15
Den Blumenstrauß hatte ich vergessen. Sönnchen war immer noch sauer auf mich und strafte mich mit extradünnem Kaffee. Ich bat sie in wärmstem Ton um Verzeihung, lobte sie dafür, dass sie so rasch die Zeitung besorgt hatte, erzählte ihr von dem neuen Verdacht gegen Seligmann. Aber sie murmelte nur etwas von Männern, die manchmal zickiger seien als die schlimmsten Frauen. Dann ließ sie mich mit meinem Frühstück allein. Als ich sie später bat, mir die Akte Jule Ahrens zu besorgen, klang sie schon wieder ein wenig milder. Bald darauf erschien Rolf Runkel, der längst alle anderen Kollegen bei der Kripo an Dienstjahren übertraf und von Balke standhaft »Rübe« genannt wurde. Er trug unter jedem Arm einen dicken Ordner.
»Die haben auf meinem Schreibtisch gelegen«, erklärte er mir betreten, nachdem er sich umständlich gesetzt hatte. Runkel gehörte zu den Menschen, die immer so aussehen, als hätten sie ein schlechtes Gewissen. »Ich hab den Fall gekriegt, weil Sie doch angeordnet hatten, dass wir uns um die alten, unaufgeklärten Sachen kümmern sollen, und da hab ich halt …«
»Schon okay«, unterbrach ich ihn. »Eigentlich hätte ich es ja wissen müssen. Aber es sind so viele Fälle, und da hatte ich es wohl vergessen.«
»Macht ja nichts«, erwiderte er großmütig. »Jeder vergisst mal was, gell?«
Ich bat ihn, mir einen Überblick zu geben, und wie bei Runkel üblich, dauerte das ein Weilchen.
»Viel haben die Kollegen damals ja nicht rausgefunden. Aber so viel steht fest: Das Mädchen hat am Abend, so gegen sechs, ihr Elternhaus verlassen. Die armen Leute haben damals in der Südstadt gewohnt, in der Panoramastraße. Eine Freundin wollte sie besuchen, hat sie der Mutter erzählt, die wohnte in der Weststadt, bloß ein paar hundert Meter entfernt. Da ist sie aber nie angekommen. Das wundert einen auch nicht, weil die Freundin sie überhaupt nicht erwartet hat. Die waren gar nicht verabredet, und die ist an dem Abend nicht mal daheim gewesen. Anscheinend hat das Kind seine Mutter angelogen.« Runkel hustete und zog die Nase hoch. »– Wie sie um elf noch nicht daheim war, da haben die Eltern angefangen, sich Gedanken zu machen, und dann haben sie bei der Freundin angerufen. Es war aber nicht das erste Mal, dass sie zu spät heimkam. Man weiß ja, wie das ist mit Kindern in dem Alter.«
»Oh ja«, seufzte ich.
»Sie haben dann alle möglichen Leute angerufen, der Vater ist sogar mit dem Auto rumgefahren, um sie zu suchen. Und am Ende, da wollten sie grad die Polizei alarmieren, und da hat’s an der Tür geschellt. Und das waren dann die armen Kollegen, die den Leuten sagen mussten, die Tochter ist vergewaltigt worden und liegt im Krankenhaus.«
Runkel sah mich traurig an. »So was den Eltern erklären müssen, stellen Sie sich das mal vor!« Er schüttelte sich und zog wieder die Nase hoch.
Ich unterdrückte den Impuls, ihm ein Taschentuch zu reichen, und nickte ihm stattdessen aufmunternd zu. »Und wie ging’s dann weiter?«
Er sah auf seine breiten, nicht ganz sauberen Hände. Vermutlich war er wieder einmal beim Bauen. In seiner Freizeit war Runkel unentwegt damit beschäftigt, sein altes Häuschen in Ziegelhausen umzubauen, anzubauen, aufzustocken oder sonst irgendwie zu erweitern, um seinen vielen Kindern ein Dach über dem Kopf zu schaffen. Das letzte Projekt, von dem ich erfahren hatte, war allerdings eine komfortable Hundehütte für Pumuckl, Runkels Rauhaardackel und jüngster Familienzuwachs, der vor wenigen Monaten auf Grund eines Missverständnisses um ein Haar in der Bratröhre seiner Frau gelandet wäre. Auf Grund dieser Mehrfachbelastung war Rolf Runkel oft ein wenig müde und unkonzentriert. Und nicht wenige seiner Dienstfahrten führten an einem Baumarkt vorbei, hatte ich kürzlich gehört. Aber solange er seine Arbeit machte, ließ ich ihn in Frieden. Ein Vater von fünf kleinen Kindern hat das Recht auf eine gewisse Nachsicht.
