana-Sanghi-Familie, sein Großvater war ein bedeutender Sanskrit-Professor an der Benares Hindu University. In einem gebildeten und frommen Umfeld aufgewachsen, ist er überzeugter Patriot. Trivedi kennt er als einen der Führer der kleinen, aber fanatischen Partei Akhand Bharat, und er glaubt, Trivedi sei in London, um die Organisation auszubauen und die Botschaft zu verbreiten. Er ist nur zu gern bereit, die geheimen Aufträge auszuführen, die Trivedi ihm erteilt. Er findet es richtig spannend, eine Tasche beim Fundbüro in der King's Cross Station abzuholen, sie umgehend zu Trivedi zu bringen und dabei stets vorsichtig und wachsam zu sein.

Trivedi erkennt das alles, und deshalb erfindet er sorgsam austarierte Gefahren, vor denen sich Milind etwas fürchten muß, und aufregende Geschichten. Er erzählt Milind, die Tasche enthalte militärische Dokumente aus einem gewissen östlichen Land, die er an seine Kontaktpersonen bei der heimischen Regierung weiterleiten werde. Trivedi bezahlt Milind in guten englischen Pfund für seine Mühen, und bisweilen schenkt er ihm etwas, eine Uhr, einen mäßig teuren Kugelschreiber. »Trink einen Kaffee«, sagt er jetzt. »Er ist köstlich.«

Milind trinkt statt dessen eine Cola und dann noch eine. Da ihm eingeschärft worden ist, nie von ihrer Arbeit zu sprechen, während er sie ausführt, redet er über die englische Politik. Trivedi verfolgt die Wahlen in England nicht, deshalb hat er nur eine äußerst vage Vorstellung, wovon der Junge redet, doch er nickt, wirft gelegentlich etwas ein und wartet, bis sich Milind die Aufregung von der Seele geredet hat. Er trinkt einen weiteren Cappuccino und freut sich an der Ironie des Coups, den er - nicht zum ersten Mal - für Guru-ji gelandet hat. Die Sporttasche enthält Geld, zehn Lakhs in Fünfhundert-Rupien-Scheinen. Und der Herkunftsort der druckfrischen Banknoten macht diesen Triumph besonders pikant. Trivedi hat drei Sicherungen zwischen sich und der Quelle eingebaut. Da ist Milind, dann ein weiterer Botenjunge namens Amir und schließlich noch eine geheime muslimische Extremistengruppe namens Hizbuddin. Diese Gruppe ins Leben zu rufen war Guru-jis Idee. Doch der Name stammt von Trivedi. Sein Urdu ist ziemlich gut, und er kam schnell darauf: Hizbuddin, die Armee des Letzten Tages. Guru-ji gefiel der Name sofort, und er hat Trivedi für sein schnelles, präzises Denken gelobt. Es ist genau die Art Name, den eine solche Organisation sich geben würde. Eine erfundene extremistische Islamistengruppe ist für Guru-jis Zukunftspläne unverzichtbar. Doch über die Hizbuddin Geld anzunehmen war wiederum Trivedis Idee. Schließlich ist es eines der Hauptziele einer solchen Organisation, Geld aufzutreiben. Die Hizbuddin sammelte also Geld für ihre Aktivitäten, und als durchsickerte, daß auch die Pakistanis gern etwas beisteuern wollten, war die Ironie dieser Tatsache die bei weitem größte Belohnung für all die Arbeit, die Trivedi im Laufe der Jahre geleistet hatte. In der pakistanischen Botschaft in London gibt es einen Mann namens Shahid Khan, der als Erster Sekretär geführt wird, aber ganz offensichtlich Nachrichtenoffizier ist. Vor acht Monaten hat dieser Shahid Khan einen Kontakt zur Hizbuddin hergestellt, und seither pflegt er diese Beziehung, bietet der Gruppe Ausbildungsmöglichkeiten, Ressourcen, Geld. Anfang der Woche haben die Pakistanis nun Geld an die Hizbuddin gezahlt, von wo aus es zu Amir gelangte, der es wiederum für Milind deponierte, und jetzt hat Trivedi es. Er wird einen Teil davon an Kalki Sena weiterleiten, denn die Gruppe braucht viel Geld, um Waffen zu kaufen, Leute zu rekrutieren und Materialreserven anzulegen. Um auf den Letzten Tag vorbereitet zu sein. Trivedi betrachtet Kalki Sena als den bewaffneten Arm von Akhand Bharat, und es gefällt ihm, daß die Gruppe klein, agil und gut ausgerüstet ist. Manchmal kann er trotz seines Alters nicht umhin, sich als einen modernen Shiva-ji oder Rana Pratap anzusehen. Trivedi trinkt noch einen Schluck Cappuccino. Wirklich, absolut köstlich.

»Wann treffen wir uns das nächste Mal, Trivedi-ji?« fragt Milind.

Das ist immer Milinds erste Frage, wenn die Anspannung des aktuellen Auftrags nachgelassen hat. Trivedi gibt darauf immer die gleiche Antwort: »Ich weiß es noch nicht. Ich werde mich melden.« Der Junge ist nützlich, aber irgendwie nervig. Wenn Trivedi die Wahl hätte, würde er lieber jemand Ruhigeren, vielleicht auch Intelligenteren einsetzen, aber man muß mit dem arbeiten, was verfügbar ist. Er schickt Milind weg, bezahlt und hängt sich die Sporttasche über die Schulter. Sie ist von einer befriedigenden Schwere. Die Pakistanis sind gute Zahlmeister. Jeden Monat trifft sich ihr Kontaktmann mit einem Vertreter der Hizbuddin und übergibt das Geld. Jeden Monat wird ihr Beitrag zu Trivedi gebracht, der ihn an Guru-jis Leute weiterleitet. Und jeden Monat erlebt er diesen Moment totaler Befriedigung. Sollen die Dreckskerle nur schön für ihre eigene Vernichtung bezahlen, die abschließend und endgültig sein wird.

