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»Braun, sagen Sie? Heribert Braun? Den kenn ich!«, erklärte mir Sönnchen, als wir beim Frühstückskaffee die Termine des Mittwochs durchgingen. Noch immer klang ihre Stimme verschnupft, aber ihre Augen waren wieder klar. »Der spielt in der ersten Mannschaft vom TC Leimen. Wir spielen manchmal gegen die. Aber sie schlagen uns immer.«
»TC Leimen, das ist doch der Club, wo Boris Becker seinen Aufschlag gelernt hat.«
Sie nickte. Ich nahm einen Schluck Kaffee. »Ich wette, er ist gut, der Herr Braun.«
»Sie müssen aber die Croissants essen, Herr Kriminalrat«, ermahnte sie mich streng. »Sie magern mir ja noch völlig ab!«
»Habe ich Recht? Spielt er gut, der Braun?«, fragte ich ergeben kauend.
»Der ist einer von diesen Verrückten, die drei Tage Mistlaune haben, wenn sie mal ein Spiel verlieren. Und der ist also der Bankdirektor, der ausgeraubt worden ist? Das hatte ich ja gar nicht mitgekriegt.«
»Bankdirektor wäre er vielleicht gerne. Er ist bloß ein kleiner Filialleiter.«
»Und was wollten Sie von dem? Ich denke, den Bankraub macht Frau Vangelis?«
Als sie den Namen Seligmann hörte, wurden Sönnchens Augen plötzlich schmal.
»Da klingelt was bei mir. Den Namen hab ich schon mal gehört. Und zwar hier im Amt. Und der ist verschwunden, sagen Sie? Denken Sie denn, er hat was mit dem Bankraub zu tun?«
»Möglich wär’s.« Ich leerte meine Tasse und wischte mir ein paar Croissant-Krümel von der Hose.
»Wenn ich bloß wüsste, wo ich den hinstecken soll«, grübelte sie mit spitzen Lippen. »Ich meine, der war vor Jahren mal Zeuge bei irgendwas. Es hat damals sogar in der Zeitung gestanden. Irgendwas Schlimmes muss das gewesen sein, sonst würd ich mich bestimmt nicht mehr dran erinnern.«
»Vielleicht haben wir was in den Akten über ihn?«
Meine Sekretärin nickte sehr langsam. Dann wurden ihre Augen plötzlich wieder größer. »Ich geh nachher mal in den Keller und trink mit der Gerda im Archiv einen Espresso. Vielleicht erinnert die sich noch, was das war. Die hat übrigens eine super Maschine! Wenn Sie auch mal ins Archiv kommen, lassen Sie sich von der Gerda unbedingt einen Espresso machen, Herr Kriminalrat!«
Seit neuestem war in der Polizeidirektion eine Art Wettbewerb ausgebrochen, welche Abteilung die tollste Maschine und die aromatischsten Bohnen hatte und den besten Kaffee kochte.
»Ich bin mit Ihrem ganz zufrieden, Sönnchen«, sagte ich behaglich.
Bonnie and Clyde schienen sich in den Weiten irgendeiner spanischen Sierra verloren zu haben.
»Unsere einzigen Spuren sind bisher der ausgebrannte Mercedes in einem Steinbruch nicht weit von Manzanares sowie – und das ist vielleicht spannender – eine Mietwagenbuchung in Barcelona von gestern Abend«, erfuhr ich von Klara Vangelis bei der Fallbesprechung. »Die Papiere, die der Mann vorzeigte, lauten auf den Namen, den Kräuter auch im Hotel angegeben hat – Horst Schröder.«
Ich gähnte. Die Nacht war zu kurz und der Rotwein eindeutig ein bisschen zu viel gewesen.
»Wie steht’s im Fall Seligmann?«, fragte ich.
Balke ergriff das Wort. »Der ist möglicherweise nach Süden unterwegs. Fin belgischer Lkw-Fahrer will seinen Mazda am Samstag auf der Autobahn bei Dijon gesehen haben.«
»Vielleicht fahren sie zu einem Treffpunkt? Um die Beute aufzuteilen?«
Vangelis nickte heute schon wieder kräftiger, obwohl sie immer noch ihren Verband trug. Die Beule an der Schläfe schimmerte durch das Make-up jetzt eher grünlich. Nach ihrer Miene zu schließen, schien sie jedoch noch schlechtere Laune zu haben als in den Tagen zuvor.
Balke strahlte. Er war fleißig gewesen. Inzwischen wussten wir eine Menge über das flüchtige Pärchen. Thorsten Kräuter stammte aus einfacheren Verhältnissen als seine Geliebte. Sein Vater arbeitete als Ingenieur bei Isuzu.
»Dieser Typ muss irgendwie einen Schaden haben«, meinte Balke. »Auf der einen Seite hat er ein Einsnull-Abi gemacht und bis vor ein paar Monaten Philosophie und Geschichte studiert, auf der anderen Seite ist er schon mit fünfzehn zum ersten Mal polizeilich aufgefallen.«
»Was hat er angestellt?«
»Mit einem Kumpel zusammen reihenweise Autos geknackt. Bevorzugt teure Mercedes-Modelle in den Villenvierteln um Wiesbaden herum. Die zwei mussten am Ende aber nur ein paar Tage soziale Dienste ableisten, weil sie ihre Beute nämlich nicht behalten, sondern komplett an Obdachlose verschenkt haben.«
»Er hat geklaut, um die Armen zu unterstützen?«, fragte ich belustigt.
