Ganesh Gaitonde
gestaltet sich um
In jenem Winter gab ich mir ein neues Gesicht. Ich machte mir schon seit einiger Zeit Sorgen wegen der vielen Fotos von mir in den indischen Zeitungen und Zeitschriften. Im Fernsehen wurden regelmäßig Videoaufnahmen ausgestrahlt, die mich beim Verlassen des Gerichtsgebäudes in Bombay zeigten. Ich war zu leicht wiederzuerkennen, zu bekannt. Am Strand von Ko Samui hatten sich einmal ein paar junge indische Touristen nach mir umgedreht, mich angestarrt und nervös miteinander getuschelt. Ich hatte Indien nicht nur verlassen, um einen weiteren Gefängnisaufenthalt zu vermeiden, sondern auch, um mich meinen vielen Feinden zu entziehen. Also mußte ich mich verändern. Ich hatte gesehen, wie Zoya sich umgestaltet hatte, wußte also, wie sich das machen ließ, was es an Geld und Schmerzen kostete, welche Möglichkeiten es bot. Eine Verwandlung war angesagt.
Und ich wollte diese Verwandlung wirklich, nicht nur aus Sicherheitsgründen. Eine Unzufriedenheit rumorte in meinem Innern, eine permanente Verstimmung. Jeden Morgen schaute ich mich im Spiegel an, doch ich sah nicht den Mann, als den ich mich kannte. Ich kannte mein Gesicht als hager und markant, von den Schrecken und Triumphen meines Lebens gezeichnet. Doch mit fortschreitendem Alter waren meine Wangen schlaff, meine Nase dicker geworden. Mein Kinn sank in einen Fettwulst, meine Augenwinkel hingen nach unten. Dieses Verschwimmen meiner Gesichtszüge war unerträglich. Ich wollte mein Äußeres verändern, damit es dem Innern entsprach.
Natürlich ging ich zu Zoyas Dr. Langston Lee. Ich gab ihm zwei Monate Zeit und einen Haufen Geld und erlitt schlimmere Schmerzen als je zuvor. Er gab mir eine lange, elegante Nase mit scharfem Rücken, neue Wangenknochen, ein schmaleres Kinn, das zu der Nase paßte, und befreite mich von meinen Hängebacken. Er nahm ein paar subtile Veränderungen an meinen Augenbrauen vor und zauberte je ein Grübchen in meine nun straffen Wangen. Ich war ein neuer Mensch. Als ich mich das erste Mal im Spiegel betrachtete, nachdem man mir den Verband abgenommen hatte, hätte ich Dr. Langston Lee, diesen kleinen chinesischen Mistkerl, am liebsten umarmt. Trotz der noch vorhandenen Schwellungen und Nähte erkannte ich, daß er begriffen hatte, was ich werden wollte. Seine Begabung lag nicht nur in seinen Fingerspitzen, sondern auch in seinem Blick und seiner Vorstellungskraft. Er konnte an dem Traum, den man hatte, teilhaben und durch Haut und Fett schneiden, um ihn wahr werden zu lassen. Ich sah völlig anders aus als der Ganesh Gaitonde von vorher. Ich war der Ganesh Gaitonde, der ich sein wollte. Ich war ich selbst.
»Zoya wird Sie bestimmt nicht erkennen, Bhai«, sagte Suhasini, als sie und Arvind mich nachmittags besuchen kamen. »Ich erkenne Sie ja selbst kaum. Dieser Langston Lee ist ein Genie.«
Es bereitete mir Schmerzen zu lächeln, doch ich tat es trotzdem. Mir gefiel die Vorstellung, daß Zoya mich nicht erkennen, daß dieser neue Mann ihr ein Rätsel sein würde. Ich wollte sie verwirrt, nervös, unsicher sehen. Sie drehte gerade zwei Filme in Amerika, einen in Detroit und einen in Houston, und ich hatte ihr nichts von meinen Plänen bezüglich eines neuen Äußeren erzählt. Ich hatte meine kosmetischen Operationen geheimgehalten, vor ihr und allen, die nichts davon zu wissen brauchten. »Dann wollen wir Zoya mal überraschen«, sagte ich.
»Sie wird erschrecken wie eine Kuh, der man einen Stock in den Gaand schiebt, Bhai«, sagte Arvind. »Ohne Ihre Stimme hätte ich nicht gewußt, wer Sie sind.« Er beugte sich über das Fußende des Betts und betrachtete mich genau. »Es ist nicht so, als wäre irgend etwas massiv verändert worden. Aber all die kleinen Veränderungen zusammen haben Sie total verändert.«
Meine Wunden verheilten schnell. Sobald mir Dr. Langston Lee grünes Licht gab, flog ich nach Amerika. Zoya konnte während der Dreharbeiten nicht für längere Zeit weg, und ich wollte sie unbedingt sehen. Oder vielmehr ich wollte, daß sie mich sah. Also flog ich hin. In den USA waren wir nur selten zugange, so daß keine Teams unserer Company dort postiert waren, die sich für mich um die Logistik hätten kümmern können, und auch keine Bodyguards. Ich reiste allein, mit einem makellosen indonesischen Paß, und fühlte mich absolut sicher. Mein neues Aussehen schützte mich. Und neue Kleider hatte ich auch, einen ganzen Koffer voll heller Leinenanzüge und pastellfarbener Baumwollhemden. Arvind hatte Bedenken gehabt, mich allein ziehen zu lassen, aber ich hatte ihm gesagt, ich würde allein sicherer sein, würde ohne Gefolge weniger Aufmerksamkeit erregen. Um so mehr, da es das Muster durchbrach, mit dem meine Feinde rechneten und nach dem sie Ausschau hielten: Ich war seit Jahren immer von meinen Jungs umgeben. Nach mir allein würden sie deshalb nie suchen.
Ich sagte das alles und glaubte es auch. Doch als das Flugzeug in Bangkok startete und ich der Neuen Welt entgegenschwebte, überfiel mich die Panik. Ich war allein. Auf der Lucky Chance konnte ich meine Jungs übers Deck gehen hören, und morgens war ihr Lachen das erste, was ich vernahm. Jetzt, in dieser kleinen First-Class-Luftblase, dieser Kabine, die hoch über der Erde dahinsauste, konnte ich sie nicht erreichen. Sie waren fort. Ich faßte nach meinem Kinn, meiner Nase. Unter meiner schönen neuen Haut war nur ich. Ich hatte das Gefühl, weit weg zu sein, fern von allem und jedem Vertrauten. Ich beruhigte mich, sagte mir, daß dies eine unerwartete, aber ganz natürliche Reaktion auf eine ungewohnte Situation sei, daß mein Körper in seiner neuen Gestalt noch nervös sei. Ich bat um Wasser und schloß die Augen. Der Schweiß perlte mir vom Nacken, und ich wußte, daß ich auffiel. Aber ich bekam meine Panik nicht in den Griff, und schließlich gab ich auf und rief mit dem Flugzeugtelefon Arvind an. Er war ziemlich beunruhigt, als er meine Stimme hörte, denn wir hatten vereinbart, während dieser Reise nur im äußersten Notfall zu telefonieren. »Bhai«, sagte er. »Was ist los?«
Ich konnte ihm natürlich nicht sagen, was tatsächlich los war, konnte ihm nichts von dem metallischen Geschmack der Einsamkeit und Sehnsucht erzählen, der mir in der Kehle saß. Ich konnte nicht sagen: Ich wollte nur deine Stimme hören, du Mistkerl. Also redete ich mit ihm über einige Investitionen, die wir in der vorangegangenen Woche getätigt hatten, und über einen Geldtransfer von einem Konto in Hongkong zu einem indischen Fonds. Es waren Banalitäten, ganz gewiß kein Grund für einen Notanruf. Er war verwirrt, wußte sich aber zu benehmen und stellte keine Fragen, sondern nahm nur meine Anweisungen entgegen. Ich beendete das Gespräch und rief als nächstes Bunty in Bombay an. Mit ihm hatte ich nichts auch nur ansatzweise Dringendes zu besprechen, und so redete ich über Suleiman Isa und unsere neusten Informationen zu den Aktivitäten der S-Company. Als ich das Gespräch beendete, war Bunty genauso verwirrt wie Arvind, und dann rief ich Jojo an. »Ich bin mitten in einer Besprechung«, sagte sie. »Ich rufe dich zurück.«
»Das geht nicht.«
»Warum denn nicht? Ich bin in einer halben Stunde fertig.«
Ich hatte ihr weder von meiner Reise in die USA noch von meiner kosmetischen Operation erzählt. Und jetzt, wo eine thailändische Großmutter mit strenger Nickelbrille und scharfen Ohren neben mir saß, konnte ich das unmöglich nachholen. »Ich habe selbst gleich einige Besprechungen. Morgen. Ich rufe dich an.«
»Stimmt irgendwas nicht, Gaitonde?«
Sie kannte mich einfach zu gut. »Nein, nein«, sagte ich. »Geh wieder zu deiner Arbeit. Wir telefonieren morgen.«
»Okay«, sagte sie. »Morgen.«
Ich lehnte mich in meinem Sitz zurück und dachte über Jojo nach. Sie war meine Freundin, und sie bemerkte genauer als jeder andere, in was für einer Stimmung ich war, ob großzügig oder wütend, hart, gereizt oder einfach nur traurig. Ich vertraute ihr, aber gewisse Dinge mußte ich ihr im Interesse meiner eigenen Sicherheit verschweigen. Ich mußte vorsichtig sein. Ich mußte davon ausgehen, daß diese grauhaarige Thailänderin neben mir, die sich jetzt mit den Spitzen ihrer glänzenden Finger Erdnüsse in den Mund steckte, daß diese harmlose alte Dame womöglich eine Spionin war, die mir Schaden zufügen konnte. Vielleicht verstand sie das Hindi, das ich mit Jojo redete, vielleicht arbeitete sie für Suleiman Isa und seine Verbündeten. Es war unmöglich, aber ich mußte die Möglichkeit in Betracht ziehen.
Kein Wunder, daß ich mich einsam fühle, dachte ich. Ich führte ein Leben zwischen Versteckspiel und Verdächtigungen. Ich mußte mich notgedrungen sogar von meinen Freunden fernhalten, das war der Preis, den ich für meine Macht bezahlte. Ich war ein Herrscher, ein König, deshalb konnte ich mich nie entspannen. Selbst ein neues Gesicht konnte mich nicht vollständig von der Angst befreien. Ich war gezwungen, allein durchs Leben zu gehen. Doch die Einsamkeit, die ich auf diesem Flug nach Amerika verspürte, war neu. So etwas hatte ich noch nie erlebt. Ich fühlte mich wie ein ziellos durchs Universum wirbelnder Ball, hing frei schwebend in einem absoluten Vakuum. Ja, das war Freiheit, ich war unabhängig und allein. Und hatte furchtbare Angst.
Ich brach meine langjährige Regel und bestellte mir einen Scotch. Ich hielt die Luft an und schluckte die bittere braune Medizin herunter. Dann trank ich noch zwei Gläser, und schließlich konnte ich schlafen.
Als ich aufwachte, erstreckte sich zu meiner Rechten wie ein langgezogener Fleck Los Angeles. Es war riesig, und ich fühlte mich sehr klein. Ich wurde es nicht los, dieses Gefühl meiner eigenen Kleinheit, diese kindliche Beklommenheit. Es begleitete mich auf der Fahrt mit der Limousine ins Hotel. Die Straßen waren breit und sauber, die Autos bewegten sich in wohlgeordneten Reihen vorwärts, und alles erschien mir sehr fremd. So abgesondert, so anders als die Autofahrer, die an mir vorbeirasten, hatte ich mich in Thailand, ja selbst in Singapur nie gefühlt. Ich sah einen Inder seinen Wagen neben einem Supermarkt parken und beobachtete ihn, während er zu einem öffentlichen Telefon ging. Er hatte eine Glatze und einen Bauch und hätte jede beliebige Gasse in Bombay entlanglaufen können, ohne Aufsehen zu erregen. Wahrscheinlich hieß er Ramesh oder Nitin oder Dharam. Trotzdem fühlte ich mich ihm sehr fern. Vielleicht hatte es mit diesem weiten, wolkenlosen Himmel zu tun, dem flüssigen, farblosen Licht. Hier herrschten andere Raum- und Kräfteverhältnisse. Ich fühlte mich schwerelos.
Meine Suite im Mondrian schwebte zwölf Stockwerke über dem Sunset Boulevard. Unten floß der Verkehr als stummes silbernes Band vorbei. Die Stille machte mich unruhig. Ich schaltete den Fernseher ein, drehte die Lautstärke auf, ging rasch duschen und rief dann Zoya an. Sie befand sich in einem Zimmer im siebten Stock, war morgens mit einem frühen Flug aus Houston gekommen und hatte unter dem Namen Madhubala eingecheckt. Ich mußte der Telefonistin den Namen zweimal buchstabieren, bis sie mich schließlich durchstellte, und dann hatte ich Zoya am Apparat. »Hallo?« sagte sie. Sie hatte einen amerikanischen Akzent angenommen.
»Ich bin's«, sagte ich. »Ich bin in Zimmer 1202. Komm hoch. Die Tür ist auf. Komm einfach rein.«
»Gut«, antwortete sie. »Ich komme.«
Sie war ein braves Mädchen, genauere Anweisungen brauchte sie nicht. Ich hatte die Vorhänge zugezogen, so daß nur ein schmaler Lichtstreifen ins Zimmer fiel. Ich saß in einem Armsessel, das Licht im Rücken. Es war eine sehr dramatische Einstellung, aus ihrer Perspektive gesehen. Ich wollte den optimalen Effekt, einen Moment von absoluter Durchschlagskraft, sie sollte wie angewurzelt stehenbleiben. Und dann würde ich ihr mein Gesicht zeigen.
Es lief wie geplant. Sie kam herein, stutzte, machte die Tür zu. »Saab?« sagte sie. Sie trug einen weißen, sehr kurzen Rock und eine knappe weiße Wickelbluse. Der erbarmungslose Schwung ihrer Taille und ihre provokativ vorgestreckten Hüften kamen perfekt zur Geltung. Sie wußte, was mir gefiel. Clevere Saali. Aber heute hatte ich sie. Ich schaltete die Lampe neben mir ein, und sie fragte sofort: »Wer sind Sie? Wer sind Sie?« Sie hatte Angst.
Fast hätte ich gelacht, doch ich beherrschte mich. Die Verwirrung und Furcht in ihrem Gesicht waren einfach zu köstlich. Sie kreuzte die Hände vor ihrem Nabel, fragte: »Wo ist er? Wo ist...?«, und brach dann ab. Ihr Gesicht nahm einen entschlossenen Ausdruck an, und sie sagte, nun auf englisch: »Entschuldigen Sie, ich bin im falschen Zimmer.« Ich war stolz auf sie. Sie hielt sich an die Sicherheitsvorkehrungen. Ich war ihr ein guter Lehrer gewesen. Sie drehte sich um und ging mit flottem Schritt zur Tür.
»Zoya«, sagte ich.
Sie blieb stehen, wandte sich um. »Allah«, sagte sie. Es war das einzige Mal, daß ich sie je ihren Gott anrufen hörte. »Sind Sie es?«
»Ich bin es.«
»Aber wie ist das möglich?«
»Kannst denn nur du dich verändern?«
Sie kam zu mir, kniete sich zu meinen Füßen hin. Sie streckte die Arme aus, berührte meine Wange mit den Fingerspitzen. Das um ihren offenen Mund spielende Staunen verschwand allmählich, als sie nun die Augen zusammenkniff und mich musterte, abschätzend, ausführlich. Sie drehte mein Gesicht sanft zum Licht. Dann flüsterte sie: »Dr. Langston Lee?«
»Ja.«
»Er ist wirklich ein Meister. Das ist exzellente Arbeit. Sehr subtil und sehr wirkungsvoll.«
»Gefällt es dir wirklich?«
»Dr. Langston Lee ist erstklassig.«
Das war genug zu Dr. Langston Lee. Ich packte mit der Linken Zoyas Handgelenk und faßte mit der Rechten nach ihrem Kinn. »Findest du, es steht mir? Findest du, das bin ich?«
Der kalkulierende Blick des Models verschwand sofort aus ihren Augen, und sie lächelte mich voll inniger Bewunderung an. »Sie sehen umwerfend aus, Saab«, sagte sie. »Noch besser als vorher. Sie könnten in einem Film mitspielen.«
»Was, ich?«
»Ja, klar. Sie sollten einen drehen. Mit mir in der weiblichen Hauptrolle. International Dhamaka Teil zwei!«
»Fortsetzungen kommen in Indien nicht an«, sagte ich. »Außerdem war der Film ein Flop.«
»Mit dem neuen Ganesh Gaitonde als Helden«, sagte sie, »würde es ein Superhit werden.«
Sie schmiegte sich an mich und küßte mich, und in diesem Moment fühlte ich mich wirklich wie ein Held. Ich führte sie zum Schlafzimmer, und wir veranstalteten ein echtes internationales Dhamaka. Und dieses war eindeutig ein Volltreffer. Wir nahmen uns nicht mal die Zeit, uns auszuziehen. Sie zog ihren Rock hoch, ich griff nach dem kleinen Stoffetzchen darunter und riß es weg, und dann bestieg ich sie. Wir lagen diagonal auf dem Bett, und in dem vorhanglosen Fenster hinter ihrem Kopf lag Los Angeles. Ich lachte wie ein Irrer, mit meinem neuen Gesicht. So kam ich nach Amerika.
