Parulkar kam spät am nächsten Morgen. Sartaj saß auf der Bank vor seinem Büro und beobachtete ein Spatzenquartett, das zwischen den Dachbalken hindurch und um die Säulen flatterte. Die Vögel flogen von einer Seite des Korridors auf die andere, dann in den Hof hinaus und auf die hintere Mauer. Gleich darauf kamen sie wieder zurück. Einer von ihnen beschrieb langsam einen Kreis und setzte sich auf das Ende der Bank, sein Kopf senkte sich und fuhr wieder hoch. Er - oder sie? - plusterte sich auf, hüpfte nach links und blitzte Sartaj aus seinen schwarzen Stecknadelaugen an. Dann war er weg. Sie nehmen sich in acht vor uns, dachte Sartaj, aber sonst sind wir ihnen egal. Unsere Tragödien interessieren sie nicht. Es war eine seltsam beruhigende Vorstellung. Dieser Mistkerl Ganesh Gaitonde hatte sich in einem weißen Bunker den halben Kopf weggepustet, in Bombay gab es möglicherweise eine Bombe - na und? Das Leben würde weitergehen. Sartaj versuchte sich auf diesen Gedanken und auf die Spatzen zu konzentrieren, die jetzt auf dem Boden landeten und wieder aufflatterten.
Parulkars Assistent trat, mit einem Stapel Dokumente in der Hand, aus der Tür links von Sartaj. »Saabs Eskorte hat gefunkt, daß sie in zwanzig Minuten da sind.«
»Gut, Sardesai-saab«, sagte Sartaj. »Ich warte hier.«
Sardesai nickte und ging die Treppe hinunter. Parulkar hatte an diesem Tag jede Menge Termine. Eine lange Schlange von Leuten wartete auf der anderen Seite der Treppe, und Sartaj war unbekümmert an ihr vorbeigegangen. Er hatte Parulkar am Morgen zu Hause angerufen, zu einer Zeit, da Parulkar mit seinen Papieren und seinem Chai im Lehnstuhl zu sitzen pflegte, und er hatte sich auf ihre alte Bekanntschaft berufen, um schnell einen Termin zu bekommen. »Es ist sehr dringend, Saab«, hatte er gesagt. Und nun saß er hier und würde als erster drankommen. Er versuchte seine Technik der Einsatzbereitschaft anzuwenden, die im wesentlichen darin bestand, nicht an unmittelbar Bevorstehendes zu denken. Wie schlimm konnte es schon werden? Er hatte Verdächtige und Apradhis angelogen, seine Eltern, Megha, andere Frauen, sich selbst, seine Vorgesetzten, Journalisten, viele Polizisten. Er war ein Meisterlügner, ein echtes Talent. Parulkar aber hatte er noch nie belogen. Er war angespannt deswegen, denn Parulkar würde seine Nervosität sofort spüren. Parulkar war der Guru, von dem er gelernt hatte, wie er lügen mußte und wann er lügen mußte. Parulkar hatte ihm das Handwerk beigebracht. Würde er Sartajs Zögern, seinen Übereifer bemerken? So ertappt man einen Verdächtigen bei einer Lüge, hatte er einmal gesagt: Man achtet nicht nur auf Widersprüche, sondern auch darauf, ob die Geschichte jedesmal, wenn er sie erzählt, ganz ähnlich klingt, ob die Sprache dieselbe ist, ob er sie einstudiert hat. Sartaj hatte erlebt, wie Parulkar hartgesottene Männer binnen einer halben Stunde zum Weinen brachte.
Die vier Spatzen saßen jetzt in einer Reihe auf einer durchhängenden Stromleitung über den Säulen und wippten mit den Schwänzen in Sartajs Richtung. Ganz ruhig, sagte Sartaj zu sich selbst. Mach dir nicht zu viele Gedanken. Er schüttelte seine Arme aus und lockerte die Schultern. Es ist ein Job, weiter nichts. Denk an was anderes. Und er dachte an Mary, an ihre kleinen Hände und die Spuren ihres Alters um die Knöchel. Zärtlichkeit wallte in ihm auf und brachte eine lebendige Erinnerung daran zurück, wie sie sich geliebt hatten, wie sie gestöhnt hatte, als er in sie eindrang. Doch dann bekam er wieder Angst: Warum wollte sie die Stadt nicht verlassen? Sie war so stur in ihrem Fatalismus. Und auch vor dem Gespräch mit Parulkar fürchtete er sich wieder. Parulkar mußte wie jeder höhere Beamte alles über den Alarm aus Delhi wissen. Er würde wachsam sein, skeptisch und schwer zu täuschen. Die Angst pochte in Sartajs Adern und hinter seiner Stirn. Er fühlte sich schwach und unfähig.
Doch Parulkar war in Hochform, als er, gefolgt von drei Bodyguards, die Treppe heraufgesprungen kam. »Sartaj Singh«, dröhnte er, »komm rein, komm rein.« Er ging Sartaj in seine Kabine voraus, bestellte zwei Tassen Chai, stark und mit Ingwer, und ließ die bodenlangen Vorhänge hinten im Raum zurückziehen, so daß sie auf den Garten hinausblicken konnten, den er in den Jahren seiner Amtszeit angelegt hatte. Die Klimaanlage wurde richtig eingestellt, Lufterfrischer wurde in die Ecken des Raumes gesprüht, zwei Vasen mit frischen Blumen wurden hereingebracht, und schließlich nahmen Parulkar und Sartaj einander gegenüber Platz.
»Also, Sartaj«, begann Parulkar. »Was gibt es so Dringendes?«
»Saab«, antwortete Sartaj, »Iffat-bibi hat mich gestern um ein Treffen gebeten. Sie hat darauf bestanden. Es sei von größter Wichtigkeit. Mehr wollte sie am Telefon nicht sagen.«
Parulkar blickte in seine Tasse. Er runzelte die Stirn, tauchte einen Löffel in den Tee und entfernte den Film, der sich darauf gebildet hatte. »Wo hast du dich mit ihr getroffen?«
So war Parulkar am gefährlichsten: scheinbar lässig und desinteressiert. »In Fort, Sir. Hinter einem Fischrestaurant namens Kishti.« Auch das hatte Sartaj von Parulkar gelernt: Bei einer großen Lüge mußten die Details der Wahrheit entsprechen. Auf diese Weise lieferte man eine Menge Einzelheiten, die mehrfach überprüft und für zutreffend befunden werden konnten. »In einem Buchhaltungsbüro.«
»Ah ja. Das ist Walias Büro. Er führt einen Großteil ihrer legalen Geschäfte. Was wollte Iffat-bibi von dir?«
Sartaj beugte sich vor. Außer ihnen war niemand im Raum, aber irgendwie glaubte er flüstern zu müssen. »Suleiman Isa möchte mit Ihnen reden, Sir.«
Parulkar setzte seine Tasse ab und schob sie langsam auf den Tisch zurück. »Unmöglich. Meine Position ist zu heikel. Außerdem weiß man heutzutage nie, wann und wo das Antikorruptionsbüro mithört.«
»Das hab ich Iffat-bibi auch gesagt, Sir. Aber sie besteht darauf. Das heißt, er besteht darauf, hat sie gesagt. Wann und wie das Gespräch geführt wird, entscheiden Sie. Ob telefonisch oder über Satellitentelefon oder sonstwie. Sie bestimmen alles.«
»Auch wenn ich meine Seite der Verbindung selbst wähle - die andere Seite ist nicht sicher. Wer weiß, welche Stelle bei denen mithört.«
»Daran haben sie auch gedacht, Sir. Wenn Sie Suleiman Isa nicht in Karatschi anrufen möchten, dann können Sie mit Salim in Dubai sprechen.« Salim war Suleiman Isas Topcontroller und langjähriger Freund, er führte von Dubai aus die täglichen Geschäfte der Company. »Sie können Salim ein neues Telefon bringen lassen, sagen sie, an einen Ort, den Sie mit ihm vereinbaren, und von dem Apparat aus ruft er sie dann an, unter einer Nummer in Indien, die Sie ihm nennen. So sei die Sicherheit auf beiden Seiten gewährleistet.«
»Ich soll mit Suleiman Isas Laufburschen reden? Diese Kerle werden immer arroganter.«
»Wenn Sie in Karatschi jemanden kennen, der Suleiman Isa ein Telefon bringt, Sir, dann können Sie mit ihm direkt sprechen. Ganz wie Sie wünschen, sagt Iffat-bibi.«
»Dubai oder Karatschi, das ist nicht das Problem. Das Problem sind diese Gaandus, die sich für die Herren der Welt halten.«
»Verstehe, Sir. Soll ich Iffat-bibi dann absagen?«
Parulkar rieb sich den Bauch und griff wieder nach seiner Tasse. »Was hat sie denn sonst noch gesagt? Erzähl mal von Anfang an.«
Und Sartaj erzählte von Anfang an. Wie Iffat-bibi ihn auf dem Handy angerufen hatte, wie er zu dem Buchhaltungsbüro gefahren war und sie in der engen Kabine angetroffen hatte, wie sie um ein Gespräch mit Parulkar gebeten hatte, weil Suleiman Isa neuerdings Hemmungen habe, mit Parulkar zu sprechen, daß sie Verständnis hätten für Parulkars heikle Position unter der neuen Regierung, daß es jedoch dringenden Gesprächsbedarf gebe. »Es sei eine Geldangelegenheit, sagt sie, über die Suleiman Isa mit Ihnen reden will.«
»Dieser Bastard. Ich habe denen immer einwandfreie Abrechnungen vorgelegt.«
»Natürlich, Sir.«
Hinter dem Gebäude war ein Trupp Arbeiter mit der Renovierung des Hanuman-Tempels beschäftigt. In Banians und blau gestreiften Unterhosen kletterten sie über die weiße Kuppel. Parulkar schaute zu ihnen hinüber und kratzte sich an der Nase. »Hast du eine Idee?« fragte er.
