Die melodische Lautsprecherstimme fragte: »Mere sahiba, kaun jaane gun tere?«418 Sartaj hatte keine Antwort auf diese Frage. Er saß mit gekreuzten Beinen auf einer Terrasse des Goldenen Tempels, am Rand des Parkarma479. Rechts von ihm stand der Schrein des Baba Deep Singh040, und weiter vorn ließ die Morgensonne den Harmandir Sahib in einem zarten Rotgold aufleuchten. Sartaj und Ma waren pünktlich um drei am Tor gewesen, sie waren eingetreten und hatten sich die Prozession angesehen, mit der das Guru Granth Sahib über das Wasser an seinen Platz getragen wurde. Sartaj hatte sich einen Weg durch die Menge gebahnt, er hatte seine Schulter unter die Sänfte geschoben und einige Sekunden lang das heilige Buch tragen geholfen. Dann war er zu Ma zurückgekehrt, voller Sehnsucht nach der Begeisterung und der Gewißheit, die ihn früher auf diesem heiligen Boden erfüllt hatten. Ma und er saßen nebeneinander, die Sonne stieg höher, auf dem Parkarma strömten Menschen vorüber, und der Sänger stellte seine Frage.
Sartaj und Ma waren am Tag zuvor in Amritsar angekommen. Ma war sehr müde gewesen, als sie beim Sohn ihres Mausa-ji409 eintrafen, und sie waren nach einem langen Abendessen mit vielen Cousins und Cousinen, Tanten und anderen, fast vergessen Verwandten spät zu Bett gegangen. Trotzdem hatte sie Sartaj gebeten, den Wecker auf halb drei zu stellen, und noch im Dunkeln waren sie zum Harmandir Sahib aufgebrochen. Nun wiegte sie sich hin und her, die Hände im Schoß gefaltet, und ihre Lippen bewegten sich.
»Hast du Hunger, Ma?«
»Nein, Beta. Aber hol du dir doch was.«
»Nein, nein, schon okay.« Sartaj war okay, mehr oder weniger, aber er machte sich Sorgen um Ma. Sie hatte sich in ihre eigene Welt der Erinnerung, der Trauer und des Gebets zurückgezogen und war sehr weit weg. In ihren Augen standen Tränen, und immer wieder tupfte sie sich mit ihrem Chunni die Mundwinkel. Sie betete so leise, daß Sartaj nicht erkennen konnte, welches Shabad575 sie sprach. Er wußte nicht, um wen oder was sie trauerte oder wie er ihr helfen konnte. »Denkst du an Papa-ji?« fragte er.
Sie hob langsam den Kopf und wandte sich ihm zu. Ihre braunen Augen wirkten riesig und blickten erstaunt, und plötzlich kam es Sartaj vor, als hätte er eine Unbekannte vor sich.
