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Auch Liebekind machte sich Sorgen, ich sah es auf den ersten Blick. Beim letzten Glockenschlag der nicht weit entfernten Lutherkirche hatte ich an seine Tür geklopft.
»Dieser leidige Fall Melanie Seifert«, stöhnte er, als ich vor seinem ausladenden Schreibtisch aus dunklem Holz Platz nahm, der mich immer an einen Beichtstuhl denken ließ. Vielleicht, weil ich nun schon seit Monaten mit seiner Frau schlief und ständig fürchtete, er könnte dahinterkommen. Wie üblich drehte mein Chef zwischen Zeige- und Mittelfinger eine seiner heiligen Zigarren, die er niemals ansteckte, sondern lediglich mit verzückter Miene betrachtete und hie und da ein wenig beschnüffelte. »Die Presse gibt einfach keine Ruhe deswegen.«
»Was sollen wir machen?« Offenbar ging es auch heute nicht um Theresa. Lautlos aufatmend lehnte ich mich in dem altmodischen, bequemen Stuhl zurück. »Die Staatsanwaltschaft hat die Akte geschlossen.«
Der Fall Seifert machte seit Tagen Schlagzeilen in einem bestimmten Teil der örtlichen Presse. Das fünfzehnjährige, ein wenig pummelige Mädchen war kurz vor Mitternacht auf dem Heimweg von einer gut gelungenen und sicherlich nicht ganz alkoholfreien Party gewesen. In der Straßenbahn kam sie mit einem etwa zehn Jahre älteren Mann ins Gespräch. Der hatte ihre Ausgelassenheit und blitzenden Augen falsch gedeutet, war mit Sicherheit auch nicht der Hellste, und am Ende hatte es ein wenig Geschrei gegeben. Zwei beherzte Fahrgäste waren eingeschritten, der Straßenbahnfahrer hatte unverzüglich über Funk die Polizei gerufen, und im Grunde war nichts passiert, was nicht jeden Tag tausend Mal irgendwo geschieht. Ein Mann versucht, an ein Mädchen heranzukommen, sie will nicht und weist ihn ab.
Selbstverständlich hatte der Kerl sich dabei ungewöhnlich dämlich angestellt, aber Melanie hatte sich zu wehren gewusst, und vermutlich wäre alles längst vergessen, hätte nicht ein eifriger Journalist eine Woche später herausgefunden, dass es sich bei dem Möchtegern-Casanova um einen vorbestraften Sexualstraftäter handelte.
Nun war das Geschrei groß. Der Täter hatte im Alter von neunzehn Jahren wegen eines minder schweren Delikts anderthalb Jahre auf Bewährung bekommen. Melanies Verehrer war dumm, das stand außer Zweifel, und er hatte sich gewiss nicht korrekt verhalten. Aber er hatte definitiv nicht versucht, ihr Gewalt anzutun. Der Mann arbeitete als Hilfskraft in der städtischen Gärtnerei und war dort als langsam, aber zuverlässig und harmlos bekannt. Leider hatte das Thema für bestimmte Menschen jedoch beträchtlichen Sex-Appeal. Unschuldige Mädchen, die von schlimmen Männern bedrängt werden, das verkaufte sich eben immer wieder gut.
»Vor allem dieser eine Schreiberling …?« Liebekind schob seine schwere Brille in die Stirn und kniff die Augen zu Schlitzen. »Wie hieß er? Eichendorff?«
Er sah eindeutig noch schlechter als ich, was mir eine kleine, gemeine Befriedigung verschaffte. Seit einem halben Jahr musste auch ich eine Brille tragen, und ich hasste das blöde Ding immer noch.