»Möchten Sie mit Suleiman Isa sprechen, Sir?«
»Suleiman Isa ist ein Exzentriker. Nach all den Jahren im Ausland ist er inzwischen regelrecht verrückt. Aber ich rede besser mit ihm und kläre die Sache, was immer da bei ihm durcheinandergeht. Dann ist der Fall erledigt, bas, verstehst du? Man muß ihn nicht noch mißtrauischer machen, als er sowieso schon ist. Gut, also, ich rede mit ihm. Über ein neues Telefon, das ihm fünf Minuten vor dem Gespräch in Karatschi persönlich übergeben wird. Mein Mittelsmann bleibt bei ihm, bis er gewählt hat, dann bestätigt er mir, daß die Sicherheitsvorkehrungen eingehalten wurden. Die Frage ist nur noch, wo ich den Anruf entgegennehme.«
»Ja, Sir. Ich überlege gerade. Haben Sie noch vor, am Donnerstag nach Pune zu fahren?« Parulkar hatte für den Tag ein Treffen mit einem höheren Polizeibeamten in Pune geplant.
»Ja.«
»Sie könnten doch nach dem Mittagessen in unser Haus dort kommen. Geben Sie Ihren Leuten erst im letzten Moment Bescheid, und sagen Sie nur, Sie wollen Ma besuchen. Ich werde auch dasein, ich komme dann am Vormittag hin. Um Viertel vor drei rufe ich von meinem Handy aus Iffat-bibi an und sage ihr, daß Suleiman Isa Ma um drei unter ihrer Festnetznummer anrufen soll. Er soll nach mir fragen, ich gebe Ihnen dann das Telefon. Kein Problem, kein Wirbel und Sicherheit auf beiden Seiten. Und Sie können reden.«
Parulkar stellte seine Teetasse hin und wischte sich die Hände an einer Serviette ab. Er strich sich das kurzgeschnittene Haar über den Ohren zurück, eine Geste, die er sich als junger Mann zugelegt haben mußte. Sie erinnerte Sartaj an einen Filmstar der fünfziger Jahre, aber er wußte nicht, an welchen. Parulkar nickte. »Gibt es dort nur das eine Telefon?«
»Ja, Sir.«
»Und nur Ihre Ma benutzt es?«
»Ja, Sir. Ich selbst benutze es auch nicht mehr, Sir, seit ich das Handy habe. Damit telefoniert man billiger als übers Festnetz. Aber Ma mag keine Handys, Sir. Die sind zu klein und haben zu viele Tasten, sagt sie.« Sartaj merkte plötzlich, daß er zu oft »Sir« sagte. Beruhige dich, ermahnte er sich. Schau dem Mann in die Augen, aber starr ihn nicht an. Trink deinen Tee. Ohne daß die Tasse zittert.
»Gut«, sagte Parulkar. Er traf alle seine Entscheidungen so abrupt. Er wog die Alternativen ab, er dachte möglichst viele Schritte voraus, dann schlug er zu. Er besaß den Mut, das Vertrauen und die Siegesgewißheit eines guten Glücksspielers. »Gut. Aber sag Iffat-bibi, daß der Anruf Punkt drei erfolgen muß. Zwei Minuten später, und ich bin nicht mehr da. Und wir werden uns kurz fassen. Maximal zehn Minuten.«
»Ja, Sir.«
»Und Suleiman Isa darf während des Gesprächs meinen Namen nicht nennen und seinen auch nicht.«
»Ich sag's ihr, Sir.«
»Ja. Shabash, Sartaj. Bringen wir's hinter uns. Und sag deiner Mutter nicht, daß ich komme. Ich will sie überraschen.«
»Natürlich, Sir.« Sartaj stand auf und salutierte. Sein T-Shirt klebte ihm am Rücken. Der Schweißfleck mußte riesig sein, trotz der surrenden Klimaanlage. Er schob ungeschickt seinen Stuhl zur Seite und ging rückwärts zur Tür. Als er fast dort angelangt war, sagte Parulkar: »Sartaj?«
»Ja, Sir?«
»Du siehst so müde aus. Was ist los?«
»Der Alarm aus Delhi, Sir. Wir sind die ganze Zeit nur am Herumrennen.«
»Alles Unsinn. Diese Informationen sind viel zu vage, niemand weiß etwas Genaues. Das ist alles absolut lächerlich. Es gibt keine Bombe. Ruh dich aus.«
»Ja, Sir.«
Draußen nickte Sartaj Parulkars Bodyguards zu und ging die Treppe hinunter. Am liebsten hätte er sich auf eine Bank gesetzt, bis seine Beine aufhörten zu zittern, aber er schaffte es nach unten und ging weiter, aus dem Gebäude hinaus, an den Menschentrauben und den Wachen vorbei durch das hohe Tor mit dem bogenförmigen Schild darüber, dann stolperte er zwischen geschäftigen Passanten, vorbeirauschenden Autos und räudigen Hunden die Straße entlang. An der Ecke blieb er blinzelnd stehen. Er wußte nicht mehr, wo er war. Er sah sich nach Laden- und Straßenschildern um und merkte plötzlich, daß er eine verkehrsreiche Straße überquert hatte. Sie war breit wie ein schwarzer Fluß, und unentwegt strudelte die hungrige Flut der Fahrzeuge vorüber. Wie er wohlbehalten hierhergekommen war, wußte er nicht, aber nun war er da. Sein Mund war schmerzhaft trocken, doch er wollte nichts trinken. Er wollte nur wieder an die Arbeit. In der Ferne sah er einen Fußgängerüberweg mit einer orange und grün, grün und orange aufleuchtenden Ampel. Sartaj ging zum Revier zurück.
