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Am Montagvormittag verstand ich Heribert Braun plötzlich sehr gut: Xaver Seligmann war mir auf den ersten Blick unsympathisch. Er mochte noch einige Zentimeter größer sein als ich, wirkte aber auf Grund seiner kraftlosen Körperhaltung und des gebeugten Rückens kleiner, als er war. Alles hing an diesem Mann. Die Tränensäcke im hageren Gesicht, die Mundwinkel, das zerknitterte, blaukarierte Flanellhemd, das er über der lappigen Tuchhose trug.

Wie hatte ich auf einen ruhigen Tag gehofft, um mir die traumwandlerische Stimmung vom Wochenende noch ein wenig zu erhalten. Und nun saß mir dieser Mann gegenüber, nach dem wir seit einer Woche suchten, und starrte mich aus tief liegenden braunen Augen misstrauisch an.

Obwohl oder gerade weil ich gründlich verschlafen hatte, war ich müde. Meine Nächte mit Theresa waren naturgemäß unruhig gewesen. Einerseits hatten wir nicht aneinander satt werden können, andererseits waren wir es beide nicht mehr gewohnt, mit jemandem das Bett zu teilen. Seit Jahren hatten sie und ihr Mann getrennte Schlafzimmer, erfuhr ich bei dieser Gelegenheit. Meine Frage, ob das bedeutete, dass sie auch nicht mehr mit ihm schlief, blieb unbeantwortet.

»Es ist nicht gut, wenn man alles voneinander weiß«, hatte sie gehaucht und mich hingebungsvoll auf den Bauchnabel geküsst. »Das macht den Zauber jeder Beziehung kaputt.«

Da meine Angebetete eine unersättliche Langschläferin war, hatte ich die Morgen zum Laufen genutzt. Die Tage hatten wir verbummelt mit Faulenzen, Reden, Schmusen und Liebe. Und vorhin hatte ich kaum an meinem Schreibtisch Platz genommen, da klingelte schon mein Telefon.

»Er ist wieder da«, sagte Vangelis. »Dieser aufmerksame Nachbar von schräg gegenüber hat heute Morgen sage und schreibe um halb sechs hier angerufen. Seligmanns Mazda steht wieder in seiner Garage. Er muss irgendwann im Lauf der Nacht zurückgekommen sein.«

Vor einer halben Stunde noch hatte ich mich gefühlt wie nach einem zweiwöchigen Urlaub in einem fernen Land – leicht erschöpft, noch ein wenig abwesend, aber durch und durch erholt. Und nun, es war gerade erst halb zehn, und ich hatte noch nicht einmal Kaffee getrunken, nun hockte Seligmann vor mir auf seiner schäbigen Couch und wartete darauf, dass ich endlich etwas sagte. In den Terrarien raschelte es hin und wieder. Vangelis hüllte sich in vornehmes Schweigen.

Seligmann rauchte.

»Schön, Sie zu sehen«, sagte ich. »Wir haben uns ein wenig Sorgen um Sie gemacht.«

»Das war nicht nötig«, erwiderte er so langsam, als wäre er vor irgendetwas auf der Hut. »Ich kann ganz gut auf mich aufpassen.«

»Wo haben Sie denn gesteckt, wenn man fragen darf?«

»Fragen darf man alles.«

Ich war auf dieses Gespräch nicht vorbereitet. Mein Kopf war noch nicht im Dienst, und Vangelis machte nicht den Eindruck, als wollte sie für mich einspringen. So lavierte ich herum. Versuchte, erst einmal einen Kontakt zu dem Mann zu finden. Aber es gelang mir nicht. Er roch muffig und säuerlich nach ungewaschenem Hemd und altem Zigarettenrauch. Und ja, ich mochte ihn nicht.

Sein rechtes Handgelenk verunstaltete ein schon ziemlich angegrauter und ohne Geschick angelegter Verband.

»Sie sind Linkshänder?«, fragte ich überflüssigerweise, denn er hielt ja seine Zigarette in der Linken.

»Wollten Sie deshalb mit mir reden?«

Seligmanns Blick hatte etwas Lauerndes. Es lag weder Sympathie darin, noch das Gegenteil. Es lag eigentlich gar nichts darin. Eine seiner Schlangen hatte mich bei meinem letzten Besuch in diesem finsteren, deprimierenden Haus ebenso angesehen, erinnerte ich mich. In der Nähe wurde ein Motorrad angelassen und entfernte sich dann rasch. Vermutlich David Braun auf dem Weg in die Universität.