»Ja«, erwiderte sie, »an Papa-ji.« Aber sie sagte ihm nicht alles, es gab Dinge, über die sie nicht sprach. Das wußte Sartaj, und er wurde verlegen, als wäre er in einen dunklen Raum eingedrungen, den er nicht sehen sollte. »Ich hab Hunger«, sagte er. »Bleibst du hier sitzen?«
»Ja, geh nur.«
Er ließ sie zurück und wanderte auf dem Parkarma um die gekräuselte Wasserfläche herum. Pilger saßen auf den Terrassen, und zwei kleine Jungen rannten vor ihm her. Ihre Mutter lief ihnen nach, faßte sie an der Schulter und führte sie zu ihrem Vater zurück. Der ältere der beiden grinste Sartaj an; vorn fehlte ihm ein Zahn. Sartaj lächelte und schlenderte weiter. Der Stein unter seinen nackten Füßen erwärmte sich. In seiner frühesten Erinnerung an den Harmandir Sahib hatte er kalte Zehen, und Papa-ji führte ihn an der Hand rasch durch das Fußbecken draußen vor der Tempelanlage. Er war die kühlen Marmorstufen hinuntergehüpft, geblendet von dem goldenen Spiegelbild im Wasser des Sarovar561. Er war davor schon einmal hier gewesen, als kleines Kind, aber diese Szene kam ihm jetzt wieder in den Sinn, dieser Wintermorgen, als Papa-ji und Ma ihn zwischen sich an der Hand führten. Damals hatte er die Namen der Märtyrer und der Gefallenen auf den Marmortafeln an Mauern und Säulen noch nicht lesen können. Jetzt vermochte er kaum den Blick von den Namen der Toten zu wenden, von den Listen, die indische Regimenter und trauernde Familien angebracht hatten. Eine Tafel an der Mauer unmittelbar neben dem Damm, der zum Harmandir führte, besagte, daß ein Hauptmann des 8. Jammu-und-Kashmir-Regiments, leichte Infanterie, am Siachen-Gletscher593 gefallen war. Zwei Jahre nach seinem Tod hatte seine Witwe - auch sie im Rang eines Hauptmanns - siebenhunderteins Rupien gespendet und zu seinem Gedenken die Tafel anbringen lassen. Inzwischen war über ein Jahrzehnt vergangen, und Sartaj fragte sich, ob die Witwe noch trauerte. Mit Sicherheit. Er stellte sich ihren Mann vor, wie er zwischen zerklüfteten Gipfeln eine spiegelglatte Eiswand emporkletterte. Er war noch sehr jung gewesen, ein tapferer Soldat, und er war weit oberhalb jeder menschlichen Behausung in den Tod geklettert. Und auch die Frau sah Sartaj vor sich, in Uniform, das Gesicht der aufgehenden Sonne zugewandt. Im Weitergehen weinte er.
Weswegen weinte er? Er trauerte um den Toten, den Hauptmann, aber auch um dessen Feinde, die ihn dort oben auf dem Schlachtfeld aus Eis erwartet hatten, mit gequälten Lungen nach Luft ringend. Er weinte um all die Toten auf den Tafeln und um die Sikh-Märtyrer auf den Gemälden oben im Museum, die für ihren Glauben gefoltert, verstümmelt und getötet worden waren. Er weinte um die sechshundertvierundvierzig Toten auf der Liste in dem Museum, um die Sikhs, die 1984, als die indische Armee den Tempel stürmte, ums Leben gekommen waren, und er weinte um die Soldaten, die auf diesen Steinen von Kugeln gefällt worden waren. Er wischte sich das Gesicht und ging weiter. Schließlich hatte er den ganzen Sarovar umrundet. Ma saß noch an ihre Säule gelehnt, die Augen geschlossen. Er ging an ihr vorbei und begann eine neue Runde auf dem Parkarma. Ein alter Mann sah neugierig und freundlich zu ihm her, und Sartaj merkte, daß er wieder weinte. Niemand konnte genau errechnen, wieviel geopfert oder was gewonnen worden war, es gab nur dieses Erkennen des Verlustes, des erlittenen und verarbeiteten Schmerzes. Die Hitze stieg Sartaj in die Füße, und das Brennen war ihm willkommen. Er ging weiter. Frieden kehrte in ihn ein, während er so den Nektarteich umkreiste. Er erwartete nicht, daß Vaheguru ihm vergeben würde, sofern sein bruchstückhafter, zweifelnder Glaube an Vaheguru ihm überhaupt das Recht gab, um Vergebung zu bitten. Er wußte nicht, ob er ein guter oder ein schlechter Mensch war, ob sein Handeln in Glauben oder Furcht wurzelte. Aber er hatte gehandelt, und das Gehen tat ihm weh und beruhigte ihn zugleich. Und so ging er weiter im Kreis, vorbei am Dukh Bhanjani Ber183, der alle Leiden heilte, und an der Plattform des Athsath-Tirath033. Er drehte eine weitere Runde, und bald wußte er nicht mehr, wie oft er den Sarovar schon umrundet hatte, er vergaß, daß er ging, und es gab nur noch die Bewegung seines Körpers, das schimmernde Wasser und den Gesang.