Trivedi geht am Museum vorbei. Er ist nur ein einziges Mal hineingegangen, war erstaunt und angewidert angesichts der Korridore voll prächtigem Beutegut, das vom britischen Empire auf der ganzen Welt zusammengerafft und in dieses Mausoleum verfrachtet worden war, wo es nun von irgendwelchen Idioten begafft wurde. Ihm wurde übel, als er daran dachte, wie die britische Flagge über Delhi flatterte. Nie wieder, hat er sich damals gesagt, und er gelobt es nun erneut. Trivedi hat das Große Spiel erlernt. Er kennt sich mit Sicherheitsmaßnahmen und Operationen unter falscher Flagge aus, und er hat seinen Ekel unterdrückt und mit Übeltätern, mit Scheusalen zusammengewirkt. Er hat mit Säufern gegessen, Kriminellen die Hand geschüttelt. Er hat unter dem Namen Sharma stundenlang dem unflätigen Ganesh Gaitonde und seinen brutalen Kerlen zugehört, hat vorgegeben, über ihre obszönen Witze zu lachen. Ja, Trivedi hat sich erniedrigt und besudelt. Doch er hat das alles für Guru-ji getan, er hat es für die Zukunft getan. Er tut, was getan werden muß. Jetzt ist er müde, und seine Füße schmerzen, er spürt sein Alter. Wenn er zu Hause ankommt, werden ihm auch die Schultern weh tun. Auf dem letzten Stück von der U-Bahn nach Hause, wenn der Himmel in der Dämmerung ein sehr fremdes Blaugrau annimmt und die Verantwortung, die auf seinen Schultern lastet, noch etwas schwerer wiegt als sonst, wird er sich ein wenig fürchten, aber er wird flüsternd mit Guru-ji sprechen und weitergehen. Er ist zuversichtlich. Er richtet seine Gedanken auf die Gegenwart, auf seinen flotten Schritt, den er praktiziert, seit er vor fast dreißig Jahren Guru-ji kennengelernt hat. Er kommt an einer englischen Familie vorbei und lächelt den kleinen Jungen an, der zwischen seinen Eltern geht und ihre Hände hält. Die pure Unschuld von Kindern zu sehen tut gut, sie ist ihm stets ein Quell der Hoffnung gewesen. Trivedi denkt an das Geld, denkt an das, was kommen wird, und ist glücklich.

II

Ram Pari schrubbt einen Topf. Sie hockt im Hof von Bibi-jis Haus vor der Handpumpe und scheuert den geschwärzten Topf mit Asche. Sie mag das Gefühl, wie ihre Handfläche über die Rundung des Topfes gleitet, aber in ihren Schultern meldet sich der stechende Schmerz, der sie bis zum Ende des Tages, bis zum Einschlafen begleiten wird. Sie wird langsam zu alt für diese Arbeit, aber was könnte sie sonst schon tun? Ihre Nase juckt, und sie kratzt sich, wenig erfolgreich, mit der Rückseite ihres Unterarms. Sie beobachtet Navneet, Bibi-jis Tochter, die im Baithak048 auf dem Bauch liegt und einen Brief schreibt. Das Mädchen ist verträumt wie immer und schon seit einer Stunde mit dieser einen Seite beschäftigt. Ram Pari weiß, daß sie einen Brief an ihren Verlobten schreibt. Ram Pari hält dieses Verhalten für schamlos und die Eltern des Mädchens für Dummköpfe. Solche Laxheit kann nur im Verderben enden. Ram Pari erinnert sich an manch einen Skandal bei arm und reich, der das belegen könnte. Doch es ist sinnlos, Bibi-ji irgend etwas zu sagen, denn sie ist eine dickköpfige, stolze Frau und duldet von Menschen, die sie für geringer erachtet, keine Kritik. Außerdem gibt es keinen Grund, warum Ram Pari sich sorgen sollte, es geht sie nichts an, was diese Leute tun. Sie bemerkt, daß sie aufgehört hat zu schrubben, Bibi-ji wird diese Unterbrechung jeden Moment hören, und dann wird sie herauskommen und auf ihr herumhacken, also wendet sie sich wieder dem Topf zu und schrubbt weiter.

Navneet setzt sich auf, gähnt und geht dann durch den Hof. Sie betritt das Zimmer, das sie sich mit ihren zwei Schwestern teilt, und kommt in ihren Ausgeh-Chappals wieder heraus. Bestimmt geht sie wieder in dieses College. Ram Pari weiß nicht, wozu man einem Mädchen soviel Bildung zukommen lassen sollte, aber sie respektiert die Fähigkeit, zu lesen und zu schreiben. Sie kann weder das eine noch das andere und weiß, daß sie zu alt ist, um es noch zu lernen. Und sie weiß, daß Männer, die lesen und schreiben können, im Vorteil sind. Das beweist ihre eigene bittere Erfahrung.