Balke blieb ernst. »Er war schon als Schüler politisch ziemlich links, hat mir sein Vater erzählt. Auch an der Uni hat er sich sofort einer entsprechend radikalen Gruppe angeschlossen. Und ich finde, wenn einer schon klaut, dann doch bitte da, wo es nicht wehtut.«
»Der Robin Hood des einundzwanzigsten Jahrhunderts«, meinte ich kopfschüttelnd. »Hat er sich später noch mehr solche Sachen geleistet?«
»Er hat noch mehrfach unter Verdacht gestanden, immer wegen Eigentumsdelikten, immer wieder Autoknackerei an Nobelkarossen. Zwei Wochen war er sogar mal in U-Haft, aber er ist mit einem blauen Auge davongekommen.«
»Und das Mädchen?«
»Die hat von Haus aus Kohle ohne Ende!«, schnaubte er.
Balke war der festen Überzeugung, dass jeder Mensch kriminell war, der mehr als eine Million Euro besaß, weil man so viel Geld auf ehrliche Weise einfach nicht verdienen konnte.
»Die von Stoltzenburgs residieren in einem schlossartigen Anwesen in der Nähe von Königstein. Der Vater ist irgendwas Tolles bei der Deutschen Bank in Frankfurt. Mehr weiß ich bisher nicht über sie.«
Thorsten Kräuter war vor sechsundzwanzig Jahren in Koblenz zur Welt gekommen und somit sechs Jahre älter als seine Partnerin. Nach Aussagen einer Freundin, die Balke aufgetrieben hatte, liebte seine Jannine ihn bis zur Selbstaufgabe. Letztes Jahr hatte sie Abitur gemacht und sich seitdem ein wenig in der Welt umgesehen. Natürlich nicht mit Interrail-Pass und Rucksack, sondern mit Kreditkarten und First-Class-Tickets. Vielleicht hätte Kräuter als Professor Karriere gemacht, vielleicht hätte Jannine irgendwann einen Millionär geheiratet und ein angenehm langweiliges Leben an einer der schönen Küsten dieser Welt geführt. Vielleicht wären die beiden trotz aller Klassenunterschiede miteinander glücklich geworden. Vielleicht hätten sie irgendwann inmitten einer Schar wuseliger Enkelchen Silberhochzeit gefeiert. So viele Möglichkeiten, so viele Chancen. Und nun also das.
»War eigentlich einer von den beiden schon mal in Heidelberg?«
»Soweit wir wissen, nicht«, antwortete Vangelis. »Wir haben bisher keinerlei Verbindung zwischen den Brauns und Kräuter oder seiner Jannine entdecken können.«
»Haben Sie in Seligmanns Haus irgendwas von Interesse gefunden?«
Obwohl uns kein Durchsuchungsbefehl vorlag, hatte ich Anweisung gegeben, sein Haus auf den Kopf zu stellen auf der Suche nach Geld aus der Beute, verräterischen Notizen, irgendetwas, was unseren Verdacht erhärtete.
Vangelis schüttelte den Kopf. »Ich habe es vom Keller bis zum Dachboden durchsuchen lassen. Aber wir haben nichts gefunden, was uns weiterbringen würde.«
Balke hatte noch etwas auf dem Herzen.
»Dieses Handy, das die Spanier in dem Saab gefunden haben, das könnte ein Knaller werden. Ich habe inzwischen die Nummer. Sie gehört zu einer Prepaid-Karte, die auf eine Aachener Studentin läuft. Natürlich weiß sie von nichts. Das Handy sei ihr irgendwann in einer Kneipe geklaut worden, behauptet sie, und wir werden ihr kaum das Gegenteil beweisen können. Ich habe heute Morgen gleich vom Provider alle Nummern angefordert, mit denen Bonnie and Clyde in letzter Zeit telefoniert haben.« Zufrieden lehnte er sich zurück. »Und außerdem hab ich Seligmanns ehemalige Frau aufgetrieben. Sie wohnt in Ladenburg.«
Nebenbei inspizierte ich wieder einmal Liebekinds Terminkalender. Aber noch immer hatte er nicht vor, am kommenden Wochenende zu verreisen. Außerdem keine Mail von Theresa. Auch von meinen Töchtern hatte ich noch nichts gehört, obwohl sie schon seit vier Stunden unterwegs waren. Sonst schrieben sie ununterbrochen wegen Nichtigkeiten SMS an alle Welt. Aber mich hielten sie offenbar nicht für wichtig genug.
»Sollten wir nicht mal ein paar Takte mit der Frau reden?«, schlug Balke vor, da ich nicht reagierte.
»Hm«, brummte ich und nahm meinen Blick von meinem Laptop. »Das sollten wir wohl.«
»Soll ich sie herzitieren? Sie ist zu Hause und hat Schnupfen.«
»Nein«, entschied ich nach kurzem Überlegen. »Wir fahren hin.«
»Mich brauchen Sie ja wohl nicht dabei«, meinte Vangelis. »Ich habe nämlich gleich noch einen privaten Termin.«
Ihre Miene stellte klar, dass der Anlass dieses Termins mich nicht zu interessieren hatte.