Am nächsten Morgen gingen wir in die Universal Studios. Ich wollte erst nicht, doch Zoya beteuerte, es sei völlig ungefährlich, mit meinem neuen Gesicht werde mich niemand erkennen. »Und was ist mit dir?« fragte ich. Das Studiogelände würde garantiert voller maderchod indischer Touristen sein, die mittlerweile mit ihren Kameras, ihren Kindern und ihrem neuen Geld durch die ganze Welt reisten. Zoyas Fans waren überall. Sie versicherte mir, daß sie sehr anders aussehen könne, wenn sie wolle, und keiner sie erkennen werde. Sie war sich ihrer Sache absolut sicher und wollte unbedingt hingehen, also gingen wir hin. Und es war wirklich schön. Für mich bestand das Vergnügen darin, Zoyas Vergnügen zu erleben - sie war wie ein Kind, das zum ersten Mal auf dem Rummelplatz ist. Sie eilte von einer Attraktion zur anderen und kreischte lauter als alle anderen, als das aufgesperrte Maul des Riesenhais auf uns zugeschossen kam. Ich hatte nur wenige der Filme gesehen, auf die sich die einzelnen Attraktionen bezogen, aber Zoya kannte sie alle und erzählte mir, worum es jeweils ging. Sie trug eine Brille - eine große, schlichte - vorn auf der Nasenspitze, eine blaue Mütze, ein großes weißes T-Shirt mit langen Ärmeln und schwarze Jeans. Ihre langen Haare hatte sie zu zwei Zöpfen gebunden, und sie war nicht geschminkt. Sie wurde zwar angestarrt, denn ihre Größe konnte sie nicht verbergen, aber niemand erkannte sie. Nicht einmal die Teenager aus Neu-Delhi, die auf dem Jurassic-Park-Filmset im nächsten Wagen saßen und mich Onkel nannten. Zoya beherrschte also auch die Verwandlung ins Gewöhnliche. Mit ihren Augen, ihrem Gesicht, ihrem Körper konnte sie alles anstellen. Sie war eine Schauspielerin.
In die Terminator-Show mußte ich zweimal mit ihr gehen. »Einmal reicht nicht«, sagte sie. »Ich finde Arnold einfach toll.« Ich wußte, wer Arnold war, einer der Jungs hatte im letzten Jahr eine Raubkopie eines seiner Filme aufs Boot mitgebracht. Die Spezialeffekte hatten mir natürlich gefallen, aber insgesamt hatte mich der Film gelangweilt. Wie viele dieser amerikanischen Streifen klammerte er sich verzweifelt an einer einzigen guten Idee fest, so daß die inhaltliche und emotionale Bandbreite eher dürftig war. Die Szenen erschienen mir flach, denn selbst in den dramatischsten Momenten sprachen die amerikanischen Schauspieler immer leise miteinander, als unterhielten sie sich über den Preis von Zwiebeln. Und es gab keine Songs. Letzten Endes waren die amerikanischen Filme dröge und unrealistisch, deshalb interessierten sie mich nicht sonderlich. Doch Zoya schaute nun mit der gleichen Miene, mit der sie am Tag zuvor mich angesehen hatte, zu dem glänzenden Stahlskelett des Terminators und dessen rotglänzenden Augen auf. Selbst durch ihre Brillengläser sah ich, wie ihre Augen passend zu seinen, leuchteten. Sie merkte, daß ich sie beobachtete, und gab mir schnell einen Kuß auf die Backe. »Ich muß ja zugeben«, sagte sie mir ins Ohr, »manchmal träume ich davon, einen Oscar zu gewinnen. Da oben zu stehen. Und das beste daran wäre, daß ich dann Arnold kennenlernen würde.«
Arnold. Sie sprach den Namen dieses Mistkerls aus, als würde sie ihn schon persönlich kennen, als hätte sie mit ihm zusammen am Strand von Chowpatty Pani-Puri gegessen. Wir gingen weiter und sahen uns die übrigen Attraktionen und Filmsets an. Wir verließen die Universal Studios um fünf, sie gickelnd und glücklich, ich völlig ausgelaugt. In der Limousine erzählte sie mir Geschichten über weitere amerikanische Filme und deren Stars. Ich hörte ihr zu und fragte schließlich: »Saali, wie viele von diesen Filmen schaust du dir eigentlich an?«
»Normalerweise einen pro Tag. Ich habe einen kleinen tragbaren DVD-Player, den kann ich auch zu den Dreharbeiten mitnehmen. Manchmal schaue ich mir auch mehr als einen Film an, selbst an Drehtagen. Es ist eine gute Methode, mein Englisch zu verbessern. Sie sollten das auch tun. Suleiman Isa schaut sich jeden Tag englischsprachige Filme an.«
Ich kniff sie in die Unterlippe. »Woher weißt du das?«
»Are, das weiß doch jeder.«
Sie hatte recht. Suleiman Isas regelmäßiger Filmkonsum war allgemein bekannt. »Aber sie täuschen sich alle«, sagte ich. »Er interessiert sich nicht wirklich für Filme. Es gibt genau drei Filme, die er sich immer wieder ansieht, jeden Abend einen, und wenn er durch ist, fängt er wieder von vorne an.«
»Was?«
»Doch, das stimmt. Wir haben verläßliche Informationen dazu, aus seinem eigenen Umfeld. Er guckt sich immer wieder die drei Folgen von Der Pate an.«
»Nein! Ehrlich?«
»Ja.«
»Warum denn?«
»Frag den Mistkerl selbst. Er ist verrückt.«
Sie nickte. »Und haben Sie die Filme gesehen, Saab?«
»Ich habe den ersten gesehen.«
»Und er hat Ihnen nicht gefallen?«
»Er war ganz okay. Aber ich fand Dharmatma besser. Selbst Daryavan.«
Sie brach in schallendes Gelächter aus und schlang die Arme um mich. »Sie reisen um die ganze Welt, Saab, aber Sie haben einen absolut provinziellen Geschmack. Sie sind ja so süüüüß.« Dann küßte sie mich, legte mir die Hand in den Schoß und zeigte mir, wie süß ich war, und ich vergaß Suleiman Isa und seinen Paten, diesen Chutiya. Später am Abend allerdings, als sie schon schlief, lag ich wach und dachte über amerikanische Filme nach. Meine Jungs sahen sich ständig amerikanische Actionfilme an. Sie sagten immer, ihnen gefielen die Stunts und die Spezialeffekte. Warum schaute Suleiman Isa immer wieder Der Pate? Ich hatte darüber noch nie nachgedacht, doch als ich jetzt unter diesem fremden Himmel im Bett lag, von den niemals erlöschenden Lichtern der Stadt wachgehalten, kam mir der Gedanke, daß er sich diese Filme vielleicht aus dem gleichen Grund ansah, aus dem ich International Dhamaka gedreht hatte. Er wollte begreifen, was mit ihm geschehen, wer er geworden war. Zum ersten Mal fühlte ich eine Art Verwandtschaft zwischen uns.
Wer war ich geworden? Ein anderer. Während ich versuchte zu fassen zu kriegen, inwiefern ich mich verändert hatte, was genau mit mir geschehen war, spürte ich, wie sich in meinem Bauch ein Wurm des Zweifels regte und zu meinem Herzen hochkroch. Zoya hatte gesagt, ich sähe jetzt umwerfend aus, könnte ein Filmstar werden, wenn ich wollte. Ich wußte, daß ich besser aussah, jugendlicher wirkte denn je, scharfe Gesichtszüge hatte. Aber wenn sie davon träumte, Arnold kennenzulernen ... Könnte ich jemals so muskulös sein wie er? Wenn ihr der Terminator in ihren Träumen erschien, sogar während sie an meiner Seite schlief, liebte sie mich dann wirklich? Ich sagte mir, daß der Terminator eine Phantasiegestalt war, daß ich mächtiger war als irgendein schäbiger amerikanischer Schauspieler. Ich sagte mir, du hast mehr Männer umgebracht als irgend so ein Pseudoheld. Auf ein Wort von dir werden Geld und Waffen über ganze Kontinente expediert. Wenn irgendwer die Bezeichnung Terminator verdient, dann du.
Doch als sich Zoya am frühen Morgen regte und schläfrig an mich kuschelte, spürte ich, daß in meinem Innern immer noch dieser Parasit des Mißtrauens sein Unwesen trieb. Ich schaute auf den Arm, der Zoya hielt, meinen Arm, und konnte nur an eines denken, nämlich daran, wie dünn er doch im Vergleich zu Arnolds Armen war. Selbst der Hauptdarsteller des Films, den sie in Texas drehte, hatte mehr von einem Arnold als ich. Er war klein, doch er hatte eine breite, mit Anabolika aufgepumpte Brust und auftrainierte Arme. Ich konnte mir die besten Anabolika leisten, ein Fitneßstudio bauen und einen Coach einstellen, aber würde ich jemals dem Bild entsprechen, das Zoya in ihrem Kopf mit sich herumtrug, diesem Mann, den sie wirklich lieben konnte? Liebte sie mich, Zoya, die egoistische Giraffe?
Es war eine lächerliche Frage, das war mir bewußt, und dennoch ging sie mir nicht aus dem Kopf. Wir frühstückten am Eßtisch im großen Zimmer der Suite, und wie immer war es erstaunlich, ihr beim Essen zuzusehen. Sie trank einen ganzen Krug Orangensaft und aß drei Omelettes. Ich beobachtete sie - sie war wieder schön, war wieder Zoya Mirza, der Filmstar. Sei glücklich, befahl ich mir. Sie ist bei dir. Und dann klingelte das Telefon. Nicht der Hotelapparat und auch nicht mein Handy, sondern das abhörsichere Satellitentelefon auf meinem Nachttisch. Ich eilte hin. Nur Arvind und Bunty hatten diese Nummer, und sie würden nur unter außergewöhnlichen Umständen anrufen.
Es war Arvind. »Bhai?« sagte er. »Sie sollten zurückkommen.«
»Warum?«
»Das Kartoffelgeschäft«, sagte er. Der »Kartoffelhandel« war unser Tarnbegriff für den Waffenschmuggel, den wir für Guru-ji betrieben. Wir machten das nun schon seit Jahren, schafften Waffen und Munition an die Konkanküste und übergaben sie dort an seine Leute, die sie weitertransportierten. »Die sind uns auf die Schliche gekommen. Sie haben eine unserer Lieferungen abgefangen.«
»Wer ist uns auf die Schliche gekommen?«
»Die aus Delhi.« Das hieß Dinesh Kulkarni, auch als Mr. Joshi bekannt, und seine Organisation, somit also die indische Regierung.
»Ich nehme das nächste Flugzeug«, sagte ich.
»Bitte kommen Sie schnell, Bhai«, sagte er. »Die sind stinksauer.«
Er bangte um meine Sicherheit, da ich in diesem fremden Land ungeschützt war, ohne Leibwächter in dieser vornehmen Hotelsuite saß. Deshalb drückte er sich auch so vorsichtig und kryptisch aus, trotz abhörsicherer Verbindung. »Verstehe«, sagte ich. »Keine Sorge, ich bin schon unterwegs.«
Ich verabschiedete mich von Zoya und reiste ab.
»Warum haben Sie das getan, Ganesh?« Es war Kulkarni, jetzt ganz der strenge Schulmeister. »Warum?«
»Wir haben Samaan für unsere Leute gebraucht.«
»Lügen Sie mich nicht an. Die Lieferung, die der Polizei ins Netz gegangen ist, umfaßt einhundertzweiundsechzig AK-56-Gewehre, vierzig Automatikpistolen und achtzehntausend Schuß Munition. Das ist nicht für den persönlichen Gebrauch gedacht. Da wird für einen Krieg aufgerüstet.«
»Na ja, ein paar Waffen haben wir vielleicht verkauft. Es ist ein gutes Geschäft, und in allen anderen Bereichen fließen die Einnahmen nur spärlich. Die ganze Wirtschaft liegt am Boden. Wie Sie wohl wissen, Saab.«
Er antwortete rasch und scharf: »Arbeiten Sie mit jemandem zusammen? Sind diese Waffen für jemand Bestimmten gedacht? Für irgendeine Gruppe, eine Partei?«
»Nein, nein, Saab. Wir brauchen einfach das Geld, und dieser Markt gibt noch etwas her. Sie wissen doch, wie es derzeit bei uns im Land aussieht - jeder will sich gegen jeden absichern. Wir haben nur als Verteiler fungiert, für alle.«
Ich schwitzte. Ich war wieder auf der Yacht, wir lagen vor Phuket, und ich wurde von allen Seiten bewacht und abgeschirmt, doch ich wußte, daß die Lage äußerst ernst war. Wir hatten ein Problem. Und Kulkarni ließ mich sehr genau spüren, wie groß unser Problem war. Ich wünschte mir, K. D. Yadav wäre nicht in den Ruhestand gegangen, sondern würde nach wie vor meine Tätigkeit für seine Organisation betreuen. Er war ein pragmatischer Mensch, er verstand die Erfordernisse unserer Arbeit. Dieser verdammte Kulkarni redete mit mir, als wäre ich ein kleiner Junge, den er mit Diebesgut erwischt hatte.
»Über Ihre anderen Projekte und Geschäfte haben wir hinweggesehen«, sagte er. »Aber diese Geschichte ... Ich weiß nicht, ob wir darüber auch hinwegsehen können. Innerhalb der Organisation sehen sich jetzt diejenigen, die gegen eine Zusammenarbeit mit Ihnen waren, auf ganzer Linie bestätigt.« Er war offenkundig selbst höchst verärgert. »Wie viele solcher Lieferungen hat es gegeben?«
Er würde mir nicht glauben, wenn ich ihm sagte, es habe nur diese eine gegeben, also erzählte ich ihm von einer weiteren, allerdings deutlich kleineren Lieferung. Ich erklärte, daß es bei diesen beiden bleiben würde. Ich versuchte ihm seinen Ärger auszureden und versicherte ihn meiner Loyalität. Ich erinnerte ihn an all die Operationen, die ich für seine Organisation durchgeführt, an all die konkreten und verläßlichen Informationen, die ich geliefert hatte. Ich verwies dezent auf unsere vielen Gespräche und meine langjährige Zusammenarbeit mit Mr. Kumar. Er blieb finster und unnachgiebig und bohrte weiter, um mehr über unseren Waffenhandel zu erfahren. Ich wehrte ihn ab, sagte nur das Allernötigste und legte schließlich gequält und verängstigt auf.
Arvind war aus Singapur gekommen und ging an Deck auf und ab. Er telefonierte gerade mit Bombay und versuchte mit Hilfe unserer Verbindungsmänner innerhalb des Polizeiapparats zu verfolgen, wie der Fall dort gehandhabt wurde. Ich wartete. Es war eine mondlose Nacht, und aus dem Augenwinkel sah ich die sanft wogende silberschwarze See. Irgend jemand beobachtete mich. Ganz bestimmt. Sie waren da draußen. Vielleicht belauschten sie Arvinds Telefonat. Das Gerät war angeblich abhörsicher, aber jeder Schutz konnte geknackt werden. Das hatte ich von Mr. Kumar gelernt.
Arvind schaltete sein Handy aus. »Nichts Neues, Bhai«, sagte er. »Morgen um zehn gibt es eine Pressekonferenz, vielleicht kommt dabei etwas heraus.«
Wir wußten immer noch nicht, wie die Polizei unsere Lieferungen gefunden hatte. Und wir wußten nicht, wie sie ausgerechnet uns damit in Verbindung gebracht hatten. Sie mußten einen Hinweis bekommen haben. Wer hatte ihn ihnen gegeben? Suleiman Isa und seine Jungs? Oder hatte die Polizei selbst Informanten in den höheren Rängen unserer Company? Durchaus möglich. Wir würden Nachforschungen anstellen müssen. Aber zunächst hatte ich eine unmittelbare, drängendere Sorge. Ich mußte unseren Kunden warnen. Ich mußte zu Guru-ji.
Guru-ji sagte mir ein weiteres Mal meine Zukunft voraus, und diesmal rettete er mir das Leben. Ich traf mich in München mit ihm, wo er einen fünftägigen Workshop und ein Yagna abhielt. Ich flog allein dorthin. Arvind und Bunty versuchten erst, mich davon abzuhalten, und dann, mir ein halbes Bataillon Scharfschützen mitzuschicken. Ich entgegnete, daß mein neues Gesicht mich schon schützen werde. Was ich ihnen praktisch demonstrierte: Ich ging vor ihren Augen an einigen Jungs vorbei, die seit Jahren für mich arbeiteten, und keiner erkannte mich. Solange ich mich unauffällig verhielt, würde mein Aussehen mich schützen.