Aber sie möchte nicht über solche Katastrophen und über das Scheitern ihres analphabetischen Mannes nachdenken, also flüstert sie: »Rab mehar kare«507, pumpt Wasser, und das Plätschern erfüllt ihre Ohren.

Navneet steht neben ihr. »Ram Pari«, sagte sie gedankenverloren, »deine älteste Tochter ist sehr hübsch. Wenn sie alt genug ist, solltest du einen gutaussehenden Jungen für sie suchen.«

Ram Pari spürt, wie Ärger in ihr aufsteigt. Diese eitle Kuh mit ihrer weißen Haut glaubt wohl, jeder hätte die Zeit, sich den ganzen Tag im Spiegel anzuschauen und an gutaussehende Lafangas zu denken. »Sie ist schon verheiratet«, erwidert sie knapp.

»Was? Das kleine Ding?«

»So klein ist sie gar nicht mehr. Sie wird bald ins Haus ihrer Schwiegereltern ziehen.«

»Wie alt war sie denn, als sie verheiratet wurde?«

Ram Pari fährt mit der flachen Hand durch die Luft, nicht einmal auf der Höhe der Pumpe. »Das ist bei uns so üblich.«

Navneet schlägt die Hand vor den Mund und setzt sich auf den Hocker neben der Säule, auf dem sich ihr Vater jeden Morgen die Schuhe anzieht. »Und sie hat ihren Mann seither nicht gesehen?«

»Nein. Warum sollte sie?« Kaum hat Ram Pari das gesagt, befürchtet sie, womöglich zu barsch gewesen zu sein. Aber sie weiß nicht, wie sie jetzt zeigen soll, daß sie hinlänglich unterwürfig und fügsam ist, also greift sie nach einem Karhai und hält ihn unter die Pumpe. Sie schöpft eine Handvoll Asche, und während der Karhai unter ihrem Geschrubbe scheppert, wird ihr klar, was Navneet will. Sie dreht sich mit liebenswürdigem Lächeln um und fragt: »Aber du redest andauernd mit ihm, stimmt's?«

»Nein, nein. Ich rede nicht mit ihm, ich schreibe ihm nur ab und zu einen Brief.« Die rosigen Wangen des Mädchens sind einen Hauch dunkler geworden, und sie hat immerhin den Anstand, etwas verlegen dreinzuschauen.

Ram Pari hat ihre Selbstsicherheit wiedergefunden. »Mag sein, aber er schreibt dir ständig, jeden Tag.«

Navneet zuckt schüchtern die Achseln, und Ram Pari spürt - wider Willen - eine Art Verbundenheit mit ihr. Ja, es ist schön, sehr jung zu sein, voller Erwartung und Sehnsucht und mit einer Spur prickelnder Angst, schön, an der Schwelle eines neuen Lebens zu stehen. Sie beschließt, großmütig zu sein. »Sieht er sehr gut aus?«

»Willst du ein Foto von ihm sehen?« Noch ehe Ram Pari ja sagen kann, ist Navneet aufgesprungen und durch den halben Hof gerannt, und Ram Pari registriert - neidlos -die natürliche Anmut in ihrem jugendlichen Laufen. Das Mädchen soll ruhig glücklich sein. Dies ist seine Zeit zum Glücklichsein.

Navneet kommt zurück und hockt sich neben Ram Pari. Sie schlägt ein Notizbuch voll unentzifferbarer Zeichen auf, blättert einmal um, und da ist er, der Mann. Er trägt einen hoch aufragenden Turban und starrt Ram Pari mit lässiger Arroganz an, den Hauch eines Lächelns um die Lippen. Er ist wirklich sehr attraktiv. Das Foto ist koloriert, und das Rot seiner Wangen steht im Kontrast zum strahlenden Weiß seiner Zähne. »Aha«, sagt Ram Pari. »Er sieht aus wie ein Filmheld.«

»Ja, ich sage ihm immer wieder, daß er problemlos Schauspieler werden könnte, wenn er nach Bombay gehen würde. Aber er will sich natürlich nicht den Bart abrasieren, und ich will das natürlich auch nicht. Früher im College hat er Theater gespielt, und viele von seinen Freunden behaupten, er sieht Karan Dewan ähnlich, aber ich finde, er sieht aus wie Ashok Kumar.«

Ram Pari nickt.

Doch Navneet will mehr. »Findest du nicht?«

»Ich kenne Ashok Kumar nicht.«

»Was? Hast du denn Kismet nicht gesehen?«

Ein rauhes Gelächter bricht aus Ram Pari heraus. Ihr ganzer Groll ist wie weggewischt. »Nein, ich habe Kismet nicht gesehen.« Sie empfindet jetzt nur noch Zärtlichkeit für dieses Kind, das glaubt, jeder habe die Zeit und das Geld, sich Kismet anzusehen, und das seine Zukunft auf einer von Romantik und Verheißung glitzernden Leinwand vor sich sieht. Ram Pari spürt im Bauch, in den Lenden den Kummer, der Navneet erwartet, der einfach deshalb kommen wird, weil sie auf soviel hofft. Ram Pari weiß nicht, was für eine Katastrophe sich ereignen wird, aber daß eine kommen wird, weiß sie sicher. Sie sagt, so freundlich sie kann: »Vielleicht werde ich Kismet ja eines Tages mal sehen.«

Navneet ahnt langsam, daß sie etwas gesagt hat, das vielleicht ein bißchen dumm war, und ist verwirrt. Sie stottert herum und errötet erneut. Ram Pari würde ihr jetzt am liebsten die Hand auf den Arm legen, tut es jedoch nicht. Sie weiß, daß jeden Moment Bibi-ji auftauchen kann, die sie anschreien und ihr Trödelei vorwerfen wird. Doch Bibi-jis Gebrüll abschütteln kann sie noch bis in alle Ewigkeit, jetzt aber, in diesem Augenblick, liebt sie Navneet. Sie sagt: »Erzähl mir, worum es in Kismet geht«, und setzt sich bequem hin, um zuzuhören.