Am Donnerstag brach Sartaj früh auf. Er wolle bei Ma alles vorbereiten, sagte er sich, er wolle in der Morgenkühle fahren. Aber er hatte nicht schlafen können, und am Ende war es ihm leichter gefallen, aufzustehen und loszufahren, als sich in den verschwitzten Laken hin und her zu wälzen. Es tat gut, in den Bergen zu sein, sich die kurvige alte Straße entlangzuwinden. Wenn er schnell und riskant fuhr, verdrängte die Gefahr alles andere aus seinem Kopf, und so donnerte er durch Matheran und Khandala, und nur ein leises Summen der Erinnerung folgte ihm, Megha, Collegepicknicks, ein runder Hügel, den er hinaufstieg. Dann war er in Pune, und es gab nicht mehr zu tun, als nach Hause zu gehen, zu Ma.
Sie saß, von mehreren offenen Koffern umgeben, im Wohnzimmer. »Sieh dir diese alten Pullover an«, sagte sie zu Sartaj. »Die hatte ich völlig vergessen.«
Sartaj beugte sich zu ihr hinab. »Peri pauna, Ma.« Er klappte den ramponierten Deckel eines schwarzen Koffers zu und setzte sich darauf, die Waden am fast verblaßten Schablonenschriftzug von Papa-jis vollem Namen. »Was machst du da?«
»Es sind viel zu viele Sachen hier im Haus, Beta. Wenn du sie auch nicht willst, wozu soll ich sie dann aufheben?«
Seit Papa-jis Tod mistete sie zweimal im Jahr gründlich aus. Persönliche Dinge und Haushaltsgegenstände hatte sie an Cousins und Cousinen, Onkel, Tanten, Dienstboten, Nachbarn und Bettler verteilt. Sartaj war manchmal darüber erschrocken, wie radikal sie war, wie leicht sie sich von alten Stühlen, Spazierstöcken und blauen Blazern trennte. Nur alte Fotografien und Briefe waren bisher verschont geblieben, aber vielleicht würden diesmal auch sie verschwinden. Neben ihr auf dem Boden lag ein altes Foto in einem geschwärzten silbernen Rahmen. Sartaj kannte es, solange er zurückdenken konnte. Ma hatte es in ihrem Schrank verwahrt, bei ihren Dupattas, wo sie es jeden Morgen sah. Er hob es auf, und da war sie wieder, in ewig blühender Jugend: Mas vermißte Schwester. Sie war schön, sie warf lachend ihr pechschwarzes Haar über die Schulter zurück, während sie sich zur Kamera drehte, und ihr Körper neigte sich in einem straffen Bogen zum fernen Horizont. Sartaj kannte das Bild bis ins kleinste Detail, und er wußte, daß sie Navneet hieß, mehr aber nicht. Ma hatte nie gern von ihr gesprochen. Jetzt würde die schöne Navneet vielleicht ebenfalls verschwinden. Sartaj mochte diese langsame Erosion des Zuhauses nicht, an das er sich erinnerte, das er in sich trug. Manchmal machte es ihm angst, wenn er nach Pune kam und wieder ein paar Sachen weg waren. Irgendwann, dachte er, werden nur noch die weißen Wände übrig sein. Und dann nicht einmal mehr sie.
Aber er konnte nichts dagegen tun. Über Freigebigkeit konnte man nicht streiten. Und Ma hatte mit zunehmendem Alter auch zunehmend ihren eigenen Kopf. Sie machte, was sie wollte. »Ja, Ma. Du hast recht. Aber willst du die Strickjacke da wirklich weggeben? Die hast du doch so gern getragen.«
Sie hielt eine grüne Jacke an den Schultern hoch und fuhr mit dem Finger über die rote Blumenborte. »Wann brauch ich die schon? Die Leute hier in Maharashtra gehen im Dezember in dicken Mänteln auf die Straße, und mir kommt's gar nicht wie Winter vor.« Sie hielt große Stücke auf ihre nordindische Vorliebe für niedrige Temperaturen und ihre Punjabi-Widerstandsfähigkeit.
»Wenn wir nach Amritsar fahren«, sagte Sartaj, »brauchst du sie vielleicht.«
»Wann? Seit Monaten redest du davon, Beta.«
»Bald, Ma. Versprochen.«
Sie schien nicht allzu überzeugt, legte die grüne Strickjacke aber auf den kleinen Stapel der Sachen, die sie behalten wollte. Sartaj mochte diese geduldige Aushöhlung und Entsorgung ihres gemeinsamen Lebens nicht mehr mit ansehen. »Ich geh ein bißchen spazieren«, sagte er.
Sie nickte und machte sich am widerspenstigen Schloß des nächsten Koffers zu schaffen.
»Werden die Sachen den ganzen Tag hier herumliegen?« fragte Sartaj.
»Die Arbeit muß nun mal gemacht werden. Warum?«
Sartaj konnte ihr Parulkars Besuch unmöglich ankündigen, und so zuckte er nur die Schultern. »Soll ich dir was vom Markt mitbringen?«
Aber sie brauchte nichts. Sie wirkte in jeder Beziehung selbständiger, als er sie aus seiner Kindheit in Erinnerung hatte. Damals hatten ihr Papa-ji, die Dienstboten und manchmal auch die Nachbarn Dinge holen und bringen, Besorgungen für sie machen oder sie hierhin und dorthin begleiten müssen. Sartaj konnte nicht erkennen, ob sie sich tatsächlich verändert oder nur ihre Bedürfnisse und Wünsche so weit zurückgeschraubt hatte, daß sie im Grunde nur noch einen Menschen brauchte: sich selbst. Er zweifelte nicht an ihrer Liebe zu ihm, an ihrem Glauben an Vaheguru, aber selbst diese Bindungen schienen sich zu lockern. Sie wollte nur noch nach Amritsar, und vielleicht machte sie sich auch schon für eine andere Reise bereit. Sartaj erschauderte.
Auf dem Weg zum Markt wimmelte es von weißhaarigen Frauen und Männern mit Jholas295 voller Obst und Gemüse. Sartaj grüßte einige von ihnen, weil er sie aus dem Gurudwara oder von Spaziergängen mit Ma kannte. Die vielen Ruheständler, die hier wohnten, hatten bei ihren morgendlichen Einkäufen Zeit genug für einen Plausch, und Sartaj hörte sich nur zu gern die Berichte über ihre Söhne und Töchter, ihre Ansichten über die Kriminalität und ihre Klagen über die Politiker an. Irgendwann mußte er jedoch wohl oder übel nach Hause, mußte sich dem stellen, was ihn dort erwartete, und so trottete er zurück. Inzwischen hatte auch er einiges zu schleppen, es war heiß, selbst unter den Saman- und Gulmohar-Bäumen, und seine Füße schmorten und schmerzten in den Schuhen.
»Was hast du mitgebracht?« fragte Ma. Der Stapel der Sachen, die sie behalten wollte, war noch genauso groß wie vorher, der andere war gewachsen.
»Nur ein paar Bananen, Ma.« Sartaj stieg über einige rote Bettdecken hinweg und ging in die Küche. Er nahm die kleinen Chini-Bananen aus dem Papier und legte sie auf die Arbeitsfläche.