»Dürften wir erfahren, warum Sie so plötzlich verreist sind, Herr Seligmann?«

Ein winziges, verächtliches Lächeln zuckte um seinen rechten Mundwinkel. Der Blick blieb kalt. »Ich denke nicht, dass Sie das was angeht, Herr Gerlach.«

Ich lächelte nicht weniger kalt zurück. »Aber es würde die Sache sehr vereinfachen, wenn Sie ein wenig kooperativ wären.«

»Welche Sache würde es vereinfachen?«

Sein Blick blieb völlig ruhig. Entweder war dieser Mann abgebrühter, als ich erwartet hatte. Oder alles war völlig anders, als wir dachten. Ich versuchte, ihn aus dem Konzept zu bringen, falls er eines haben sollte.

»Wo waren Sie am Mittwoch, den elften Mai?«

»Zu Hause vermutlich«, antwortete er ohne Zögern. »Ich bin eigentlich immer zu Hause. Warum wollen Sie das wissen?«

»Genauer können Sie sich nicht erinnern?«

Er runzelte die ohnehin faltige Stirn. »Ein Mittwoch, sagen Sie? Der elfte Mai? War da nicht dieser Überfall auf die Bank von meinem blöden Nachbarn? Geht’s etwa darum?« Er drückte seine filterlose Zigarette aus und steckte sich die nächste an. »Ich hab damals überhaupt nichts mitbekommen von der ganzen Geschichte. Erst später, als auf einmal so viel Polizei da war …« Gierig saugte er an dem Glimmstängel, den er zwischen seinen knochigen, gelben Fingern fast zerdrückte. »Ist der Fall nicht gelöst? Die Täter sind doch gefasst, hab ich im Radio gehört.«

»Nicht gefasst, sondern erschossen. Was haben Sie also gemacht an dem Tag?«

»Am Mittwochmorgen mache ich die Terrarien sauber. Alle kriegen frisches Wasser. Und manche werden nur einmal die Woche gefüttert. Bestimmte Schlangen zum Beispiel, die sind die reinsten Hungerkünstler. Die darf man gar nicht so oft füttern, sonst werden sie krank.«

»Ihre Tiere sind interessant. Ein außergewöhnliches Hobby.«

»Herr Gerlach«, erwiderte er fast mitleidig, »machen Sie, was Sie wollen, aber versuchen Sie nicht, mich zu verarschen. Jeder normale Mensch ekelt sich vor meinen Lieblingen.«

Seligmann rauchte Roth-Händle, eine Marke, von der ich angenommen hatte, dass es sie längst nicht mehr gab. Nach wie vor fiel es mir schwer, mich zu konzentrieren. Noch immer war ich halb im Wochenende und bei Theresa. Am Samstag hatte ich zu Mittag einen hübsch anzusehenden bunten Salat mit Shrimps serviert und zum Abendessen Kalbsschnitzelchen in einer für unser beider Geschmack äußerst gelungenen Madeira-Sauce.

»Dann sind Sie also nicht normal?«, fragte ich.

Seligmann lachte heiser und nahm wieder einen tiefen Zug. »Es gibt meines Wissens kein Gesetz, das vorschreibt, man hätte normal zu sein«, sagte er, während er langsam den Rauch ausatmete.

»Ist das Putzen von Terrarien eine tagesfüllende Beschäftigung?«

»Vermutlich hab ich später ein wenig gelesen.« Ruhig streifte er die Asche von seiner Zigarette in den fast schon vollen Aschenbecher. »Vielleicht ein Schläfchen gehalten. Musik gehört. Mir vielleicht schon überlegt, was ich fürs Wochenende einkaufen muss. Mir einen runtergeholt.«

Theresa hatte tapfer alles gelobt, was ich auf den Tisch brachte, und ich war auf meine Kochkünste stolz gewesen wie schon lange auf nichts mehr. Das hatte sich am Sonntag gründlich geändert. Die Minestrone mit dünnen Gemüse-Allumettes war noch kein Problem gewesen, wenn man von der tiefen Schnittwunde in meinem Daumen absah. Dafür gerieten die Seezungenröllchen so trocken wie Aktendeckel und schmeckten ungefähr wie meine Schreibtischunterlage. Die Soße glich diesen Mangel mehr als aus, denn sie war so sauer, dass Theresa beim Probieren schielte und sofort das Rezept haben wollte, weil die Soße nach ihrer Überzeugung ein Wundermittel gegen Schildläuse sein musste. Der Reis war zu kurz gekocht, die so liebevoll geputzten, in perfekt gleichmäßige Stücke geschnittenen Zucchini dafür matschig wie ein Babymenü. So hielten wir uns schließlich ans Dessert – fertig gekauftes Bourbon-Vanilleeis mit ebenso fertig gekaufter Roter Grütze.