III

Rehmat Sani sieht zu, wie hinter der verblassenden Grelle einer Leuchtrakete der Nachthimmel erscheint. Er hockt behaglich und verträumt in einer Mulde, die ihm wohlvertraut ist, da er diese Route seit fast drei Monaten nimmt. Er ist sechzig Meter vom Zaun entfernt, auf der pakistanischen Seite, und hat es nicht eilig. Es sind noch fünf Stunden bis zum Tagesanbruch, und er hat Geduld. Als er das erste Mal die Grenze überquerte, war er noch ein Junge, damals konnte man einfach rüberlaufen, solange man darauf achtete, die Patrouillen und Minenfelder zu umgehen. Die Bestechungsgelder für die Rangers und Grenzposten waren niedriger und die Minen nicht so dicht gestreut, außerdem gab es den Zaun noch nicht. Aber egal. Rehmat Sani kennt in südlicher wie nördlicher Richtung auf hundertfünfzig Kilometern jeden Quadratzentimeter, und die Grenze ist viele tausend Kilometer lang. Selbst wenn der Zaun durchgezogen wäre, käme er rüber. Er hat auf beiden Seiten Geschäftsinteressen und natürlich Familie.

Diesmal hat es sich gelohnt. Statt der üblichen Viertelliterflaschen Rum hat er zwei große Flaschen ausländischen Whisky für seinen Cousin auf der pakistanischen Seite dabeigehabt. Mushtaq hat einen Captain, der den Whisky wollte, und ein Captain kann sehr nützlich sein, also hat Rehmat Sani über Aiyer den Whisky besorgt und ihn über die Grenze gebracht. Aiyer ist klein, dunkel und trägt eine dicke Brille, sieht also nicht gerade wie einer vom Geheimdienst aus, aber dumm ist er nicht. Er weiß, wann er flexibel sein muß. Und so hat Rehmat Sani von dem Captain profitiert, von dem Geld, das er für seinen Cousin, den Havaldar, über die Grenze geschafft hat, und von einer Flasche Rum, die er für seinen eigenen Gewinn geschmuggelt hat. Er hat keine neuen Informationen für Aiyer, aber Aiyer wird warten, bis der Captain aufgebaut werden kann. Aiyer ist noch jung, aber er lernt schnell. Rehmat Sani setzt große Hoffnungen auf ihn.

Rehmat Sani reckt sich, entspannt seine Muskeln. Vielleicht wird er doch langsam zu alt für diesen Job. Er riecht die Feuchtigkeit des tiefen Nullah, den er benutzen wird, um zum Zaun zu gelangen. Wenn er durch diesen sich windenden Graben gekrochen ist, wird er durchnäßt und durchgefroren sein, und nach diesem letzten Stück seiner Route wünscht er sich jedesmal, er hätte Söhne, die schon Geld verdienten. Doch seine erste Frau hat ihm nur vier Töchter geschenkt, und die jüngere Frau ist erst nach drei Jahren schwanger geworden, nachdem er zum Dargah Sharif149 in Ajmer gegangen ist, einen Faden an das Gitter des Grabmals gebunden, geweint und Khwaja Sahib342 um seinen Beistand gebeten hat. Erst dann wurde ihm Khalid geboren. Khalid ist jetzt in der Schule, in der fünften Klasse, und Rehmat Sani gedenkt ihm eine umfassende Bildung zukommen zu lassen. Rehmat Sani kennt die Anforderungen der Zeit, er weiß, daß ein ungebildeter Mann - wie er selbst -nicht weit kommt und keinen Wohlstand erlangt. Aber vier Töchter, zwei verheiratete und zwei, die noch zu Hause sitzen, sind eine ziemliche Belastung. Als Rehmat Sani so alt war wie Khalid, hatte er seinen Vater schon bis nach Lahore begleitet. Er erinnert sich kaum an die Zeit vor dieser ersten Reise, aber er erinnert sich noch an die Dächer von Lahore, die in der Morgensonne leuchteten.