»Was das Mädel an dem Abend tatsächlich gemacht hat, wo sie gesteckt hat – kein Mensch weiß es«, fuhr er fort. »Die Eltern waren aber sicher, dass sie einen Kerl getroffen hat. Sie sei die ganze Zeit schon irgendwie komisch gewesen. Und auffällig zurechtgemacht hätte sie sich an dem Abend. Und so lustig sei sie gewesen. Wie die Mädchen halt so sind, wenn sie verliebt sind, nicht wahr.«
Langsam begann Runkel mir auf die Nerven zu gehen mit seiner lahmen Art, Baustelle hin oder her. Aber es half ja nichts. Schneller ging es bei ihm nun einmal nicht. Ich versuchte, mich zu entspannen. Der Tag hatte ja eben erst begonnen.
»Wenn ich Sie richtig verstehe, dann gibt es also keinen einzigen Zeugen, der Jule Ahrens in den acht Stunden gesehen hat?«
»Obwohl es so viele Aufrufe gegeben hat, ja. Das war natürlich ein ziemlicher Wirbel damals, das können Sie sich ja vorstellen. Ich erinnere mich selber noch recht gut an den Fall. Ich war zwar nicht direkt dabei, aber die halbe Direktion hat wochenlang Kopf gestanden, weil man einfach nichts gefunden hat. Sie ist aus der Haustür, und dann war sie weg. Kein Straßenbahnfahrer, kein Spaziergänger, keiner hat sie mehr gesehen. Erst spät nachts hat dieser Lehrer das Mädchen vor seinem Haus gefunden. Er hat das arme Ding auf den Rücksitz gepackt und in die Uni-Klinik gefahren. Laut Protokoll der Notaufnahme ist er dort um elf nach zwei angekommen.« Eine Weile starrte er die zwei Ordner trübsinnig an. »Sie hat ziemlich lang im Krankenhaus liegen müssen«, fuhr er mit leiser Stimme fort. »Später ist sie in ein Pflegeheim gekommen, weil sie ja körperlich wieder ganz gesund war. Nur mit dem Gehirn hat es nicht mehr so richtig funktioniert. Der Täter hat sie ziemlich gewürgt. Man muss sich nur die Fotos angucken. Und in dem Heim ist sie jetzt immer noch.«
Runkel rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl herum. Offenbar sehnte er sich nach einer Chance, aus meinem Büro zu kommen. Gehe nie zum Fürsten, wenn es nicht unbedingt sein muss. So schenkte ich ihm die Freiheit, und er war sehr erleichtert.
Runkel gab Balke die Klinke in die Hand, der offenbar draußen gewartet und mit Sönnchen herumgeschäkert hatte.
»Ich weiß ja nicht, ob es wichtig ist. Aber wenn dieser Seligmann den Bankraub nicht auf dem Gewissen hat, dann ist das Rennen ja wieder offen.«
»Haben Sie eine neue Spur?«
»Spur?« Er setzte sich. »Ich weiß nicht. Aber ich sollte mich doch ein bisschen um diesen Bankfuzzi kümmern, diesen Herrn Braun.« Er streckte die Beine von sich, stieß die Hände in die Taschen seiner engen Jeans und grinste mich schadenfroh an.
»Schießen Sie los.«
»Dass er über seine Verhältnisse lebt, wissen Sie ja schon. Ich hab dann mal ein bisschen rumgeschnüffelt, was er an seinen Abenden treibt.«
»Er ist als eifriger Tennisspieler bekannt.«
»Und er soll sogar gut sein.« Balkes Grinsen wurde noch um einige Grade fieser. »Fünfmal die Woche, praktisch jeden Abend, setzt der Herr sich in seinen schönen roten Porsche samt dicker Sporttasche und fährt weg.«
»Ich wünschte, ich wäre nur halb so diszipliniert wie er, wenn es um meine Fitness geht.«
»Der treibt aber eine ganz andere Art von Sport, wenn Sie mich fragen. Wenn man nämlich ein wenig mit der Bedienung im Clubrestaurant anbändelt, dann erfährt man, dass er höchstens ein-, zweimal die Woche spielt. Und in letzter Zeit lässt er sich in manchen Wochen überhaupt nicht mehr blicken. Sie haben ihm schon angedroht, er fliegt aus der ersten Mannschaft, wenn er nicht regelmäßig zum Training erscheint.«
»Und Sie haben natürlich schon eine Idee, was er an diesen Abenden stattdessen treibt.«
»Drei Mal dürfen Sie raten.«
»Wenn ein Mann in seinem Alter auf einmal Porsche fährt und seinen Sport vernachlässigt … Okay, wie heißt sie?«
»Das …«, Balke blinzelte mir verschmitzt zu, »… muss ich noch herausfinden.«
Ich blätterte den ersten Ordner flüchtig durch. Runkel hatte Recht, die Ergebnisse der damaligen Ermittlungen waren äußerst spärlich. Eines war klar: Das Mädchen musste die Hölle durchlebt haben in jener Nacht. Nahezu keine Stelle ihres Körpers war ohne Verletzungen geblieben. Als hätte sich eine ganze Horde von Vandalen an ihr ausgetobt. Das Sperma in Jules Scheide stammte jedoch von nur einem Mann.