»Sartaj?«
Ma hatte ihn am Ellbogen gefaßt.
»Ich bin hier herumgegangen«, sagte er. Er wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht und führte sie in den Schatten zurück.
»Was hast du?« fragte sie und strich seinen Kragen glatt, wieder ganz die Mutter, die besorgt die Stirn runzelte und ihren Sohn gepflegt und ordentlich sehen wollte. Die Fremde, die zuvor neben ihm gesessen hatte, war verschwunden. Verborgen vielleicht.
»Nichts, Ma. Können wir gehen?«
Sie gingen den Parkarma entlang zum Ausgang, doch plötzlich hielt Sartaj inne. An jenem Wintermorgen vor langer Zeit, als er mit Papa-ji und Ma hier gewesen war, hatte Papa-ji ihn aufgefordert, in dem Teich unterzutauchen. Er selbst hatte Hemd und Hose ausgezogen, war in seinen blaugestreiften Kachchhas303 ins Wasser gestiegen und hatte ihn hereingewinkt. »Komm, Sartaj.« Doch Sartaj hatte nicht gewollt und sich hinter Ma versteckt. »Einem Sher587 wie meinem Sohn macht doch ein bißchen Kälte nichts aus«, hatte Papa-ji gesagt. »Komm!« Aber Sartaj hatte sich nicht vor der Kälte gefürchtet. Er hatte sich plötzlich geniert. Gegen Papa-jis mächtige braune Schultern kam er sich dünn und klein vor, ganz und gar nicht wie ein Sher. Er wollte nicht, daß die vielen Menschen ihn sahen. Er schüttelte den Kopf und klammerte sich an Ma, und sie ließ ihn gewähren. »Laß den Jungen, Ji«, sagte sie. »Er erkältet sich nur.« Und Papa-ji war lachend aus dem Wasser aufgetaucht und triefend die Stufen heraufgestiegen, und sein Kara hatte an seinem breiten Handgelenk geblitzt.
Jetzt war Sommer, und Sartaj genierte sich nicht mehr. »Ich tauche mal kurz unter, Ma«, sagte er.
Sie war erfreut, dachte aber wie immer praktisch. »Du hast doch gar kein Handtuch dabei oder sonst was.«
Er schüttelte den Kopf und zuckte die Schultern. Sie wartete am Dukh Bhanjani Ber auf ihn, seine Kleider ordentlich gefaltet über dem Arm. Er stieg seitlich die nassen Steinstufen hinunter. Das Wasser war überraschend kühl und reichte ihm bis zur Taille. Ringsum standen viele andere Männer und murmelten ihre Gebete. Sartaj faltete die Hände, tauchte das Gesicht ins Wasser, und die Geräusche wurden leiser. Tief unten war eine uralte Quelle, die in den atmenden Mittelpunkt der Erde führte. Eine langgestreckte Woge rollte langsam heran, stieg ihm bis zur Brust, hob ihn auf und hielt ihn. In seinen Ohren war ein leises Grollen, ein Rauschen, wie Wellen, die in weiter Ferne auf einen Strand gleiten. Aber es war in seinem Innern, dieses Geräusch. Für einen Augenblick wurde er schwerelos, seine alternden Arme und sein erschlaffender Bauch hoben sich, und er schwamm. Dann tauchte er wieder auf, glitzernde Tropfen fielen von seinen Wimpern, und er lächelte Ma zu. Sie hob die Hand und lächelte zurück. Auf der Rückfahrt nach Mumbai hatten sie zwei Schwestern und deren Eltern als Reisegefährten im Abteil. Die Mädchen, achtzehn und zwanzig, beide in eleganten rot-grünen Salvar-kamiz', spielten auf einem tragbaren Kassettenrecorder Kishore-Kumar-Songs, jedoch nicht, ohne Ma vorher höflich zu fragen, ob es sie störe. Es störte sie nicht, und so brausten sie zu den Klängen von »Geet gaata hoon main218 « und »Aane vaala pal« und dem stetigen Rattern der Räder durch die Landschaft Punjabs. Bald war Ma mit der Mutter der Mädchen ins Gespräch vertieft, über Amritsar, das sich völlig verändert habe, bis hin zu einem Juwelier in Andheri, den beide kannten. Sartaj unterhielt sich mit dem Vater.