Rehmat Sani schüttelt seine nostalgischen Gefühle ab und macht sich bereit, in den Nullah zu steigen. Es ist wieder dunkel, und der von der Leuchtrakete in seine Augen eingebrannte Fleck ist verschwunden. Er braucht den Kopf nicht nach etwaigen Bedrohungen zu heben. Die laute Stille der Nacht, das gleichmäßige Sirren der Insekten, die Entspanntheit seines Körpers sagen ihm genug. An der Brust spürt er das Plastikpäckchen, das er sich unter sein Banian geschoben hat. Der pakistanische Captain hat mit druckfrischen indischen Banknoten für seinen Whisky bezahlt, was Rehmat Sani entgegenkommt. Zu Hause wird er das Geld aus der Plastikumhüllung nehmen und seiner älteren Frau geben, damit sie es auf die Bank bringt und sein Sparbuch aktualisieren läßt. Er kann die Einträge in seinem Sparbuch nicht lesen, doch er schaut sie sich immer gern an, wenn seine Frau von ihrem halbtägigen Ausflug zur Bank zurückkehrt. Das Gekritzel gibt ihm ein Gefühl der Sicherheit. Jetzt fragt er sich, wo die Pakistanis soviel neues indisches Geld herkriegen. Es ist seltsam, daß die frisch gedruckten Scheine erst in die eine Richtung über die Grenze gehen und dann mit ihm wieder in die andere zurückkommen. Aber das macht sein Leben aus: diese endlos lange Linie auf dem Boden in der einen oder anderen Richtung zu überqueren, über den Zaun oder um ihn herum. Er denkt nicht groß darüber nach, warum sich diese Linie über die Felder zieht, es gibt sie nun einmal, und er lebt davon. Er gähnt und dreht sich um. Es ist an der Zeit. Er wird zwei Stunden brauchen, um den Zaun zu erreichen, und weitere zwei Stunden, um auf der anderen Seite in Sicherheit zu gelangen. Dann wird er aufstehen, sich den Schlamm abklopfen und nach Hause gehen.

IV

Dr. Anaita Kharas hockt auf den Fersen und gibt etwas Vermiculit in einen Topf. Die Erde, den Sand und das Torfmoos hat sie bereits in wohlabgemessenen Mengen hineingegeben, und nun läßt sie die Mischung zwischen ihren Fingern hindurchrieseln und genießt das angenehm rauhe Gefühl. Sie könnte eine Pflanzkelle gebrauchen - ihre Söhne behaupten, sie hätte eher die Hände einer Arbeiterin als einer Ärztin -, aber es beruhigt sie, das Gewicht der Erde in ihren Händen zu spüren, bevor sie morgens zur Arbeit geht. Sie kommt jeden Morgen hierher, auf die Dachterrasse ihres Hauses in Vasant Vihar, und arbeitet in ihrem Garten. Sie zieht Feigenbäume und Zylinderputzer, Bougainvilleen und Kräuter, Michelia champaca und Jasmin. Sie spürt die beißende Dezemberkälte in den Fingerspitzen, aber selbst das tut gut. Sie hat festgestellt, daß sie diese Zeit für sich braucht und daß es eine gute Vorbereitung für ihren Tag voller Patienten und Krankheiten ist, Dill in einem Topf auszusäen. Während sie ihre Pflanzaktion abschließt, denkt sie an K. D. Yadav, der vor drei Tagen gestorben ist. Er war ein guter Patient, schon bevor seine Tumoren ihn stumm und reglos machten. Er ertrug den Verlust seiner körperlichen und geistigen Fähigkeiten mit Würde. Sie hat ihn nur einmal weinen sehen, da stand er am Fenster, und selbst damals nahm er ihre üblichen ärztlichen Ermahnungen mit einem Lächeln entgegen. Er war viel älter als sie und sehr altmodisch mit seinen Namastes und seiner Angewohnheit, aufzustehen, wenn sie den Raum betrat, oder es zumindest zu versuchen, aber er hörte ihr immer aufmerksam zu. Ein- oder zweimal ertappte sie sich dabei, wie sie ihm Dinge erzählte, die nichts mit Medizin, dafür aber um so mehr mit ihrem eigenen Leben zu tun hatten. Er hatte so eine Art, Fragen zu stellen, nachzubohren, ohne daß es einem so vorkam, und man gab ihm Auskunft, ohne es zu bemerken. Tage später sagte er dann: »Ja, ich muß in Kalkutta gewesen sein, als Ihr Vater dort stationiert war«, und man erinnerte sich, ihm erzählt zu haben, daß man mit Elf für ein Jahr in Kalkutta gelebt hatte. Er war ein cleverer Mann, dieser K. D. Yadav, wenn man bedachte, daß er so viele gleichförmige Jahrzehnte lang im Ministerium für Bildung und Familie gearbeitet hatte.

Anaita steht auf, streckt die Beine. Sie umrundet die Dachterrasse einmal und inspiziert ihre Pflanzen. Vor zwei Monaten hat sie einen massiven Mehltaubefall bekämpfen müssen, dem zwei Flammenbäume zum Opfer gefallen sind, und daraufhin beschlossen, künftig besser aufzupassen. So eine Krankheit kommt schnell und erfaßt alles. Aber heute sehen ihre Pflanzen gesund aus. Sie erstrecken sich wie ein buntes Flammenmeer über die Terrasse, und die Kletterpflanzen ranken sich den stockwerkhohen Wassertank hinauf. Es ist ein großes Haus, das zu kaufen oder zu bauen Adi und sie sich heute niemals leisten könnten. Doch in den Sechzigern, als Vasant Vihar noch eine Wildnis jenseits der Wasserscheide war, haben Adis Eltern dort zwei Grundstücke gekauft. Das eine haben sie zwanzig Jahre später wieder verkauft, und auf dem anderen haben sie ein Haus gebaut, so daß Adi, Anaita und ihre Söhne nun in dieser Kolonie des Überflusses leben. Sie können sich also glücklich schätzen, aber die Preise in dieser Wohngegend sind einfach absurd. Die Jungs haben keine Ahnung, wie teuer es ist, das Essen, das sie mögen, auf den Tisch zu bringen, all das Fleisch, das gute Brot, das Gemüse. Sie sind in dem Alter, wo es sehr wichtig ist, mit seinen Freunden gleichzuziehen, und ihre Freunde - viele davon Klassenkameraden an der Modern School - sind die Söhne von Industriellen und Geschäftsleuten. Anaita denkt an ihre lang zurückliegende Jugend mit zehn Rupien Taschengeld pro Woche und sorgt sich wieder einmal um ihre Söhne. Die Leute haben heutzutage einfach zuviel Geld und werfen damit um sich, als bedeute es nichts. Ihre Kinder tragen Sonnenbrillen, die Tausende von Rupien wert sind, und Geburtstagsfeiern kosten mehrere Lakhs. Viele ihrer Nachbarn im E-Block haben drei oder vier Autos in der Einfahrt stehen und manchmal sogar noch ein weiteres vor dem Haus. Daher sind die Jungs manchmal sauer auf Anaita und Adi und halten sie für geizig.