»Du hast Bier gekauft?« Ma war in der Tür erschienen. »Wieso denn das?«
»Nur so.«
»Ich dachte, du magst kein Bier.«
»Jetzt schon. Können wir essen? Ich hab Hunger.«
Sartaj öffnete eine Flasche Michelob, trank daraus und stocherte in seinem Essen herum. Dann legte er sich in seinem Zimmer hin und schloß vor dem gleißenden Nachmittagslicht, das neben den Vorhängen hereindrang, fest die Augen. Um zwei stand er auf und ging wieder in die Küche. Am Spülbecken stehend, öffnete er eine zweite Flasche Bier und zwang sich, den bitteren Inhalt zu trinken. Dann tappte er an Ma vorbei, die noch immer mit ihren Truhen beschäftigt war, ins Bad, tastete auf dem Bord nach seiner Zahnpasta und putzte sich zweimal die Zähne. Schließlich setzte er sich auf sein Bett und wartete, den Blick auf die Uhr gerichtet.
Um halb drei klopfte es an der Haustür. Ma stand auf, schlurfte zur Tür und öffnete sie, dann hörte Sartaj, wie Parulkar sie überschwenglich begrüßte. »Bhabhi«, sagte er, »Sie sehen ja prächtig aus. Wenn ich pensioniert bin, ziehe ich auch nach Pune, die Luft ist hier so viel besser.«
»Are, Sartaj hat mir gar nicht gesagt, daß Sie kommen. Sartaj? Sartaj?«
Doch Sartaj wollte nicht aufstehen, noch nicht.
»Are, Sartaj, Parulkar-ji ist da. Wo bleibst du denn, Beta? Ich weiß gar nicht, was er macht.«
Sartaj aber wußte nur zu gut, was er machte. Er zwang sich aufzustehen und ging hinaus, tat so, als überraschte ihn Parulkars Besuch, und hieß ihn willkommen, räumte das Sofa für ihn frei und bot ihm Bier und Bananen an. Parulkar trank wie immer mit Genuß und bat Ma, ihm ihre berühmten würzigen Pakoras zu machen. Er stand in der Tür und plauderte mit ihr, während sie ihre Töpfe hervorholte. »Dann hat Sardar-saab gesagt, ›ich muß nach Hause, ich bin frisch verheiratet und habe meine Frau seit drei Tagen nicht mehr gesehen‹. Da wurde mir erst klar, daß er vier Tage lang kein Auge zugetan hatte.«
Parulkar sprach von Papa-ji, der in der Dienststelle bekannt dafür gewesen war, daß er tagelang ohne Schlaf auskam, ebenso wie für seine erstaunlichen Nickerchen. Ungeachtet ihrer zwiespältigen Gefühle für Parulkar war Ma entzückt von seinen Worten über ihren lieben Verstorbenen, über seine Gaben, sein Engagement. Sie schnitt das Gemüse mit neuem Elan, sie lachte und sagte, sie erinnere sich an die Woche damals und an den Entführungsfall, an dem sie gearbeitet hatten.
»Das war doch der Onkel, der das Baby entführt hat«, sagte sie, und die beiden plauderten weiter über längst vergangene Zeiten.
Parulkar warf einen Blick auf seine Armbanduhr, und Sartaj nickte. Es war Viertel vor drei. Er ging ins Schlafzimmer, nahm sein Handy und rief Iffat-bibi an. Natürlich kannte sie seine Nummer inzwischen, aber das Spiel mußte gespielt werden. »Also?« sagte sie, und Sartaj sagte seinen Text auf.
In der Küche erzählte Parulkar unterdessen schmeichelhafte Geschichten von Sartajs sportlichen Erfolgen, und Ma lächelte. Zu Parulkars größten Talenten gehörten sein enormes Gedächtnis und sein lockerer Charme. Man konnte sich seinen besorgten Fragen nach dem Wohlbefinden des anderen, seiner genauen Kenntnis der Vergangenheit und der Hoffnungen seines Gesprächspartners einfach nicht verschließen. Zu dritt standen sie an der Küchentür, ein vertrautes Grüppchen. Parulkar erkundigte sich nach Mas Gesundheit, nach der Instandhaltung des Hauses und Papa-jis Pensionszahlungen. »Sollten einmal Probleme auftauchen, Bhabhi-ji, zögern Sie nicht, mich anzurufen. Sartaj kann Ihnen jederzeit meine private Handynummer geben.«
Ma war äußerst gesprächig. Sie fragte Parulkar nach seinen Töchtern und deren Kindern, und Parulkar erzählte stolz von ihren diversen Freuden und Erfolgen. Auch der geschiedenen Tochter (ein Glück, daß sie diesen trunksüchtigen Verschwender los sei) gehe es wieder gut, sie habe eine Schneiderei aufgemacht. Anfangs habe sie ihre modernen Salvar-kamiz' und ihre schicken Ghagras nur an die Frauen der Siedlung verkauft, aber inzwischen kämen die Kundinnen sogar aus Shivaji Park zu ihr. »Und das alles«, sagte Parulkar, »hat sie allein geschafft, fast ganz ohne meine Hilfe. Dabei war sie so ein Hausmütterchen, hat sich immer nur mit den Kindern beschäftigt, konnte nicht mal einen Scheck ausstellen. Und jetzt gehen Tausende von Rupien durch ihre Hände, und sie hat vier Schneidermeister, die den ganzen Tag bei uns im Haus sitzen. Und sie redet davon, in der Nähe einen Laden zu kaufen.«
»Ja, die Welt hat sich verändert«, sagte Ma. »Die jungen Mädchen sind heutzutage sehr tüchtig.«
»Ja, ja, Bhabhi-ji, was hat sich allein zu unseren Lebzeiten nicht alles verändert!«
Ma zeigte auf die geschnittenen Zwiebeln und den Blumenkohl. »Das braucht nicht lange.«
»Egal, wie lange es braucht, Bhabhi-ji«, sagte Parulkar, »ich muß es einfach haben. Ich versuche zwar, Ol und Gebackenes zu meiden, aber für Ihre herrlichen Pakoras muß ich eine Ausnahme machen. Nur heute und nur, weil ich gerade hier in Pune bin.«
Ma beantwortete diese galanten Worte mit einem erfreuten Nicken. »Ab und zu darf man schon mal Gebackenes essen. Aber unser Sartaj, der ernährt sich so schlecht. Ständig dieses fette Restaurantessen - deshalb sieht er auch so müde aus.«
»Ja, ja, Bhabhi-ji, ich sag ihm immer wieder, das ist kein Leben. Was auch passiert ist - ein junger Mann sollte nicht allein sein. Ein Mann braucht eine Familie.«
Beide sahen Sartaj wohlwollend und prüfend an wie gütige Ärzte, die bei einem besonders widerspenstigen Patienten nach Anzeichen der Besserung Ausschau halten. Sartaj hätte etwas sagen müssen, aber er war innerlich weit weg, als trennte ihn eine Kluft von den beiden, als hätte es einen Bruch gegeben, der ihn weit fortgeschleudert hatte. Irgendwie sahen sie aus wie auf einem alten Bild, als ließe sie der orangefarbene Schein der Nostalgie schon jetzt unwirklich erscheinen. »Ja«, sagte er.
»Was, ja?« fragte Parulkar.
Da ertönte das altmodische Schnarren des Telefons.
»Telefon!« rief Sartaj erleichtert und erschrocken. Er schlängelte sich zwischen den Koffern durch. »Hallo?«
»Geben Sie weiter, Saab.« Die Männerstimme klang selbstbewußt, aggressiv.
»Es ist für Sie, Sir.«
»Oh«, sagte Parulkar, »okay.« Er ließ sich Zeit. Er nahm noch einen tiefen Schluck Bier und wischte sich mit einem Taschentuch die Hände ab.