»Ich bin vor dreiundzwanzig Jahren nach Bombay gekommen«, sagte der Mann. Er hieß Satnam Singh Birdi und war Schreiner. Nur mit seinem Können und einem Zettel mit dem Namen eines Bekannten seines Vaters war er damals in der Stadt angelangt. Die dörfliche Beziehung hatte nichts genützt, der Bekannte hatte sich desinteressiert gezeigt, und Satnam Singh hatte in der ersten Zeit auf Bürgersteigen geschlafen und gehungert. Doch als tüchtiger Handwerker hatte er bald bei anderen Schreinern und Raumausstattungsfirmen Arbeit gefunden. Seine Spezialität waren elegante Schränke, verzierte Tische und repräsentative Büros. Nach sieben Jahren hatte er mit zwei seiner Brüder einen eigenen Betrieb aufgemacht, der sich prächtig entwickelte. Der jüngere Bruder hatte fast sein halbes Leben in der Stadt verbracht, er kleidete sich stets gut, hatte ein Handy und sprach Englisch. Er war der Frontmann, er holte Aufträge herein und handelte Verträge aus. Sie hatten expandiert und ihrerseits etliche Schreiner eingestellt. Vaheguru hatte die Familie gesegnet, und jetzt besaßen Satnam Singh und seine Frau eine schöne Wohnung in Oshiwara. Die Mädchen waren herangewachsen, und beide waren vorbildliche Studentinnen.
»Die hier«, sagte Satnam Singh, »möchte Ärztin werden. Und die Jüngere will Flugzeuge fliegen, sagt sie.«
Das Mädchen reagierte prompt auf das nachsichtige Seufzen ihres Vaters. »Papa«, sagte sie scharf, »Pilotinnen gibt es heutzutage viele. Das ist nichts Ungewöhnliches.«
Und sie stürzten sich fröhlich in einen alten Familienstreit. Ma - Sartajs Mutter - ergriff zur Überraschung ihrer neuen Freundin, der anderen Mutter, Partei für die Jüngere. »Sehr gut«, sagte sie. »Wieso sollten Mädchen zurückstehen?«
Sartaj hörte ihnen zu, Satnam Singh Birdi, seiner Frau Kulwinder Kaur und ihren Töchtern Sabrina und Sonia, und zu seiner Verwunderung breitete sich ein Gefühl der Freude wie warmer Sirup in seiner Brust aus. Er versuchte es zu unterdrücken, denn die Hoffnung, die damit einherging, entbehrte jeder Grundlage. Es war nichts weiter als eine einzelne Familie, eine einzelne Geschichte. Und doch war sie real: Dieser Mann und diese Frau waren von weither gekommen, sie hatten hart gearbeitet, sie hatten sich eine Existenz aufgebaut. Und ihre Töchter wollten höher hinaus. Zweifellos hatte es auch in ihrem Leben Kummer und Leid gegeben, und auch Sabrina und Sonia würden irgendwann ihre Enttäuschungen und Niederlagen erleben. Doch Sartaj konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, und über Sabrinas Ausfälle gegen ihre Mutter mußte er laut lachen.
Sie aßen zusammen zu Mittag, teilten sich Paraunthas, Bhindi085, Puris und Obst, das sie auf Bahnhöfen gekauft hatten. Nach dem Essen schliefen die Älteren, und die Mädchen wollten Polizeigeschichten von berühmten Leuten hören. Sartaj erzählte einige für sie geeignete von Filmstars und Konzernchefs, dann wurde er schläfrig. Schließlich mußte er sich eingestehen, daß auch er zu den Älteren gehörte. Er kletterte in seine Koje und fiel, vom Schaukeln des Zuges eingelullt, in tiefen Schlaf.