Anaita hat ihre Inspektion beendet, geht in die Mitte der Terrasse und schaut, nicht weit von der Treppe, in den Innenhof hinunter. Adis Vater hatte darauf bestanden, in der Mitte des Hauses einen kleinen unüberdachten Platz frei zu lassen, und kein Gegenargument seiner Frau konnte ihn auch nur ansatzweise überzeugen. »Ich brauche Licht«, hatte der alte Mann gesagt, und als das Haus fertig war, hatte er einen Armsessel in die Galerie neben seinem kostbaren Innenhof gestellt und jeden Morgen dort Zeitung gelesen, im Juni wie im kühlsten Januar. Anaita hatte ihn dafür richtig gemocht. Jetzt sieht sie Adi mit einem Tablett aus der Küche kommen. Er wird jeden Moment nach ihr rufen und dann die Jungs aufwecken. Sie wird hinuntergehen und den Chai trinken, den er gekocht hat, mit ihren Söhnen scherzen und ein paar Eier essen. Adi ist ein guter Mann. Sie haben ihre Auseinandersetzungen gehabt, einige davon so heftig, daß sie sich beide noch wochenlang zerschlagen fühlten, doch sie haben durchgehalten und sind zusammengeblieben. Adi sagt manchmal, sie hätten einander die rauhen Kanten abgeschliffen. Er bringt sie oft zum Lachen, beteiligt sich an dem mühsamen Alltagsgeschäft, die Kinder großzuziehen, und sie sind zufrieden. Sie sollte jetzt hinuntergehen, denn sie fährt gern möglichst früh los, bevor der Verkehr auf den Hauptstraßen ins Stocken gerät, aber sie denkt immer noch an diesen K. D. Yadav.

Warum? Sie ist sich nicht sicher. Sie mochte ihn, aber sie hat auch schon andere Patienten gemocht und verloren. Der Tod ist nichts Neues für sie, sie hat jeden Tag damit zu tun, ist vertraut mit seinem plötzlichen Kommen, den Geräuschen, mit der Reglosigkeit und dem Geruch danach. Sie weiß, daß der Tod auch sie und Adi holen wird, und sie kann sich sogar - fast ungerührt - den Tod ihrer Söhne vorstellen. Warum also bleibt ihr K. D. Yadav im Sinn? Sie streicht über die Blätter eines Königsbasilikum, atmet tief ein und spürt die Kälte schmerzhaft in den Nasenlöchern. Wie schrecklich es doch sein muß, nicht mehr zwischen kalt und warm, innen und außen unterscheiden zu können. Zum Schluß, als K. D. Yadav sich nicht mehr regte, hatte er weder glücklich noch traurig ausgesehen. Hatte er noch erkannt, ob es Tag oder Nacht war, ob er lebte oder tot war? Anaita hatte seiner jungen Freundin oder Kollegin oder was immer sie war, dieser Anjali Mathur, gesagt: »Machen Sie sich keine Gedanken. Er hat keine Schmerzen, er leidet nicht.« Aber jetzt denkt sie darüber nach, wie es sein muß, nicht zu leiden, in einer Art endlosen Leere zu leben, und sie erschauert. Der Arme, denkt sie. Er hat so gern gelesen, und irgendwann müssen Buchstaben und Seite verschmolzen und zu etwas geworden sein, das nichts mehr war. Der arme, arme Mann.

»Anaita!«

Adi steht mit einer Bratpfanne in der Hand im Innenhof. Anaita kichert bei seinem Anblick, denn in diesem schäbigen chinesischen Morgenmantel mit dem klauenkrümmenden Drachen sieht er absolut lächerlich aus, doch er weigert sich standhaft, sich davon zu trennen. »Was machst du denn, Yaar?« fragt er. »Bitte nimm dein Bad, sonst komme ich nachher zu spät.«

»Ich komme schon, Baba, ich komme«, sagt Anaita. Sie sieht sich noch ein letztes Mal in ihrem Garten um, dann geht sie hinunter zu ihrem Leben.