»Sie können da drin telefonieren, Sir. Im Schlafzimmer.«
Parulkar nickte und ging. Es gefiel Ma nicht, daß Parulkar ihr Zimmer betrat, aber sie konnte ihn nicht daran hindern. Die Tür fiel ins Schloß, und sie sah Sartaj kopfschüttelnd an. Er wartete das Klicken im Hörer und Parulkars »Hallo« ab, dann legte er auf. »Das ist ein wichtiger Anruf, Ma« sagte er. »Sehr wichtig. Von der Zentralregierung.«
Die Sache gefiel ihr nach wie vor nicht, aber sie war noch Polizistenfrau genug, um zu wissen, daß man Anrufe von der Zentralregierung entgegennehmen mußte, manchmal auch zu Hause. Sie räumte den Tisch ab und wischte ihn sauber. Sartaj trank noch ein Bier und behielt die Uhr im Auge. Fünfzehn Minuten vergingen, zwanzig. Parulkar hatte sein Limit überschritten, aber vielleicht stritten sie sich um Geld. Oder vielleicht über den Tod von Suleiman Isas Killern und Controllern. Vielleicht drohten sie einander.
»Was macht der Mann bloß da drin?« fragte Ma. »Ich bin müde, und seine Pakoras sind fertig. Die werden ja kalt.«
Sie hatte keinen Mittagsschlaf gehalten und war bei ihrer Arbeit gestört worden. »Er kann nichts dafür, daß der Anruf gekommen ist, Ma.«
Sie zuckte die Schultern und setzte sich entschlossen wieder zu ihren Koffern auf den Boden. »Er müßte doch wissen, daß man nicht mitten am Nachmittag unangemeldet zu Besuch kommt. Aber so war er schon immer.«
Sie sprach mit der lauten Stimme einer alten Frau, und Sartaj versuchte sie zum Schweigen zu bringen. »Psst, Ma, er kann dich doch hören. Aber keine Sorge, er wird gleich fertig sein.«
Doch es dauerte noch einmal volle zehn Minuten, bis Parulkar wieder auftauchte. Er triumphierte. Er zwinkerte Sartaj zu, nahm sein Bierglas vom Tisch und trank daraus. Dann setzte er sich auf Papa-jis Stuhl und verzehrte bedächtig und genüßlich seine Pakoras. Er wirkte ruhig, selbstsicher und unverkennbar siegesgewiß. Er hatte Suleiman Isa und alle seine Handlanger bezwungen. Ma und er unterhielten sich über die alten Zeiten, als sie noch jung waren, als Papa-ji für seine spiegelblanken Schuhe berühmt war. Schließlich sagte er: »Tja, Bhabhi-ji, ich muß los. Aber ich komme bald wieder zum Pakoraessen. Nein, nein, bleiben Sie sitzen.«
Ma stand nicht auf, aber sie besaß immerhin die Höflichkeit, »Ja, unbedingt« zu sagen und Parulkar alles Gute für seine Kinder zu wünschen. Sartaj begleitete Parulkar, der seine schimmernde schwarz-silberne Brille putzte, auf die Veranda hinaus.
»Alles in Ordnung, Sir?«
»Ja. Man mußte dem Mann nur mal den Kopf zurechtrücken. Er ist ganz vernünftig, wenn man ihn zu nehmen weiß.« Mit einer schwungvollen Bewegung setzte er die Brille auf. »Aber jetzt ist alles geregelt. Der Fall ist erledigt. Gute Arbeit, Sartaj. Danke.«
»Keine Ursache, Sir ...«
Parulkar klopfte ihm auf den Arm. »Deine Mutter macht einen gesunden Eindruck. Du hast gute Gene, Sartaj, wenn du auf dich achtest, wirst du lange leben. Okay, wir sehen uns dann in Bombay. Ruh dich aus. Entspann dich. Schau dir einen Film an oder so.«
Er drehte sich abrupt um und ging zu seinem Wagen. Die Bodyguards stiegen waffenklirrend und türenschlagend in ihre Jeeps, und die Prozession fuhr, von zwei kläffenden Hunden verfolgt, in einer festlichen Staubwolke davon.
Ma stand an der Tür. »Die Bananen und das Bier«, sagte sie. »Du hast gewußt, daß er kommt.«
»Ja.« Nicht umsonst hatte sie sich jahrelang all die Polizistengeschichten angehört. Sie wußte Motive und Handlungsweisen, Ursachen und Folgen einzuschätzen.
»Ist alles in Ordnung mit dir?« fragte sie.
»Ja.«
»Gibt es irgendwelche Probleme? Hast du was angestellt?«
»Nein.«
»Geh und ruh dich aus.«
Als er an ihr vorbeiging, legte sie ihm die Hand aufs Handgelenk, eine Geste, die ihm noch aus seiner Kindheit vertraut war. Damals hatte sie auf diese Weise geprüft, ob er Fieber hatte, ob irgend etwas nicht stimmte und sie sich darum kümmern mußte. Heute aber, an diesem Nachmittag, war er nicht krank, seine Erschöpfung und seine geröteten Augen hatten keine körperlichen Ursachen. Als er an Mas offener Schlafzimmertür vorbeitrottete, sah er auf ihrem Nachttisch etwas schimmern. Ma hatte also beschlossen, das Foto ihrer geliebten Navneet zu behalten. An Gegenstände fühlte sie sich immer weniger gebunden, aber mit Menschen war es anders. Sartaj spürte noch ihre Hand auf seinem Handgelenk. Wie klein ihre Hände waren und auch ihre Füße. Sie war überhaupt klein, so klein, daß Navneet und der Rest der Familie sie als Kind »Nikki« genannt hatten. Man konnte sie sich kaum als kicherndes kleines Mädchen vorstellen, aber aus Nikki war Ma geworden, die sich noch immer um ihn kümmerte, auch wenn sie sich langsam aus dem Griff der Welt löste. In seinem Zimmer drehte Sartaj den Ventilator voll auf und zog sich bis auf die Unterwäsche aus. Der Schlaf kam schnell, und als er aufwachte, war es schon dunkel. Er lag still da und lauschte in die Nacht hinaus. Ma hantierte in der Küche, die Nachbarn waren zu hören, ein leichter Wind, Autos, ab und zu Kinderstimmen. Wir sind noch da, dachte er, wir sind noch am Leben. Wir haben wieder einen Tag überlebt. Aber er fühlte sich bei dem Gedanken nicht besser.
An diesem Abend rief Sartaj Iffat-bibi viermal an und am nächsten Morgen auf der Rückfahrt nach Bombay jede Stunde. Und immer sagte sie dasselbe: »Wenn sie soweit sind, sagen sie's mir. Und dann gebe ich Ihnen die Adresse Ihres Sadhus. Ich kriege die Information schon, Saab, keine Sorge. Ein bißchen Geduld noch, ein kleines bißchen.«
Doch Sartaj, der sein ganzes Berufsleben lang Geduld geübt hatte, tat sich jetzt schwer damit. Wieder in Zone 13, sah er vom Eingang des Reviers aus Parulkar zur Arbeit kommen, heiter und energiegeladen wie immer. Er hatte die Falle, in der er bereits saß, also noch nicht bemerkt. Und er wußte noch nicht, wer sie ihm gestellt hatte. Bald würde er es wissen.
Sartaj verließ das Revier und ging halbherzig einigen Hinweisen zu einem Einbruch nach. Dann fand er, es sei an der Zeit für ein frühes Mittagessen, und machte sich auf den Weg zum Sindur. Er bestellte Papad und Chicken tikka und gab dem Ober eine Flasche Royal Challenge Whisky in einer Plastiktüte. Als Kamble eine Stunde später eintraf, sah er das Sindur bereits durch einen leichten Dunstschleier. Kamble nahm Platz, und der Kellner stellte ein zweites Glas mit gelbbrauner Flüssigkeit auf den Tisch.
»Wollen Sie noch was essen, Boß?« fragte Kamble.
