13

»Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen.«

Meine Begrüßung am nächsten Morgen war der reine Zynismus. Seligmann sah aus, als hätte er die ganze Nacht wach gelegen. Neben ihm thronte sein Anwalt, ein Doktor Knobel, wie ich seiner edlen Visitenkarte entnahm, spezialisiert auf Strafrecht.

Doktor Knobel war aufs Äußerste entrüstet gewesen, weil ich ihn nicht zurückgerufen hatte, und hatte sofortige Akteneinsicht verlangt, die ich ihm natürlich gerne gewährte. Nun war sein Blick berufsmäßig empört. Ich meinte sogar, ihn hin und wieder in mühsam zurückgehaltenem Zorn schnauben zu hören. Gute Strafverteidiger sind eben immer auch talentierte Schauspieler. Und Knobel schien ein wirklich guter Anwalt zu sein.

Schon bei den ersten Sätzen des Gesprächs fiel mir auf, dass es Seligmann heute nicht mehr so leicht fiel, die Hände ruhig zu halten. Sein rechtes Auge zuckte in regelmäßigen Abständen, der ausgeprägte Adamsapfel wollte nicht zur Ruhe kommen, die Augen waren ständig auf der Suche nach einem Fluchtweg, den es nicht gab.

»Auf mein Anraten hin wird mein Mandant von seinem Recht der Aussageverweigerung Gebrauch machen«, erklärte Doktor Knobel mit einer Fistelstimme, die den wutschnaubenden Eindruck, den er zu machen versuchte, ein wenig ad absurdum führte. »Ihre so genannten Indizien sind im Übrigen das Papier nicht wert, auf dem sie geschrieben stehen!« Verächtlich schlug er auf die dünne Akte, die ich ihm vorhin ausgehändigt hatte. »Wir werden natürlich umgehend Haftprüfung beantragen!«

»Das ist nicht nötig, da Herr Seligmann noch gar nicht in Haft ist«, erwiderte ich verbindlich. »Vorläufig ist er lediglich festgenommen. Wie die Staatsanwaltschaft darüber denkt, werden wir im Lauf des Vormittags erfahren. Aber ich bin zuversichtlich, dass man dort meine Einschätzung teilt.«

»Dieses Handy, das ist doch lachhaft!«, bellte Knobel. »Auch das Geld kann jeder andere in Herrn Seligmanns Wagen deponiert haben.«

»Sie haben Recht, noch haben wir keinen stichhaltigen Beweis, dass er selbst es war. Wir haben an den Asservaten keine Fingerabdrücke gefunden, also werden wir uns nun auf die Ergebnisse des Genetischen Fingerabdrucks stützen müssen. Zumindest an dem Handy werden wir DNA-Spuren finden, davon bin ich überzeugt.«

»Wir bleiben bei unserem Standpunkt: Mein Mandant hat diese Dinge niemals berührt.«

»Und dennoch wird er vorläufig hier bleiben müssen.« Ich klappte meine Akte zu und erhob mich. »Der Haftbefehl ist beantragt, da in unseren Augen erhöhte Fluchtgefahr besteht. Es ist Ihnen bekannt, dass Ihr Mandant erst kürzlich eine Woche abgetaucht ist.«

»Er ist aus freien Stücken zurückgekehrt!«

»Unser Labor tut sein Möglichstes, aber einige Tage werden wir leider warten müssen. DNA-Analysen brauchen ihre Zeit.«

»Wir protestieren auf das Schärfste!« Doktor Knobel wurde noch ein wenig größer und lauter, was bei seiner Piepsstimme reichlich komisch wirkte. »Ich verlange die sofortige …«

»Halten Sie die Klappe«, brummte Seligmann, ohne aufzusehen.

»Bitte?«

»Hauen Sie ab. Ich brauch Sie nicht mehr.«

»Aber … Wieso?«, stammelte der Anwalt, als er sich wieder halbwegs gesammelt hatte. »Hören Sie, man darf Sie hier nicht festhalten! Selbst wenn der Verdacht weiter aufrechterhalten wird, was ich mir in Anbetracht der Sachlage kaum vorstellen kann, Sie sind ein unbescholtener Bürger. Ich sehe absolut keine erhöhte Fluchtgefahr. Man kann Sie hier unmöglich …«

»Sie sollen die Klappe halten. Ich will ein Geständnis ablegen.« Der Blick, mit dem Seligmann mich ansah, hatte etwas zutiefst Trostloses. »Ja, Sie haben Recht. Ich habe mir das alles ausgedacht mit dem Banküberfall. Geplant, organisiert, alles, ja. Sie können sich Ihre DNA-Analyse schenken. Wäre nur Verschwendung von Steuergeldern.«

 

»Wo haben Sie denn nun letzte Woche gesteckt?«, fragte ich Seligmann, nachdem Doktor Knobel nicht ohne förmlichen Protest den Rückzug angetreten hatte.