Balke fand einen nicht ganz legalen Parkplatz vor dem kleinen Café am Ladenburger Marktplatz und warf sicherheitshalber das »Polizei«-Schild auf das Armaturenbrett unseres BMW. Als wir ausstiegen, wehte uns Blumenduft entgegen. Plötzlich wurde mir bewusst, dass herrlichstes Sommerwetter war und man eigentlich gute Laune haben sollte. Prächtige alte Fachwerkhäuser umgaben uns, die Kirchturmuhr schlug elf, auf dem Platz herrschte buntes Treiben.
Monika Eichner wohnte nur wenige Schritte entfernt in einem sehenswerten alten Haus in der Neugasse. Die liebevoll restaurierte Fassade war mit üppigen Kletterrosen bewachsen, die blühten, als hätte der Heimatverein einen Preis dafür ausgelobt.
»Wegen Xaver kommen Sie?«, begrüßte uns Seligmanns geschiedene Frau mit trauriger Miene und wegen ihrer Erkältung krächzender Stimme. »Wieso Polizei? Ist ihm was passiert?«
Sie zählte zu den Frauen, die sich im Lauf der Zeit damit abgefunden haben, auf einer Party niemals die Schönste zu sein. In ihrem Blick lag eine schlecht verborgene Hoffnungslosigkeit, das Wissen darum, dass sie vom Leben nicht viel zu erwarten hatte und das meiste, vor allem der erfreuliche Teil, hinter ihr lag. Ihre Hand fühlte sich heiß und trocken an. Das strähnige, weißblonde Haar sehnte sich nach Shampoo. Wer wäscht schon gerne Haare, wenn er erkältet ist.
»Kommen Sie rein«, sagte sie. »Wir müssen das ja nicht auf der Treppe besprechen.«
Sie führte uns in ein kleines Zimmer mit niedrigen, weiß gestrichenen Sprossenfenstern zur Straße. Die Sonne schien herein, und man glaubte, ein Puppenstubenidyll zu betreten. Alles war hier so hübsch und niedlich, dass ich am liebsten schreiend davongelaufen wäre. Die Wohnung roch wie mein Vorzimmer: nach Kamille und Eukalyptus.
»Schön haben Sie es hier«, sagte ich, als wir Platz nahmen.
»Mögen Sie einen Tee?«
»Gerne«, erwiderte Sven Balke strahlend, der, obwohl nicht aus Ostfriesland, wie er immer wieder betonte, Tee über alles liebte. Ein Lächeln huschte über das Gesicht der Frau. Sie verschwand in der Küche, um dort leise herumzuklappern. Wasser rauschte. Porzellan klirrte.
»Für mich bitte auch eine Tasse«, rief ich ergeben. Oft ist es gut, von Zeugen etwas anzunehmen, weil das Vertrauen schafft, weil sie einen dann als Gast betrachten und nicht mehr als Eindringling. Zur Not auch, wenn es einem nicht schmeckt. Hoffentlich hatte sie wenigstens Zucker im Haus.
Balke summte vor sich hin und zupfte Hautfetzen von seinen Nagelrändern. Ich betrachtete die mit Nippes überladene Einrichtung. In der Küche begann ein Wasserkessel zu pfeifen, ein Geräusch, das ich seit zwanzig Jahren nicht mehr gehört hatte. Dann trat Monika Eichner durch die Tür und balancierte dabei ein Tablett mit einer chinesischen, mit blassblauen Drachen bemalten Teekanne und dazu passenden, nahezu durchsichtigen Trinkschälchen. Alles natürlich äußerst entzückend. Sie schenkte ein, Balke nahm vergnügt drei Stücke vom braunen Kandis, wir nippten an dem brühheißen Tee. Dabei seufzte er behaglich, und ich konnte nicht begreifen, weshalb. Für mich schmeckte Schwarztee immer schon nach aufgekochtem Stroh.
»Lange nicht gehabt, so einen guten Assam«, schwärmte Balke, und sie lächelte ihn dankbar an. Ich beschloss, die weitere Führung des Gesprächs meinem Untergebenen zu überlassen.
Monika Eichner putzte sich lautlos die Nase. »Morgen haben wir Sommeranfang, und alle Welt ist erkältet!«, schniefte sie. »Dabei hab ich Urlaub und wollte ein bisschen verreisen. Und jetzt sitz ich hier und hab Fieber und ärgere mich den lieben, langen Tag.«
»Meine Sekretärin hat’s auch erwischt«, seufzte ich so mitfühlend, wie es meine miserable Laune erlaubte.
»Sie waren also mal mit Herrn Seligmann verheiratet.« Unerschütterlich freundlich kam Balke zur Sache. »Wären Sie so nett, uns ein wenig von ihm zu erzählen?«
»Worum geht’s denn überhaupt?«, fragte sie zurück und zupfte am Bund ihrer längst zu eng gewordenen Jeans herum. »Wieso interessiert sich denn die Polizei für ihn?«
Balke berichtete vom plötzlichen Verschwinden ihres ehemaligen Mannes, vom Blut, das wir in seinem Haus gefunden hatten. Unseren Verdacht wegen des Bankraubs verschwieg er. Ich hätte es ebenso gemacht.
»Verschwunden?« Sie riss die geröteten Augen auf. »Und jetzt wollen Sie von mir hören, wo Sie ihn finden?«
»Es reicht uns schon, wenn Sie ein wenig von ihm erzählen. Was ist er für ein Mensch? Was sind seine Vorlieben, was hasst er? Wohin würde er fahren, wenn er sich verstecken müsste?«
Der Tee schmeckte doch nicht nur nach Stroh. Schluck für Schluck mochte ich das dunkle, süße Gebräu mehr. Mit einem winzigen Lächeln schenkte mir Frau Eichner in dem Augenblick nach, als ich die leere Tasse abstellte. Dann sah sie Balke mit plötzlich kühlem Blick an.