Guru-jis Sicherheit hatte für mich natürlich oberste Priorität, ich wollte auf keinen Fall seinen Ruf schädigen. Unserer üblichen Kommunikationsmethode traute ich nicht mehr. Ich wußte nicht, ob die Technologie, die wir verwendeten, den Sicherheitsanforderungen noch genügte. Unsere Experten waren dabei, neue Geräte, neue Software, neue Methoden für uns aufzutun. Aber ich mußte unbedingt bald mit Guru-ji reden. Deshalb nahm ich das Risiko auf mich, allein in ein fremdes Land zu reisen. Ich ging die Sache genauso an wie damals in Bombay. Ich nahm in München an seinem Yagna teil und wartete danach auf eine Audienz. Nur war er diesmal darüber informiert, daß ich kam.
Ich traf um fünf Uhr nachmittags in München ein und fuhr sofort zu der Halle, in der Guru-ji seinen Workshop abhielt. Das Yagna war eine Miniaturausgabe des in Bombay abgehaltenen Rituals, und während die Flammen loderten und tanzten, sprach Guru-ji von den Zyklen der Geschichte. Ich saß ganz hinten und schaute ihm über die wohlgeordneten Reihen von Firangi-Köpfen hinweg zu. An der Decke hingen Monitore, doch ich richtete den Blick direkt auf Guru-ji und strengte meine Augen an. Nach all den Monaten, in denen ich seine Stimme nur übers Telefon gehört und seine Augen nur auf verschwommenen Fotos in der Zeitung gesehen hatte, wollte ich ein direktes Darshan. Und ich spürte seine Gegenwart, sein großes Atman und den Frieden, den es mir brachte. Ich wurde besänftigt, ich wurde geheilt, ich wurde gekräftigt. Nur wer ihn kennt, weiß, was für ein Licht er verströmt, welch leuchtende Klarheit aus seinem Darshan erwächst. Ich setzte mich auf wie ein eifriges Kind und ließ mich unterweisen. Er sprach über unsere Zeit, über die Turbulenzen, die unsere Welt aufrührten. »Habt keine Angst«, sagte er in seinem polternden Hindi, das simultan ins Deutsche übersetzt wurde. »In den vergangenen Jahrhunderten habt ihr immer wieder vom Fortschritt reden hören, aber erlebt habt ihr nur Leid und Zerstörung. Ihr habt Angst vor der Wissenschaft, vor ihrer Raffgier, ihrer Macht. Eure Politiker erzählen euch, daß alles besser wird, aber ihr wißt, alles wird schlechter. Deshalb packt euch die Angst. Ich aber sage euch: Habt keine Angst. Wir nähern uns einer Zeit großer Veränderungen. Sie sind unvermeidlich, sie sind notwendig, sie werden und müssen erfolgen. Und die Zeichen dieser Veränderung sind überall. Zeit und Geschichte sind wie eine Welle, ein sich zusammenbrauender Sturm. Wir nähern uns dem Scheitelpunkt, dem Losbrechen des Sturms. Ihr spürt das, ich weiß es, in eurem Körper braut sich ein Gefühlssturm zusammen. Die Ereignisse gewinnen an Intensität, sie folgen dicht aufeinander. Doch in diesem Mahlstrom liegt die Verheißung von Frieden. Erst nach der Explosion werden wir Stille und eine neue Welt finden. Das ist gewiß. Zweifelt nicht an der Zukunft. Ich versichere euch, die Menschheit wird in ein Goldenes Zeitalter der Liebe, des Überflusses, des Friedens eintreten. Habt also keine Angst.«
Ich hörte ihm zu und hatte keine Angst, obwohl ich allen Grund dazu gehabt hätte. Ich war voller Sorge zu ihm gekommen, mit nervösem Magen, müdem Geist und wankendem Mut. Ich war ohne meine Jungs und deren Schutz zu ihm gekommen, weil ich das Bedürfnis hatte, in seiner Gegenwart zu sein. Und bereits nach wenigen Minuten war Ruhe in mich eingezogen. In meiner Jugend war ich gegenüber Sadhus und Sants557 skeptisch gewesen, ich hatte sie für Scharlatane, Trickser, Hochstapler gehalten, aber dieser Mann durchbrach den Schild meines Zweifels mit einer unbeschreiblichen Kraft. Man mag sich in der bitteren Befriedigung der Skepsis suhlen, mag mich für einen Schwachkopf halten, für einen gelähmten Narren, der Trost suchte, einen Taumelnden, der eine Krücke brauchte. Doch all diese Gedanken - die ich selbst durchaus auch gehabt hatte - sind nichts anderes als Scheuklappen gegen die Wahrheit, gegen die schlichte Tatsache, daß ich Frieden fand, indem ich im selben Raum saß wie er. Natürlich gab er diese innere Ruhe nicht nur mir, sondern auch all den Deutschen in der Halle. Und Tausenden anderen Menschen auf der ganzen Welt, die auf ihn, seine Lehre, seinen Aufruf ansprachen. Er hatte diese Wirkung. Man mag es Charisma nennen, wenn einen das beruhigt, weil es das Bedürfnis nach einer gewissen begrenzten Logik stillt. Doch das war genau die Falle der Rationalität, über die Guru-ji am Ende seines Vortrags an diesem Abend sprach.
»Horcht mit dem Herzen«, sagte er. »Die Rationalität kann auf dem Weg zur Weisheit stehen wie ein Wachmann mit seinem Lathi. Logik ist gut, Logik ist mächtig, wir setzen sie jeden Tag ein. Sie gibt uns die Kontrolle über die Welt, in der wir leben, sie macht unser tägliches Leben möglich. Doch selbst die Naturwissenschaftler sagen uns, daß unsere Alltagslogik letztlich nicht ausreicht, um die Realität der Welt, in der wir leben, zu beschreiben. Die Zeit schrumpft zusammen und dehnt sich aus, das wissen wir von Einstein. Das All ist in sich gekrümmt. Auf einer Ebene unterhalb des Atoms durchdringen sich Teilchen gegenseitig, und ein Teilchen kann an zwei verschiedenen Orten zugleich existieren. Die Realität, die tatsächliche Realität, ist die Vision eines Wahnsinnigen, eine Halluzination, die der einzelne kleine Menschenverstand nicht erfassen kann. Ihr müßt das Ich sprengen, müßt die Rationalität des Alltags als das enge Gefängnis erkennen, das sie ist. Tretet aus ihr hinaus in die grenzenlose Weite. Dort wartet die Realität auf euch.«
Ich für mein Teil wartete geduldig auf ihn, nachdem er seinen Vortrag beendet hatte. Wie üblich standen seine Anhänger Schlange, um mit ihm zu sprechen. Ich saß auf einem Stuhl in der sich leerenden Halle, während die Sadhus die Deutschen einen nach dem anderen in einen Privatraum an der Seite einließen. Ich hatte keine Sorge, daß die Audienzen beendet werden könnten, bevor ich an die Reihe kam, denn Guru-ji wußte ja, daß ich kommen würde. Und so saß ich zufrieden da und schaute zu, wie die Firangis lächelnd und verwandelt von ihrem persönlichen Darshan kamen.
»Sie sind Inder?«
Es war eine Deutsche. Sie trug einen tiefroten Sari und hatte das Haar mit einem Juda300 hinten am Kopf festgesteckt, hatte eine Mangalsutra um den Hals und Sindur im Haar. Sie war jung, vielleicht Mitte Zwanzig, aber sie sah aus wie eine traditionelle indische Mutter vor dreißig Jahren, noch dazu eine aus einem kleinen Dorf. »Ja«, sagte ich.
»Woher?« fragte sie. Ihr Englisch klang hart und klar. Ich kannte diesen Akzent von den Stränden auf Phuket.
»Aus - aus Nashik«, antwortete ich.
»Da war ich nie«, sagte sie. »Aber Nagpur, kennen Sie Nagpur?«
Ich nickte.
»Da hat Guru-ji mich zur Ehefrau gemacht und mir einen neuen Namen gegeben.«
»Sie zur Ehefrau gemacht? Guru-ji?«
»Nicht zu seiner. Zu der von Sukumar, meinem Mann.«
»Sukumar ist Inder?«
»Nein, auch Deutscher. Ich bin Guru-jis Schülerin geworden, nachdem ich ihn kennengelernt habe. Und dann hat uns Guru-ji zu Mann und Frau gemacht.«
»Und Ihnen einen neuen Namen gegeben.«
»Ich bin Sita.«
»Ein guter Name.«
»Guru-ji meint, es ist ein hohes Ideal.«
»Was?«
Sie deutete gen Himmel. »Sita ist eine gute Frau.«
Die Sita vor mir hatte leuchtend blaue Augen und ein strahlendes, fröhliches Gesicht. Ich lächelte sie an. »Sita war die beste aller Frauen.« Einer der Sadhus winkte mir zu. Ich war an der Reihe. »Tschüs«, sagte ich zu Sita.
»Namaste«, antwortete sie mit elegant verschränkten Händen und einer tiefen Verbeugung. »Es ist immer schön, jemanden aus der Heimat zu treffen.«
Ich stand auf und mußte plötzlich gegen Schwindel ankämpfen. Ja, ich war müde, ich war innerhalb kurzer Zeit zuviel gereist. Ich stellte mich vor die grüne Tür des Privatraums, von zwei Sadhus flankiert, zwei Firangis mit buschigem braunen Bart. Sie waren beide ruhig und schweigsam. Dann ging die Tür auf.
Guru-ji saß auf einer Gadda neben dem Kamin, sein Haar ein silberner Heiligenschein. Die Sessel und Sofas - es war wohl ein Konferenzzimmer - waren zur Seite gerückt worden, um den freien Raum zu schaffen, den er immer gern um sich hatte. Er betrachtete mich, während ich auf ihn zukam. Ich kniete vor ihm nieder, berührte mit der Stirn den Boden, umgriff seine Füße. Er legte mir die rechte Hand auf den Kopf und sagte: »Jite raho, Beta.« Er faßte mich an den Schultern und zog mich hoch.
Ich blieb stumm. Ich hätte etwas sagen, ihm für seinen Segen danken sollen, doch ich hielt mich zurück.
»Wie heißt du, Beta?«
Ich hatte dieses Schweigen meinerseits nicht geplant, hatte nicht vorgehabt, Guru-ji auf die Probe zu stellen. Aber plötzlich wollte ich, daß er mich erkannte. Kein Mann, keine Frau hatte die Tarnung meines neuen Gesichts durchschaut. Aber Guru-ji kannte meine Seele, er kannte selbst das kleine, harte, schlackeartige Bruchstück in meinem Innern, das ich nie jemand anderen hatte sehen lassen. Er kannte die Weichheit, die Sehnsucht unter der Schwärze. Jetzt schwieg er erwartungsvoll.
»Bist du stumm?« fragte er dann. »Kannst du nicht sprechen?«
Ein Lächeln glitt über mein Gesicht. Ich benahm mich wirklich kindisch, aber daß er mich für stumm hielt, amüsierte mich. Und so kniete ich vor ihm und lächelte.
»Ganesh?« fragte er.
Ich war verblüfft. Ich hatte mir gewünscht, daß er mich erkennen möge, doch ich hatte nicht damit gerechnet. Es war einfach eine Sehnsucht gewesen, die in meinem tiefsten Innern wurzelte. Es gibt viele Begierden, die dicht unter der Oberfläche sitzen, und viele von diesen hatte ich mir erfüllt: Macht, Geld, Frauen. Doch es gibt auch Bedürfnisse, die so tief sind, daß man sie nicht benennt, nicht einmal sich selbst gegenüber. Sie gleichen den unterirdischen Magmaströmen, auf denen sich die Kontinente bewegen. Manchmal eruptieren sie mit der Heftigkeit eines Vulkans, und dann verschwinden sie wieder im Untergrund. Dies ist die eigentliche Unterwelt, wo ewig das Verlangen brodelt. Ich hatte wie ein Kind erkannt und beim Namen genannt werden wollen. Und Guru-ji hatte es getan.
»Wie haben Sie mich erkannt?« fragte ich. » Wie bloß? «
»Glaubst du wirklich, daß du dich vor mir verstecken kannst?« Er tätschelte mir die Wange, dann drückte er mich an sich.
»Guru-ji.« Ich lachte. Mit dieser einen Berührung hatte er mich von meiner Erschöpfung, meiner Wut, meiner Angst befreit. Deshalb kam ich zu ihm, durch die ganze Welt, allein. Ich hielt seine Hände. »Ich weiß, Guru-ji, mich zu sehen ist ...«
Er schüttelte den Kopf. »Nicht hier.«
Er rief einen seiner Sadhus herbei und sagte ihm, ich sei ein Bhakt namens Arjun Kerkar und habe ein sehr persönliches Problem, das ein langes Gespräch erfordere. Seine Leute schienen so etwas gewohnt zu sein. Guru-ji hob sich mit einer einzigen kraftvollen Bewegung in seinen Rollstuhl, und ich folgte ihm in die Tiefgarage. Vom Aufzug aus führten sieben Stufen zum Parkraum hinunter, die er in seinem Rollstuhl spielend nahm. Die dicken schwarzen Reifen machten surrende und klickende Geräusche, und der Rollstuhl tanzte die Treppe hinunter, perfekt im Gleichgewicht.
»Super, Guru-ji«, sagte ich.
»Das neuste Modell, Arjun«, sagte er, und seine Zähne blitzten über seine Schulter. »Alles computergesteuert. Ich kann auf zwei Rädern balancieren. Schau her.«
Er drehte sich langsam auf zwei Rädern. Ich klatschte. Ein spezieller Transporter mit einer Rampe für den Rollstuhl wartete in der Tiefgarage, und mit diesem sausten wir nun zu dem Haus, in dem Guru-ji untergebracht war, der am Stadtrand gelegenen Villa eines seiner Anhänger. Alles war hervorragend organisiert, die Sadhus standen über kleine Walkie-Talkies miteinander in Verbindung, es gab keine Verzögerungen, keine überflüssige Bewegung. Innerhalb einer Viertelstunde waren wir in Guru-jis Suite, die genauso hergerichtet worden war, wie er es mochte: frische Blumen in sämtlichen Zimmern, Obst auf dem Tisch und seine CDs mit Sitarmusik und religiösen Gesängen neben seinem Bett. Ich zog die Schuhe aus und fand in einem kleinen Vorzimmer einen bequemen Sessel. Dort wartete ich. Guru-ji nahm ein Bad, diktierte seinen Assistenten einige dringende Briefe und entließ sie danach. Nun rief er mich herein. Er saß mitten im Zimmer auf dem Bett, in einem Dhoti und einer Kurta aus weißer Seide.
»Komm«, sagte er und deutete auf einen Stuhl neben dem Bett. »Setz dich. Und erzähl mir, wann du das mit deinem Gesicht hast machen lassen. Und warum.«
Ich erzählte es ihm. Er stimmte mir bezüglich meiner Sicherheitsbedenken natürlich zu, doch er sagte außerdem, diesen Drang, mich zu verändern, hätte ich aufgrund der bevorstehenden Veränderungen der Welt verspürt. »Eine neue Welt erfordert einen neuen Mann. Und du hast dich selbst erneuert. Es war dir ein Bedürfnis, du hast die Zeichen der Zeit gelesen, Arjun. Ich finde, das ist der richtige Name für dein neues Selbst. Ich werde dich von jetzt an Arjun nennen. ›Arjun, der mich irreführte‹.«
»Nur für zehn Sekunden, Guru-ji. Sie sind der einzige, der mich erkannt hat.«
»Es ist ein gutes Gesicht, Arjun. Niemand wird es erkennen. Und jetzt erzähl mir, warum du dich mit mir treffen wolltest.«
Er hörte mir aufmerksam zu, als ich ihm von dem jüngsten Debakel berichtete. Ich sagte ihm, daß natürlich keine Operation je absolut sicher sei, daß ich mich über mehrere Delegationsebenen innerhalb der Company von dem Waffenschmuggel abgegrenzt und mehr oder weniger selbständig operierende Gruppen eingesetzt hatte. Außerdem hatten wir, um die Polizei von UP zu beschwichtigen und zufriedenzustellen, die eine oder andere Festnahme für sie arrangiert, natürlich nur rangniedere Männer. Doch sie besaßen mehr Informationen als vermutet, stellten weitere Nachforschungen an, und so waren sie schließlich auf mich gekommen. Ich hielt es für wahrscheinlich, daß dieser unermüdliche Arbeitseifer zumindest teilweise aus Dubai und Karatschi finanziell gefördert wurde, von Suleiman Isa und seinen Kumpanen. Sie nutzten ihre Verbindungsleute bei der Polizei für eine neue Kampagne in ihrem Krieg gegen uns. Und so setzte uns die Polizei nun unter Druck, in UP wie in Maharashtra.