»Möricke. Jupp Möricke.«
Ärgerlich wedelte er mit einem dreispaltigen Zeitungsausschnitt. »Sie möchten es vermutlich nicht lesen?«
»Danke. Ich kann mir denken, was drinsteht.«
Wie konnten wir ein solches Monster frei herumlaufen lassen? Was musste noch alles geschehen, bis wir diesen Wüstling endlich in Sicherheitsverwahrung nahmen? Das waren die Fragen, die derzeit in Teilen der Presse, genauer im Kurpfalz-Kurier, eifrig diskutiert wurden.
Liebekind, ein Zweimeter-Riese mit silbernem Haarkranz auf dem schweren, runden Kopf, knallte den Artikel verächtlich auf einen seiner Papierstapel. »Mir ist zu Ohren gekommen, dieser Herr Möricke versuche, seine Geschichte ans Fernsehen zu verkaufen. Sollte sich ein Sender finden, der darauf einsteigt, dann helfe uns Gott. Und außerdem fängt er anscheinend an, andere ungelöste Fälle auszugraben.«
»Wir haben Mitte Juni. Die Saure-Gurken-Zeit steht vor der Tür.«
»Der Mann scheint einen regelrechten Krieg gegen uns anzuzetteln.« Mein Chef zeigte mir einen anderen Zeitungsausschnitt. »Das hier ist von gestern. Hier geht es um diesen Bankraub, der leider Gottes noch immer nicht aufgeklärt ist. Nicht eben ein Ruhmesblatt, Herr Gerlach.«
Polizeidirektor Doktor Egon Liebekind war dafür bekannt, seine Worte sorgfältig zu wählen. Diese bedeuteten einen Anschiss erster Klasse, das war mir klar. Dringend Zeit, ein paar Punkte zu machen.
»In der Sache gibt es einen ersten Erfolg. In Südspanien ist gestern ein Geldschein aus der Beute aufgetaucht.«
»Spanien? Wir hatten doch bisher gar keine Spur in diese Richtung?«
»Nein, das ist auch völlig neu. Möglicherweise verstecken sich die beiden Täter irgendwo in der Umgebung von Malaga und warten ab, bis sich hier die Aufregung gelegt hat. Die spanischen Kollegen sind bereits alarmiert. Früher oder später dürfte die nächste Banknote auftauchen.«
Achtsam legte Liebekind seinen überdimensionalen schwarzen Glimmstängel beiseite. Wir kamen noch kurz zu den Themen des Tages. Es waren erfreulich wenige. Abgesehen von dem schon erwähnten Banküberfall, der sich in Eppelheim ereignet hatte, einem westlichen Vorort Heidelbergs jenseits der Autobahn, stand nur der übliche Kleinkram auf meiner Liste. Deshalb beschäftigte sich ein Teil meiner Leute zurzeit damit, ungelöste alte Fälle wieder hervorzukramen und daraufhin zu überprüfen, ob sich eine Wiederaufnahme lohnen könnte.
Die Kriminaltechnik hatte in den letzten Jahren faszinierende Fortschritte gemacht, und schon mancher Mörder, der sich längst in Sicherheit wiegte und seine Tat vergessen glaubte, hatte eines Morgens sehr verdutzt ins Auge des Gesetzes geblickt, als er die Tür öffnete.
»Sie blicken dauernd auf die Uhr«, sagte Liebekind, nun schon wieder freundlicher. »Haben Sie noch einen Termin heute?«
»Elternstammtisch. Die zweitgrößte Katastrophe nach Kindergeburtstag.«
Er brauchte ja nicht zu wissen, dass ich zuvor noch mit seiner Frau ins Bett steigen würde. Theresa, meine Geliebte. Immer wieder und immer noch fühlte ich diesen heißen Stich im Bauch, wenn ich an sie dachte. Ich konnte nur hoffen, dass Liebekind in diesem Moment keine Veränderung in meinem Gesicht bemerkte.
Leider würde unser Abend heute nur kurz sein, denn der Elternstammtisch war nicht erfunden. Es gab irgendein Problem mit der Klasse, welches, hatte ich nicht recht verstanden. Ich hatte auch nicht die geringste Lust hinzugehen, aber meine Töchter lagen mir ständig in den Ohren, ich würde mich viel zu wenig für ihr Fortkommen in der Schule und stattdessen zu sehr für ihre abendlichen Freizeitaktivitäten interessieren.