»Wie Xaver ist, wollen Sie wissen? In einem Wort: langweilig. Ganz schrecklich langweilig ist er. Und wahnsinnig pingelig kann er sein, das noch dazu. Und auf der anderen Seite dann wieder der größte Chaot unter der Sonne.«
»Ist das ein Scheidungsgrund?«, fragte Balke.
»Natürlich nicht.« Aus irgendeinem Grund errötete sie bei diesen Worten, schlug die Augen nieder, rührte in ihrem Tee. Dann sah sie auf. Die Erinnerung hatte sie wütend gemacht.
»Xaver – er war ein Irrtum. Mein Irrtum. Wie das so ist, ich war fast vierzig, einsam, dachte, das war’s dann wohl zum Thema Ehe, Kinder und so. Und da kommt er daher, ein bisschen langsam, ein bisschen verschlossen. Aber er ist stark. Und vor allem, er ist da. Er gibt einem Ruhe, man versteht sich, man kann sich unterhalten, über Kunst, Musik, all so was. Manches mag man nicht so an ihm, merkt man mit der Zeit, aber man denkt, das wird sich geben, er wird sich ändern, man wird sich aneinander gewöhnen. Ein wenig wird man ihn auch zurechtrücken. Man hat ja schließlich auch seine Macken, wer hat die nicht. Aber dann sieht man: er ändert sich kein bisschen. Ein Mensch in diesem Alter ändert sich nicht mehr so leicht. Im Gegenteil, alte Gewohnheiten kommen wieder heraus, die man aus Anstand eine Weile unterdrückt hat. Auf einmal trägt er seine Unterhosen wieder eine Woche lang, die er anfangs jeden Tag gewechselt hat.« Sie verstummte. Leerte seufzend ihre Tasse. Schwieg einige Sekunden. Dann schüttelte sie heftig den Kopf, wie um unangenehme Gedanken oder geplatzte Träume zu verscheuchen.
»Auf der anderen Seite: man gewöhnt sich auch nicht. Nicht an die Dinge, die einem wirklich wichtig sind. Und das mit dem Zurechtrücken, das gibt nur Streit.« Sie fiel zurück, griff mit einer fahrigen Bewegung nach ihrem Tässchen, merkte, dass es leer war, und stellte es zurück. »Dann …«
»Was war dann?«, fragte Balke sacht.
Wieder schwieg sie lange. »Ich hätte so gerne Kinder gehabt. Man liest ja immer wieder von Frauen, die mit zweiundvierzig, dreiundvierzig zum ersten Mal Mutter werden. Man hofft, man glaubt, das Unmögliche wäre vielleicht, vielleicht …« Jetzt sah sie mir ins Gesicht. Traurig. Wütend. Vorwurfsvoll. »War es aber nicht! Es war nicht möglich! Es war ein Irrtum. Punkt. Aus.«
Balke stierte in seinen Tee, schwenkte ihn langsam hin und her, tat genau das, was ich an seiner Stelle auch getan hätte: Er ließ ihr Zeit. Ich hörte, wie ihr Atem sich beruhigte. Spürte, wie ihr Ausbruch ihr peinlich wurde. Kurz bevor sie begann, Entschuldigungen zu stammeln, ergriff ich das Wort.
»Es gibt viele Paare, die solche Probleme haben. Und viele werden trotz aller Meinungsverschiedenheiten zusammen alt, finden irgendwann ihren Frieden, gewöhnen sich eben doch an das eine oder …«
»Nein!«, fiel sie mir kalt ins Wort. »Sie finden keinen Frieden. Sie schließen höchstens einen Waffenstillstand. Oder einer von beiden kapituliert.«
Sven Balke stellte sein leeres Porzellanschälchen auf den kleinen Tisch aus hellem Holz. »Kommen wir noch einmal zu der Frage: Wenn er sich irgendwo verstecken wollte, wo würden Sie ihn vermuten?«
»Südfrankreich«, antwortete sie ohne Zögern. »Er liebt die Provence, sie ist fast seine zweite Heimat. Er kennt die Gegend da unten so gut wie Eppelheim. Und das will was heißen. In Eppelheim ist er nämlich auf die Welt gekommen.«
Unten auf der Straße tobte eine Horde Kinder vorbei. Vermutlich war irgendwo in der Nähe für ein paar Glückliche die Schule früher als vorgesehen zu Ende gegangen.
»Haben Sie in letzter Zeit etwas von ihrem ehemaligen Mann gehört?« Falsche Frage. Die richtige wäre gewesen: »Wann haben Sie zum letzten Mal von ihm gehört?« Aber hier war Verhörtaktik nicht nötig.
Monika Eichner schüttelte müde den Kopf. »Nein. Schon lange nicht mehr.«
»Was heißt das?«
»Ach«, sagte sie ablehnend und sah zum Fenster. »Jahre.«
Bei Balkes herzerwärmendem Lächeln wurde mir wieder einmal klar, woher sein unerhörter Erfolg beim anderen Geschlecht rührte. In den letzten Monaten war es zwar ruhig geworden an dieser Front, da ihn endlich eine Frau an den Haken genommen hatte, wie Vangelis es ausdrückte. Seither kam er mir gereifter vor, erwachsener. Und er würde nicht mehr lange Oberkommissar bleiben, wenn er so weitermachte.