»Ja«, sagte Guru-ji. »Ja, Arjun.« Auch angesichts dieses ganzen Unheils saß er reglos wie eine Statue in einem Tempel da. »Wissen sie von mir?«
»Von Ihnen? Nein, nein, Guru-ji. Überhaupt nicht. Wir haben Sie vollkommen aus der Operation herausgehalten, Ihr Name ist nicht ein einziges Mal gefallen. Niemand aus meiner Company weiß auch nur von Ihnen. Ich habe strengste Sicherheitsvorkehrungen getroffen. Und ich bin allein hierhergekommen, ohne Jungs, ohne Schutz. Von unserer Seite besteht keinerlei Gefahr für Sie, dafür habe ich gesorgt. Aber meiner Ansicht nach sollten wir die Waffentransporte vorläufig einstellen. Im Moment ist die Sache einfach zu brenzlig.«
»Ja, Arjun. Im Prinzip stimme ich dir zu. Aber laß mich noch darüber meditieren.« Er legte mir die Hand auf die Schulter. »Du siehst müde aus. Schlaf jetzt. Wir reden morgen früh weiter. In dem kleinen Zimmer steht ein Bett für dich.«
Er hatte recht. Ich war um die halbe Welt gereist, nach vielen Tagen voll schlechter Nachrichten und Konflikte. Ich fühlte mich ausgezehrt, geschwächt, hielt mich nur noch mit letzter Kraft wach. Er legte mir die gewölbte Hand zum Segen auf den Kopf, und mir war, als glitte ich wohlbehütet in den Schlaf. Seine Augen waren dunkel, unergründlich, riesig. Er hieß mich aufstehen und umarmte mich. »Geh schlafen. Ich werde darüber nachdenken. Morgen entscheiden wir, wie wir verfahren werden.«
Ich wankte in das mir zugewiesene Zimmer, fiel ins Bett. Ich schaffte es gerade noch, mich auf die Seite zu drehen, dann schlief ich ein.
Als ich erwachte, hörte ich Mantragesang. Ich setzte mich auf und war sofort bei mir. Während ich durch die Suite tappte, merkte ich, wie hungrig ich war. Meine Schultern fühlten sich stark und entspannt an, ich spürte meinen kräftigen Herzschlag in der Brust, ein wohliger Geschmack erfüllte meinen Mund. Ich lachte. Ich fühlte mich wie neugeboren. Eine Nacht in Guru-jis Nähe durchgeschlafen, und ich war wieder jung und frisch.
Die großen Fenster auf der Ostseite der Suite gingen auf einen Garten hinaus, und dort sah ich Guru-ji und die Sadhus eine Puja abhalten. Sie hockten in einer quadratischen Mulde, Guru-ji vor einem kleinen Feuer in der Mitte. Ich setzte mich im Schneidersitz ans Fenster und sah ihnen von ferne zu. Es war noch sehr früh, und unter dem tiefen Grau dieses fremden Himmels erhellte ein zarter Lichtschein ihre Gesichter. Ich kannte die Mantras nicht. Es handelte sich wohl um eine Zeremonie nur für Sadhus, dachte ich, und war es zufrieden, einfach dazusitzen und zuzuhören.
Doch später erklärte mir Guru-ji das Ritual. Bei Anbruch der Morgendämmerung, sagte er, meditierten sie über Veränderung. Sie arbeiteten mit diesem kleinen Yagna darauf hin, daß eine Veränderung in der Welt geschehe. Das Universum sei das Bewußtsein schlechthin, das in Interaktion mit der Materie stehe, die ihrerseits reine Energie sei. Das Bewußtsein der Mönche im Verein mit Guru-jis enormer spiritueller Kraft bewege das universale Bewußtsein auf eine Verwandlung hin. »Die Geschichte hat eine Form, Arjun«, sagte er. »Das Universum ist ein gestalterisches Wunderwerk. Wir haben darüber schon geredet. Sieh dir diesen Garten an. Zu jedem Insekt gibt es einen natürlichen Feind. Zu jeder Pflanze eine Funktion. Manche Wissenschaftler sehen diese Schönheit und behaupten, sie sei das Ergebnis willkürlicher Selektion, purer Zufall und sonst gar nichts. Sie sind blind. Sie haben Angst. Wenn man jedoch vom Zufall Abstand nimmt und mit dem richtigen Blick hinsieht, erkennt man ein Muster unter dem Chaos. Die Frage ist bloß: Ist man in der Lage, seine Zeichen zu lesen, versteht man seine Sprache? Sieht man unter die Oberfläche? Du und ich, Arjun, wir sitzen hier in einem Garten und unterhalten uns. Die Sonne geht auf. Ist das alles Zufall, ohne jede Bedeutung? Hat nicht alles eine Richtung?« Er machte eine ausholende Armbewegung, die uns, die ganze Erde, den Himmel einschloß. »Schau in dich hinein, Arjun. Spüre die Wahrheit in deinem Innern. Und sag mir: Wer ist der Schöpfer dieser Richtung?«
Die Antwort darauf kannte ich: »Das Bewußtsein.«
»Zweifellos. Und weißt du, wo dieses Bewußtsein sitzt? Wo es beheimatet ist?«
»Überall?«
»Ja. In uns. In dir, Arjun. Dein Bewußtsein ist das universale Bewußtsein. Es gibt keinen Unterschied. Wenn du das erkennst, wirklich erkennst, dann gibt es nichts, was du nicht tun könntest. Du kannst sogar die Geschichte formen. Wenn der Vira das Denken hinter sich läßt, kann er die Geschehnisse lenken. Er kann die Zeit auf die Veränderung hinlenken.«
Ich nickte. »Ich verstehe, Guru-ji. Was soll ich tun?«
»Wir müssen noch eine Fuhre machen, Arjun, eine letzte.«
Eine Fahrt, eine Lieferung sei noch nötig. Die Fracht sei weder besonders sperrig noch besonders schwer. Es handele sich um etwas Bargeld - hauptsächlich Rupien, aber auch ein paar Dollars, die im Ausland eingetrieben worden seien und nun ins Land gebracht werden müßten. Außerdem diverses Laborgerät, das Guru-jis Leute für landwirtschaftliche Experimente im Punjab brauchten. Dieses könne natürlich auch auf normalem Weg eingeführt werden, doch die Zollformalitäten würden Wochen, womöglich Monate in Anspruch nehmen und dadurch wichtige Arbeiten aufhalten. Und schließlich gehe es noch um ebenfalls dringend benötigtes Computerzubehör. Keine Waffen, keine Munition. Ganz einfach, und nicht einmal etwas, worüber sich Kulkarni erregen könnte. »Ich würde dich nicht darum bitten, Arjun«, sagte Guru-ji, »wenn es nicht von größter Bedeutung wäre. Ohne diese Fracht bliebe unsere Arbeit der letzten Jahre unvollständig, unvollendet. Ich könnte die Sachen natürlich leicht über andere Kanäle herbeischaffen lassen. Aber wir beide haben eine Geschichte miteinander. Zwischen uns herrscht Vertrauen. Bei dieser Lieferung darf nichts schiefgehen. Ich weiß, daß du in großer Gefahr schwebst, Arjun. Ich werde also nicht sagen, daß du es für mich tun mußt. Aber ich bitte dich darum und überlasse die Entscheidung dir.«
Natürlich willigte ich ein. Als sein Schüler konnte ich gar nicht anders. Außerdem verdankte ich ihm viel, er hatte mich immer wieder und auf ganz unterschiedliche Weise gerettet. Ich sagte ihm, daß ich es tun würde, daß ich mit den Vorbereitungen beginnen würde, sobald ich mich wieder auf thailändischen Gewässern befände. Dann bat ich ihn, noch einen Tag mit ihm verbringen zu dürfen. Es war für uns beide riskant, aber ich mußte diese Bitte äußern. Ich hatte eine Vorahnung, eine fast greifbare Gewißheit, daß ich ihn nicht wiedersehen würde. Ich sagte ihm das, und er bestätigte es ruhig. »Ja, das stimmt«, sagte er. »Ich weiß es auch.«
»Sie können es sehen?«
»Ja.«
»Warum? Was wird passieren?«
»Ich weiß nicht. Das sehe ich nicht. Doch ich sehe, daß dies unser letztes Treffen ist.«
»Wie können wir das beide wissen? Ist schon geschehen, was auch immer geschehen wird? Aber wie kann das sein?«
»Unser kleiner Verstand denkt, die Zeit sei wie ein Bahngleis, Arjun, das stetig in die Zukunft führt. Doch die Zeit ist weitaus komplexer.«
»Sind wir denn in der Zukunft bereits auseinandergegangen?«
Guru-ji schüttelte den Kopf. »Jeder Moment enthält eine gewisse Anzahl von Wahrscheinlichkeiten. Wir können ständig Entscheidungen treffen. Wir sind also keine Maschinen, die sich auf einem Gleis vorwärts bewegen, das nicht. Aber völlige Freiheit gibt es nicht. Wir sind durch unsere Vergangenheit, durch die Folgen unserer Handlungen gebunden. Wir können im Wirrwarr der Ereignisse dieser oder jener Entscheidung zuneigen. Und manchmal, an einem Knotenpunkt, konvergieren die Wahrscheinlichkeiten zu etwas, das einer Gewißheit sehr nahe kommt. Und wenn man imstande ist, zu hören und zu sehen, dann weiß man es.«
Wir wußten es also beide. Ich nahm nicht für mich in Anspruch, ein Seher wie Guru-ji zu sein, seine spirituelle Kraft oder seinen Einblick zu haben. Und doch wußte ich es. »Na gut, Guru-ji. Ich erinnere mich, daß Sie in einem Ihrer Pravachans gesagt haben, jeder Begegnung wohne der Anfang des Verlusts bereits inne.«
»Ja. Wir finden einander nur, um einander wieder zu verlieren. Der Verlust ist unvermeidlich.«
»Es gibt also keinen Grund zur Trauer. Vielleicht werden wir einander wiederfinden.«
»Vielleicht. Aber Arjun, selbst wenn wir uns nicht mehr persönlich begegnen, möchte ich dich in diesem Leben nicht so bald verlieren.«
»Guru-ji?«
»Ich sehe im Osten Gefahr für dich lauern. Große Gefahr.«
»Woher, Guru-ji? Von wem?«
»Das kann ich nicht sehen. Aber dein Leben ist bedroht. Sei sehr vorsichtig.«
»Ich werde vorsichtig sein. Wie immer. Sogar noch vorsichtiger als sonst.«
»Ich werde über dich wachen.«
Wir machten einen Spaziergang. Es gab nichts mehr zu sagen oder zu tun. Ich lebte in Gefahr, schon seit Jahren, und jetzt hatte mich Guru-ji gewarnt. Ich würde noch wachsamer sein, sofern das überhaupt möglich war. Guru-ji war gern im Grünen, er mochte Blumen und Bäume und hatte in seinen Vorträgen oft von der Notwendigkeit gesprochen, die Umwelt zu schützen. Im Zentrum von München gab es einen Park, und dort gingen wir nun hin, nur Guru-ji und ich sowie zwei seiner Sadhus. Die Sadhus gingen hinter uns, außer Hörweite. Guru-ji und ich unterhielten uns über alltägliche Dinge, über den Goldpreis, die steigende Anzahl übergewichtiger Kinder in der indischen Mittelschicht, die nächste Computergeneration, die weltweiten Klimaveränderungen und ihre Auswirkungen auf den Monsun. Nach den kosmischen Themen unserer letzten Gespräche war es eine richtige Erleichterung, wieder auf den Boden herunterzukommen, zu diesem Sommertag mit spazierengehenden Familien, Kindern, die Guru-ji anstaunten, und herumtollenden Hunden. Die mutigeren Kinder gingen zu Guru-ji hin, und er redete und lachte mit ihnen. Es war ein wunderbares, ein vollkommenes Bild: der wellige Rasen, die Bäume mit ihren üppigen, sacht im Wind sich wiegenden Kronen, die strahlende Sonne, Guru-jis geneigter großer Kopf und die schmalen, blassen Hälse der um ihn gescharten Kinder. Behalte diesen Anblick in Erinnerung, schärfte ich mir ein, nimm ihn in dich auf, und vergiß ihn nie.
Ich versuchte mir eine klare Vorstellung von Guru-ji zu machen. Er war so erleuchtet, so weit fortgeschritten, daß er der Welt der Männer und Frauen ein wenig entrückt war. Ich wußte, daß er großen Wert auf Sauberkeit legte, daß er Gärten und Grünpflanzen mochte, daß er ein ungeheures Wissen über geheimnisvolle Themen besaß, daß er gern möglichst unmittelbar von den neuesten technischen Entwicklungen erfuhr. Doch für mich schwebte er nach wie vor ein Stückchen über dem Erdboden, es war mir nicht möglich, ihn so gut zu kennen, wie ich Arvind, Suhasini oder Bunty kannte. Diese kannte ich wie mich selbst, ich wußte um ihre Sehnsüchte, wovor sie Angst hatten, wie sie dachten. Ich konnte voraussagen, was sie tun würden, konnte sie dazu bringen, bestimmte Dinge zu wollen, konnte sie lenken und beherrschen. Ich hatte sie in der Hand.
Guru-ji hingegen - wenn ich über ihn nachzudenken versuchte, wenn ich ihn mir vorstellte, erschien er in meinen Gedanken wie eines dieser Bilder in den Kalendern von Vivekananda664 oder Paramhansa477: lebendig und unvergeßlich, doch nicht ganz menschlich, ja mehr als menschlich. Irgendwie bekam ich ihn nicht zu fassen, meinen Guru-ji. Nicht einmal, wenn er ein, zwei Meter vor mir in seinem Rollstuhl dahin-sauste, zurückgelehnt, so daß er nur auf zwei Rädern fuhr, von einem Kometenschweif lachender Kinder gefolgt. Ich hatte ihn einmal nach seiner Familie gefragt, und er hatte mir ganz offen von seinem Luftwaffen-Vater erzählt, der die Kampfflugzeuge des Landes in Schuß hielt und ein Alkoholproblem hatte. Und von seiner Mutter, die an Asthma litt und furchtbar weinte, als Guru-ji den Motorradunfall hatte, dann jedoch zu seinem größten Beistand auf seiner Suche nach spirituellem Wissen und zu seiner ersten Anhängerin wurde. Ich wußte, was er gerne aß, daß er Vegetarier, aber nicht wählerisch war, daß er das kärgliche Mittagessen eines Bauern teilen und es genauso genießen konnte wie ein erlesenes Mahl bei einem Premierminister. Ich wußte das alles, und zugleich wußte ich, daß ich ihn überhaupt nicht kannte. Er blieb hinter seinem ruhigen Blick verborgen, der alles in sich aufnahm und Liebe, Frieden und Gewißheit zurückgab. Vielleicht, dachte ich, während ich hinter ihm herging, war ich anmaßend in meiner Hoffnung, ihn verstehen zu können, so wie ich andere Menschen verstand. Er hatte sein Ego hinter sich gelassen und war zu etwas Göttlichem geworden. Und ich war von der Göttlichkeit noch zu weit entfernt, um die seine zu begreifen. Schon allein es zu versuchen war ein Akt des Ego, eine Ausgeburt des Stolzes. Das einzige, worauf ich hoffen konnte, war der Augenblick des Darshan, diese flüchtige Verbindung. Und doch konnte ich dem Drang, es zu versuchen, nicht widerstehen. Ich trat an den Kindern vorbei zu ihm und fragte: »Guru-ji?«
»Ja, Arjun.«
»Ich würde Sie gerne etwas fragen. Vielleicht ist es unverschämt.«
»Um so besser. Frag nur.«
»Haben Sie je geliebt, Guru-ji?«
»Ständig, Arjun.«
»Nein, nicht so, Guru-ji. Ich weiß, Sie lieben mich und die hier« - ich zeigte auf die Kinder -, »aber ich meine die Liebe zu einem einzelnen anderen Menschen. Ishq277, pyaar, muhabbat, Guru-ji. Waren Sie je verliebt?«
»Ich war noch sehr jung, als das passiert ist«, sagte er, auf seine Beine deutend.
»Also nie?« Ich glaubte die Antwort bereits zu kennen. Ein Mann, der sein höchstes Sein verwirklicht hatte, liebte die gesamte Schöpfung gleichermaßen und konnte mit der Liebe zu einem einzelnen Menschen, dieser voreingenommenen, fragmentierenden Blindheit, nichts anfangen. Wenn man Brahman war, warum sollte man dann Majnun390 werden wollen? Doch er überraschte mich.