Ich erhob mich. »Am Montag lasse ich überprüfen, ob der Name Möricke in unseren Akten auftaucht. Vielleicht ist es ja eine Art Rachefeldzug gegen uns, was er treibt. Wenn es so ist, dann können wir den Spieß umdrehen und seinen Kollegen von der Konkurrenz einen kleinen Hinweis zuspielen. Dann wäre er der Blamierte und würde sich vielleicht ein anderes Ziel suchen für seine Attacken.«
Theresa erwartete mich mit dezent indigniertem Blick. Genau wie ihr Mann konnte auch sie es nicht leiden, wenn man sie warten ließ. Aber ich kam nur dreieinhalb Minuten zu spät, und sie war noch nicht wirklich sauer.
»Schimpf mit deinem Gatten«, sagte ich nach einem hastigen Kuss. »Er konnte sich wieder mal nicht losreißen von mir.«
Wie üblich trafen wir uns in der kleinen Wohnung ihrer Freundin Inge in der Blumenstraße, praktischerweise nur ein paar Schritte von meinem Büro entfernt. Ich hatte diese Inge noch nie zu Gesicht bekommen, da sie schon seit über einem Jahr in Sydney arbeitete und lebte. Theresa sah hier ein wenig nach dem Rechten, goss die Pflanzen und missbrauchte in schamlosester Weise Vertrauen, Bett und Bad ihrer ahnungslosen Freundin.
»Egonchen?«, fragte sie milde und knabberte ein wenig an meinem linken Ohr. »Er hat doch nicht etwa Verdacht geschöpft?«
»War rein dienstlich. Und jetzt will ich nichts mehr davon hören. Ab sofort bin ich nämlich im Wochenende.«
Aufatmend fielen wir aufs Bett und begannen unverzüglich, uns gegenseitig zu entkleiden. Wenn nichts dazwischenkam, dann trafen wir uns zweimal die Woche, und diese wenigen Stunden mit Theresa waren kostbar für mich. Aber heute war ich unkonzentriert. Der Beruf war noch zu nah, meine Leidenschaft halb gespielt, und natürlich blieb das meiner Geliebten nicht lange verborgen.
»Was ist?« Sie hörte auf, mich zu streicheln. »Stress im Büro oder mit den Töchtern?«
Ich erzählte ihr Melanie Seiferts Geschichte. Ernst hörte sie zu, während ihre Fingerspitzen über meine Brust strichen.
»Eure Gefängnisse wären vermutlich ziemlich überfüllt, wenn ihr jeden Kerl einsperren wolltet, der in der Straßenbahn ein Mädchen anbaggert.«
»Na ja«, seufzte ich, »ganz so harmlos ist die Geschichte nun auch wieder nicht.«
»Zwischen einem Flirt und sexueller Belästigung liegt eben oft nicht mehr als ein Missverständnis.«
Theresas Fingerspitzen wanderten abwärts. Ich rollte mich auf den Rücken und genoss ihre Zärtlichkeiten mit geschlossenen Augen.
»Ich weiß nicht, wie ich darüber denken würde, wenn einer meiner Töchter so was passieren würde. Sie sind kaum jünger als Melanie, und das ist schon ein verflixt gefährliches Alter. Die Mädchen wissen einfach noch nicht, was sie anrichten können, wenn sie einem Mann schöne Augen machen.«
Unser Gespräch erstarb. Wir konzentrierten uns wieder auf die Sprache unserer Hände. Ich roch Theresas Duft, spürte ihre Haut, die Hitze ihres erregten Körpers, und endlich war mein Kopf nicht mehr im Büro, sondern dort, wo er hingehörte, bei meiner Geliebten, deren Berührungen und Geruch ausreichten, mich in wenigen Minuten die Welt außerhalb dieses Raums vergessen zu lassen. Mit ihr gab es keine gemeinsamen Sorgen, keinen Alltag, zwischen dessen unendlich langsamen aber so elend gründlichen Mühlrädern nicht wenige Beziehungen früher oder später zu Staub zerfielen. Unsere glücklichen Stunden verbrachten wir zusammen, den weniger erfreulichen Rest getrennt.