»Und Sie wollen mir wirklich nicht verraten, wieso Sie Xaver suchen?«, fragte unsere Gastgeberin, als sie uns zum Abschied die heiße Hand reichte. »Dass einer mal ein paar Tage wegfährt, ist doch kein Grund, dass die Polizei sich für ihn interessiert.«
»Sie vergessen das Blut in seinem Haus«, gab ich zu bedenken.
Sie schob die Unterlippe vor. »Steht er unter Verdacht? Soll er irgendwas angestellt haben? Was Schlimmes?«
»Halten Sie ihn denn für fähig, ein Verbrechen zu begehen?«
»Xaver?« Sie lachte fast bei der Vorstellung. Dann sah sie mich plötzlich groß an. »Geht’s etwa um diesen Bankraub? Ich weiß natürlich, dass die Brauns seine Nachbarn sind. Ich hab ja zwei Jahre in seinem Haus gewohnt. Der Braun und Xaver haben sich nie leiden können. Sind Sie etwa deshalb hier?«
»Würden Sie ihm so etwas denn zutrauen?«, wiederholte ich meine Frage.
Verlegen sah sie auf ihre Füße, die in großen himmelblauen Plüschpantoffeln steckten. »Wissen Sie, Xaver ist kein schlechter Mensch. Er hat in vielen Dingen seine eigenen Ansichten. Ziemlich komische Ansichten manchmal. Aber so was? Nein. Wirklich nicht.«
»Menschen ändern sich.«
»Nicht Xaver.« Überzeugt schüttelte sie den Kopf. »Der ändert sich nie.«
Als ich von der Straße noch einmal hinaufsah, stand sie mit unbewegter Miene am Fenster und tupfte sich mit einem Tüchlein die Augenwinkel.
»Also, ich weiß ja nicht …«, meinte Balke heiter während der Rückfahrt.
»Ich auch nicht«, sagte ich. »Ich vermute, wir denken dasselbe.«
»Sie lügt.« Balke warf einen Blick in den Rückspiegel, um einen Lkw zu überholen. Als er das Gaspedal durchtrat, wurde ich in die Rückenlehne gedrückt. »Wenn Sie mich fragen, die Frau verschweigt uns irgendwas.«
»Oder sie hat ein schlechtes Gewissen.«
»Vielleicht sollte ich mal checken, was sie letzte Woche so getrieben hat? Zum Beispiel in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag?«
»Denken Sie, sie hat ihn verschleppt?«, fragte ich belustigt. »Und vorher ein bisschen mit dem Küchenmesser tranchiert?«
»Ich denke vorläufig gar nichts«, erwiderte er verstimmt. »Ich würde nur zu gerne wissen, warum sie sich so ziert, wenn es um den Mann geht, den sie angeblich seit Jahren nicht mehr gesehen hat.«
Eine Weile fuhren wir schweigend. Als Balke hart bremste und über einen lebensmüden Radfahrer fluchte, der sich ohne einen Blick über die Schulter in seine Fahrspur drängelte, schrak ich hoch. Wir waren schon in Heidelberg.
»Guten Morgen«, sagte er grinsend. »Gut geschlafen?«
Ich rieb mir die Augen. »Bin zu früh aufgestanden. Ich musste meine Töchter um halb sechs vor der Schule abliefern.«
Balke nahm unser Gesprächsthema wieder auf.
»Diese Frau Eichner weiß eindeutig mehr, als sie sagt. Ich hätte nicht übel Lust, sie vorzuladen und mal ein bisschen zu grillen.«
»Erst mal lassen wir sie in Frieden. Vielleicht wird sie von alleine gesprächig, wenn sie nachgedacht hat.«
Eine Weile mussten wir an einer roten Ampel warten. Neben uns stand ein bunt bemalter Manta, aus dessen heruntergekurbelten Fenstern laute Rap-Musik dröhnte. Als die Ampel auf Grün schaltete, verschwand er mit quietschenden Reifen.
»Was ist eigentlich mit Ihrer Kollegin los?« Fast hätte ich die Gelegenheit verpasst, Balke auszuhorchen.
»Mit Klara?« Er lachte schallend. »Das Auto von ihrem Vater hat sie geschrottet, das ist los. Und der Witz ist, es war nicht mal in einem Rennen, und sie ist auch noch schuld.«
Dass Klara Vangelis hin und wieder mit dem nicht einmal sehr getunten Renault ihres Vaters an kleinen Rallyes teilnahm und dabei auch recht häufig gewann, wusste ich natürlich. Sie galt in der Direktion als – je nach Sichtweise – gefürchtete oder begnadete Autofahrerin.
»Daher also die Beulen und der Verband ums Genick.« Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen.