»Verliebt? Ja, einmal vielleicht. Vor meinem Unfall. Als ich noch sehr jung war.«
»Ach, wirklich?«
»Ja, wirklich. Wir haben uns täglich gesehen, weil wir nebeneinander wohnten, und trotzdem waren die Stunden, in denen wir getrennt waren, die reinste Folter.« Er lächelte. »Meintest du das, Arjun?«
»Ja, Guru-ji«, sagte ich eifrig. »Und wenn Sie mit ihr zusammen waren, haben Sie sich vor jeder Minute gefürchtet, weil sie verstreichen mußte.«
Ein blauäugiger Junge sagte grinsend etwas auf deutsch zu Guru-ji, und dieser antwortete ihm sehr ernsthaft. Er nickte mir über die kleine Schulter des Jungen zu und sagte: »Ja. Als hätte man einen Moment lang seine fehlende Hälfte gefunden, nur um sie gleich wieder weggenommen zu kriegen.«
Ich kämpfte gegen den Kloß in meinem Hals an. Er war also doch ein Mensch, ein normaler Sterblicher, der diesen Schmerz erlebt hatte und Verlustgefühle kannte. »Wie hieß sie, Guru-ji?«
Er klopfte dem Jungen auf die Schulter und schickte ihn fort. Dann schaute er in meine Richtung, doch er sah jemand anderen, jemanden, der sehr fern war. »Was spielt das für eine Rolle, Arjun? Namen verlieren sich in der Zeit. Jede Betörung führt zu einem Verlust.«
»Was ist geschehen, Guru-ji? Wurde sie fortgeschickt?«
»Ja, das ist geschehen. Und dann bin ich fortgegangen, erst in die Verletzung und dann in mich selbst.«
Dann war er unser Guru geworden, und nun liebte er uns statt sie, wer immer sie auch gewesen sein mochte. Sie erinnerte sich zweifellos auch an diese Liebe, doch vielleicht tröstete es sie, daß er sie immer noch liebte, und zwar auf eine viel tiefer greifende Weise, als es im Rahmen der Liebe eines einzelnen unwissenden Sterblichen für einen anderen möglich war. Trotzdem tat es mir gut zu wissen, daß er mir früher einmal ein klein wenig geähnelt hatte. »Danke«, sagte ich. »Danke, Guru-ji, daß Sie mir das erzählt haben.«
»Gern geschehen«, sagte er und schaute dabei über die Schulter zu der Kindergruppe hinüber, die abgebogen war und jetzt, ein Gewirbel goldener Beine, über die Wiese lief, der Junge von eben an der Spitze.
Die Sadhus schlössen auf, und ich blieb etwas zurück, mein neues Wissen um einen verliebten jungen Mann wie einen Schatz in mir tragend.
Einer der Sadhus sagte etwas auf französisch zu Guru-ji. Er war Schweizer, ein Rotkopf mit Halbglatze, der den Namen Prem Shantam bekommen hatte. Guru-ji hatte die verschiedensten Leute in seinem Gefolge, und er konnte sich in vielen Sprachen zumindest rudimentär verständigen. Jetzt wandte er sich zu mir um. »Arjun!«
Ich trat zu ihm. »Guru-ji?«
»Prem hat mir gerade gesagt, daß wir uns jetzt einem Bereich des Parks nähern, wo die Deutschen alle Schicklichkeit fahrenlassen. Sie liegen dort völlig unbekleidet herum. Er schlägt vor, daß wir woanders entlanggehen.«
»Vielleicht sollten wir das tun, Guru-ji.«
»Warum? Hast du Angst davor, ihre Körper zu sehen?«
»Ich? Nein, überhaupt nicht. Ich bin das gewohnt, aus Thailand und so.«
Wir gingen also weiter, den funkelnden Fluß entlang. Und da waren auch schon die nackten Deutschen, hauptsächlich Männer, die auf dem Gras lagen oder ganz normal herumliefen, völlig unbefangen. Ich hatte sie an fernen Stränden gesehen, war mit ihrer weißen Haut, ihren runzligen Hintern vertraut. Doch hier fand ich das irgendwie irritierend. In dieser Stadt der Kirchen wirkte eine solche Zurschaustellung absurd.
Prem sagte etwas, und Guru-ji übersetzte es für mich, den Blick immer noch aufs Flußufer gerichtet. »Er sagt, daß sie das »Freikörperkultur nennen. Aber ich finde das weder frei noch kultiviert. Sie sind fehlgeleitet. Alles hat seine Zeit und seinen Ort. Es gibt Lebensphasen, in denen bestimmte Dinge angemessen sind. Ein Sadhu, der nackt im Dschungel meditiert, ist wirklich nackt. Er hat sich ganz und gar von der Kultur abgewendet. Doch diese Menschen hier sind immer noch in die Sprache gewandet. Sie halten sich für frei, doch tatsächlich sind sie in ihrer Rebellion gegen die eigentlich angemessene Scham gefangen. Wir leben wahrlich im Kaliyug, alles steht auf dem Kopf.«
Unter den Nackten waren auch einige Frauen, und zwei von ihnen beobachteten uns nun. Die eine war hellhaarig, typisch deutsch, doch die andere hatte dicke schwarze Locken und war sehr groß.
»Kommt«, sagte Guru-ji. Er faltete, zu den Mädchen gewandt, die Hände zum Namaste. »Sie werden noch denken, daß wir sie aus schmutziger Neugier betrachten.«
Er wirbelte seinen Rollstuhl herum. Während wir uns vom Fluß entfernten, schaute ich mich noch einmal um und sah, daß die Dunkle uns weiterhin beobachtete. Guru-ji hatte recht, sie war schamlos, furchtlos. Kutiya. Doch bis wir am Parkeingang angekommen waren, hatte ich sie vergessen. Ich war bei Guru-ji und dadurch viel weniger reizbar als sonst. Meine Verärgerung kam und ging. Wir kehrten zur Villa zurück und aßen in dem großen Salon geruhsam zu Mittag, die Sadhus, Guru-ji und ich. Danach setzten wir uns in den Garten und genossen die Sonne. Ich war schläfrig und entspannt, zufrieden, überhaupt nicht traurig. Wenn dies ein Knotenpunkt in der Zeit war, dann waren all die Wahrscheinlichkeiten zu dieser Stille zusammengeflossen. Ich war im Frieden.
»Es gibt da noch etwas, das du mir nicht gesagt hast, Arjun«, sagte Guru-ji plötzlich. »Das ist doch so?«
Natürlich war da noch etwas. Ich hätte nicht so dumm sein dürfen, es ihm zu verschweigen. Er wußte immer Bescheid. Und das galt nicht nur für mich - auf seiner Website fanden sich die Berichte von Dutzenden, ja Hunderten seiner Anhänger, die seine Fähigkeit bezeugten, ihre Sorgen zu erspüren, hinter ihr Zögern zu blicken. Irgendwie wußte er Bescheid. »Es ist ziemlich belanglos, Guru-ji. Nach all den bedeutenden Dingen, über die wir gesprochen haben, kommt es mir albern vor, es überhaupt zu erwähnen. Deshalb habe ich nichts gesagt.«
»Arjun, nichts ist belanglos, wenn es dich bedrückt. Ein kleines Sandkörnchen kann eine gewaltige Maschine blockieren. Dein Bewußtsein bestimmt die Welt, die du erschaffst, und wenn dein Denken behindert ist, bricht auch deine Welt zusammen.«
»Es geht um dieses Mädchen.«
»Die Muslimin?«
»Ja.«
»Was ist mit ihr?«
»Eigentlich nichts. Also - ich sehe sie nicht mehr so häufig wie früher. Sie ist sehr beschäftigt, mit ihrer Arbeit und all den Filmen. Und auch ich habe viel zu tun. Wenn wir uns treffen ist alles gut. Sie ist schön. Sie ist gefügig.«
»Aber?«
»Aber manchmal kriege ich Angst. Ich weiß nicht. Ich weiß nicht, ob sie mich wirklich liebt. Ich schaue sie an, sehe ihr in die Augen, aber ich weiß es nicht. Sie behauptet, daß sie mich liebt. Aber tut sie es wirklich?«
Guru-ji schüttelte den Kopf. »Das ist keine kleine Frage, Arjun. Das ist eine große Frage. Nicht einmal die Weisen können in das Herz einer Frau blicken. Vatsayayana hat geschrieben: ›Man weiß nie, wie tief eine Frau liebt, nicht einmal wenn man selbst der Geliebte ist.‹ Genau diese Erfahrung machst du gerade.«
»Aber Sie, Guru-ji, wissen Sie es?«
»Nein, ich weiß es nicht. Und selbst wenn ich dir sagen würde: ›Ja, sie liebt dich‹, was würde dir das nützen? Bist du dir sicher, daß es auch morgen noch so wäre? Frauen sind unberechenbar, Arjun. Sie können ihre Gefühle nicht kontrollieren, sie sind so wechselhaft wie Prakriti493 selbst. Würdest du denn versuchen, das Wetter für seine Beständigkeit zu lieben oder einen Fluß dafür zu lieben, daß er bis in alle Ewigkeit an ein und demselben Fleck bleibt? Die körperliche Liebe ist keine Liebe. Sie ist nur eine momentane Betörung. Sie wird vergehen.«
»Aber warum kommt das Mädchen dann immer wieder zu mir? Und täuscht mich?«
»Sie ist skrupellos, Arjun. Solange sie von dir profitiert, wirst du das Gefühl haben, daß sie dich möglicherweise liebt. Das ist das Geschick der Hure. Es ist ein Geschick, das den Frauen im Blut liegt. Es ist nicht ihre Schuld, sie können nur so handeln, wie sie geschaffen sind. Sie sind schwach, und die Waffen der Schwachen sind nun einmal Lügen, Ausflüchte und Schauspielerei.« Ich muß wohl traurig oder erschöpft ausgesehen haben, denn er kam näher zu mir und legte mir eine Hand auf den Unterarm. »Man kann diese Wahrheit nur erfassen, indem man sie selbst erfährt, Arjun. Wenn ich dir gesagt hätte, daß du dich nicht mit ihr einlassen sollst, hättest du mir gehorcht. Aber du hättest mich womöglich für einen mißmutigen alten Mann gehalten, der jedem Vergnügen argwöhnisch gegenübersteht. Doch jetzt weißt du Bescheid. Du hast die Maya412 durchschaut. Wir müssen über das hier hinausgelangen.« Er kniff mit dem Daumen und seinem langen Zeigefinger in die Haut an meinem Handgelenk. »Es ist nützlich, doch zugleich blendet es uns. Der Schmerz, den du jetzt erlebst, ist das Tor zur Weisheit. Lerne daraus.«
Ich wußte, daß er recht hatte. Und doch wehrte sich mein Leib dagegen, wehrte sich gegen die Entscheidung, die ich treffen mußte. Hoffnungslosigkeit rumorte in meinem Bauch. Sollte die schwindende Illusion der Liebe nur diese große Ödnis hinterlassen? Mir war, als stünde ich auf einer endlosen Ebene, und jeder leblose braune Quadratmeter dieser Ebene würde von einem seltsamen, gleichmacherischen Licht erhellt. Ich sah es und schrak vor der Leere zurück.
»Ja, Arjun«, sagte Guru-ji. »Alles ist verbrannt, und für dich bleibt im Moment nur die Asche. Doch auch diese graue Wüstenei ist eine Illusion, nur ein Schritt auf deinem Weg. Vertrau mir. Geh mit mir weiter. Jenseits dieses Beinhauses der romantischen Liebe herrschen Friede und eine größere Liebe.«
Während des restlichen Tages sorgte er dafür, daß ich stets in seiner Nähe war. Wir waren zusammen, bis ich am späten Abend aufbrach. Er umarmte mich fest, und seine letzten Worte an mich waren: »Hab Vertrauen, Arjun. Zaudere nicht. Ich werde über dich wachen. Hab keine Angst, Beta.«
Ich hatte keine Angst. Ich fuhr durch die Nacht nach Düsseldorf und nahm ein Flugzeug nach Hongkong. Ich verhielt mich gemäß den üblichen Prinzipien und Prozeduren, wandte die im Laufe meines Lebens gelernten Tricks sowie K. D. Yadavs Spionage-Knowhow an, um sicherzugehen, daß ich nicht verfolgt wurde. Ich tat das alles aus Gewohnheit, doch ich wußte, daß ich sicher war. Guru-jis Segen hing schützend über mir. Im Flugzeug stellte ich den Sitz ganz nach hinten und schlief. Ich war sterbensmüde. Innerhalb von zwei Tagen war ich wiedergeboren worden. Etwas in mir war gestorben, und etwas Neues war an seine Stelle getreten. Guru-ji hatte mich neu erschaffen. Während des gesamten Flugs träumte ich von Guru-jis Händen. Es war das eine, was ich von ihm mitnahm, diese Nahaufnahme. Mochte er auch göttlich sein, seine Hände waren von dieser Welt. Sie waren klein und sehr weiß, und seine Nägel waren makellos sauber. Als ich aufwachte, fragte ich mich, warum ich diese Hände im Schlaf immer wieder gesehen hatte, so lebendig, so präsent, so menschlich. Er hatte mir einen neuen Namen und eine neue Vison gegeben. Zusammen würden wir einen neuen Zeitzyklus einleiten.
In Singapur erwartete mich ein Hinterhalt. Zunächst allerdings begab ich mich nach Phuket auf die Yacht, um Guru-jis Lieferung zu organisieren. Binnen zwei Wochen hatten wir neue Kommunikationswege eingerichtet und abgesichert. Dieser Mistkerl Kulkarni behielt mich zweifellos genau im Auge, doch er würde nichts erfahren. Ich rief Pascal und Gaston an, meine alten Kameraden. Wir hatten schon die ganze Zeit ihre Schiffe und ihre erweiterte Infrastruktur genutzt - sie waren mit mir expandiert -, doch jetzt sagte ich ihnen, daß sie beide selbst eine Fahrt für mich durchführen müßten. Sie müßten Mannschaft und Kapitän sein, so wie früher. Gaston paßte das nicht, er wurde trotzig wie ein launisches Kind. Er habe Diabetes, sagte er, und außerdem spiele eine seiner Bandscheiben seit einem Bandscheibenvorfall bei der kleinsten Erschütterung verrückt. Ich sagte, er solle aufhören, wie ein altes Weib herumzujammern, solle eine Stützbandage anlegen und sein Schiff klarmachen. Er murrte, tat jedoch wie geheißen. Er stand in meiner Schuld. Wir brauchten drei Wochen, um alles vorzubereiten, und dann machten sie sich auf den Weg, Gaston und Pascal und zwei ihrer besten Männer. Die Übergabe vor der Küste von Madagaskar ging reibungslos vonstatten, und auch die Rückfahrt bei ruhiger See verlief friedlich. Sie landeten die Fracht in der Nähe von Vengurla an und fuhren nach Hause. Guru-jis Leute nahmen die Lieferung entgegen und leiteten sie weiter, wohin auch immer. Ich bezahlte Gaston und Pascal das Dreifache ihres üblichen Preises, und damit war die Sache erledigt. Keine Umstände, keine Probleme.
Nun, dachte ich, war es an der Zeit, nach Singapur zu fliegen. Ich wollte Zoya ein letztes Mal sehen, um unsere Verbindung aufzulösen. Ich war über meine Abhängigkeit von ihr hinausgewachsen, hatte die Liebe hinter mir gelassen. Ich wollte einen Strich unter unser Verhältnis ziehen und mich von ihr verabschieden. Ich verspürte keine Wut, keine Bitterkeit mehr und wollte unsere Beziehung ehrenhaft beenden, ohne Verwirrung oder Groll. Außerdem hatte ich Arvind schon länger nicht mehr gesehen, und ich legte Wert darauf, mich mit meinen wichtigsten Leuten regelmäßig zusammenzusetzen. Ich flog also nach Singapur, zwei Tage vor Zoya, und kam nachts dort an. Arvind holte mich ab, und auf dem Weg zur Wohnung beachteten wir die üblichen Sicherheitsmaßnahmen: Wir machten mehrmals kehrt, um nach Verfolgern und Beobachtern Ausschau zu halten, und wechselten auf halbem Weg den Wagen. Dieses Prozedere war uns in Fleisch und Blut übergegangen. Ein fetter Mond stand tief am Himmel. Wir unterhielten uns über Geschäftliches, über Investitionen, über Personalprobleme. Und wir tratschten ein bißchen über einen von Suleiman Isas Unterbossen, einen gewissen Hamid. Dieser Hamid wohnte in Karatschi und hatte via E-Mail und Telefon eine Affäre mit der Frau seines obersten Controllers in Bombay gehabt, während der im Gefängnis vor sich hin moderte. Die Polizei hatte sämtliche Telefone der Frau angezapft, und Arvind, der kürzlich eine der Aufnahmen gehört hatte, machte jetzt für mich nach, wie die stöhnende und keuchende Randi Hamid telefonisch den Schwanz lutschte.