Theresa war keine Nymphomanin. Sie war nicht süchtig nach Sex, hatte sie mir einmal gestanden, sie war süchtig nach Sex mit mir, und von Liebe wollte sie nichts hören. Aber auf gewisse Weise liebte sie mich dennoch glühend, dessen war ich mir sicher. Vor einiger Zeit war ich zu der Überzeugung gelangt, dass mein Chef impotent war und seine Frau sich bei mir das holte, was sie bei ihm nicht bekam.
Endlich gab es in meinem Kopf keine Polizeidirektion mehr, keine Angst, ihr Mann könnte uns auf die Schliche kommen, keine unbeaufsichtigten, ewig herummaulenden Töchter, sondern nur noch diesen süßen Nebel, der einen jede Vorsicht und Vernunft vergessen lässt. Für eine Weile gab es nur noch zwei Menschen auf der Welt, zwei Körper, vier Hände, Lippen, Wärme, Schnurren, Feuchtigkeit, Stöhnen, Glück.
Später leerten wir gemeinsam die Sektflasche, die noch von Dienstagabend im Kühlschrank stand. Theresa rauchte, und wir sprachen über Belangloses. Sie zeigte mir ihre neue, kostbare Unterwäsche, die ich in der Eile natürlich nicht gebührend bewundert hatte, warf mir mit sanfter Nachsicht vor, ich hätte schon wieder nicht bemerkt, dass sie beim Frisör war. Teure Unterwäsche und immer wieder neue Frisuren waren ihre Leidenschaften. Andere Frauen sammelten Schuhe, Theresa sündhaft knappe Slips aus kostbaren Materialien und edle Büstenhalter, die mehr präsentierten als verbargen.
Der Elternstammtisch, zu dem ich natürlich ebenfalls zu spät kam, war einer jener Anlässe, bei denen man begreift, wie leicht auch der friedfertigste Mensch zum Amokläufer werden kann. Thema des Abends war ein Französischlehrer, der von der Klasse viel verlangte und entsprechend schlechte Noten verteilte. Noch vor meiner Ankunft hatten sich zwei Fraktionen gebildet. Die eine war der unerschütterlichen Überzeugung, der Mann sei im Recht, Kinder müssten gefordert werden, da sie sonst nie die für den Lebenskampf unverzichtbare Härte entwickelten. Klassenarbeiten konnten gar nicht schwer und die Benotung nicht streng genug sein, solange nur ihre eigenen Kinder ordentliche Zeugnisse heimbrachten.
Die zweite Partei, zu der auch ich mich zählte, war der Ansicht, mit vierzehn Jahren habe ein Mensch noch das Recht, hin und wieder ein wenig Kind zu sein. Zu träumen, zu spinnen, sich für andere Dinge zu interessieren als unregelmäßige Verben und Karriere.
Wie erwartet, tobte der Streit ebenso erbittert wie ergebnislos. Ein Kompromiss war schon aus Prinzip nicht möglich, da beide Fraktionen sich im Besitz der Wahrheit wussten, was für sich genommen oft genug Anlass für Mord und Totschlag ist. Und schließlich ging es hier um die Kinder und damit um nichts Geringeres als die Zukunft der Welt.
Mein vorsichtiges Argument, Jugendliche sollten zwar in der Schule fürs Leben lernen, diese könne das Leben aber nur bedingt ersetzen, ging im allgemeinen Tumult unter. Bald bestellte ich mir einen zweiten Spätburgunder und hielt den Mund.