»Sie verlassen Ihr Haus ziemlich selten.«

Ein rascher, misstrauischer Blick durch dichte Brauen traf mich. »Ich bin froh, wenn ich niemanden sehen muss.«

»Außer an Montagen und Donnerstagen.«

Zum ersten Mal wirkte er überrascht. »Donnerwetter, Sie wissen ja wirklich eine ganze Menge über mich!«

»Wohin fahren Sie immer an diesen Nachmittagen?«

»Auch das geht Sie leider einen Scheißdreck an.« Es klang nicht einmal besonders unfreundlich, wie er das sagte. »Aber ich kann Ihnen versichern, dass ich nichts Ungesetzliches tue.«

Vangelis machte noch immer keine Anstalten, etwas zu diesem Gespräch beizutragen. Zeit, das Thema zu wechseln.

»Wir haben Blut gefunden in Ihrem Haus. Nebenan in der Küche und auch hier im Wohnzimmer.«

Unwillkürlich fasste er sich ans Handgelenk.

»Ich nehme an, es ist Ihr Blut. Können Sie mir erklären, wie es dort hingekommen ist?«

Achselzuckend zerdrückte er die zweite Zigarette und steckte sich die dritte an. »Hab mich geschnitten.«

»In der Nacht, bevor Sie abgereist sind?«

»Ich war ein bisschen betrunken.«

»Bei welcher Gelegenheit haben Sie sich denn verletzt?«

Automatisch betastete ich meinen schmerzenden Daumen. Meine Frage war sinnlos, aber nicht nutzlos. Die gute alte und immer wieder verblüffend erfolgreiche Verhörtaktik: Ständiger Wechsel zwischen Belanglosigkeiten, Nebensächlichkeiten und Fragen zur Sache verwirrt den anderen, stört seine Konzentration. Seligmann war auf der Hut, das war offensichtlich. Aber wer ist das nicht, wenn er der Kripo gegenübersitzt? Meine Frage nach dem Bankraub hatte ihn jedoch nicht irritiert, sondern eher gelangweilt.

»Herr Gerlach«, seufzte er müde. »Es ist in meinem Haus passiert, es ist mein Handgelenk, das beschädigt wurde. Ich habe den Unfall überlebt und glaube nicht, dass Ihre Behörde sich deshalb Sorgen machen muss. Aber gut, wenn es denn der Wahrheitsfindung dient: Es war eine Glasscherbe. Ich hab eine Flasche zerbrochen, und ich war auch nicht ein bisschen betrunken an dem Abend, sondern ich war ziemlich besoffen. Aber ich habe niemanden belästigt, ich habe nicht in der Öffentlichkeit gesungen und nicht auf die Straße gekotzt. Also, was wollen Sie?«

»Wir haben aber keine Glasscherbe gefunden mit Blut daran.«

»Dann werde ich das Ding wohl weggeschmissen haben. Ich habe es aber bestimmt ordnungsgemäß entsorgt. Haben Sie die Altglascontainer denn alle überprüft?«

Ich lehnte mich zurück, zog einen Kugelschreiber aus der Innentasche meines Jacketts, spielte damit herum, als hätte ich alle Zeit der Welt. Der Kuli stammte von einem Schlosshotel am Neckar, wo ich mit Theresa zusammen einmal ein beinahe perfektes Wochenende verbracht hatte. Es kostete mich Mühe, nicht zu lächeln.

Warten macht jeden Menschen nervös, der einem Polizisten gegenübersitzt. Fast jeden. Xaver Seligmann nicht. Auch die gute alte Verhörtaktik funktionierte hier nicht.

»In Ihrer Küche fehlt ein Messer«, sagte ich schließlich, als wäre es mir eben erst eingefallen.

»Das fehlt schon ewig. Ist mir mal abgebrochen, und dann habe ich es irgendwann weggeschmissen«, gab er ungerührt zurück.

Ich versuchte, den Takt des Gesprächs zu beschleunigen, steckte meinen Stift wieder ein und fixierte meinen Gesprächspartner.