»Bhai«, sagte er, »wir leben wirklich in erstaunlichen Zeiten. Ihr Mann sitzt im Gefängnis. Und sie schickt Hamid per E-Mail Bilder von sich im Bikini.«
»Diese Managementstrategie hat doch durchaus was für sich. Die gibt unserem Versprechen an die Jungs, daß wir uns um ihre Frauen und Kinder kümmern, wenn sie im Knast sind, eine ganz neue Bedeutung.«
»Ja, Bhai. Immerhin saß ihr Mann zu dem Zeitpunkt schon seit fünf Jahren im Knast. Und eine Frau hat schließlich gewisse Bedürfnisse, die befriedigt werden wollen.« Arvind streckte den Arm aus dem Autofenster und schob eine Karte in einen Schlitz an der Wand, damit wir durch die doppelte Sicherheitstür des Apartmenthauses kamen. »Und wissen Sie was, Bhai, am Ende des Telefongesprächs sagt Hamid zu ihr: ›Was ich dir jetzt sage, habe ich noch nie jemandem gesagt: ›I love you.‹ Woraufhin sie antwortet: ›I love you.‹«
»Zu seinen eigenen drei Frauen hat er das jedenfalls bestimmt noch nie gesagt, der Dreckskerl.«
Arvind grinste. »Jedenfalls nicht auf englisch.«
Suhasini sah rund und glücklich aus, es war offensichtlich, daß Arvind ihr schon in vielen Sprachen gesagt hatte, wie sehr er sie liebte. Die Kinder schliefen bereits, aber ich blieb kurz an den beiden Zimmertüren stehen, um einen Blick auf sie zu werfen, den Jungen und das Mädchen. Ich sagte Suhasini, sie seien gewachsen, seit ich sie vor zwei Monaten das letzte Mal gesehen hätte. Das war keine Schmeichelei. Obwohl sie im Bett lagen, konnte ich erkennen, wie unglaublich lang ihre Beine waren. Dabei waren sie erst sieben und fünf. Sie würden beide einen Meter achtzig groß werden, bevor sie aufhörten zu sprießen, diese absonderlichen Blumen aus Arvinds Garten. Ich aß etwas Reis mit Daal und unterhielt mich mit den stolzen Eltern über ihre rasanten kleinen Racker.
»Das hegt an dem vielen Eiweiß, Bhai«, sagte Suhasini und wischte sich mit dem Zipfel ihres Pallus über das üppige Kinn. »Als wir so klein waren, haben wir in Indien alle zuwenig davon bekommen. Wir waren mangelernährt. Heute braucht man nur das nötige Hintergrundwissen, dann kann man seinen Kindern geben, was sie brauchen. Dieses Wachstum erscheint nur uns ungewöhnlich. In Wirklichkeit ist es ganz normal.«
Sie selbst wurde durch all ihr Singapur-Eiweiß langsam rund wie ein Fußball, aber das behielt ich für mich. Ich pries ihre Kinder und ging dann zu Bett. Als ich gerade am Einschlafen war, rief Zoya aus Bombay an. »Es tut mir so leid, Bhai«, sagte sie. »Aber es hat eine Verzögerung gegeben.« Sie hätten pünktlich mit dem Drehen aufgehört, aber auf dem Rückweg in die Stadt seien sie in einen zwölf Kilometer langen Stau geraten. Drei Laster, die zu schnell gefahren seien, hätten sich umeinandergewickelt. Es habe sechs Stunden gedauert, das verkeilte Kuddelmuddel zu beseitigen. Es war ihr sehr unangenehm, und sie wirkte sehr verängstigt. Sie hatte noch nie eine Verabredung mit mir nicht eingehalten.
Aber ich war über Wut und Gefühlsausbrüche hinaus. Ich sagte ihr ganz ruhig, sie solle sich schlafen legen und am folgenden Tag nach Singapur kommen. Dann machte ich die Augen zu und schlief selbst ein.
Am nächsten Morgen langweilte ich mich. Arvind und ich hielten unsere morgendliche Besprechung ab, und ich rief Bunty an. Ich kümmerte mich ums Geschäft, aber eigentlich hatte ich den Tag für Zoya eingeplant. Ich hatte mit ernsten Diskussionen, womöglich auch Tränen gerechnet. Jetzt hatte ich nichts zu tun. Ich sah ein bißchen fern. Ich spielte mit den Bachchas. Dann war es Zeit fürs Mittagessen, und es stellte sich die große Frage, aus welchem Restaurant wir etwas kommen lassen sollten. Arvind plädierte für indisches Essen, aber er wurde überstimmt.
»Im Singapore Shopping Center gibt es ein neues kantonesisches Restaurant, Bhai«, sagte Suhasini, zitternd vor Gier. »Das Essen dort ist wirklich phantastisch. Aber die haben keinen Lieferservice. Sagen Sie Arvind, daß er gehen soll.«
»Das ist ziemlich weit weg«, sagte Arvind, »und es gibt drei Chinesen gleich hier um die Ecke.«
»Ich gehe«, sagte ich.
»Was?« Es kam wie aus einem Munde und ziemlich perplex.
»Ich muß mal raus hier«, sagte ich.
»Aber Bhai?«
Er mußte nicht mehr sagen. Ich war in Singapur nie ausgegangen, kein einziges Mal. Und in Thailand verließ ich nur selten die Yacht. Als ich nach Deutschland geflogen war, hatte ich mich in der Öffentlichkeit gezeigt, aber das hatte allseits als einmalige Notaktion gegolten. Und nun bot ich an, zum Chinesen zu gehen, um uns etwas zum Mittagessen zu besorgen. »Ich brauch mal einen Tapetenwechsel«, sagte ich.
Er kannte mich gut genug, um mir nicht zu widersprechen. »Ich lasse ein paar Jungs kommen, die Sie begleiten«, sagte er.
»Are, nein, Baba.« Ich deutete auf mein Gesicht. »Das ist ein völlig ausreichender Schutz. Mich erkennt doch keiner mehr.«
Und so machte ich mich auf den Weg. Sobald ich auf der Hauptstraße war, gab ich Gas. Ich schlängelte mich rasant durch den Verkehr und fühlte mich frei. Es tat gut, ein einfacher Mann mit einem unbekannten Gesicht zu sein, der unterwegs war, um chinesisches Essen zu besorgen. Ich genoß es richtig, diesen Botengang auszuführen: ins Restaurant zu spazieren, das Essen zu bestellen, es zu bezahlen und der kleinen Chinesin am Empfang zu danken. Ich versuchte mir vorzustellen, was sie sah: einen Inder Mitte Dreißig, sauber und ordentlich in einem strahlendweißen T-Shirt, grauen Shorts und weißen Nikes, durchaus attraktiv, aber völlig normal. Ob sie in meinen Augen irgendeinen Hinweis darauf sah, wer ich wirklich war? Nein, ich trug eine Sonnenbrille mit grau getönten Gläsern. Ich war sicher.
Ich stieg wieder in den Wagen und schaltete die Klimaanlage ein, die schnell und kraftvoll ansprang. Mir wurde bewußt, daß ich in einem sehr teuren Auto saß. Das Leder unter meinen Oberschenkeln war weich wie die Wangen eines jungen Mädchens. Es war ein Mercedes, ein ganz neues Modell mit den entsprechenden technischen Raffinessen, einschließlich eines GPS-Geräts. Dieser verdammte Arvind. Wozu brauchte er in dieser kleinen Chutiya-Stadt ein GPS? Wieso konnte er sich das leisten? Behielt er zuviel Geld zurück, war seine Beteiligung zu hoch? Oder belog er mich, was seine diversen Einkommen betraf? Den ganzen Rückweg über quälten mich diese Fragen. Ich hörte die International Dhamaka-CD und zerbrach mir den Kopf.
Auch während ich parkte und mit dem Aufzug hochfuhr, dachte ich noch übers Geld nach. Meine Company war erfolgreich, aber wir expandierten nicht mehr so schnell. Vielleicht mußte ich zu einer dezidierten Sparpolitik übergehen, um meinen Jungs klarzumachen, daß finanzielle Zurückhaltung und verantwortliches Wirtschaften nötig waren. Ich merkte plötzlich, daß ich einen Riesenhunger hatte. Von den Essenspackungen in meinen Händen stiegen Gewürz- und Fleischduft auf. Der Fahrstuhl hielt in unserem Stockwerk, und ich tippte mit der Fußspitze gegen die Fahrstuhltür. Geh auf, Gaandu.
Ich trat hinaus. Zwei Männer standen im Hausflur, einer rechts, einer links, den Aufzug im Blick. Ich kannte sie nicht. Der eine war Chinese, der andere Inder. Sie hatten beide militärisch wirkende Kurzhaarschnitte, an den Seiten rasiert.
»Wo wollen Sie hin?« fragte der Chinese.
Was geht dich das an, Maderchod, hätte ich am liebsten gesagt. Es lag mir auf der Zunge, doch zugleich dachte ich nach. In der Ewigkeit dieses Bruchteils einer Sekunde dachte ich nach, Guru-ji sei Dank. Und dann sagte ich: »Essen.« Ich hielt die Tüten in meinen Händen hoch. »Lieferservice«, sagte ich. »Penthouse.«
»Die brauchen nichts«, sagte der Inder auf Hindi. »Sie sind nicht zu Hause.«
Ich hatte den körperlichen Impuls, mich umzudrehen und loszurennen. In den Aufzug, die Treppe runter, nur weg. Doch ich dachte nach. Mach sie nicht mißtrauisch.
»Geld«, sagte ich. »Die müssen bezahlen.«
»Verschwinde«, sagte der Chinese.
»Los«, sagte der Inder.
Ich fluchte leise vor mich hin, trat wieder in den Fahrstuhl, drückte schimpfend auf eine Taste.
Der Inder machte einen Schritt nach vorn, griff nach der Tür. »Arbeitest du für die Leute im Penthouse?«
»Nein. Für Wong's Garden.«
»Name?«
»Nisar Amir.«
»Nimm die Brille ab.«
Ich hatte immer noch meine Gucci-Sonnenbrille auf. Ich stellte eine der Tüten auf den Boden und nahm die Brille ab. Er musterte mein Gesicht mit dem Blick eines Polizisten, der die Gesichter Tausender von Apradhis im Schnelldurchlauf Revue passieren läßt. Ich schaute nicht weg und versuchte, ihn nicht zu hassen. Ich dachte immer wieder: Sei der Mann vom Lieferservice.
»Okay«, sagte er und ließ die Tür los.
Mit einem dumpfen Schlag von Gummi und Metall war ich ihrem Blick entzogen. Ich sank gegen den Spiegel an der hinteren Wand des Aufzugs. Meine Beine zitterten. Ich nahm die Essenstüten mit ins Erdgeschoß, hielt sie vor meine Brust wie einen Schild. Dann stieg ich in Arvinds schickes Auto und fuhr weg.
Ich brauchte drei Tage, um aus Singapur herauszukommen, und es war nicht leicht. Ich wußte nicht, wer die Männer waren, die mich in meinem Penthouse aufgespürt hatten. Doch sie hatten nach der Durchsuchung meiner Wohnung natürlich meine neuen Pässe und damit auch mein neues Gesicht. Ich dagegen hatte bloß zwei Handys und dreihundertdreiundsiebzig Singapur-Dollars. Aber ich konnte immerhin mit meinen Jungs reden, und ich hatte meinen Verstand. Ich verließ das Land schließlich in einem kleinen Ruderboot, das mich zu einem anderen, größeren Boot brachte, in dem ich unter Holzlatten in Dunkelheit und Fischgestank lag. Mit diesem Boot gelangte ich durch die Straße von Johor zu einem wieder anderen kleinen Boot, das mich schließlich an einem malaysischen Strand absetzte. Am nächsten Tag war ich in Thailand.
Ich war in Sicherheit, doch Arvind war tot. Einen Tag nach meinem Ausflug in das chinesische Restaurant gab die Polizei von Singapur bekannt, man habe im Penthouse seine Leiche gefunden. Es war dreimal auf ihn geschossen worden. Auf Suhasini hatte man einmal geschossen, in den Kopf. Auch die Kinder waren tot. Der Singapurer Polizei zufolge hatte Suhasini den unbekannten Angreifern die Tür geöffnet und war sofort getötet worden. Arvind hatte auf die Eindringlinge geschossen, diese hatten das Feuer erwidert, und in dem Schußwechsel waren die Kinder ums Leben gekommen. Und schließlich war auch Arvind im Kugelhagel der Mörder gefallen.
Das war alles. Die Singapurer Obrigkeiten bekundeten ihr Entsetzen über diesen Ausbruch beispiellos brutaler Bandenkriminalität in der Gartenstadt und kündigten schärfere Einwanderungskontrollen an. Die Polizei brauchte vier Tage, um hinter Arvinds Decknamen zu kommen und herauszufinden, wer er wirklich war, und dann berichteten die Zeitungen in Indien auf der Titelseite über das Massaker und stellten Theorien über die Identität der Mörder auf. Sie tippten auf Suleiman Isa und seine Leute, lobten deren Plan sowie die Kühnheit, ihn mitten im strengen Singapur auszuführen, und druckten schematische Darstellungen der einzelnen Zimmer ab, in denen kleine Strichmännchen aufeinander schössen. Vor allem aber fragten sie: »Wie konnte Ganesh Gaitonde entkommen?«
Ich war entkommen, ja. Bloß wem? Es bot sich an, zu glauben, das seien wieder einmal die Jungs aus Dubai gewesen. Es bot sich zu sehr an, paßte zu gut. Ich mußte immer wieder an diese Haarschnitte denken. Diese beiden Männer vor dem Aufzug - hatten sie sich nicht wie Polizisten, wie Soldaten gehalten? Vielleicht war es ja nicht Suleiman Isa, der hier zugeschlagen hatte, sondern eine Regierung. Kulkarni und seine Organisation waren sehr wütend auf mich, vielleicht hatten sie beschlossen, die Zusammenarbeit mit mir zu beenden, dieses Konto zu schließen. Vielleicht hatten sie beschlossen, Ganesh Gaitonde zu erledigen. Ich hatte genau solche Missionen selbst für sie durchgeführt, wenn sie hinter einst wichtigen, zur Belastung gewordenen Mitarbeitern her gewesen waren. Versetz diesen Mann in den Ruhestand, hatten sie gesagt, er war mal einer von uns, doch jetzt ist er gegen uns. Oder zumindest nicht mehr für uns. Und ich hatte es getan, hatte irgendeinen armen Chutiya in Kathmandu, Brüssel oder Kampala aufgespürt und umgebracht. Wen immer sie mir genannt hatten und wo auch immer. Ich hatte es getan. Und jetzt waren sie hinter mir her.
Nein, nein - das durfte ich nicht glauben. Zieh keine voreiligen Schlüsse, sagte ich mir. Füg dir diese Verletzung nicht zu, glaub nicht, daß dein eigenes Land dich so sehr verabscheut, daß es dich weghaben will, ausgelöscht, erledigt. Ich telefonierte in dieser Woche dreimal mit Kulkarni, und er war immer höflich und zeigte sich betroffen über das, was geschehen war. Er sagte, er lasse selbst umfassende Ermittlungen durchführen, und versprach, neue Informationen aus Singapur unmittelbar an mich weiterzuleiten. Nach diesen Telefonaten legte ich jedesmal beruhigt und ermutigt auf. Doch es dauerte keine fünf Minuten, bis ich das in seinem Honig verborgene Gift entdeckte. Ja, er beruhigte mich, aber vielleicht war das eine Falle, die Vorbereitung für eine weitere Attacke. Vielleicht hatten sie ihre Beobachter schon postiert, vielleicht waren sie bereits in Stellung gegangen und kurz davor, mich vom Spielfeld zu fegen. Wer hatte mich in Singapur verraten, wer kannte die Adresse des Penthouse und die Sicherheitscodes für den Haupteingang des Gebäudes und den Aufzug, wer wußte genug, um die Videokameras ausschalten zu können, die in jedem Hausflur hingen? Wo waren diese Informationen hergekommen? Hatte Zoya mich verraten? Warum hatte sie ihren Flug verpaßt? Es hatte an diesem Tag tatsächlich einen Stau auf der Schnellstraße gegeben, das hatte ich überprüft, aber warum war sie erst so spät vom Set losgefahren? Oder war es Arvind gewesen, hatte er mit irgend jemandem einen Deal gemacht und war selbst verraten worden? Hatten die Killer Anweisung erhalten, auch den Informanten zu beseitigen, tabula rasa zu machen? Es war möglich. Es war alles möglich.