Inzwischen war unser Verdächtiger mit Kaffee und einem Aschenbecher versorgt, rauchte seit einer halben Stunde Kette und redete fast pausenlos. Rasch war diese Harmonie eingetreten, dieses immer ein wenig traurige Einverständnis, das bei Verhören entsteht, sobald das Eis gebrochen ist. Plötzlich ist man nicht mehr der Feind, sondern der Beichtvater, oft genug am Ende sogar ein Freund. Vielleicht der einzige Freund, der einem noch geblieben ist in all dem Elend, das man durchlitten hat. Der Erste, mit dem man reden kann, der einem zuhört. Der einen wieder frei atmen lässt. Endlich.

Bedächtig streifte er die Asche seiner fünften oder sechsten Roth-Händle in den großen dunkelgrünen Aschenbecher mit dem Emblem der Eichbaum-Brauerei.

»Ich bin einfach drauflos gefahren. Muss irgendwann nach zwei Uhr nachts gewesen sein.«

»Ihr Wagen hat ganz schön gelitten dabei. Ihre ganze linke Seite ist verbeult. Hatten Sie einen Unfall?«

Er nickte gleichgültig. »Bin nachts von der Straße abgekommen und an einem Baum entlanggeschrammt. Ist aber weiter nichts passiert. Irgendwo hab ich dann eine Weile im Auto geschlafen. Und am Morgen war ich im Elsass. Ich bin die ganze Zeit auf Landstraßen gefahren, weil ich dachte, da fällt man vielleicht nicht so auf. Richtung Süden, in die Provence wollte ich, das ist mir aber erst mit der Zeit klar geworden. Aber bei dem Unfall ist was an der Lenkung kaputtgegangen, und in der Nähe von Belfort bin ich dann liegen geblieben. Sie haben fast eine Woche gebraucht, bis endlich die Ersatzteile da waren. Und bis dahin war ich so weit wieder bei Sinnen, dass ich wusste, das hat alles keinen Sinn. Und dann bin ich zurück.« Seligmann lauschte seiner Geschichte nach, als könnte er sie selbst nicht glauben.

»Ich verstehe immer noch nicht, warum Sie plötzlich weg wollten. Es hatte doch alles prima geklappt. Sie hatten eine dreiviertel Million erbeutet. Und kein Mensch hat Sie verdächtigt.«

»Mir ist auf einmal die Decke auf den Kopf gefallen. Und ich war auch ziemlich besoffen, das hab ich ja schon gesagt. Und Sie hatten natürlich Recht, ich wollte mir wirklich das Leben nehmen. Aber nicht mal das hab ich fertiggebracht. Nach ein paar Minuten hat die Blutung ganz von allein aufgehört. Und dann bin ich eben ins Auto gestiegen. Erst dachte ich, irgendwo gegen einen Baum. Aber das geht gar nicht so einfach. Ich hab’s probiert, irgendwo in der Pfalz drüben. Ich bin nicht aus Versehen von der Straße abgekommen. Aber das Auto hat im letzten Augenblick ganz von allein einen Haken geschlagen, und so hab ich nur eine Zierleiste verloren und mir die Vorderachse ruiniert. So bin ich einfach weitergefahren, einfach immer weiter und weiter.«

Mit einem erschöpften Lächeln sah er auf, senkte den Blick jedoch gleich wieder. »Was aus meinen Tieren wurde, war mir egal. Es war mir ja auch egal, was aus mir wird. Und Rebecca hätte schon auf sie aufgepasst, das wusste ich ja.«

»Vermutlich hätten wir Sie nie erwischt, wenn Sie sich durch Ihre überstürzte Flucht nicht verdächtig gemacht hätten.«

Er nickte mit fast geschlossenen Augen. Führte mit zittriger Hand die Zigarette an die schmalen Lippen. Nahm einen tiefen Zug.