Der Duft von Chai und Pakoras weckte ihn. Er blieb noch ein paar Minuten liegen und schwelgte in der Verheißung des Augenblicks, im wohligen Gefühl seiner Ausgeruhtheit und Entspannung, im Tempo des pfeifenden Zuges, in der Vorfreude auf zu Hause, wo Mary ihn erwartete. Dann kletterte er hinunter und aß. Die Mädchen holten Rommékarten hervor und teilten sie aus. Ma sagte, sie habe Jahre nicht mehr gespielt, sie sei zu alt, um noch gut spielen zu können, entpuppte sich dann aber als recht gewiefte Spielerin. Ihre Augen strahlten, wenn sie gewann, sie spielte ihre Trümpfe mit wilder Freude aus und klatschte die Karten nur so auf die Unterlage.
»Are, Ji«, sagte Kulwinder Kaur, »Sie sind ja Expertin! Was für Karten Sie immer ausspielen!«
Viel später, nach dem Abendessen, als die Familie Birdi fest schlief, setzte Sartaj sich zu seiner Mutter ans Fußende ihrer Koje. Er wußte, daß sie noch lange wach sein würde. Sie lag mit angezogenen Knien auf dem Rücken. Hinter ihr flogen die Felder vorbei, unheimlich und schön im fließenden Mondlicht.
»Ma?« sagte er leise.
»Ja, Beta?«
»Ma, es gibt da ein Mädchen ...«
»Ich weiß.«
»Du weißt?«
Sie lachte leise. Sartaj konnte ihr Gesicht nicht sehen, aber er wußte, daß sie das Kinn senkte und den Kopf hin und her bewegte.
»Ich bin schließlich auch eine Polizei-vaali. Ich habe Freunde, die mir so allerlei erzählen. Ich weiß vieles.«
»Ja, das stimmt.«
Sie drehte sich auf die Seite, die Hand unter ihrer Wange. »Ich bin froh, Beta.« Sie scherzte nicht mehr. »Ein Mann sollte mit einer Frau zusammen sein. So ist das nun mal. Man kann nicht allein durchs Leben gehen.«
»Aber du bist doch gern allein.« Vielleicht war es die Dunkelheit, die es ihm möglich machte, so offen zu sprechen, darauf anzuspielen, wie sehr sie auf ihre Unabhängigkeit bedacht war.
»Das ist was anderes«, sagte sie. »ich habe ein ganzes Leben hinter mir, Sartaj. Ich habe meine Pflicht getan.«
Sie benutzte das englische Wort »duty«, und Sartaj mußte daran denken, wie Papa-ji immer »Are chetti kar, duty par jaana hai029« gerufen hatte. Es war seltsam, Liebe als Pflicht zu begreifen, sich vorzustellen, daß Mas Salvar-kamiz und die rote Paranda478 eine Art Uniform gewesen waren, daß ihre unermüdliche Sorge um Papa-jis Gesundheit, seine Pflege und Ernährung vielleicht nichts Naturgegebenes gewesen waren, sondern etwas, das sie kultiviert hatte, ein bewußtes Opfer. Dann hatte die vertraute Gestalt vor ihm in all den Häusern, in denen sie zusammen gewohnt hatten, ihr ganz eigenes Leben geführt, sie hatte ihre eigene Erinnerung an jeden Geburtstag, jede Reise. Wieder befiel Sartaj das beunruhigende Gefühl, daß er diese Frau, seine eigene Mutter, Prabhjot Kaur, im Grunde gar nicht kannte. Das schmerzte ihn ein wenig, doch aus dem Schmerz erwuchs eine neue Zuneigung für diese Fremde, mit der er so viele Jahre verbracht hatte. Sie hatte hart gearbeitet, ohne Anerkennung, ohne Belohnung. Vielleicht hatte sie mehr von einer unterbezahlten Polizei-vaali an sich, als ihr bewußt war. Er lächelte und fragte: »Are, tun dir die Füße weh?«