Ich lag unter dem thailändischen Vollmond wach und quälte mich mit all diesen Möglichkeiten herum. Und als ich morgens aufstand, hatte ich Angst. Guru-ji hatte mir gesagt, daß ich in großer Gefahr schwebte, und ich wußte, sie war noch nicht vorbei. Ich begann wieder eine Pistole zu tragen, nach vielen Jahren ohne. Und nach zwei Tagen schnallte ich mir eine zweite ans Fußgelenk. Ich ließ mir die beste kugelsichere Weste, die es derzeit gab, aus Amerika kommen und trug sie den ganzen Tag unter dem Hemd, eine Weste der Schutzklasse 1, die selbst die Kugeln einer .44er Magnum von meiner Brust und meinem Rücken fernhalten würde. Ich erhöhte die Anzahl der bewaffneten Posten auf der Yacht und ließ sie in drei Schichten Wache schieben. Ich übernachtete mal auf dem Boot, mal in verschiedenen Häusern an Land und variierte meine Wege.
Unterdessen reihte sich ein Unglück ans andere. Eines Nachmittags rief mich Bunty in sehr gedrückter Stimmung an, er, der doch sonst immer so fröhlich war. »Bhai«, sagte er. »Ich bin in einer Klinik.«
»Was ist denn los?« Ich malte mir ein Dutzend Tragödien gleichzeitig aus: Syphilis, Schußwunden, seine Kinder schwer an Malaria erkrankt.
»Pascal und Gaston, Bhai. Sie liegen beide hier im Krankenhaus.«
»Was? Ich dachte, nur Gaston hat Diabetes? Hat er den anderen angesteckt?«
Das entlockte ihm ein kurzes Lachen, aber wirklich nur ein ganz kurzes. »Nein, Bhai. Es ist etwas anderes. Sie sind beide krank. Und die beiden Jungs, die sie auf der letzten Tour begleitet haben, auch. Sie übergeben sich alle immer wieder.«
Er meinte die Fahrt, die sie für Guru-ji gemacht hatten, diese letzte, spezielle Lieferung, um die er mich gebeten hatte. Ich sagte: »Diese Idioten haben bestimmt schlechten Fisch gegessen.«
»Gaston fallen die Haare aus, Bhai.«
»Das tun sie doch schon seit Jahren.«
Bunty sagte nichts. Er war richtig grimmig. Schon allein daß er sich die Zeit genommen hatte, zur Klinik zu fahren, war ungewöhnlich. Er war ein vielbeschäftigter Mann, dafür sorgte ich schon. Und er lachte überhaupt nicht mehr, Bunty, der sich sonst ständig über Männer, denen in die Go-lis geschossen wurde, und ähnliches lustig machte. Gastons Zustand mußte wirklich sehr ernst sein, zu ernst. »Okay«, sagte ich. »Sieh zu, daß sie gute Ärzte haben. Wenn es an Geld fehlt, zahle. Kümmer dich um sie.«
»Ja, Bhai, so habe ich mir das auch gedacht. Sie sind schließlich schon lange bei uns.«
Er blieb die nächsten zwei Tage bei ihnen und übte Druck auf die Ärzte aus, damit sie unsere Freunde kurierten. Unterdessen rief ich Inspektor Samant in Bombay an und lieferte ihm zwei von Suleiman Isas Controllern ans Messer. Er brachte sie noch in derselben Nacht um, einen nach dem anderen. Die Dreckskerle in Dubai hatten zwar den Mord an Arvind nicht für sich reklamiert, aber sie sollten wissen, daß wir nicht schliefen, daß wir sehr wohl in der Lage waren, in einer Sprache zu antworten, die sie verstanden. Die Erschießungen verschafften mir eine gewisse Befriedigung, vor allem deshalb, weil Samant mir Fotos aus dem Leichenschauhaus mailte, auf denen die von Kugeln zerschmetterten Köpfe dieser Bhenchods zu sehen waren. Doch der Trost währte nicht lange, und der stete dumpfe Trommelschlag der Angst hielt an.
»Soll ich dir ein Mädchen schicken?« fragte Jojo am Sonntagabend. »Ich habe ein oder zwei neue, die dir Spaß machen könnten.«
»Are, damit bin ich fertig.«
»Das glaube ich dir nicht, Gaitonde. Das glaubst du doch selbst nicht. Du willst nie wieder ein Mädchen vögeln? Bis an dein Lebensende?«
»Vielleicht ja, vielleicht nein. Aber es ist mir nicht mehr wichtig. Das habe ich alles hinter mir.«
Sie gab ein quietschendes Ächzen von sich, wie ein vor Schmerzen winselnder Welpe. Ich dachte, vielleicht sei auch sie plötzlich krank geworden. Dann brach sie in hysterisches Gelächter aus. Ich hielt das Handy ein Stück von meinem Ohr weg und sagte: »Jojo, Maderchod, hör mir zu.« Doch sie war jenseits von Gut und Böse, also legte ich das Handy hin und wartete ab. Ich ließ eine Minute verstreichen, zwei, dann nahm ich es wieder in die Hand. Sie kicherte jetzt nur noch, doch kaum sagte ich ihren Namen, platzte sie wieder los. »Durchgeknallte Chutiya«, sagte ich und beendete das Telefonat. In diesem Moment hätte ich sie am liebsten an der Kehle gepackt und dieses dreckige Geräusch erstickt, sie geschüttelt, bis sie rot anlief und verstummte. Ich tigerte durch meine Kabine, ging an Deck, ging wieder hinunter. Kutiya. Ich erlaubte ihr einen zu formlosen, zu vertraulichen Umgang mit mir. Vielleicht mußte ich ihr eine Lektion erteilen. Ich hatte ihr von Anfang an zuviel durchgehen lassen.
Als mir dieser Gedanke eben durch den Kopf ging, rief sie an. »Saali«, begann ich.
»Tut mir leid, tut mir leid«, sagte sie. »Wirklich, Gaitonde, du mußt mir verzeihen. Es war einfach eine totale Überraschung. Ausgerechnet du. Wo du doch soviel Spaß an Frauen hast. Es ist schwer vorstellbar, daß gerade du so etwas sagst.«
»Gaandu, du hast doch bloß Angst, mich als Kunden zu verlieren. Du willst, daß ich für eine zweite Zoya bezahle, sie aufbaue, damit du deinen Anteil einstreichen kannst.«
»Ich versuche dich nur zu beruhigen, Gaitonde. Du warst noch nie so. Dabei hast du mir mal gesagt, daß man ruhig und kalt sein muß, wenn man eine Company leitet. Du bist alles andere als ruhig.«
Sie hatte recht. Ich war nicht ruhig. Ich war aufgewühlt, ängstlich, ärgerlich. »Ein Mädchen würde da jetzt auch nicht helfen«, sagte ich. »Versuch's mit was anderem.«
»Wie wär's mit ein paar Briefen?«
Wir hatten uns schon lange nicht mehr mit ihren Bewerbungsschreiben belustigt. »Ja«, sagte ich. »Das ist eine gute Idee. Lies mir einen vor.«
Sie hatte ein paar auf ihrem Schreibtisch bereitliegen. Die Briefe gingen weiterhin bei ihr ein, in einem verhaltenen, aber stetigen Fluß, der anschwoll, wenn der »Face of the Year«- und der »International Man«-Wettbewerb im Fernsehen übertragen wurden. »Okay. Willst du einen aus dem Dorf Golgar, Postamt Fofural, Distrikt Dhar, Madhya Pradesh hören? Oder lieber einen aus Kuchaman City, Distrikt Nagaur, Rajasthan?«
»Fofural? Nein, das glaube ich nicht.«
»Vielleicht heißt es auch Fofunal. Seine englische Schrift ist ziemlich unleserlich. Die Adresse hat er nämlich in englischer Schrift geschrieben. Soll ich den vorlesen?«
Man schrieb also englisch im Dorf Golgar, Postamt Fofumaderchod-irgendwas. Mir wirbelte der Kopf bei diesem Gedanken. »Nein, laß den Bhadve in Golgar. Aus Rajasthan hören wir nur selten. Der Rajasthani soll sprechen.«
»Gut. Er heißt Shailendra Kumar. Er schreibt ...« Sie wurde langsamer, während sie sich durch das Hindi durcharbeitete. »Er hat einen von diesen Sprüchen oben drüber stehen: ›Om evam saraswatiye namah‹460. Mit Schnörkeln drunter.«
»Unser Shailendra ist also ein frommer Bursche. Sehr gut.«
»Er fängt an: ›Sehr geehrte Damen und Herren‹. Das hat er auf englisch geschrieben. Dann wechselt er zu Hindi über. ›Mein Name ist Shailendra. Ich bin in der zwölften Klasse. Ich habe beschlossen, Model zu werden. Ich bin achtzehn Jahre alt. Meine Körpergröße beträgt 1,78 m. Ich habe eine beeindruckende Persönlichkeit. In der Schule habe ich in vielen Theaterstücken mitgespielt.‹«
Jojo hielt inne. Ich wußte, worauf sie wartete: Ich sollte jetzt etwas Bissiges sagen, etwas Witziges über Shailendra, den Dorfschauspieler, der davon träumte, in der Großstadt über den Laufsteg zu schreiten. Dann würden wir zusammen lachen, wir beide, die wir unseren Gaons entkommen waren, und noch etwas weiterlesen. Doch heute war mir einfach nur traurig zumute bei dem Gedanken an Shailendra, den Helden seines Distrikts, der eine Persönlichkeit besaß, über die sich die Mädchen unterhielten, während sie durch die Felder gingen; vielleicht fuhr er manchmal sogar Motorrad, das Motorrad seines Onkels. Er war groß, und deshalb glaubte er, daß er nach Bombay gehen sollte. Um noch größer zu werden. »Jojo«, sagte ich. »Ich bin ziemlich müde. Ich glaube, ich sollte versuchen zu schlafen.«
»Jetzt schon?«
»Na ja«, sagte ich. »Vielleicht geht es mir morgen früh ja besser.« Ich zögerte, dann fragte ich: »Wie geht es dir, Jojo?«
Das verschlug ihr einen Moment lang die Sprache. Ich hatte ihr diese Frage noch nie gestellt. »Are, Gaitonde, bestens. Das Geschäft stagniert ein bißchen, aber schließlich stagniert die ganze Wirtschaft, keiner hat Geld. Ich komme schon zurecht.«
»Hast du einen Thoku?«
»Natürlich. Zwei. Du magst mit den Frauen fertig sein, aber ich habe für Männer immer noch die eine oder andere Verwendungsmöglichkeit.« Sie lachte ihr typisches Lachen, und diesmal entlockte sie mir ein kleines Lächeln. »Obwohl sie wirklich lästig sein können. Immer wollen sie dies oder das. Manchmal frage ich mich, warum ich mir überhaupt die Mühe mache. So gut wie mein Vibrator kann mich eh kein Mann befriedigen.«
jetzt mußte ich lachen. »Du bist schamlos.«
Das war sie wirklich. Später am Abend dachte ich über meine Freundin Jojo nach. Andere waren gekommen und gegangen, sie waren gestorben oder hatten mich verlassen, aber Jojo - der ich nie persönlich begegnet war, mit der ich nie zusammengegessen hatte, die ich nie berührt, nie gevögelt hatte - war immer noch bei mir. Manchmal vergingen Tage, ohne daß ich mit ihr redete, doch sie war immer bei mir. Sie war furchtlos, sie sagte mir, was sie von meinem Tun und Treiben hielt, sie beriet mich, sie hörte mir zu. Sie kannte mich, und in der schreckenserfüllten letzten Zeit war sie der einzige Mensch gewesen, den ich nie des Verrats verdächtigt hatte. Mir kam einfach nie der Gedanke, daß sie Informationen an die Killer hätte weitergeleitet haben können, obwohl sie mehr über mein Leben wußte als die meisten anderen. Ich zwang mich, objektiv über Jojo nachzudenken, sie von mir wegzurücken und so zu betrachten, wie ich eine Fremde betrachten würde: Sie war Geschäftsfrau, Produzentin, Zuhälterin, eine in ihrem Tun und Denken frivole Frau. Nach jeder vernünftigen Einschätzung also alles andere als vertrauenswürdig, doch ich vertraute ihr. Was immer ich mir auch vorstellte - daß sie es für Geld getan, mich unter den Drohungen meiner Feinde preisgegeben, es aus einer Laune heraus oder schlicht versehentlich getan hatte -, nichts konnte mein felsenfestes Vertrauen erschüttern. Ich gab den Versuch auf. Sie war Jojo, und sie war Teil meines Lebens, mit ihm verwachsen wie Sehnen mit den Knochen. Ich wußte nicht, wie oder wann es dazu gekommen war, aber ich wußte, daß ich ohne sie wie ein klappriger Knochenhaufen in mich zusammenfallen würde. Sie mußte in meinem Leben, mußte bei mir bleiben.
Ich konnte in dieser Nacht nicht schlafen und rief sie noch zweimal an. Sie erzählte mir mehr von ihren Thokus und brachte mich zum Schmunzeln. Dann war es vier Uhr morgens, ich lag immer noch wach, und es war zu spät, um sie ein weiteres Mal anzurufen. Guru-ji war auf Reisen und nicht erreichbar. Ich erwog, an Deck zu gehen, aber ich war total erschöpft, so müde, daß ich jedes Zucken in meinen Waden bis in die Oberschenkel hinein spürte. Der Wecker neben meinem Bett hatte sein rhythmisches Blinken zu einem sehr gemächlichen Puls verlangsamt, und dann stellte er es völlig ein. Die Zeit hatte sich in eine gummiartige Tiefe aus Mondlicht aufgelöst, in der ich nun trieb, eine transparente Gestalt, die von Wogen hochgehoben und immer weiter fortgetragen wurde. Ich gehe zügig hinter Salim Kaka her, durch einen schmatzenden Sumpf. Mathu geht zu meiner Rechten. Wir haben das Gold und sind entkommen. Wir sind froh. Vor uns liegt ein Gewässer, ein schmaler Fluß, der sich durch den schlammigen Boden zieht. Salim Kaka steht an seinem Rand. Ich starre Mathu an, versuche seine Augen zu erkennen. Salim Kaka hat einen Fuß ins Wasser gesetzt. Eine Pistole liegt in meiner Hand.
Jählings raffte ich mich hoch und sprang aus dem Bett. Ich riß die Tür auf, lief durch den Gang und klopfte überall. Ich weckte die Jungs und beorderte sie nach oben. »Schauen wir uns einen Film an«, schlug ich vor. Sie waren verwirrt und schläfrig, doch sie stellten keine Fragen. Innerhalb von zehn Minuten saßen wir vor dem Fernseher, und die Diskussion um die Auswahl des Films war in vollem Gange. Sie boten mir Company an, den ich immer noch nicht gesehen hatte. Doch ich kannte die Story, den mehrfachen Verrat, und ich kannte die wahren Protagonisten, Chhota Madhav und seinen alten Freund in Karatschi. An diesem Morgen wollte ich weder die Kugeln noch das Blut dieses Films. Also wühlten sie in den Kisten mit Videos und DVDs herum, und schließlich einigten wir uns auf Humjoli.
Wir sahen zu, wie Jeetendra und Mehmood auf dem Bildschirm herumsprangen und auf ihre Feinde einschlugen, während sie One, two, chal shuru hoja sangen, und das Gelächter, das den Raum erfüllte, lenkte mich angenehm ab. Die lebendigen Farben der Siebziger wirkten entspannend, und selbst Jeetendras knallenge Hose tat gut. Diese Vergangenheit war ein fremdes Land, in das ich fliehen konnte, eine Zuflucht, die durch nichts mehr gestört werden konnte. Im Laufe der nächsten zwei Tage sahen wir uns Dil Diya Dard Liya173, Anand und Haathi Mere Sathi an. Als der Anruf aus Mumbai kam, lief gerade die Szene kurz vor dem Ende von Guide, wo Rosie den sich zu Tode fastenden Raju besucht. »Bhai, Nikhil aus Mumbai ist dran. Buntys Assistent.« Ich wischte mir die Tränen von den Wangen und nahm das Telefon entgegen. Ich sprach nur selten mit diesem Nikhil, der seit vier Jahren für Bunty arbeitete. Nikhil unterstand Bunty, und Bunty unterstand mir, das war die Befehlskette.
»Was gibt's?« fragte ich.