Ein Schock waren die Fotos, die ihr Gesicht zeigten. Auf den ersten Blick hätte man meinen können, sie zeigten eine meiner Töchter. Dasselbe lange blonde Haar, dieselbe helle Haut. Erst bei näherem Hinsehen stellte ich fest, dass Jule dunkle Augen hatte, das Gesicht war doch ein wenig breiter, der Mund voller. Dennoch fiel es mir schwer, den Blick von diesen Augen zu wenden, die mich so zutiefst erschrocken und ratlos anstarrten.
Die Liste von Jules Verletzungen im vierzehn Seiten langen Bericht des Gerichtsmedizinischen Instituts wollte kein Ende nehmen. Sie musste zu Beginn gekämpft haben wie eine Katze. Man hatte eine Menge Hautfetzen und Blut unter ihren Fingernägeln gefunden. Nur leider bis heute niemanden, zu dem diese Spuren passten.
Jules verzweifelte Eltern hatten der Polizei bereits wenige Tage nach der Tat vorgeworfen, schlampig zu recherchieren. Immer neue Theorien wurden in der Presse breitgetreten, immer dubiosere Zeugen aufgeboten, die irgendetwas beobachtet haben wollten, was später der Überprüfung nicht standhielt. Einige Zeit wurde ein ehemaliger Sexualstraftäter verdächtigt, der seine Haftstrafe längst verbüßt hatte. Immerhin hier war die Spurenlage eindeutig: Er kam als Täter nicht in Frage. Die Blutgruppe stimmte nicht, und zudem hatte der Mann ein Alibi. Er war in Frankfurt gewesen, seine Mutter besuchen. Die hatte an dem Abend ihren sechzigsten Geburtstag gefeiert, und nicht weniger als fünfundzwanzig Zeugen bestätigten, dass ihr Sohn die ganze Zeit anwesend und recht früh sturzbetrunken gewesen war.
Im Lauf der folgenden Wochen hatte es noch drei weitere vorläufige Festnahmen gegeben. Und am Ende, als die Sonderkommission nach sechs Monaten erfolgloser Arbeit aufgelöst wurde, war nur so viel sicher: Jule Ahrens war brutal misshandelt, bis zur Bewusstlosigkeit gewürgt und dann vergewaltigt worden. Die Verletzungen im Vaginalbereich waren minimal, während der eigentlichen Penetration hatte sie also keine Gegenwehr mehr geleistet. Der Ort, wo Seligmann sie später fand, kam als Tatort nicht in Frage. Spuren an ihrer zerfetzten Kleidung ließen den Schluss zu, dass man sie im Kofferraum eines Autos dorthin transportiert hatte. Die Tat war vermutlich im Freien geschehen, irgendwo im Grünen, wo es ein wenig Gras gab, rötliche, sandige Erde und dürres Holz. Auch Reste von vertrocknetem Buchenlaub hatte man an ihr gefunden sowie Spuren von Holzkohle.
Es war, als wäre Jule Ahrens an jenem Abend vor fast zehn Jahren von der Hölle verschluckt und erst acht Stunden später wieder ausgespuckt worden. Ein Kind war sie fast noch gewesen. Wer um Gottes willen brachte so etwas fertig? Seligmann? Ausgerechnet Seligmann? Ich fühlte mich elend.
Als ich den Ordner zuklappte, meinte ich, eine Staubwolke aufsteigen zu sehen. Draußen tackerten hallende Schritte den Flur hinunter. Eine Tür klappte in der Ferne. Von meiner Sekretärin war nichts zu hören. Das war ihre Art, mich zu bestrafen: Sie ließ mich einfach sitzen und meinen Kram selbst erledigen.