»Ein bißchen.«
Sartaj massierte ihre Knöchel und Füße. Der Zug beschleunigte und fuhr mit ohrenbetäubendem Rattern, in dem sich Überschwang und Wehmut mischten, über eine lange Brücke. Wer immer sie war, diese Frau - Sartaj fühlte sich nicht allein, als er hier bei ihr saß, er fühlte sich nicht einsam. Sie war so vieles für ihn gewesen. Sie waren Mutter und Sohn gewesen, aber sie waren auch Prabhjot Kaur und Sartaj Singh, sie waren einander über viele Jahre Halt und Stütze gewesen, und sie waren Freunde. Vor dem Fenster draußen zog sich der Fluß silberglitzernd zum Horizont. Sartaj hielt den Fuß seiner Mutter in der Hand, er spürte dessen Gebrechlichkeit und dachte: Sie ist alt. Er gestattete sich, an ihren Tod zu denken, und plötzlich schauderte er, ohne jedoch traurig zu sein. Jede Bindung trug den Verlust, die Möglichkeit des Verrats in sich. Man entging diesem Mysterium nicht, es gab kein Entrinnen, und darüber zu klagen war sinnlos. Liebe war Pflicht, und Pflicht war Liebe.
Als Sartaj sich bei diesen philosophischen Betrachtungen ertappte, mußte er grinsen. Er kam sich albern vor. Ich muß müde sein, dachte er. Er tätschelte noch einmal Mas Fuß, kletterte dann leise in seine Koje hinauf und kuschelte sich unter das frisch duftende Laken. Unter den rollenden Rädern stieg ein Lied auf, das sie am Nachmittag gehört hatten. Was war es? Ein Kishore-Kumar-Song? Die Melodie hatte er im Kopf, aber wie ging der Text? Er zog sich das Laken bis zum Kinn hoch, summte ganz leise die Melodie und versuchte sich zu erinnern.
Mary wollte Sartaj Matsch ins Gesicht schmieren. »Das ist kein Matsch«, sagte sie entrüstet, aber es sah genauso aus, Matsch in einem rosa Töpfchen.
»Doch. Du bist runtergegangen und hast es unter einer Pflanze ausgegraben.« Sie saßen einander gegenüber auf seinem Bett. Mary war zum ersten Mal in seiner Wohnung, und er hatte den ganzen Nachmittag aufgeräumt und den Staub weggewischt, der sich während seiner Reise nach Amritsar abgesetzt hatte. Um halb sieben war sie, mit einem kleinen blauen Rucksack über der Schulter, angekommen. Er hatte sie damit aufgezogen, wie jung sie aussah, wie eine schicke Collegestudentin, und dann hatten sie sich geliebt. Danach hatte er ihr von der Reise erzählt und davon, wie schmutzig er sich gefühlt hatte, obwohl sie die ganze Strecke erster Klasse gefahren waren. Da war sie vom Bett gesprungen, hatte in ihrem Rucksack gekramt und das Matschtöpfchen hervorgeholt.