»Ich hab eigentlich gar keinen Hunger. Das hier reicht mir.«
»Bringen Sie Naan438«, forderte Kamble den Ober auf. »Eine ganze Menge. Und Gemüse-Raita. Und Daal.« Er lehnte sich zurück, straffte die Schultern und fragte teilnahmsvoll: »Was ist los? Probleme mit dem Mädchen? Erzählen Sie.«
Sartaj lachte, hielt inne und lachte erneut. Kamble wollte ihm Ratschläge in Sachen Frauen geben. Kamble, der Lebemann. Kamble war ein guter Kerl. Kamble war ein Dreckskerl, er hatte die Finger in jedem schmutzigen Geschäft, aber er war auch großzügig. Er war freundlich. Er war ein guter Mensch. »Kamble«, sagte Sartaj, »Sie sind ein guter Mensch.«
»Ich bin so gut, wie ich sein muß, Yaar. Hier, trinken Sie Wasser. Was machen Sie?«
»Was ich mache?«
»Ja.«
»Ich esse. Ich sitze mit einem guten Freund im Sindur beim Mittagessen.«
»Ist das alles?«
»Und ich warte auf eine sehr wichtige Information.«
»Von wem? In welcher Sache?«
Sartaj drohte Kamble mit dem Finger. »Das kann ich Ihnen nicht sagen. Die Gewährsleute müssen geheim bleiben. Auch für einen Freund. Diesmal zumindest. Aber die Information ist gut. Die ist gut, sag ich Ihnen. Und wir brauchen sie, für den großen Fall. Den größten Fall. Sie wissen ja.« Sartaj zeigte zu der gemusterten Decke hinauf und ahmte das Geräusch einer Explosion nach.
»Ja, ich weiß. Hier, essen Sie.«
Kamble legte ihm ein Stück Hähnchenfleisch auf den Teller. Sartaj nickte, nahm es und biß davon ab. Kamble bemühte sich weiter um ihn und sorgte dafür, daß er viel zuviel aß und dazu ein Glas Chhass116 trank. Trotzdem gelang es Sartaj, seinen Alkoholkonsum halbwegs in Grenzen zu halten, obwohl Kamble den vorbeigehenden Kellnern trickreich immer wieder halb ausgetrunkene Gläser reichte. So war er nur angenehm benommen, als Shambhu Shetty hereinkam und sich zu ihnen setzte.
»Ihre Leute haben mir gesagt, daß Sie hier sind.« Er hatte das pummelige Äußere eines rundum zufriedenen Mannes.
»Sie müssen mehr Sport treiben, Shambhu«, sagte Sartaj. »So seh ich Sie nicht gern.«
Kamble flüsterte Shambhu etwas zu, und Shambhu flüsterte zurück. Dann schlug er eine Zeitung auf und legte sie auf den Tisch. »Saab«, sagte er, »in der Bar bekomme ich morgens immer den Samachar. Ich dachte, das hier interessiert Sie vielleicht.«
Eine riesige Schlagzeile lief quer über die ganze Seite: »Hoher Polizeibeamter bei Gespräch mit Don belauscht«. Das Foto darunter zeigte Parulkar in Uniform. Der Untertitel lautete: »Opposition fordert Suspendierung und Untersuchung.« Sartaj wandte den Kopf ab. Er wollte nicht weiterlesen.
»Da steht, das Antikorruptionsbüro hat einen halbstündigen Mitschnitt von einem Gespräch, das Parulkar mit Suleiman Isa in Karatschi geführt hat, der Text ist allen Zeitungen zugespielt worden«, sagte Shambhu. »Auf mehreren Websites ist er auch schon, da kann man sich das Ganze sogar anhören. Parulkar spricht mit Suleiman Isa über irgendwelche Geldzahlungen, über bestimmte Jobs und so weiter. Und - wo steht's? Hier. »Unabhängige Stimmenexperten haben dem Samachar gegenüber bereits angedeutet, daß es sich bei der fraglichen Aufzeichnung ihrer Meinung nach um die Stimmen von DCP Parulkar und Suleiman Isa handelte«
»Bhenchod«, sagte Kamble. »Zeigen Sie her.« Er griff nach der Zeitung, las schnell, blätterte um und überflog den Rest des Artikels. »Maderchod. Der Mann ist erledigt. Dieser Saala ist weg vom Fenster.«
»Ich kann's kaum glauben«, sagte Shambhu. »Wie kann der so einen Fehler machen?«
»Jeder macht Fehler«, sagte Sartaj, »früher oder später. Wenn nicht heute, dann morgen.«
Dann schwiegen sie. Nach einer Weile zeigte Kamble auf die Zeitung und fragte: »Wollen Sie's lesen?«
»Nein.«
»Okay. Ich muß wieder an die Arbeit. Und Sie, was machen Sie?«
»Ich bleibe hier sitzen und warte auf meine Information.«
Doch Kamble schien das für keine gute Idee zu halten. Er erhob Einwände und moserte, bis Sartaj fuchsteufelswild wurde, worauf Kamble noch mehr moserte. Die Gäste an den anderen Tischen, Angestellte und Hausfrauen, warfen ihnen unbehagliche Blicke zu und begannen zu murren, und schließlich gab Sartaj nach. Er begleitete Kamble auf seinen todlangweiligen Gängen zu einer Spielhölle, einer Schuhfabrik und ins Nehru Nagar Basti in Andheri, wo er einen Tadipaar611 suchte, der angeblich in Kailashpada untergetaucht und entwischt war. Sartaj stolperte hinter Kamble her durch die Gassen, und der Kopf schwirrte ihm vom Ansturm der Gerüche, guter wie schlechter. Er war jetzt nicht mehr betrunken, aber das Gehen und der stetige Strom der Gesichter, die so dicht neben ihm vorüberglitten, lenkten ihn ab und sorgten für eine angenehme Betäubung.
Um sechs klingelte sein Handy. »Bhai war sehr erfreut«, sagte Iffat-bibi.
»So.«
»Er möchte Ihnen etwas schenken. Eine kleine Aufmerksamkeit. Fünf Petis.«
»Ich will kein Geld von dem Maderchod. Geben Sie mir einfach die Adresse.«
»Sind Sie sicher? Ein Geschenk von Bhai zurückzuweisen ist ziemlich unhöflich.«
»Sagen Sie ihm genau das, was ich Ihnen gesagt habe. Ich will die Adresse, okay? Die Adresse.«
Iffat-bibi seufzte. »Na gut«, sagte sie. »Ihr jungen Leute seid manchmal so dumm. Haben Sie was zu schreiben?«
Die Adresse war die eines zweistöckigen Bungalows in einem Mittelschichtviertel am westlichen Rand von Chembur, der von einer drei Meter hohen Mauer umgeben war. Nachdem Sartaj sie in sorgfältigen Druckbuchstaben in sein Notizbuch geschrieben hatte, ließ er sie sich von Iffat-bibi noch dreimal wiederholen. Dann ging alles ganz schnell. Er rief Anjali Mathur an, und er und Kamble trafen sich mit ihr und ihren Leuten in einer Straße nahe dem Vrindavan Chowk in Sion. Dann fuhren sie nordwärts nach Chembur, begleitet von einem Oberinspektor, einem Rudel hochrangiger Polizeibeamter und mehreren beinhart wirkenden Offizieren, die sich über ihre Funktion ausschwiegen. Polizisten aus Chembur informierten sie über die Örtlichkeiten und führten sie bis in die unmittelbare Nachbarschaft des Bungalows. Sie umstellten ihn unauffällig und richteten im Gebäude einer sechzig Meter entfernten Molkerei hinter einer Baumreihe ihre Kommandozentrale ein. Sartaj bekam den Bungalow gar nicht zu Gesicht. Er und Kamble saßen an der Wand des Raumes, der sich mit Funkgeräten, sonstigen, undefinierbaren Apparaturen und kompetent und souverän wirkenden Männern füllte. Anjali Mathur besprach sich leise mit ihrem Chef und anderen, vergaß jedoch nicht, auch Sartaj und Kamble Tee bringen zu lassen.