»Man hat auf Bunty geschossen, Bhai.«
»Wer?«
»Ich weiß es nicht.«
Er schluckte immer wieder, hickste mir ins Ohr, und ich wußte, daß er kurz davor war, sich zu übergeben. »Nikhil«, sagte ich. »Setz dich erst mal hin. Sitzt du? Setz dich. Mach dir keine Sorgen. Meine Jungs sind schon unterwegs. Erzähl mir, was passiert ist.«
Er brauchte zwanzig Minuten, und zweimal kam es ihm wirklich hoch, doch schließlich hatte ich die ganze Geschichte. Bunty war morgens zum Juhu Maurya gefahren und hatte sich von einer Spezialistin in der Thai-Tempel-Technik eine Massage geben lassen. Dann war er zu einem Arbeitsfrühstück ins Café gegangen, wo er sich etwas Schokoladenkuchen für seine Kinder einpacken ließ. Er wartete in der Lobby, bis sein Wagen vorfuhr, und ging dann, von drei Leibwächtern flankiert, die Treppe hinunter. In der Einfahrt standen drei große Türsteher mit Turban und Livree sowie vier Sicherheitsleute des Hotels in grauen Safarianzügen. Diese vier Männer griffen nun unter ihre Hemden, zogen Glocks hervor und schössen auf Bunty und seine Jungs, zwei Kugeln pro Ziel. Es war eine hocheffiziente, zackig durchgeführte Aktion. Die Leibwächter wurden umgepustet, sie fielen tot zu Boden. Bunty hatte sich gebückt, um ins Auto einzusteigen, und wurde durch die offene Tür hineingeschleudert. Das und die Tatsache, daß sein Fahrer so schnell reagierte, retteten ihm das Leben: Die Kugeln trafen Bunty in Rücken und Hals statt in den Hinterkopf, und als er mit dem Gesicht nach vorn auf den Sitz fiel, trat sein Fahrer aufs Gas und raste davon. Bunty hing halb aus dem Auto und wurde mitgeschleift, was ihn vier Zehen an seinem rechten Fuß kostete, doch er überlebte. Der Fahrer schaffte ihn vom Hotelgelände, während Schüsse auf die Heckscheibe und die linken Fenster niederhagelten. Einer der Sikh-Türsteher stellte sich den Killern in den Weg und erntete dafür einen Bauchschuß. Dann kamen die echten Sicherheitsleute des Hotels angerannt, und ein paar Polizisten von der Wache an der Kreuzung trotteten herbei, doch die Killer entkamen.
Bunty hatte überlebt. Er lag im Lilavati Hospital, hing an Schläuchen und Kabeln. Er gab nicht auf. Er kämpfte. Doch meine Jungs hatten Angst, sie waren wütend, verwirrt und orientierungslos. Ich schmeckte ihre Panik förmlich in der Luft, sie machte sich bemerkbar wie ein erster Hauch von Fäulnis. Ich tat, was ich tun mußte: Ich brachte Männer in Bewegung, brachte Geld ins Spiel, brachte meinen Einfluß zur Geltung. Um meinen Jungs die Illusion zu vermitteln, daß wir uns wehrten, organisierte ich in den folgenden Tagen zwei Schießereien. Die dabei getöteten Jungs von Suleiman Isa waren niedere Funktionäre, Gesindel, doch manchmal hängt die Kampfmoral vom Tod kleiner Männer ab. Also starben sie.
Doch die Wahrheit war, daß wir nicht wußten, gegen wen wir kämpften. Auch wenn Suleiman Isas Dreckskerle den Angriff für sich reklamierten, bestand kein Anlaß, zu glauben, daß es wirklich ihre Operation gewesen war. Nein, sie waren maderchod Lügner, und wenn sie behaupteten, sie hätten auf Bunty geschossen, belegte das vielmehr, daß sie es nicht gewesen waren, daß jemand anders ihn beobachtet, sein Leben und seine Gewohnheiten studiert und ihn zu exekutieren versucht hatte. Bloß wer? Wer?
Ich ahnte es. Ich sprach am nächsten Tag mit Nikhil und dann mit einem der Polizeibeamten, die mit dem Fall betraut waren, und letzterer las mir aus den Augenzeugenberichten vor. In jedem dieser Berichte war von den Kurzhaarschnitten der Killer die Rede. Einer der Sikh-Torwächter benutzte das Wort »Fauji193«, als er die Dreckskerle beschrieb. Und ich erinnerte mich wieder an die beiden Männer im Hausflur in Singapur, die zwei, die mich angehalten und ausgefragt hatten, während ihre Freunde in Arvinds Wohnung ihr blutiges Werk verrichteten. Es war dieselbe Truppe, unverkennbar. Vielleicht waren es sogar dieselben Männer gewesen, nach Bombay weitergeschickt von ihren Vorgesetzten, einer Organisation, die mich beobachtete und alles über mich wußte. Sie wußten, wo ich lebte, wohin ich ging und was ich tat, sie jagten mich. Sie wollten mich eliminieren. Sie hatten mich benutzt, ich hatte eine Funktion erfüllt, und weil ich auf eine Weise, die ihnen nicht gefiel, meine eigenen Interessen verfolgt hatte, wollten sie mich ausradieren, auf daß nicht mal mehr ein Fleckchen von mir in ihren Akten zu finden sei. Ich würde nicht mehr existieren, und sie würden so tun, als hätte ich nie existiert.
Ich war mir sicher, fast sicher, daß ich meine Mörder kannte. Um absolut sicherzugehen, wollte ich jedoch Guru-ji zu Rate ziehen. Ich brauchte ihn, damit er mir die Wahrheit offenbarte. Doch er war auf Reisen, wie man mir mitteilte, und unerreichbar, selbst für mich. Ich hinterließ ihm dringende Nachrichten, bat ihn, flehte ihn förmlich an, sich mit mir in Verbindung zu setzen. Doch er rief mich nicht zurück, und ich blieb mir selbst überlassen. Ich war verblüfft. Ich hatte ihn immer erreichen können, und sei es nur, um zu fragen, ob der kommende Dienstag ein guter Tag für den Beginn einer neuen Diät sei. Jetzt, in meiner größten Krise, da meine Verbündeten meine Männer und mich jagten, war Guru-ji nicht da. Ich war geduldig, solange ich konnte, und dann beschimpfte ich die Sadhus, mit denen ich telefonierte. »Wissen Sie, wer ich bin?« fragte ich. »Wissen Sie, wie nah ich ihm stehe? Ich werde dafür sorgen, daß Sie rausgeschmissen werden, Sie Dreckskerl, oder in einen Ashram in Afrika versetzt!« Doch sie beteuerten immer wieder, daß sie keine Ahnung hätten, wo er sei. Nachdem Guru-ji zehn Tage lang unerreichbar gewesen war, erschien eine Nachricht auf seiner Website, derzufolge er sich an einen nicht genannten Ort zurückgezogen habe, tief in die Meditation versunken sei und nicht gestört werden dürfe, er werde jedoch bald zurückkommen und seinen Schülern, seinen geliebten Kindern, neue, tiefere Weisheiten offenbaren.
Aber ich bin dein ältester Sohn, Gaandu, und wo bist du? Ja, ich beschimpfte nun auch ihn ganz direkt. Ich brauchte ihn, und er war ohne ein Wort verschwunden. Er wußte alles, also mußte er schon bei unserem Abschied in München gewußt haben, daß er sich zurückziehen würde - ein Zeichen hätte genügt, eine Hand auf meiner Schulter, eine Berührung meiner Wange. Doch er war weg.
Vier Tage nach dem Anschlag auf Bunty wurde ich noch einsamer: Gaston und Pascal starben, einer morgens, einer in der Nacht darauf.
»Die Ärzte sagen, daß sie jetzt wissen, woran die beiden gestorben sind, Bhai«, berichtete mir Nikhil. »Es war die Strahlenkrankheit.«
Ich mußte nachfragen, was die Strahlenkrankheit war.
Nikhil erklärte es mir, soweit er es von den Ärzten erfahren hatte. »Sie haben gefragt, ob Gaston und Pascal in letzter Zeit ein Kernkraftwerk besucht hätten, Bhai. Das in Trombay zum Beispiel. Oder ob sie Wasser aus einem Brunnen in der Umgebung von Trombay getrunken oder Fisch aus einem Gewässer in Thane gegessen hätten. Oder ob sie in der Nähe des Atomkraftwerks von Tarapur gewesen seien. Ich habe natürlich nein gesagt. Warum hätten Gaston und Pascal nach Tarapur fahren sollen?«
»Hast du ihnen irgendwas gesagt, Nikhil?«
»Nein, nein, gar nichts. Überhaupt nichts, Bhai. Ich habe ihnen nur die Wahrheit gesagt, nämlich daß Gaston und Pascal ehrbare Geschäftsleute und Familienväter sind. Daß sie keinen Fuß in diese verseuchten Gegenden gesetzt haben.«
Aber natürlich waren sie erst kürzlich unterwegs gewesen, hatten eine Fahrt übers offene Meer gemacht. Das Meer war nicht verseucht, aber vielleicht konnte man sich von etwas, das man auf dem Wasser transportierte, die Strahlenkrankheit zuziehen. Ich rief ein weiteres Mal Guru-ji an, und als wieder keiner antwortete, schickte ich ein paar Jungs in sein Büro in Delhi und zu ihm nach Hause, nach Noida und Mathura. Seine Bediensteten wußten nicht, wo er war, seine Sadhus wußten es nicht, und auch seine Mutter sagte, sie wisse es nicht. Er war weg, verschwunden, als hätte er plötzlich seinen Körper transzendiert und wäre eins mit dem Universum geworden. Doch die Sadhus, die ihm am nächsten standen, waren ebenfalls verschwunden, Prem Shantam und all die anderen aus dem engeren Kreis, diejenigen, die mit Guru-ji reisten, sich um ihn kümmerten und für ihn sorgten. Guru-ji hatte diese Erde nicht verlassen, er war irgendwohin unterwegs. Aber wohin? Wo endete diese Reise und wann?
Ich versuchte die Antwort logisch zu ergründen, mich an meine Gespräche mit Guru-ji zu erinnern und von seinen Äußerungen auf seine Absichten zu schließen. Doch selbst während ich es versuchte, war mir klar, daß meine Versuche fruchtlos waren, daß meinem gewöhnlichen Verstand nicht gelang, auch nur für einen kurzen Moment Guru-jis außergewöhnliches Denken zu durchdringen. Und meine Gedanken fühlten sich matt an, ausgelaugt durch die Angst und durch die zahllosen Belange meiner ins Schleudern geratenen Company überstrapaziert. Meine Aufmerksamkeit war zerfasert, ich mußte mich zu vielen Problemen widmen, zu viele Details der Neuordnung meiner Company überdenken und realisieren, mich um zu viele Verwundete und Witwen kümmern. Ich konnte mich auf nichts mehr richtig konzentrieren, verlor mich tags in vagen Träumen und konnte nachts nichts schlafen. Ich war in schlechter Verfassung, und es gab nichts, was ich hätte tun können, damit es mir besser ging. Guru-ji war weg. Ich hatte einen Horror davor, auf die Toilette zu gehen, denn dort zuckte ich und zitterte und hinterließ blutige Streifen auf dem Porzellan. Pascal hatte aus Geschwüren am Mund geblutet, ich hatte Fotos von seinem Gesicht, seinen glasigen Augen gesehen. Ich verbrachte mehr und mehr Zeit im Computerraum, stellte die Jungs dazu an, mir bei meinen Recherchen zu Strahlung, Verbrennungen und Tod zu helfen. Ich hatte natürlich in der Zeitung gelesen, daß unser Land unglaubliche neue Waffen und die zu ihrem Einsatz erforderlichen Marschflugkörper besaß, doch mit Trumbay, Uran oder Nagasaki hatte ich mich bislang nicht befaßt. Ich lernte dazu, und ich lernte schnell. Ich unterhielt mich mit Jojo über das alles, über diese Gefahr auf der Welt, an unseren Grenzen.
»Are, Gaitonde«, sagte sie. »Niemand wird diese Dinger abschießen. So verrückt ist doch keiner.«
»Das weiß man nie. Vielleicht gibt es jemanden, der nicht verrückt ist und trotzdem eine abschießt. Vielleicht hat er seine Gründe.«
»Was sollten das für Gründe sein, Gaitonde?«
Sie war wirklich geduldig, diskutierte stundenlang mit mir, ohne zu fluchen oder den Hörer auf die Gabel zu knallen. Ich glaube, sie merkte, wie matt und müde ich war, und versuchte nett zu mir zu sein. Normalerweise hatte sie keinerlei Geduld, wenn es um Furcht oder Phantasien ging oder um das, was sie die großen Ängste der Männer nannte. Ich wollte ihr nichts von der schleichenden Panik erzählen, die mich befiel, wenn ich an Guru-ji, an das, was er uns womöglich hatte schmuggeln lassen, und an sein Verschwinden dachte, in erster Linie deshalb, weil ich das alles selbst kaum begriff. Ich trug eine grauenhafte Angst in mir und dazu bruchstückhafte Bilder von Feuer, immer wieder Feuer. Ich wollte, daß Jojo Bombay verließ. »Man weiß nie«, sagte ich. »Vielleicht macht Pakistan einen Schritt. Und dann machen wir einen Schritt. Vielleicht beschließt irgendein General, daß der richtige Zeitpunkt für einen Angriff gekommen ist. Und dann wäre Bombay das erste Ziel.«
»Wir haben zur Zeit freundschaftliche Beziehungen zu Pakistan, Gaitonde. Selbst wenn wir uns anschreien, ist das doch alles nur Show. Die tönen halt groß rum, und dann tönen wir groß rum, bas. Mach dir nicht solche Sorgen, Gaitonde.«
Ich versuchte sie zu überreden, Urlaub in Neuseeland zu machen oder auch nur zum Shoppen nach Dubai zu fliegen. Aber nein, sie hatte in der Stadt zu tun, sie produzierte und managte, sie mußte Geld verdienen und sich mit Leuten treffen, sie war einfach zu beschäftigt. »Und selbst wenn es passiert, Gaitonde«, sagte sie, »na und? Wir müssen alle irgendwann sterben. Und wenn es Bombay nicht mehr gibt, wo soll ich dann leben? Ich kann doch nicht in mein Dorf zurückgehen.« Sie lachte. »Oder soll ich vielleicht zu diesem Wie-hieß-er-noch-gleich in Kuchaman City ziehen? Hör zu, Baba: Wenn diese Stadt weg ist, dann ist auch mein Büro weg, meine Wohnung, meine ganze Arbeit, dann ist alles weg, was ich kenne. Und dann gibt es für mich sowieso nichts mehr, wofür es sich noch zu leben lohnte.«
Ebenso tat sie meine Versuche ab, sie nach Australien zu schicken, und brach in wildes Gelächter aus, als ich ihr vorschlug, ihr Geschäft nach London zu verlagern. Sie sagte: »Mach dir nicht so einen Kopf, Gaitonde. Letzten Monat habe ich das in einem amerikanischen Film gesehen, da hat jemand mitten in einer amerikanischen Stadt eine riesige Atombombe gezündet. Während des Films hatte ich Angst, aber hinterher war alles in Ordnung. So was passiert nur im Kino. Es ist einfach zu filmi. Wenn es in einem Film passiert, wird es im normalen Leben nicht passieren. Niemand wird eine Dhamaka auslösen. Den Film hast du schon selbst gemacht. Sei nicht so furchtbar angespannt, wegen nichts und wieder nichts. Entspann dich. Geh schlafen.«
Ich ließ es dabei bewenden, widersprach ihr nicht und redete über andere Dinge. Aber ich hatte eine Idee. Ich behielt sie für mich, sagte Jojo nichts davon, doch ich schickte meine Jungs an die Arbeit. Dieses Projekt hat absolute Priorität, sagte ich ihnen. Ich investierte einen Haufen Geld, ließ Materialien aus Belgien und Thailand direkt ins Zentrum von Bombay schaffen. Ich verfolgte den Bau sehr aufmerksam. Ich ließ mir stündlich Fotos mailen und sah zu, wie unglaublich dicke Mauern aus einem dunklen Quadrat auf einem Baugrundstück in Kailashpada emporwuchsen. Dieses Dunkel war eine gewaltige Ausschachtung tief im Boden. Ich baute ein sicheres Haus, einen Bunker. Ich baute Mauern, die dem Feuer widerstehen würden, eine undurchdringliche Tiefe, die das Gift von Jojos Haut fernhalten würde. Ich errichtete dieses Haus für sie, damit sie sich im Notfall dorthinunter begeben konnte. Doch ich stellte fest, daß ich selbst bei dem Gedanken an dieses weiße Haus abends endlich einschlafen konnte. Und so entwickelte ich auf meiner Yacht folgendes Abendritual: Nachdem ich mich vergewissert hatte, daß die Wachteams postiert und Bewegungsmelder sowie Nahbereichsradar überprüft, neu eingestellt und aktiviert waren, schloß ich mich in meiner Kabine ein. Ich setzte mich in einer bequemen Haltung auf den Boden und meditierte. Ich versuchte meinen Geist zur Ruhe zu bringen, auf einen Punkt zu konzentrieren und das Bewußtsein zu erleben, welches das Universum war, das ich war. Ich ließ Götter und Göttinnen hinter mir, den blauhäutigen Krishna mit seinem blutroten offenen Mund und seinen Vernichtungsdrohungen, ich begab mich über jegliche Form hinaus und zum Kern alles Seins, das jenseits der Sprache lag. Danach ging ich ins Bett. Ich rollte mich zu einem Ball zusammen, und dann war ich in Bombay, in Kailashpada, in meinem weißen Würfel tief unter der Erdoberfläche, geschützt und umfangen von gutem, dickem Stahl und dem besten, härtesten Zement der Welt. In dieser imaginierten Umarmung fand ich schließlich Frieden. Ich war in Sicherheit.