»Das ist eine sündhaft teure Gesichtscreme, Sartaj«, sagte sie. »Du glaubst gar nicht, wieviel bei uns im Salon dafür bezahlt wird. Da sind Fruchtextrakte und Essenzen drin. Das regeneriert die Haut und entfernt alle Unreinheiten von der Zugfahrt, die ganzen Schmutz- und Staubpartikel. Wie Multani mitti432, nur besser.« Sie setzte sich rittlings auf seine Schenkel. Sie hatte sich ein Tuch um die Hüften geschlungen, und ihr Haar fiel auf ihre nackten Schultern herab. »Are, nicht bewegen, Baba.« Sie tauchte zwei Finger in das Töpfchen und verstrich die Creme auf seiner Stirn. Es fühlte sich kühl an, kühl und glatt. »Zieh deine Haare zurück.«
Sie arbeitete langsam und sorgfältig, die Zungenspitze zwischen den Zähnen. Er reckte sich zu ihr hoch, und sie lachte und ließ sich von ihm küssen, aber nur einen Moment lang, dann drückte sie den Handballen gegen seine Schulter und schob ihn weg. Er lehnte sich an ein Kissen und betrachtete ihre Augen, die Schatten auf ihrer braunen Haut. Kleine Falten durchzogen ihre Lippen, und er musterte ihre geschwungenen Wimpern. Als sie fertig war, nickte sie zufrieden, und er nahm ihr das Töpfchen aus der Hand und verstrich einen Klecks von der Creme auf ihrem Wangenknochen. Die Creme war rot und weicher als Matsch, von sehr gleichmäßiger, feinkörniger Konsistenz, und sie ließ sich gut verreiben. Er bestrich ihr Gesicht damit, von oben nach unten. Am Hals angelangt, legte er den Kopf zurück und betrachtete sie, voller Erstaunen, denn was er da sah, war Mary und doch wieder nicht Mary. Unter der roten Maske erkannte er zwar ihre Züge, zugleich aber war ihr Gesicht starr, undurchdringlich und fremd. »Du siehst gar nicht aus wie du«, sagte er.
Sie nickte. »Das muß jetzt erst mal trocknen. Fünfzehn bis zwanzig Minuten.« Er spürte schon das Ziehen der Tonerde auf seiner Haut.
Und so blieben sie sitzen, ihre Hände auf seiner Brust, seine um ihre Taille. Das Rot wurde heller und bekam Risse. Es war, als betrachtete man eine alte steinerne Statue, nur die Augen strahlten hell daraus hervor. Irgendwie war es beunruhigend, diese Abstraktion Marys zu sehen, die sie zu etwas anderem, etwas Unpersönlichem machte, und so wandte er den Blick ab und schaute über ihre Schulter. Seine Schranktür stand offen, und in dem Spiegel, den er vor langer Zeit daran befestigt hatte, um morgens vor dem Weggehen sein Äußeres zu überprüfen, sah er sich und Mary, zwei symmetrische Silhouetten, und einen Teil seines Gesichts, die roten Wangen über Marys offen herabfließendem Haar. Ein Fremder blickte ihn an, so fremd wie sie. Er atmete tief ein und wandte sich wieder Mary zu, ganz ruhig, und er zog sie eng an sich.
Ihre Atemzüge wirbelten durch die Stille, lauter als der Straßenlärm draußen, und das Gezwitscher der Vögel fiel leise mit ein. Die Behandlung werde Sartajs Haut regenerieren, hatte Mary gesagt, und seine Haut spannte auch zunehmend, aber die Wirkung schien tiefer zu gehen. Mary war hier bei ihm, und weder das Glück noch der Schmerz, die ihn erwarten mochten, machten ihm angst. Er fühlte sich neu belebt, wie befreit. Warum das so war, wußte er nicht, und es kümmerte ihn auch nicht. Es genügte, lebendig zu sein.
»Jetzt ist es getrocknet«, sagte Mary. »Wir können's abwaschen.«
Er führte sie an der Hand ins Bad, nahm ihr das Tuch ab und schob es hinter die Handtücher. Sie drehte die Hähne an der Wand auf, und ein Wasserstrahl sprudelte in den engen Raum. Dann schaute sie sich nach ihm um, und ihr Lachen ließ die Tonerde aufplatzen. Und auch er lachte, einfach so, aus keinem bestimmten Grund. Sie wuschen einander das Gesicht, und die Tonerde floß an ihnen herab, überzog sie wie mit einer Glasur, und Sartaj sah Mary - die Mary, die er kannte - aus dem roten Überzug auftauchen, und er wollte sie berühren, überall, und er tat es.