Kamble stieß Sartaj an. »Boß«, flüsterte er, »gehen Sie rüber und stellen Sie sich zu denen. Vielleicht brauchen die einen Rat von Ihnen. Oder sie müssen Sie was fragen. Schließlich waren Sie's, der dieses verdammte Haus gefunden hat. Sie sind der Held des Tages. Gehen Sie hin, und zeigen Sie, daß Ihnen die Lorbeeren zustehen, sonst schnappt sie Ihnen einer von den IPS-Kerlen276 da weg.«
Doch Sartaj hatte keine Lust, Ratschläge zu erteilen. Er war es zufrieden, im Schein der Laptop-Bildschirme zu sitzen und zuzuschauen, wie der Himmel in dem Fenster hinten sich verfärbte. Irgend jemand, er wußte nicht mehr, wer, hatte ihm einmal gesagt, die herrlichen Farben an Mumbais Abendhimmel kämen von der Luftverschmutzung über der Stadt, von den Millionen Menschen, die sich auf so kleinem Raum drängten. Das stimmte sicher, und trotzdem waren diese Violett-, Rot- und Orangetöne einfach grandios. Man konnte beobachten, wie sie sich veränderten, vertieften und schließlich im Schwarz verloren.
Um zehn setzte sich Anjali Mathur zu ihnen. »Jetzt haben wir die Bestätigung«, sagte sie. »Sieben Männer sind in dem Haus. Wir haben zwei deutliche radioaktive Signaturen, und hinter dem Bungalow stehen zwei Lastwagen, Dreitonner. Wir nehmen an, sie wollten die Bomben damit zu ihren Ground Zeros fahren.«
»Zwei Bomben? Was ist denn hier los?« fragte Kamble, starr vor Aufregung und Spannung.
»Ein Team ist schon hier, einsatzbereit. Irgendwann in der Nacht schlagen sie zu, wann, entscheidet der Einsatzleiter.« Sie neigte den Kopf zur Vorderseite des Raumes hin, wo ein Militär über ein Funkgerät gebeugt stand. Sie schien auf eine Antwort von Sartaj zu warten.
Er räusperte sich. »Ich bin sicher, Ihr Team wird es schaffen.« Unerklärlicherweise war ihm zum Lachen zumute. Er beherrschte sich natürlich, aber sie warf ihm im Weggehen einen prüfenden Blick zu.
Kamble folgte ihr an den Tischen vorbei und kam ein paar Minuten später noch nervöser und gespannter zurück. Seine Augen blitzten, er beugte sich vor und schlug Sartaj auf die Schulter. »Die Black Cats sind da, Boß. Mit schwarzen Sturmhauben und Knarren und allem Drum und Dran.«
Sartaj versuchte ein bißchen Begeisterung für die Black Cats092 aufzubringen, aber er fühlte sich einfach nur schläfrig. Seltsam, daß er gar nicht aufgeregt war angesichts der Aussicht auf Rettung - wahrscheinlich lag es an der Erschöpfung. Das kommt vom fehlenden Schlaf, dachte er, und von dem ganzen Hin und Her in letzter Zeit, dem ganzen Streß, der da zusammengekommen ist. Vielleicht fühle ich morgen was. Aber im Moment sitze ich hier und fühle gar nichts. Das ist wahrscheinlich das viele Bier und der Whisky, davon sind meine Beine so bleischwer. Wahrscheinlich bin ich einfach nur hundemüde.
Er wachte davon auf, daß er durchgeschüttelt wurde und zwei kräftige Hände eindringlich auf seine Wangen patschten. »Aufwachen, Sartaj!« Es war Kamble. »Gaandu, Sie sind der einzige Mensch auf der Welt, der seine besten Momente verschnarchen würde. Es geht los, Boß, die gehen jetzt gleich rein. Aufwachen. Aufwachen!«
Sartaj richtete sich auf und rieb sich den Schlaf aus den Augen. »Wie spät ist es?«
»Halb fünf.«
Der Schrei eines Vogels zerriß die Stille vor Tagesanbruch. In der Kommandozentrale herrschte erwartungsvolles Schweigen, nichts regte sich. Sartaj wollte Kamble fragen, wie sie erfahren würden, daß der Befehl erfolgt und das Team in den Bungalow eingedrungen war, doch Kamble hatte die Hände vor dem Mund, die Daumen fest in die Wangen gedrückt. Er sah aus wie ein Junge, der darauf wartet, daß die Prüfungsergebnisse verkündet werden.
Nichts veränderte sich in dem Raum, doch dann hörte man von fern eine Serie von Schüssen, dann noch eine, peng-peng-peng, peng-peng-peng. Ein letztes kurzes Donnern noch, und gleich darauf erhob sich vorn im Raum Jubelgeschrei. Anjali Mathur kam durch die applaudierende Menge angelaufen. »Wir sind gerettet«, sagte sie. »Wir sind gerettet!«
Sartaj nickte und zwang sich zu einem Lächeln. Plötzlich war er von Polizeibeamten, RAW-Leuten und Black Cats umringt, die einander kniffen und umarmten und ihm die Hand schüttelten. Kamble hatte offenbar dafür gesorgt, daß sie wußten, wem der Erfolg zu verdanken war. Sartaj drehte sich um, und es gelang ihm, sich ganz langsam durch das Gedränge zu schieben und die Treppe hinunterzugehen. Er durchquerte das Gelände hinter der Molkerei, das vollgeparkt war mit Polizei- und Zivilfahrzeugen. Es roch nach Milch, und Sartaj glaubte auch einen schwachen, angenehmen Geruch nach Kuhdung wahrzunehmen. Aber er war sich nicht sicher-wie viele Molkereien in der Stadt hielten noch Kühe? Jedenfalls fühlte er sich neu belebt, als er den Geruch einatmete, und sein Kopf wurde nach und nach wieder klarer.
Mit ein bißchen Geballer war also offenbar die Welt gerettet worden. Aber Sartaj fühlte sich deswegen nicht sicherer. In seinem Innern brannte eine Lunte, tickte die Angst. Er lehnte sich an den Pfosten eines Drahtzauns und versuchte Befriedigung zu empfinden. Unser Team hat gewonnen. Klar. Kamble war dort drinnen herumgetanzt vor Freude. Sartaj aber konnte sich der Frage nicht entziehen: Willst du das retten? Wofür? Warum?
Nach drei Wochen war Sartajs Beförderung durch. Da niemand von seiner Mitwirkung am Fall Gaitonde und der Sache mit den Bomben wußte, wurde kein Grund für die ungewöhnlich schnelle Bearbeitung der Beförderung genannt. Anjali Mathur hatte ihm an jenem Morgen in der Molkerei gesagt, daß die Bomben offiziell nicht existierten und nie existieren würden. Das habe man an höchster Stelle so entschieden, aus Gründen der nationalen Sicherheit. Sie hatte die Schultern gezuckt, und er hatte begriffen. Als Polizist wußte er, daß erfolgreiche Operationen manchmal offiziell nicht existieren durften, damit der Ruf einer hochrangigen Persönlichkeit gewahrt blieb, damit kein Politiker zugeben mußte, wie knapp man an einer Katastrophe vorbeigeschrammt war.