»Schleudertrauma. Sie hat sich zweimal überschlagen. Aber das Allerschlimmste kommt noch …«
Er setzte den Blinker, bog in die alte Eppelheimer Straße ein. »Das Schlimmste: Heute früh hat sie erfahren, dass der Typ sie angezeigt hat. Er kann Bullen nicht ausstehen, hat er ihr am Telefon erklärt, und es ist ihm eine ganz besondere Freude, ihr eine reinzuwürgen. Und wenn sie jetzt noch ein paar Punkte kriegt, dann ist sie den Lappen erst mal los. Sie hat schon ein ziemliches Konto in Flensburg.«
»Das heißt, sie dürfte eine Weile nicht mehr Auto fahren …«
»Und das wäre für sie ungefähr das Gleiche, wie wenn man einem Goldfisch das Wasser ablässt. Und außerdem ist natürlich ihr Vater stocksauer auf sie.«
»Und nun? Versucht sie, den Unfallgegner umzustimmen?«
»Sie telefoniert ziemlich viel herum in der Sache. Aber immer so, dass ich möglichst nichts davon mitkriege. Die Sache ist ihr echt mega-mega-peinlich. Und man darf kein Wort dazu sagen, sonst kriegt sie einen Tobsuchtsanfall, der sich gewaschen hat.«
Balke bremste sanft und bog in den Parkplatz der Polizeidirektion ein.
Wir stiegen aus. Die Sonne stand hoch. Mittagszeit. Ich war immer noch müde und hatte außerdem Hunger. Aber heute würde ich noch einmal standhaft bleiben, auch wenn meine Sekretärin noch so sehr mit mir schimpfte.
Sönnchens Augen blitzten, als ich mein Vorzimmer betrat.
»Ich glaub, ich hab da was für Sie, Herr Kriminalrat«, rief sie mir entgegen.
Ich würde ihr wohl niemals abgewöhnen können, mich mit meinem Titel anzureden. Während sie darauf bestand, »Sönnchen« genannt zu werden, weil sie seit ihrem ersten Lebensjahr von allen so genannt wurde, auch von meinem Vorgänger und von dessen Vorgänger, wollte sie nichts davon hören, dass auch ich einen Vornamen hatte und die Zeiten sich außerdem geändert hatten.
»Bitte nach dem Kaffee, okay?«
Ich zog die Bürotür hinter mir zu, fiel in meinen Sessel und schloss sofort wieder die Augen. Ein paar Minuten Siesta, das würde mir jetzt guttun.
Die Tür öffnete sich vorsichtig, der Kaffee duftete.
»Ich hab schon drei Mal nach Ihnen geguckt. Aber Sie haben so fest geschlafen, da hab ich Sie in Ruhe gelassen. Haben Sie etwa schon wieder nichts Rechtes gegessen?«
»Ich mache die VW-Diät. Und außerdem bin ich heute Morgen zu früh aufgestanden.«
Ich erzählte auch ihr von der Klassenfahrt meiner Töchter, während sie das kleine Stahltablett mit der Tasse vor mich hinstellte. Ich tat zwei Löffel Zucker hinein und rührte um.
»VW-Diät? Was ist das denn schon wieder?«
»Verdammt wenig essen. Es war meine eigene Idee.«
»Aber das ist doch keine Diät«, schimpfte sie, »das ist eine Hungerkur! Dass ein Mann in Ihrem Alter ein Bäuchlein entwickelt, ist doch völlig normal.«
»›Alter‹ ist genau das Wort, das ich jetzt eigentlich nicht hören wollte.«
»Sie werden nicht jünger, wenn Sie sich zu Tode hungern. Sie werden nur nicht mehr älter.«
»Also, was liegt an?«, fragte ich matt. »Ich seh’s an Ihrer Nasenspitze, Sie bringen Neuigkeiten.«
Sönnchen faltete eines ihrer kleinen gelben Zettelchen auseinander. »Dieser Seligmann, ich hatte doch gleich so ein Gefühl …«
Der Kaffee tat ungeheuer gut. Ich spürte, wie gierig mein Körper Koffein und Zucker aufsog.
»Vor ziemlich genau zehn Jahren, da hat es einen Fall gegeben. Er ist bis heute nicht aufgeklärt. Eine Schülerin ist vergewaltigt worden, ein ganz junges Ding noch. Und dieser Seligmann, der hat sie damals gefunden und ins Krankenhaus gefahren. Eine halbe Stunde später, und das arme Kind wäre tot gewesen, haben die Ärzte gesagt. Sie war arg schwer verletzt.«
»Der Täter wurde nicht gefasst, obwohl das Mädchen überlebt hat? Hat sie ihn denn nicht beschreiben können?«
»Es ist vielleicht sogar schlimmer, als wenn sie gestorben wäre«, erwiderte sie niedergeschlagen und faltetet ihr Zettelchen wieder zusammen. »Sie muss seither in einem Heim leben. Ihr Gehirn hat eine Zeit lang zu wenig Sauerstoff gekriegt. Seither ist sie … na ja … geistig behindert und spricht nicht mehr.«
Ich schenkte mir eine zweite Tasse Kaffee ein und bat um die ausführliche Version der Geschichte.
Das Opfer hieß Jule Ahrens, und Seligmann hatte das Mädchen damals mitten in der Nacht schwer verletzt, blutüberströmt und bewusstlos vor seinem Haus gefunden. Als wäre das allein nicht schlimm genug, war die Vergewaltigung ausgerechnet in der Nacht vor Jules sechzehntem Geburtstag geschehen. An Stelle einer aufregenden Zukunft in Freiheit, die alle Jugendlichen in diesem Alter so sehr herbeisehnen, hatte das neue Lebensjahr Jule Ahrens Gefangenschaft und Unglück gebracht. Das Mädchen war damals nur wenig älter gewesen als meine Töchter jetzt. Auf einmal war mir wieder übel.