»Anderes Thema. Was ist mit der Beute? Bei Ihren Partnern haben wir nur die Hälfte gefunden. Wo ist Ihr Anteil geblieben?«

»Erst hatte ich das Geld im Keller versteckt. An dem Morgen nach meiner Flucht hab ich es dann unterwegs irgendwo vergraben, da war ich schon im Elsass. Ich war noch nicht ganz nüchtern. Aber so weit konnte ich schon wieder denken: ich wollte nicht mit so einem Haufen Bargeld im Kofferraum in eine Polizeikontrolle geraten. Und da hab ich es eben vergraben.«

»Sie wissen sicher noch, wo?«

»Klar weiß ich das. In der Nähe von Seltz. Ich kann Ihnen eine ziemlich genaue Wegbeschreibung geben.« Mit einer fahrigen Bewegung drückte er die Zigarette aus. Ein bisschen Asche fiel auf die Tischplatte. Er wischte sie sorgfältig weg. Sein Gesicht war leer wie nach einem langen Kampf, den man am Ende verloren hat.

»Ich weiß selbst nicht, was auf einmal über mich gekommen ist. Hab einfach diesen Druck nicht mehr ausgehalten. Jeden Tag, jede Stunde hab ich erwartet, dass Sie kommen. Ist verdammt hart, diese ständige Anspannung zu ertragen. Am Anfang ging’s ja noch ganz gut. Aber dann … man stellt sich das nicht vor, wenn man es nicht selbst erlebt hat.«

Ich drehte den Kugelschreiber zwischen meinen Fingern, den ich hier zu nichts brauchte.

»Und warum haben Sie sich nicht irgendwo niedergelassen, wo kein Mensch Sie findet, und ein bisschen Urlaub gemacht, bis die Aufregung sich gelegt hat?«

Seligmann schwieg lange. Dann sah er mir mit festem Blick in die Augen.

»Mir wurde klar, es hat keinen Sinn, sich zu verstecken. Da hätte ich schon nach Afrika gemusst. Und selbst da hätten Sie mich irgendwann gefunden. Und von einer dreiviertel Million kann man nicht ewig leben. Da hab ich gedacht, wenn alle Spuren beseitigt sind, dann können Sie ja ruhig kommen. Das Geld hatte ich vergraben, es gab also nichts mehr, was mich hätte verraten können. Ich hatte doch an alles gedacht. Und ausgerechnet dieses blöde Handy, wirklich zu dämlich, dass ich ausgerechnet das vergessen hab.«

»Und das Geld im Handschuhfach.«

Er zuckte die Achseln und fummelte die nächste Zigarette aus der Packung. Bald würde er Nachschub brauchen.

»Warum haben Sie am Tag vorher Ihre Konten aufgelöst? Das lässt mich eher vermuten, dass Ihre Abreise doch nicht so spontan war, wie Sie mir erzählen. Geld hatten Sie ja doch genug.«

»Ja, warum?« Wieder hob Seligmann die Schultern. »War einfach ziemlich durch den Wind. Hatte schon ein paar unruhige Nächte hinter mir. Ich war einfach am Ende. Verstehen Sie? Total am Ende.«

»Was hatten Sie vor, als Sie gestern Morgen wieder hier waren? Wollten Sie sich stellen?«

Sein billiges Feuerzeug klickte. Die siebte Zigarette fing Feuer.

»Vielleicht. Ich weiß nicht. Ja. Ich hab gedacht, ich erzähl Ihnen irgendwas, und dann lassen Sie mich in Frieden. Ich war mir sicher, dass ich alles richtig gemacht hatte, alle Spuren ordentlich verwischt, an alles gedacht. Aber auf einmal konnte ich nicht mehr. Und wissen Sie was?« Ein Hauch von Lächeln spielte um seine Mundwinkel. »Im Grunde bin ich froh, dass es jetzt so gekommen ist. Ich hab wirklich gedacht, ich wäre härter. Dachte wirklich, ich halt ein bisschen mehr aus.«

Klara Vangelis hatte inzwischen eine Karte des nördlichen Elsass besorgt und breitete sie vor uns auf dem Tisch aus. Ich lieh Seligmann meinen Stift, und nach kurzem Zögern machte er ein Kreuz.