Daß der Einsatz unsichtbar blieb, hätte Sartaj nicht weiter gestört, aber nun strömten alle möglichen Gerüchte in das Vakuum fehlender Fakten ein. In der Dienststelle ging man davon aus, daß Sartaj Parulkar ans Messer geliefert, daß er Parulkars erstaunlichen Sturz arrangiert hatte. Von dem Mitschnitt des Telefonats zwischen Parulkar und Suleiman Isa waren auf den Bändern des Antikorruptionsbüros und auf den Websites die ersten Sekunden herausgeschnitten worden. Sartajs »Hallo?« fehlte, das Gespräch begann erst mit Parulkars »Ich bin's«. Niemand wußte, daß der Anruf bei Sartajs Mutter entgegengenommen worden war, doch bei der Polizei herrschte stillschweigendes Einvernehmen darüber, daß Sartaj etwas mit den Umständen des Anrufs zu tun gehabt hatte. Man wußte, daß die Beförderung seine Belohnung war, zusammen mit einem Geschenk in Höhe eines ganzen Khoka von Suleiman Isa. Außerdem kursierte das Gerücht, Sartaj habe einen Unschuldigen verprügelt und ihn schwer verletzt, und man glaubte, auch das sei als Gegenleistung für Parulkars Demontage unter den Teppich gekehrt worden. In der Dienststelle hegte niemand deswegen ungute Gefühle gegenüber Sartaj, viele zollten ihm sogar neuen Respekt. Parulkar war ein alter Spieler, er hatte sich im Laufe der Jahre viele Feinde gemacht, und manch einer sah ihn nicht ungern stürzen. Selbst jene, die ihm gegenüber neutral eingestellt waren, meinten, er habe vielleicht doch zu hoch hinausgewollt. Parulkars Freunde und Feinde sahen in Sartaj nun einen hervorragenden Strategen, einen Mann, den man sich warmhalten mußte.
Parulkar selbst war untergetaucht. Am zweiten Tag nachdem das Telefonat publik geworden war, wurden in der gesetzgebenden Versammlung und auch im Parlament Fragen gestellt. Noch am selben Abend wurde Haftbefehl gegen ihn erlassen, doch er hatte bereits einen Kautionsantrag gestellt. Sein Anwalt sagte den Zeitungen tags darauf, man sei in der Sache übereilt und unprofessionell vorgegangen, die Stimme auf den Bändern sei nicht die von Parulkar, der so viele Jahre selbstlos dem Land gedient habe, und es gebe auch keinerlei Beweis dafür, daß die andere Stimme die von Suleiman Isa sei. Das aufgezeichnete Gespräch lasse zudem in keiner Weise auf kriminelle Machenschaften oder staatsfeindliche Aktivitäten schließen.
Doch der Ministerpräsident kündigte unverzüglich eine umfangreiche Umbesetzung hoher Polizeiposten an und erklärte auf Fragen von Reportern kategorisch, es könne keine Rede davon sein, daß er selbst oder Mitglieder seines Kabinetts in das anstehende Gerichtsverfahren eingreifen würden. »Die Untersuchung läuft. Sehr bald werden Ergebnisse vorliegen, Sie werden sehen. DCP Parulkar sollte sich stellen. Man wird streng, aber gerecht mit ihm verfahren.«
Sartaj hatte keine Ahnung, wo Parulkar war. Er wußte nur in etwa, wie er mit ihm in Verbindung treten konnte, und hinterließ bei einigen Khabaris und bei Parulkars Finanzberater Homi Mehta diskrete Nachrichten für ihn. Aber es kam keine Antwort. Zweimal innerhalb von zwei Wochen klingelte spätnachts sein Handy, doch beide Male meldete sich niemand. Sartaj hörte nur die schweren Atemzüge eines alten Mannes. Beim zweiten Mal sagte er: »Sir? Sind Sie's, Sir?« Es erfolgte jedoch keine Reaktion, und auf dem Display war keine Nummer erschienen. Am Morgen nach der offiziellen Verkündung seiner Beförderung klingelte Sartajs Handy abermals. Er war gerade im Bad, tappte in sein Schlafzimmer, das Gesicht noch voller Seife, und fand das vibrierende Handy auf dem Bett. »Hallo?« sagte er.
Wieder waren die Atemzüge zu hören. Diesmal spürte Sartaj, daß der stumme Anrufer sehr wütend auf ihn war. »Sir«, sagte Sartaj, »Sie müssen mich anhören, Sir. Es war sehr wichtig. Ich werde Ihnen alles erklären.«
Doch der Anrufer legte auf. Ein Klicken, dann nichts mehr. Am Abend, als Sartajs Schicht zu Ende ging, betrat Kamble den Verhörraum. »Boß«, sagte er.
»Was ist?« blaffte Sartaj. Er hatte gerade das Verhör eines bewaffneten Räubers überwacht. Seit seiner Beförderung hatte er es nicht mehr nötig, die Häftlinge selbst ins Kreuzverhör zu nehmen. Er gab nur noch Anweisungen und schaute zu. Es roch nach Schweiß und Urin im Raum.
»Kommen Sie lieber hier raus«, sagte Kamble. Und dann auf englisch: »Please.«
Sartaj folgte ihm in den Flur, der auf das Gelände des Reviers hinausführte. Kamble faßte ihn am Ellbogen und ging mit ihm ans Ufer des Teichs. Über ihnen kreisten Vögel. »Parulkar ist gefunden worden, heute nachmittag.«
»Sehr gut. Wo hat er sich gestellt?« Denn wenn Parulkar nicht gefaßt werden wollte, dann wurde er auch nicht gefaßt.
»Nein, nicht so. Er ist gefunden worden.«
Eine Dreiviertelstunde zuvor, erzählte Kamble, hatte das Sonderkommando, das Parulkars Haus überwachte, plötzlich Schreie von drinnen gehört. Die Männer waren hineingestürmt und hatten zwei von Parulkars Enkelinnen völlig aufgelöst vorgefunden. Parulkar war, wie sich herausstellte, die ganze Zeit in seinem Haus gewesen. Es gab in dem alten Familiensitz unter einer Treppe eine Geheimtür, die in einen kleinen Raum hinter der Küche führte. Parulkar hatte sich häuslich darin eingerichtet, und er hätte ewig dort bleiben können, denn er wurde mit Nahrung und allem Nötigen versorgt, und die Ermittlungen konzentrierten sich anderswo, bis hin nach Pune und Cochin. An diesem Nachmittag aber war er aus seinem Versteck hervorgekommen und in sein Zimmer gegangen, unbekümmert um das Tageslicht, das er bis dahin gemieden hatte. Er hatte sich rasiert, gebadet und eine frische Kurta angezogen. Er hatte seine Uhr abgenommen und auf den Nachttisch gelegt. Dann hatte er den Schlüssel zu dem Stahlschrank neben seinem Bett genommen, hatte den Schrank und das Schließfach darin geöffnet und seine Dienstpistole herausgeholt. Darauf war er wieder ins Bad gegangen, hatte seine Chappals abgestreift und war in die Wanne gestiegen. Die beiden Mädchen hatten den Knall gehört, waren ins Bad gerannt und hatten ihn gefunden.
»Bas«, sagte Kamble. »Das ist alles, was ich bis jetzt weiß.«
Sartaj ging ein paar Schritte weiter. Schatten bewegten sich über das Wasser, und vom anderen Ufer liefen kleine Wellen aufeinander zu und ineinander. Das ist alles, was wir bis jetzt wissen, dachte er. Das ist auch alles, was wir je wissen werden. Wir sterben für Dinge, die wir nicht verstehen, wir opfern die, die wir lieben. »Ich muß hin«, sagte er.
»In das Haus? Nein, Boß, nicht jetzt. Gehen Sie da nicht hin.«
»Ja, Sie haben recht. Das sollte ich besser lassen. Okay. Ich glaube, ich bleibe noch eine Weile hier.«
Kamble ging ins Haus zurück. Sartaj blieb draußen. Er lauschte auf das Flattern der Fahne an dem Tempel und blickte übers Wasser. Er hatte das Gefühl, daß eine Veränderung bevorstand. Er wartete. Aber er wußte nicht, ob sie je eintreten würde.