Der Fundort sei nicht der Tatort gewesen, hörte ich meine Sekretärin sagen.
»Ach, Sönnchen. Es gibt so Tage, da wünsche ich mir, ich hätte was Anständiges gelernt und wäre nicht bei der Polizei gelandet.«
»Sie müssten halt einfach ein bisschen mehr essen, Herr Kriminalrat«, meinte sie mitleidig. »Hunger drückt einem auf die Seele. Und mal ehrlich, was hat man denn davon, wenn man schlank ist und dabei ständig schlechte Laune hat?«
»Es ist so leicht, zwei Kilo zuzunehmen. Und es ist so verdammt schwer, sie wieder loszuwerden«, seufzte ich.
»Was halten Sie von der Geschichte mit dem vergewaltigten Mädchen?«
»Was soll ich davon halten?« Ich leerte die zweite Tasse in einem Zug. Langsam kam ich zu mir. »Dass einer eine verletzte Person ins Krankenhaus fährt, obwohl er sich dabei vermutlich die Polster seines Wagens ruiniert, spricht nicht unbedingt gegen ihn.«
Sönnchen ging, Klara Vangelis und Sven Balke kamen.
»Ich bin mir noch nicht schlüssig, ob es eine gute oder eine schlechte Nachricht ist«, sagte Vangelis ernst. »Bonnie and Clyde sind hier.«
»Was? Wo?« Plötzlich war ich hellwach. »Sind die verrückt?«
»Auf dem Campingplatz bei Neckarhausen. Der Platzwart ist zum Glück ein heller Kopf und liest in der Zeitung nicht nur den Sportteil. Er hat uns gleich angerufen. Vor zwei Stunden haben sie eingecheckt. Irrtum ausgeschlossen.«
»Wirklich verdammt leichtsinnig«, meinte Balke sichtlich verwirrt. »Dabei waren sie doch sonst so clever.«
»Sie werden erschöpft sein. Seit drei Tagen sind sie unterwegs. Und außerdem halten sie sich inzwischen vermutlich für unsterblich.«
»So sehe ich das auch.« Vangelis deutete mit säuerlicher Miene ein Nicken an. »Die beiden haben jeden Bezug zur Realität verloren. Sie halten sich für klüger als der Rest der Menschheit. Und gerade das macht sie so gefährlich.«
Mir flinken Händen breitete sie eine detaillierte Karte auf meinem Schreibtisch aus. »Hier. Der Platz zieht sich wie ein Schlauch etwa dreihundert Meter am Neckar entlang. Links der Fluss, rechts etwa zwei Meter erhöht die Bundesstraße. Die Böschung ist voller Gestrüpp, in diese Richtung werden sie kaum zu fliehen versuchen. Sie haben ihr Zelt ganz am Ende des Platzes aufgeschlagen, direkt am Ufer. Dahinter gibt es noch einen Fußweg. Wie weit der führt, weiß ich momentan noch nicht. Ich habe vorsorglich zwei Kollegen eingeteilt. Sie organisieren sich gerade eine Campingausrüstung und werden die beiden im Auge behalten.«
»Was schlagen Sie vor?«
»Wir warten, bis sie schlafen, und dann schlagen wir zu. Viel Gegenwehr werden sie nicht leisten. Die beiden werden sehr müde sein nach der langen Fahrt.«
»Aber sie sind garantiert immer noch bewaffnet!«, meinte Balke warnend.
Was wollten die beiden hier? Dass sie zurückkamen, verstieß gegen jede Logik. Andererseits – da hatte Vangelis Recht – die zwei lebten vermutlich längst ihre eigene Logik. Sie hatten sich völlig abgeschottet gegen die Realität und waren inzwischen davon überzeugt, vom Schicksal begünstigt zu sein. Ihr Anfängerglück hielten sie für Talent. Das Mädchen himmelte Kräuter an, und er gefiel sich darin, sie durch immer gewagtere Aktionen in immer neues Erstaunen zu versetzen. Bestimmt hatten sie seit Wochen mit keinem Dritten mehr gesprochen, eingeschlossen in ihrer eigenen kleinen Kuschelwelt. Niemand hatte eine Chance gehabt, an dieser von Tag zu Tag höher werdenden Mauer aus Illusion und Größenwahn zu kratzen, mit der sie sich umgaben.
»Mir fällt nur eine plausible Erklärung ein für ihre Rückkehr«, meinte ich.
»Sie wollen sich mit dem dritten Mann treffen«, sagte Vangelis.
»Aber wozu?«, fragte Balke.
»Um die Beute aufzuteilen«, schlug ich vor. »Vielleicht hatten sie nach dem Überfall keine Gelegenheit dazu. Vielleicht wollten sie mit so viel Bargeld im Kofferraum nicht über die Grenzen fahren und haben es irgendwo in der Nähe versteckt. Jetzt denken sie, es ist genug Zeit verstrichen, und die Luft ist rein.«
Obwohl Vangelis Bedenken hatte, ordnete ich an, Bonnie and Clyde vorläufig nur zu beobachten. Ein Zugriff auf dem Campingplatz war ohnehin zu gefährlich, das gab sogar Vangelis zu. Und wenn wir ein bisschen Glück hatten, dann führten sie uns wirklich zu ihrem Informanten, und wir konnten alle drei auf einen Schlag festnehmen.