»Es war gar nicht bei Seltz, jetzt sehe ich es. Das war hier, am Rand von diesem Wäldchen bei Beinheim.«

Er reichte mir den Stift zurück, ich steckte ihn in die Hemdtasche.

»Für heute machen wir Schluss. Die Details klären wir morgen.«

»Welche Details?« Er wirkte fast erschrocken. »Haben wir nicht schon alles durchgekaut?«

»Diese Zeitung«, sagte Sönnchen, als ich das Vorzimmer durchquerte, »meine war leider schon weg. Am Freitag war Altpapier. Und die Gerda hat ihren Kurier auch nicht mehr gefunden.«

»Kein Problem«, erwiderte ich.

»Sie sehen gar nicht so aus, als würden Sie sich freuen, dass dieser Seligmann gestanden hat.«

»Ich freue mich auch nicht.«

»Aber wieso?«

»Ich bin mir fast sicher, dass er lügt. Seine Geschichte stimmt hinten und vorne nicht.«

 

Als Sönnchen mir drei Stunden später das Fax auf meinen Tisch legte, verstärkten sich meine Zweifel. Die Franzosen hatten nichts gefunden.

Ich ließ Seligmann umgehend vorführen.

»Da ist nichts!« Ich knallte die Karte vor ihn hin. »Wo Sie Ihr Kreuz gemacht haben, war nichts vergraben!«

»Komisch«, murmelte er und wiegte betreten den Kopf. »Weiß auch nicht. Ich war ja schon ziemlich besoffen, aber … Vielleicht hat mich wer beobachtet und es gleich wieder ausgebuddelt?«

»Da war nicht mal ein Loch. Keine Spur von einer frischen Grabung. Da war überhaupt nichts.«

»Dürfte ich eine Weile nachdenken?« Bittend sah er mich an. »Könnte ich die Karte eventuell mit in meine Zelle nehmen?«

»Nichts da.« Sein Getue, seine lahmen Bewegungen, dieser plötzlich so nervtötend schuldbewusste Blick, alles an dem Kerl ging mir inzwischen auf die Nerven. »Sie bleiben hier sitzen, bis Ihre Erinnerung zurückkehrt. Wenn es sein muss, bis Weihnachten.«

Demütig versenkte er sich wieder in das Studium der Landkarte. Fuhr mit dem Zeigefinger verschiedene Straßen und Wege. Schüttelte hin und wieder den Kopf. Begann wieder von vorn, am Grenzübergang Lauterburg. Nach einer Viertelstunde machte er endlich sein zweites Kreuzchen.

Diesmal lag das Wäldchen einen halben Kilometer südöstlich von Roppenheim. Eigentlich war es nicht einmal ein Wäldchen, lediglich ein paar Bäume. In der Nähe war ein Feldkreuz eingezeichnet.

»Jetzt bin ich mir aber sicher. Tut mir wirklich leid, dass ich Ihnen solche Umstände mache.«

»Ihr Mitgefühl können Sie sich schenken. Hoffen Sie lieber, dass Sie sich diesmal nicht irren.«

Ein zweites Fax ging an die Präfektur von Hagenau und irgendwo, hundert Kilometer südlich, machten sich erneut ein paar vor sich hinfluchende Kollegen auf den Weg. Inzwischen war später Nachmittag. Heute würde Seligmanns Anteil an der Beute wohl kaum noch gefunden werden.

Falls dieser Anteil überhaupt existierte, woran ich inzwischen kaum noch glaubte.

»Die Zeitung ist gekommen«, sagte Sönnchen, als sie zum letzten Mal an diesem Tag hereinkam und mir einen schönen Abend wünschte. »Ich hab beim Verlag angerufen, und sie haben extra jemanden vorbeigeschickt.«

»Welche Zeitung?«, fragte ich abwesend.

»Na, der Kurier, den Sie unbedingt haben wollten.«

»Das hatte ich total vergessen. Den können Sie wegwerfen.«

»Heißt das, ich hab mir die Arbeit ganz umsonst gemacht?«

»So viel Arbeit war es ja nun auch wieder nicht«, fuhr ich sie an.

Sie knallte die Tür etwas fester hinter sich zu als üblich, und ich hörte draußen ihren blechernen Papierkorb leise scheppern. Da hatte ich wohl etwas gutzumachen.

Ich telefonierte nach Vangelis.