Ein Trupp Bauarbeiter besserte ein Schlagloch in der Straße aus. Im Moment standen sie nur um das Loch herum, betrachteten es und warteten offenbar darauf, daß sich irgend etwas tat. Der Verkehr staute sich vor der Engstelle weit zurück, und Sartaj stand mit seinem Motorrad zwischen einem BEST-Bus und zwei Autorikschas eingekeilt. Es ging weder vorwärts noch rückwärts, und alle warteten einträchtig. Der Bus war gesteckt voll mit Büroangestellten, die Autorikschas brachten Studenten zu ihren Vorlesungen. Jungen gingen die Schlangen entlang und verkauften Zeitschriften, Wasser und knallbunte chinesische Figuren eines lachenden Mannes mit den Händen über dem Kopf. Zwei verkrüppelte Bettler bewegten sich von Auto zu Auto und klopften mit ihren Stümpfen an die Windschutzscheiben. Klänge aus zwei verschiedenen Radios ganz in der Nähe vermischten sich. Sartaj sog alles in sich ein und konnte kaum glauben, daß er es während seiner Abwesenheit vermißt hatte und froh war, wieder hier zu sein. Selbst dieser besondere Gestank nach Auspuffgasen und heißem Teer erschien ihm köstlich. Ich muß verrückt sein, dachte er. Katekar fiel ihm ein, der genauso verrückt gewesen war: Ständig hatte er sich beklagt, aber wenn er im Dorf seiner Schwiegereltern war, so hatte er Sartaj einmal gestanden, hatte er sich nach der Stadt zurückgesehnt. »Wer einmal die Luft hier geschnuppert hat«, hatte er gesagt, »der ist für jeden anderen Ort verloren.« Und er hatte sich an die Stirn getippt und gelacht, daß seine Schultern zuckten.
Der Bus fuhr an, und Sartaj scherte aus und überholte ihn, riskierte ein Zusammentreffen mit Tonnen von Metall, und dann war er an den Arbeitern vorbei und durch die Lücke durch. Er gab Gas. Eine von leuchtenden neuen Filmplakaten wie von einer Girlande gesäumte Kurve führte zu einem Strand, und das Meer lag glatt und braun vor ihm. Am Eingang von Kailashpada wurde gebaut, ein ungeschlachtes Stahlgerüst wuchs dort aus dem Boden. In seinem Schatten hatten die Arbeiter ihre roten und blauen Zelte aufgeschlagen, und auf Kiesbergen krabbelten nackte Babys herum. Sartaj verlangsamte die Fahrt, um zwei hochbeinige weiße Hunde vorbeizulassen, die zielstrebig die Straße überquerten, als hätten sie in fünf Minuten eine wichtige Besprechung. Ein Windstoß traf Sartajs Brust, und er war glücklich.
Er ließ das Motorrad durch das Tor des Reviers ausrollen und parkte vor der Bezirksdirektion. Von hier aus konnte er durch den Eingangsbereich hindurch die Galerie sehen, die zum Zimmer des Oberinspektors und zum Verhörraum führte. Kamble saß über den Schreibtisch direkt am Haupteingang gebeugt und schrieb etwas in ein Register. Ein Mann und eine Frau saßen ihm gegenüber, einander zugeneigt und mit hängenden Schultern. Ein Wachtmeister führte einen gefesselten Häftling vorbei. Auf dem Balkon oben hörte man langsam und gleichmäßig einen Besen über den Steinboden schaben. Majid Khan schrie einen Inspektor an, mit dröhnender Stimme, aber nicht unfreundlich, und Sartaj mußte grinsen.
Er stieg ab, stellte die Füße auf das Pedal, erst den einen, dann den anderen, und rieb mit einem Taschentuch seine Schuhe blank, bis sie glänzten. Dann rückte er seinen Gürtel zurecht. Er klopfte sich auf die Wangen und strich sich mit Daumen und Zeigefinger den Schnurrbart glatt, der bestimmt prächtig aussah. Dann war er bereit. Er ging hinein, und ein neuer Tag begann.