V

Selbst während Major Shahid Khan seinen Sieg auskostet, quält ihn der Gedanke an eine Niederlage. Er stutzt gerade seinen Bart und sieht im Spiegel, daß sich seine Angst weder in seinem Gesicht noch in seinen Augen abzeichnet. Dieses ausdruckslose Gesicht hat er sich antrainiert. Er hat die punjabische reine Haut seiner Ammi, nicht aber ihr lebhaftes Mienenspiel. Seine Frau wundert sich manchmal, daß sich zwei enge Verwandte so unähnlich sein können. Aber Shahid Khan weiß, daß er Ammis Melancholie geerbt hat, ihre gewaltige Wut, ihren plötzlichen, bitteren Sarkasmus. Bloß hat er gelernt, sich zu beherrschen. Er läßt sich nie etwas anmerken, nichts. Trotz all ihrer Traurigkeit lacht Ammi manchmal, bis sie puterrot anläuft und man sich fast ein wenig um sie sorgt, sie aber nicht warnen kann, da man selbst vollauf damit beschäftigt ist, sich zu beherrschen. Ihre Liebe zu Shahid, seinem Bruder und seiner Schwester ist so rückhaltlos und unübersehbar, daß andere Mütter sich darüber lustig machen. Die Opfer, die sie für ihre Kinder gebracht hat, sind legendär. Doch Shahid Khan hat die ganze Emotionalität, die aus seinen Genen emporwirbelt, weggedrückt, hat schon früh - auf den steinigen Wegen seiner Kindheit - gelernt, den Panzer der Ausdruckslosigkeit zu tragen. Diese Fähigkeit hat ihm in seinem Beruf gute Dienste geleistet. Diese Fähigkeit und dazu sein Glaube, der ihm ein felsenfestes Fundament ist und ihm die Kraft gibt, alles zu ertragen.

Doch heute macht er sich Sorgen. Er ist in London, und gestern am späten Abend, kurz bevor er sein Büro in der pakistanischen Botschaft verließ, hat er von einem Tod auf der anderen Seite der Erde erfahren. Ein gewisser Gurcharan Singh Bhola ist in einem Dorf namens Veroke im Distrikt Gurdaspur von der indischen Polizei getötet worden. Gurcharan Singh Bhola war der Kommandant der Khalistan Tiger Force, die im Laufe der vergangenen Jahres von der indischen Polizei erbarmungslos reduziert worden ist. Und jetzt ist Gurcharan Singh Bola tot. Shahid Khan ist ihm einmal begegnet, damals, als er noch Leutnant war und sich in den Dörfern und Feldern des Punjab die ersten Sporen verdiente. Gurcharan Singh Bhola war ein großgewachsener Mann, sehr beeindruckend mit seiner Ringerstatur und dieser glühenden Hingabe an seine Khalistan. Doch da ihm Shahid Khan nur einmal begegnet ist, nämlich als Bhola eines Nachts seinen Vorposten passierte, ist er an diesem Morgen nicht aus Trauer um den Sardar so bedrückt. Er ist im Moment sehr weit vom Punjab entfernt, doch es ist offensichtlich, daß die Inder dabei sind, die Khalistan-Bewegung zu zerschlagen. Sie sind brutal, erbarmungslos. Mit der Unterstützung von Zentralgewalt und Landesregierungen bringen Armee und paramilitärische Organisationen die Revolutionäre einen nach dem anderen zur Strecke. Shahid Khan weiß genau, was es gekostet hat - an Geld, Anstrengung und Menschenleben -, die Bewegung aufzubauen und aufrechtzuerhalten. Jetzt ist sie am Ende. Dieser Rückschlag pocht Shahid Khan in den Venen. Während der Ausbildung hat man ihn gelehrt, Verluste zu akzeptieren. Er glaubt an den großen, endgültigen Sieg, so wie er an den Spiegel glaubt, der vor ihm an der Wand hängt, er ist eine schlichte Tatsache für ihn, doch die mit jedem Verlust einhergehende Demütigung hat Shahid Khan schon immer aufgebracht. Er weiß, daß diese Wut eine Schwäche ist. Sie vernebelt seine Urteilskraft. Er hatte gehofft, daß er mit zunehmendem Alter an Gelassenheit gewinnen würde, aber sein Zorn bleibt. Er versucht sich auf seine Erfolge zu konzentrieren, insbesondere auf die Operation kürzlich in der zusammengebrochenen UdSSR, eine Operation, der er neues Leben einhauchte, nachdem die Inder sie fast abgewürgt hatten. Jahrzehntelang, in der Zeit der innigen Beziehungen zwischen Indien und der UdSSR, ließen die Inder einen Großteil ihrer Banknoten mit hohem Nennwert in der Ukraine drucken. Nach dem Untergang des Sowjetreichs hatte Shahid Khans Organisation Agenten in die Ukraine geschickt, um in der Druckerei, in der die Banknoten hergestellt worden waren, die Lage zu sondieren. Den Agenten war es gelungen, einen Deal auszuhandeln: Gegen eine stattliche, in harter Währung zu bezahlende Summe würden die Ukrainer ihnen die originalen Druckplatten für die indischen Banknoten überlassen. Das wäre ein echter Triumph gewesen, indisches Falschgeld mit den originalen Druckplatten herzustellen. Aber die Inder hatten Wind von der Sache bekommen - die Ukraine war korrupt bis ins Mark -, ihren Anspruch auf die Druckplatten geltend gemacht und sie an sich genommen. Diesem absoluten Debakel hatte Shahid Khan noch eine Art Sieg und ein Mindestmaß an Würde abgerungen. Er war erst nach vollendeter Tatsache auf den Plan getreten und hatte schnell gehandelt: Die Druckplatten waren weg, das schon, aber das Papier war noch da, in riesigen, nur leicht bewachten Lagerhäusern. Shahid Khan machte ein paar Deals, organisierte die Logistik, ließ einen niederen Angestellten der indischen Botschaft von örtlichen Gangstern gefangennehmen und zwei Tage festhalten. Und während die Inder abgelenkt waren, hat er ihr Banknotenpapier stehlen lassen. Jetzt sind die auf diesem Originalpapier gedruckten Geldscheine in ganz Indien in Umlauf, und Shahid Khan weiß, daß er auf dem besten Wege ist, zum Oberstleutnant befördert zu werden. Das ist natürlich etwas, aber selbst sein persönlicher Triumph kann ihn nicht vollständig von dem Scheitern auf nationaler Ebene befreien.