Schließlich wählte ich Runkels Nummer.
»Eine Frage noch. Hat man jemals in Erwägung gezogen, dass Seligmann der Täter sein könnte?«
»Der Lehrer? Wieso denn ausgerechnet der?«
»Er ist ein Mann.«
»Aber das ist doch Blödsinn«, meinte Runkel nach längerem Überlegen. »Wieso soll er sie ins Krankenhaus fahren, nachdem er sie so zugerichtet hat? Er hätte doch damit rechnen müssen, dass sie ihn am nächsten Morgen anzeigt, wenn sie wieder zu sich kommt!«
»Menschen machen manchmal komische Sachen.«
Natürlich hatte er Recht. Kam Seligmann wirklich als Vergewaltiger in Betracht? Ein Lehrer? Ein guter Lehrer, der bei seinen Schülern beliebt war? Nein, es passte nicht in meinen Kopf. Aber dennoch, die Fakten … Seine Lügerei, dieses ganze merkwürdige Verhalten …
Plötzlich konnte ich nicht mehr sitzen. Ich sprang auf und begann, in meinem Büro hin und her zu laufen. War es wirklich vorstellbar, dass Seligmann Jule selbst auf dem Gehweg platziert hatte, nur um sie dann kurze Zeit später zu »retten«? Nachdem er sie zuvor stundenlang in seinem Haus gequält und vergewaltigt hatte? Aber auch für seine Version der Geschichte gab es keine Zeugen. Niemand hatte sie bisher in Zweifel gezogen. Sollte dies bei den damaligen Ermittlungen der entscheidende Fehler gewesen sein?
Etwas in mir sperrte sich hartnäckig gegen diesen Gedanken. Wenn Seligmann Jule vergewaltigt hätte, dann hätte er sie irgendwohin gefahren, möglichst weit weg vom Tatort. Oft genug töten Triebtäter ihre Opfer sogar, nachdem sie wieder bei Sinnen sind, und erkennen, was sie angerichtet haben. Seligmanns Verhalten wäre ganz und gar unlogisch, wenn er der Täter war.
Ich setzte mich wieder an meinen Schreibtisch.
So kam ich nicht weiter.
Ich drückte die Direktwahl-Taste zu Sönnchen. Niemand nahm ab. So rief ich wieder Runkel an.
»Schaffen Sie mir Seligmann her. In mein Büro bitte.«
Die zweite Nummer, die ich wählte, war die des Hölderlin-Gymnasiums. Ich hatte Glück, es war gerade Pause, und schon nach einer halben Minute hörte ich die Stimme von Frau Hellhuber, Seligmanns ehemaliger Kollegin.
»Ich hätte noch eine Frage: Hat er Jule Ahrens eigentlich gekannt?«
»Aber natürlich«, erwiderte die Lehrerin erstaunt, »Jule war doch seine Schülerin. Wussten Sie das denn nicht?«
»Sie war am Helmholtz, habe ich gelesen, wie meine Töchter übrigens auch, er am Hölderlin. In unseren Akten steht nichts darüber, dass er sie kannte.«
»Er musste damals für eine Kollegin einspringen, die in Mutterschutz war. Deshalb hat er am Helmholtz eine Mathematik-Klasse übernommen. So etwas gibt es öfter, bei unserer notorischen Personalknappheit.«
Von tief unten fühlte ich eine Übelkeit in mir aufsteigen, die sich lange nicht würde vertreiben lassen. Und eine Wut, die mir selbst Angst machte. Vielleicht war es gut, dass es noch einige Zeit dauerte, bis der Dreckskerl hier auftauchte.
»Sie sehen schlecht aus, Herr Kriminalrat«, stellte Sönnchen befriedigt fest, als sie sich endlich wieder einmal blicken ließ.
»Wenn Sie mich auch allein hier sitzen lassen!«
»Sie sind manchmal wirklich ein schrecklicher Mensch, wenn ich das mal sagen darf.«
»Zur Wiedergutmachung hab ich auch schon die Tasse gespült, haben Sie es gemerkt?«
»Da am Rand ist sie aber nicht sauber. Und das Kännchen haben Sie gar nicht ausgespült. Das haben Sie vergessen.«
Immerhin lächelte sie schon wieder. Aber sie gab sich Mühe, es mich nicht merken zu lassen.