Sönnchen hatte Unrecht. Obwohl ich später in der Kantine mit Widerwillen doch noch einen Salatteller hinunterschlang, hellte sich meine Stimmung an diesem Tag nicht mehr auf. Theresa meldete sich nicht. Von meinen Töchtern kam ebenfalls kein Lebenszeichen. Und je mehr Zeit verstrich, desto heftigere Zweifel beschlichen mich, ob es nicht doch besser wäre, Bonnie and Clyde so rasch wie möglich aus dem Verkehr zu ziehen.
Um kurz vor fünf teilte Klara Vangelis mir mit, die Überwachung unseres Räuberpärchens stehe nun lückenlos. Zwei junge Kollegen waren mit ihren privaten Trekking-Bikes nach Neckarhausen geradelt und hatten nicht weit von den beiden ihre kleinen Zelte aufgeschlagen. Neben der Ausfahrt des Campingplatzes stand seit zwei Stunden ein zivil aussehender Lieferwagen mit zwei weiteren Kollegen darin. Bonnie and Clyde würden uns in ihrem bei Montpellier gestohlenen weißen Renault mit französischem Kennzeichen nicht so leicht abhanden kommen wie den Spaniern.
Um halb sechs endlich eine Mail von Theresa. Sie entschuldigte sich tausendmal. Sie hatte gestern überraschend Besuch erhalten von einer alten, fast vergessenen Freundin. Ich schrieb zurück, dass man sich erstens nicht selbst entschuldigen könne, man zweitens trotz Besuch Mails oder SMS schreiben könne und sie drittens gefälligst dafür sorgen solle, dass ihr Mann am Wochenende verreist sei.
Natürlich war sie beleidigt, und ich fand das ganz in Ordnung.
Selbst Sönnchen war irritiert von meiner schlechten Laune, und um ein Haar wäre ich grob geworden, als sie mich fragte, was mir denn bloß über die Leber gelaufen sei. Ich redete mich darauf hinaus, ich hätte in der vergangenen Nacht einfach zu wenig geschlafen.
Zu Hause wurde mir endlich klar, was mir die ganze Zeit auf die Seele drückte: ich vermisste meine Töchter. Ich hatte keinen Appetit, keine Lust zu lesen, stand mir selbst im Weg, und Musik machte mich nervös. So ging ich schließlich laufen. Wenigstens ein bisschen, nahm ich mir vor. Aber es ging überraschend gut.
Ich dachte an Jule Ahrens, das vergewaltigte Mädchen. Die Vorstellung, meinen Töchtern könnte Ähnliches zustoßen, war mir unerträglich. Und ausgerechnet jetzt würden die zwei sich nächtelang und ohne Aufsicht in irgendwelchen Spelunken herumtreiben. Ich kannte mich aus, schließlich war ich auch einmal jung gewesen. Damals nannte man solche Lustreisen noch Landschulheimaufenthalt, und es war ein Klacks gewesen, abends unbemerkt aus dem Fenster zu steigen. Ich merkte, wie ich bei der Vorstellung schneller und schneller lief.
Längst hatte ich die Bahngleise und die Speyerer Straße überquert und die letzten Häuser hinter mir gelassen. Eine leichte Brise wehte mir entgegen, es duftete nach frischem Heu, und allmählich schwitzte ich meine schlechte Laune aus. Ein Kaninchen machte vor Schreck einen Luftsprung und raste davon, weil es mich zu spät bemerkt hatte.
Dann quälten mich plötzlich Zweifel wegen Bonnie and Clyde. Hatte Vangelis vielleicht doch Recht? Noch war Zeit. Ich brauchte sie nur anzurufen und den Zugriff anzuordnen. Andererseits, auf dem Campingplatz waren wirklich zu viele Menschen für eine Gewaltaktion. Und was sollte schon passieren? Heute Nacht würden sie bestimmt nicht abreisen. Sie hatten keinen Grund dazu, außerdem mussten sie wirklich müde sein, und selbst wenn, sie standen ja unter Beobachtung. Morgen früh konnten wir dann in aller Ruhe darüber nachdenken, wie wir weiter vorgehen würden.
Auch Theresa würde sich wieder beruhigen. Sie beruhigte sich immer irgendwann. Aus unserem Wochenende würde nun wohl nichts werden, aber es kamen andere Wochenenden, andere Möglichkeiten.
Nur was meine Töchter betraf, wurden meine Phantasien mit jeder Minute finsterer. Die Frage war eigentlich nur, ob die russische Mafia oder albanische Mädchenhändler als Erste zugreifen würden. Hellhäutige, blonde Frauen waren überall begehrt. Vor allem, wenn sie zudem jung, hübsch und auch noch Jungfrauen waren.
Kurz vor dem Pfaffengrunder Sportplatz ging mir die Puste aus. Mein Puls hämmerte, meine Lungen schmerzten, vor meinen Augen kreisten Sternchen, aber ich fühlte mich endlich besser. Zurück ließ ich mir Zeit. Ich hatte zu schwarz gesehen, weiß der Himmel, warum. Louise und Sarah würden gesund zurückkehren und mir vermutlich bereits nach einer Stunde genauso auf die Nerven gehen wie gestern Abend noch. Bonnie and Clyde würden heute Nacht keinen Unsinn anstellen. Mit Theresa musste ich reden, und alles würde sich wieder einrenken.
Heute war eben einfach nicht mein Tag. So etwas kam vor.