Am Ende wusste niemand mehr, was nun eigentlich das Ziel dieser merkwürdigen Veranstaltung gewesen war, und mir brummte der Kopf, weil die Hälfte der Anwesenden im Gefechtseifer tapfer zu rauchen begonnen hatte. Und selbstverständlich war man zu keinem Beschluss gekommen.
Als ich um halb elf nach Hause kam, lagen meine Zwillinge vor dem Fernseher und guckten einträchtig irgendeine amerikanische Serie, deren Thema einsame Hausfrauen und Sex zu sein schien. Ich setzte mich zu ihnen, stibitzte hin und wieder einen Kartoffelchip aus ihrer Tüte, trank ein Glas Merlot dazu und amüsierte mich zu meiner Überraschung nicht einmal schlecht. Erst als die Sendung zu Ende war, fiel mir auf, dass Sarah etwas mühsam lachte, während Louise und ich uns kugelten, weil wieder einmal ein trotteliger Gatte seine Angetraute zusammen mit seinem besten Freund nackt im Kleiderschrank fand.
»Was ist?«, fragte ich Sarah, als wir den Fernseher ausschalteten. »Schlechte Laune oder schlechte Noten?«
»Nichts ist«, erhielt ich zur Antwort. »Bin bloß müde.«
Doch nicht schon wieder Liebeskummer?
»Zahnweh hat sie.« Louise erntete einen bitterbösen Blick von ihrer Schwester. »Schon seit ein paar Tagen.«
»Dann solltest du vielleicht mal zum Zahnarzt gehen«, schlug ich vor. »Ist nicht gut, so was lange mit sich herumzuschleppen. Das kann sogar lebensgefährlich werden.«
Bei den letzten Worten war meine Stimme leiser geworden. Vera, meine Frau und die Mutter meiner Töchter, war vor nicht einmal zwei Jahren nach einem Zahnarztbesuch wegen eines vereiterten Weisheitszahns völlig überraschend gestorben.
»Wir haben ja gar keinen Zahnarzt«, schimpfte Sarah. »Unserer ist in Karlsruhe, aber von da mussten wir ja weg. Und außerdem ist es schon viel besser. Heute Morgen war die Backe noch ganz dick! Und jetzt – guck mal.«
»Stimmt«, bestätigte Louise. »Heute früh war’s noch viel schlimmer.«
»Das ist mir gar nicht aufgefallen.«
Sarah warf mir einen wütenden Seitenblick zu und sich selbst eine Handvoll Chips in den Mund. »Wann merkst du schon mal was!«
Jetzt erst erkannte ich, dass nicht nur Theresa beim Frisör gewesen war. Beim Frühstück hatten meine Töchter die gerstenblonden, glatten Haare noch lang getragen, jetzt waren die Mittelscheitel zur Seite gerutscht, das Haar ein gutes Stück kürzer, eine raffinierte Strähne fiel übers linke Auge. Die beiden wirkten plötzlich zwei Jahre älter.
»Hübsch«, sagte ich lahm. »Wirklich!«
Ein kurzes Lächeln blitzte in vier wasserblauen Augen. Mir machte es zu schaffen, wie rasch meine Kinder sich in den letzten Monaten zu attraktiven jungen Frauen entwickelten. Anfangs hatten sie noch rührend ausgesehen mit ihren bauchfreien Tops an den mageren Körpern, ihren harmlosen Versuchen, älter zu wirken, als sie waren. Natürlich hatten sie längst ihre Tage, was ich aber nur daran gemerkt hatte, dass auf einmal blassblaue Kartönchen mit Tampons im Bad herumlagen, und ihre Formen wurden von Monat zu Monat fraulicher, reifer, runder.