Er reißt sich aus seiner Tagträumerei hoch, legt die Schere weg und dreht den Wasserhahn auf. Er badet zielstrebig, und während er sich abtrocknet, kann er nicht umhin, zum wiederholten Mal zu denken, daß dieses riesige flauschige Stück Stoff ein absurder Luxus ist. Er kann sich derlei Annehmlichkeiten schon seit einer Weile leisten und gönnt sie seiner Familie durchaus, doch er selbst hat eine härtere Schule genossen. Nachdem er gebetet und gegessen hat, bringt er seine Papiere in Ordnung und zahlt ein paar Rechnungen. Es ist Sonntag, und die Frauen des Hauses - seine Mutter, seine Frau und seine Tochter - sind nach East Ham gefahren, um Verwandte zu besuchen. Er ist allein, und jetzt endlich, vorübergehend all seiner Pflichten entledigt, hat er das Gefühl, sich eine Stunde freinehmen zu dürfen. Er geht ins Schlafzimmer und macht die Tür hinter sich zu. Die Haustür ist abgeschlossen, und er weiß, daß ihn niemand stören wird, doch er fühlt sich gezwungen, sicherzustellen, daß er ungestört bleiben wird. Bisher weiß nur seine Frau, was er sich anschickt zu tun.

Er setzt sich in seinen Lieblingssessel gegenüber dem Fenster. Gutes Licht ist essentiell. Er legt sich ein Kissen auf den Schoß, die Wollknäuel rechts neben sich. Und dann beginnt er zu stricken. Den x-ten Schal. Seine Frau spendet sie, meistens an eine Madrassa384 oder ein Waisenhaus in der Heimat. Die Nadeln klappern, Shahid Khans Schultern entspannen sich und sinken herab. Er macht das seit zwei Jahren, seit ihm ein Arzt in Karatschi gesagt hat, er müsse sich unbedingt entspannen, sonst würden ihn seine Geschwüre noch umbringen. »Lernen Sie, mal richtig Urlaub zu machen«, hatte der Arzt gesagt. »Legen Sie sich ein Hobby zu.« Zuerst spielte Shahid Khan Squash. Er hatte das schon immer lernen wollen, und es schien ihm ein gutes Fitneßtraining zu sein. Doch er stellte fest, daß er unbedingt gewinnen wollte. Er nahm Trainerstunden und begann Bücher über die Technik zu lesen. Als er anfing, von Rückspielen zu träumen, gab er das Squashspielen auf. Er wurde in die Ukraine geschickt, und dort begann er mit Schach. Da er sich scheute, gegen einen anderen Menschen zu spielen, investierte er in einen Handheld-Schachcomputer. Die technischen Raffinessen des Geräts begeisterten ihn - wie es aufklappte und mit leisem Klicken zu einem richtigen Schachbrett wurde, die Vertiefungen für die Figuren, die kleinen roten Lichter, mit denen das Gerät anzeigte, welche Figur es wohin ziehen wollte. Während er lernte, das Gerät zu benutzen, ging es ihm gesundheitlich besser. Doch dann steigerte er den Schwierigkeitsgrad, und die Schmerzen flammten wieder auf. Aber die Kriegsmetaphorik dieses Spiels war ohnehin zu offensichtlich, die Läufer und Bauern und das schwarzweiße Schlachtfeld erinnerten ihn zu sehr an das wahre Leben. Er schenkte den Schachcomupter einem Freund und litt eine Weile stumm vor sich hin. Dann versuchte er es mit Reiten, aber nur so lange, bis er an ein widerspenstiges Pferd geriet.

Er rief von Moskau aus den Arzt in Karatschi an und legte fast auf, als er dessen Vorschlag hörte. Es dauerte zwei Monate, bis er sich Wolle kaufte, und noch mal drei Wochen, bis er schließlich anfing. Doch schon beim ersten Mal in seinem Hotelzimmer in Tallinn stellte er fest, daß seine Hände wie von selbst in den Rhythmus fielen. Das straffe Gegeneinander von linken und rechten Maschen leuchtete ihm ein, und er mußte nicht nachdenken. Er mußte nicht schneller oder besser oder auch nur gut stricken. Er stellte einfach etwas her, etwas Rotes, Großes, seltsam Geformtes, und beschloß später, daß es ein Schal war.

Und so sitzt Shahid Khan nun mit Blick in die Mittagssonne da. Seine Augen sind weit offen, und er spürt nur ein leichtes Brennen im Bauch, das er ignoriert. Bald wird es ganz verschwunden sein. Er atmet ein und aus. Das weiße Garn spannt sich über seiner Haut und lockert sich wieder. Die Nadeln klappern aneinander. Die Wolle läuft, formt Masche um Masche. Bald ist sein Kopf, sein Herz mit dem strahlenden Glanz von Allahs Gnade erfüllt. Das Strickwerk wächst, und er ist im Frieden.