»Ihre Nachbarin sagte uns, Sie verreisen sonst nie, ohne ihr vorher Bescheid zu geben.«

»Natürlich.« Er nickte. »Wegen der Tiere.«

»Warum haben Sie es diesmal nicht getan?«

»Ich sagte doch schon, ich hatte gesoffen. Sie könnten mich wegen Trunkenheit am Steuer drankriegen, wenn Sie das irgendwie befriedigt. Und wegen Vernachlässigung Schutzbefohlener Kreaturen, falls das ein Verbrechen sein sollte.«

Seligmann starrte mich von unten her an. Dieser stetige, völlig ausdruckslose Blick konnte einen wirklich unruhig machen. Und dabei sollte doch er es sein, der hier nervös wurde.

»Also, was soll das alles? Worauf wollen Sie hinaus?«, fragte er.

»Sie haben am Tag vor Ihrer … Abreise Ihr gesamtes Geld abgehoben.«

Die Art, wie er diesmal seine Zigarette ausdrückte, hatte etwas Endgültiges.

»Ich hatte vor, für länger zu verreisen.«

»Vielleicht sogar für immer?«

»Ja, vielleicht sogar für immer.«

»Dürfte ich den Grund dafür erfahren?«

Seligmann betrachtete sein rechtes Handgelenk, prüfte wohl, ob es noch schmerzte. »Sehen Sie, dieses Haus gefällt mir nicht mehr. Das Wetter in Deutschland gefällt mir schon lange nicht mehr. Meine Nachbarn haben mir noch nie gefallen. Dieses langweilige Eppelheim, meine ganze Lebenssituation … Ich hatte keine Lust mehr, verstehen Sie? Geht Ihnen das nicht auch hin und wieder so?«

»Sie haben erstaunlich wenig mitgenommen in Ihr neues Leben.«

Nun erhob er sich. »Es wäre nett, wenn Sie mich jetzt in Frieden lassen würden. Dieses Gespräch gefällt mir nämlich auch nicht besonders.«

Ich blieb sitzen und sah zu ihm auf. »Sie haben an dem Abend versucht, sich das Leben zu nehmen. Mit einem Ihrer Küchenmesser.«

»Und wenn es so wäre?«

»Dann würde mich interessieren, weshalb.«

»Das ist meine Privatangelegenheit, die unter dem ausdrücklichen Schutz unserer Verfassung steht, wie Sie wissen dürften.«

»Vermutlich haben Sie nicht tief genug geschnitten. Es ist gar nicht so leicht, sich die Pulsadern zu öffnen. Und dann haben Sie es sich anders überlegt und sind in Ihren Wagen gestiegen und weggefahren.«

»Zu diesem Teil Ihrer Anschuldigungen habe ich bereits ein umfassendes Geständnis abgelegt.«

»Vorher haben Sie sich aber noch mit Geld versorgt.«

»Hatte vor, mir ein neues Auto zu kaufen.« Seligmann grinste verächtlich auf mich herab. »Mein altes gefällt mir nicht mehr.«

Er wandte sich ab und ging mit schleppendem Schritt zu seinen Terrarien, wo heute ungewohnte Nervosität herrschte. Dort blieb er mit den Händen in den Taschen stehen und ließ mich seinen gebeugten Rücken betrachten.

»Besitzen Sie eigentlich ein Handy?«, waren die ersten Worte, die Vangelis von sich gab.

»Ich hasse die Dinger«, erwiderte er ruhig, ohne sich umzudrehen.

»Hätten Sie etwas dagegen, wenn wir uns Ihren Wagen ansehen?« Ihr Ton war unverändert freundlich.

»Gäbe es irgendeinen Weg, Sie daran zu hindern?«

»Sie könnten uns die Erlaubnis verweigern«, gab ich zur Antwort. »Sie hätten uns vorhin nicht einmal hereinlassen müssen, und das ist Ihnen natürlich bekannt.«

»Tun Sie, was Sie nicht lassen können«, brummte er. »Das Garagentor steht offen, das Auto schließe ich nie ab. Ich hab zwar keine Ahnung, wonach Sie suchen. Aber Sie werden es unter Garantie nicht finden.«

Fast zärtlich klopfte er an eine Scheibe, hinter der eine fröhlich-bunte, dünne Schlange lag, die ihren Ernährer schon die ganze Zeit still beobachtete, als würde sie auf den richtigen Zeitpunkt zum Angriff warten.