Ich dachte an mein Gespräch mit Theresa und diese unselige Geschichte in der Straßenbahn. Die Vorstellung machte mir zu schaffen, wie auch meine Töchter, ausgestattet mit Kinderseelen, aber auf einmal mit Körpern heranreifender Frauen, ahnungslos durch die Welt stolperten. Ihr Wissen über Sex und Liebe bezogen sie im Großen und Ganzen aus dem Fernsehen und ihren Bravo-Heftchen. Immerhin wurden dort auch Themen wie ungewollte Schwangerschaft und Geschlechtskrankheiten behandelt, wie ich mich vergewissert hatte. Mehrfach hatte ich versucht, mit ihnen über diese Dinge zu sprechen, aber es war mir nicht gelungen. Obwohl wir sonst über alles reden konnten, diese Themen waren tabu, und ich hätte nicht einmal sagen können, ob das an mir oder an meinen Mädchen lag. Und dabei gab es doch zur Zeit sicherlich nichts Wichtigeres in ihrem Leben.
Sarah fühlte mit der Zunge nach ihrem schmerzenden Zahn und versprach missmutig, gleich morgen alle ihre Freundinnen anzurufen und sich nach einem akzeptablen Zahnarzt zu erkundigen. Und gleich am Montag, ehrlich, ganz bestimmt, würde sie sich um einen Termin kümmern.
»Aber nur, wenn du mitkommst!«
»Sarah, du bist doch kein Kind mehr! Ich bin schon mit zehn allein zum Zahnarzt gegangen!«
»Mama ist aber immer mitgekommen! Und sie hat auch immer Angst gehabt.«
»Und du bestimmt auch«, assistierte Louise. »Du willst es bloß nicht zugeben.«
»Angst ist dazu da, dass man sie überwindet.«
»Quatsch. In der Schule haben wir gelernt, man hat Angst, damit man sich nicht unnötig in Gefahr begibt.«
Manchmal finde ich, die Schule sollte sich nicht um alles kümmern.
»Jetzt guckt erst mal, welcher Zahnarzt euch gefällt, und dann sehen wir weiter, okay?«
»Du hast dann doch wieder keine Zeit, wetten?«, zischte Sarah.
»Habt ihr schon Pläne fürs Wochenende?«
Sie sahen mir beunruhigt ins Gesicht. »Wieso?«
»Wir könnten mal wieder was zusammen machen.«
Ihre Mienen wurden misstrauisch. »Was denn?«
»Ich koche uns was Schönes, und wir essen am Sonntag mal wieder so richtig gemütlich zusammen.«
»Du kochst?«, fragten sie erschrocken.
Jetzt war ich doch ein wenig beleidigt. Gut, es war noch nicht so lange her, dass ich beschlossen hatte, ordentlich kochen zu lernen. Ich hatte mir Bücher gekauft, aus dem Internet Rezepte heruntergeladen, Experimente durchgeführt, und inzwischen fand ich die Ergebnisse meiner Bemühungen gar nicht mehr so übel. Meine Töchter waren in diesem Punkt jedoch hartnäckig anderer Ansicht.
»Ihr dürft aussuchen, was es gibt«, schlug ich vor. »Aber sagt nicht wieder Spaghetti mit Nutella.«
Sie wechselten einen Blick.
»Pizza«, schlug Louise ohne Begeisterung vor. »Pizza geht immer.«
»Oder Döner«, meinte Sarah.
Sie sahen mich an. »Hamburger! Selber gemachte Hamburger, das wär doch mal cool!«
»Mädels, ich hatte nicht vor, einen Schnellimbiss aufzumachen. Ich wollte was Richtiges kochen. Außerdem soll man nicht ständig Fleisch essen. Das ist ungesund.«
»Du hast aber gesagt, wir dürfen uns was wünschen!«
So einigten wir uns schließlich doch auf Pizza. Ein Rezept für den Teig musste ich irgendwo haben, und der Rest konnte kein Problem sein. Um meinem Gewissen etwas Gutes zu tun, würde ich eine große Schüssel Salat dazustellen, den ich aber vermutlich alleine verspeisen würde.
Meine Töchter hassten nun mal alles, was gesund war.